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Sechstes Kapitel

Die Sankt-Hedwigs-Kirche ist ein Rundbau. Sie steht einige Schritte von dem Denkmal des Königs, der sie zu bauen erlaubte; aber sie steht abseits und trotz ihrer Größe unauffällig, wie eine Fremde. Über die Dächer des Platzes, der sie von Unter den Linden trennt, blickt das Schloß. Sie hat links von sich die Behrenstraße, die Französische Straße läuft hinter ihr.

Die weite Kuppel trägt die Laterne, diese das Kreuz. Die segnende Heilige wacht auf dem Giebel des Vorbaus. Die Inschrift unter dem Dreieck des Giebels ehrt sie selbst neben dem König, der ihr gnädig war, und der Freigebigkeit eines Kardinals. In dem Dreieck ziehen viele Gestalten, nackt oder bekleidet, der höchsten entgegen, die die Mitte hält.

Sechs Säulen tragen den Giebel. Zwischen ihnen sind oben Reliefs des auferstehenden Christus, unten zwei Nischen und die drei Türen der Kirche. Zehn Stufen führen hinauf.

Eine der Türen geht auf, die mittlere. Sie öffnet sich langsam ins Leere, in die Stille des mild besonnten Sonntagmorgens. Noch hofft sie auf keinen Eintretenden. Eine Frau in Braun ist gleichwohl schon da. Die öffnende Pförtnerin weiß nicht, woher sie kommt. Sie muß gewartet haben hinter der Säule.

Die Öffnende erkennt eine Dame, und auch, daß sie fremd umhersieht in dem runden Inneren, wo es schwer ist, zu haften. Jeder der Altäre ist eingelassen zwischen korinthische Säulen. Beide bunten Fenster hinten schimmern, sie blenden, der Hochaltar verschwindet, wenn du ihn suchst. Ein breites Geländer hält die Fremde auf, übrigens ist sie geblendet. Ihr Auge rettet sich in die Kuppel – ach! wie leer, noch unbekannter als das leere Haus. Wohin? Jede der Säulen hat dicht hinter sich ihren genauen Schatten. Nichts, um zu haften. Doch! Die Diplomatenloge rechts der Orgel – dort oben saß sie einst selbst.

Sie findet das festliche Bild wieder, so war es damals. Jenseits des Geländers umstrahlten Kandelaber den Hochaltar, die ganze Geistlichkeit, die Bevorzugten auf ihren Plätzen. Die Kirche war voll, sie strahlte, Musik klang auf, Musik zur Messe, opernhaft und rein. Sie findet nichts wieder, was sie dabei gefühlt hätte. Ein Fest strömte, damals war nur das Leben hier versammelt … Sie erschrickt. Jede der Säulen hat hinter sich ihren tiefen Schatten. Die Höhlung der Kuppel sagt langsam Ungewisses.

Die Besucherin wird gefragt, ob sie Erklärungen wünsche. Die Pförtnerin steht da, sie wischt sich die Hände an ihrer Schürze, sie beginnt schon. »Von Friedrich dem Großen wurde das Grundstück geschenkt für den Bau der Kirche. Dreißig Jahre lang wurde aus allen katholischen Ländern Geld gesammelt dafür. Der Sumpf wurde getrocknet.« Unvermittelt schließt sie:

»Berlin war einmal ein Fischerdorf.«

»Ist noch kein Geistlicher hier?«

Die Frau wird verlegen. »Ach so, die Dame ist nicht fremd. Ich habe die Dame noch nie gesehen. Dann wünschen Sie keine Führung?«

»Doch. Führen Sie!«

Aber sie ist eine unaufmerksame Besucherin. Sie läßt sich weiter blenden von dem Licht der bunten Scheiben, statt der Frau zu folgen auf den Platz, von wo sie die Gruppe hinter dem Hochaltar deutlich sehen würde. »Ostermorgen heißt die Gruppe. Christus empfängt die Sünderin Magdalena.«

»Wen?« – Die Besucherin hat sich hergewendet, sie scheint verstimmt. »Was gibt es hier sonst? Wo bleiben die Geistlichen?« Sie sieht schon wieder in das Fenster. Erkennt sie auch nur das dargestellte Bild?

»Die hochwürdigen Herren kommen schon«, erklärt die Frau.

»Das Bild auf dem Fenster ist Sankt Hedwigis, wie Sie lesen können. Die Heilige trägt eine kleine Kirche auf der Hand. Von den zwei Bildern darunter zeigt das erste einen Verwundeten mit Sankt Hedwig. Ihr Schloß bei Liegnitz brennt. Auf dem zweiten Bild erkennt die Heilige ihren verlorenen Sohn.«

»Woran?« fragte jene schnell. Sie neigt sich hin. »Oh! das ist häßlich. Sie müßte ihn anders erkennen.«

»Er war lange im Krieg«, sagte die Führerin.

»Der Verwundete, den sie unter allen pflegte, war ihr Sohn? Sie hatte ihn verloren? Er war es auch, der ihr Schloß angezündet hatte!«

»Das ist nicht gesagt.«

»Er war es aber … Ist es denn noch immer zu früh?«

»Wollen Sie eine Messe hören?« fragte die Frau.

»Ich will beichten« – womit die Dame ihr einen Geldschein gibt. Die Frau wird verlegener als je.

»Sie können nicht beichten. Wir haben Hochamt.«

Die Dame will gehn. »Schöne Musik«, sagt schnell noch die Pförtnerin. »Orgel, Orchester, Chor. Jetzt kommen immer viele Leute. Wir machen volle Beleuchtung.« Aber die Dame eilt. Die Frau befühlt in ihrer Schürze den Geldschein, sie glaubt nicht genug dafür geleistet zu haben. »Da wäre noch die Beichtkapelle.«

Die Dame eilt vor ihr her, grade dort, wohin sie geführt werden sollte. Sie durcheilt den Durchgang, sie erreicht die Beichtkapelle, sie sucht. Nein, kein Beichtstuhl hier. Gestalten stumm aus Stein. Obwohl darunter zwei lebende Beterinnen kauern, bleibt die Stille aus Stein. Die Dame erblickt das Bild der Muttergottes mit ihrem Toten, auch sie kniet hin. Es war so schnell nicht vorauszusehn, die Führerin hätte sie fast überrannt.

Erstaunt tritt die Frau zurück – und sieht keine Dame mehr. So betet keine Dame. Noch keine hat die Hände aufgestellt aneinandergepreßt. Die hatten auch niemals wirklich demütige Schultern, und welche konnten knien? Dies ist keine Dame. Sie ist so arm trotz Seidenkleid, daß die Pförtnerin sich des empfangenen Geldes schämt. Die dort braucht die Beichte nötiger als die Pförtnerin ihr Brot. Sie flüstert ihr zu:

»Um fünf ist Rosenkranz. Dann können Sie beichten.«

 

Vor fünf war Baronin Hartmann wieder in der Sankt-Hedwigs-Kirche, sie sah die Kirche sich füllen. Ihr blieb kein Platz, um zu sitzen, sie stand mit vielen im Gang, als auf der Kanzel die Stimme des Priesters begann. Die Stimme war nasal und schallend, kein Wort ging verloren. Noch so lange Sätze kamen ohne Atempause mühelos aus der gedrungenen Gestalt. »Gegrüßt seist du, Marie, du bist voll der Gnade, der Herr ist mit dir.« Auf die kräftigen Hände gestützt, arbeitete er gelassen. »Du bist gebenedeit unter den Weibern, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus, der für uns Blut geschwitzt hat.« Das weiße Chorhemd schwankte nicht, so ruhig arbeitete er.

Antwort der Gemeinde: »Heilige Jungfrau Maria, Muttergottes, bitt für uns arme Sünder! Bitt für uns jetzt und in der Stunde unseres Todes!« Sie sprachen es auf einen Ton, allesamt. Zwischen Herren des täglichen Lebens und denselben Frauen, die jeder anderswo sieht, die aber jetzt hier saßen, knieten Nonnen, Arbeiterinnen – auch junge Männer wollten nicht aufrecht beten.

Sie wurden unwiderstehlich durchdrungen von den immer wiederholten Formeln des Priesters. »Jesus, der für uns Blut geschwitzt hat« – unaufhörlich. Sie mußten die Jungfrau bitten endlos. Bevor die Formel sich veränderte: »Jesus, der für uns gegeißelt worden ist«, war der letzte durchdrungen, er kniete. Auch Baronin Hartmann wäre hingekniet. Ein gutgekleideter Herr sah sie, er veranlaßte ein Dienstmädchen, ihr den Sitzplatz zu lassen. »Bitt für uns jetzt und in der Stunde unseres Todes«, sagte das Dienstmädchen geduldig. Es ließ die Bank, aber seine Augen ließen nicht den Kranz elektrisch glühender Rosen in der Kapelle links vom Hochaltar.

Es war die Rosenkranz-Kapelle. In Blumen stand auf ihrem Altar die Mutter mit dem Kind, der glühende Kranz umwölbte sie zart. Der Altar hatte nur Dämmerlicht, sie und das Kind in ihrem Kranz erschienen und grüßten mild. »Jesus, der für uns gegeißelt worden ist« – dies Kind! fühlte Baronin Hartmann.

Der große Kirchenraum errichtete seine runde Mauer um gedrängte Menschen. Mit ihren bittenden Stimmen hauchte ihr Atem viel Sorgen und Bitternisse aus, die Luft ward davon schwer. Viel inständigen Drang nach Heilung des Leibes, ausreichendem Erwerb, nach Seelenfrieden, die Luft ward davon brünstig. Sie waren in dieser weithin lagernden Stadt allein, sie beteten auf ihre Art, angeschlossen an Ferne und Ewigkeit. »Jesus, der für uns mit Dornen gekrönt worden ist.« Runde Mauer um alle, und in Abständen ringsum, erhöht über die Köpfe, wachten steinerne zwölf Apostel, alte Männer, die Haltung von geziertem Schwung.

»Jesus, der für uns mit Dornen gekrönt worden ist«, betete Baronin Hartmann. Jenseits des Hochaltars erblickte sie ihn – ihn selbst weiß auf der Finsternis, so empfing er die weiße Magdalena, die kniete. Die hatte leicht knien! Die Buße lag hinter ihr, hinter ihr lagen Demütigung und Verzicht, den Körper aufgegeben, dem Geld entsagt. Die hatte leicht knien, ihr Stolz war schon gebrochen. Im Grunde verdiente sie Abneigung, am Morgen hatte Baronin Hartmann sie gehaßt. Jetzt erst begriff sie die Magdalena, fing doch an, sie zu begreifen. »Jesus, der für uns das schwere Kreuz getragen hat« – sie betete und hörte trotz der Entfernung auch die Magdalena ihn anbeten.

Viel weiter Entrücktes hörte und sah sie. Alte Stimmen kehrten wieder, sie verdrängten die der gegenwärtigen Beter, jetzt herrschten sie in ihr allein. Minutenlang lebte sie mit allen Sinnen in ihrer Heimatgemeinde, dem Bergdorf ihrer Kindheit. Jener Geruch von Rauch war wieder da, der fallende Bach lärmte wieder. Sie sah auf dem Felsen die Kirche, Eingang und Inneres, sie fühlte sich klein unter Alten. O Herzklopfen und verklärte Augen, auf der Kanzel, beschirmt vom goldenen Baldachin, erstand der junge Pfarrer! »Jesus, der für uns das schwere Kreuz getragen hat …« Baronin Hartmann erschrak, die eigene Stimme klang ihr im Ohr nach, sie hielt es für die einstige Stimme des elenden Dorfmädchens. Sie horchte. Noch keine Minute, da war sie wieder elend gewesen wie am Anfang des Lebens, hatte mitgeplärrt mit den Elenden, war blöde hingesunken. Fühlte sie denn in sich Mittel und Wege, zurückzukehren dorthin? Dauerte in ihr jenes schwache Kind noch? Sie fürchtete sich. »Bitt für uns jetzt und in der Stunde unseres Todes«, sprach sie mit allen.

»Jesus, der für uns gekreuzigt worden ist«, sprach der gedrungene Priester nasal schallend. Sie sah wohl, wie ehrlich er arbeitete. So war es denn gut und ratsam, von diesem hypnotischen Gebet sich durchdringen zu lassen? Mitzugehn? Den Geist zu ergeben? Sie versuchte ihren Geist – da entwich er schon wieder in seine ältesten Bezirke. Das hochgelegene Kirchlein öffnete sich, hinaus drang die Prozession. Sie zog über die Treppengassen, das Kind mitten darin, barfuß zwischen klappenden Holzschuhen. Ganz vorn schwebte der Gekreuzigte, der Knabe neben dem jungen Pfarrer hielt ihn hoch, blauer Wind umbrauste den Dornenkranz. »Jesus, der für uns gekreuzigt worden ist.« Dies kam noch oft, Baronin Hartmann antwortete geduldig: »Heilige Jungfrau Maria, Muttergottes, bitt für uns arme Sünder. Bitt für uns jetzt und in der Stunde unseres Todes.« Sie war leicht betäubt, war auch ungewiß gespannt, hatte aber nichts vor, was zu tun wäre.

Orgel. Der Rosenkranz war zu Ende. Indes die Orgel gespielt ward und alle sangen, erhob sich aus ihrer Bank die Dame, die statt des Dienstmädchens dasaß. Sie berührte das kniende Dienstmädchen, damit es seinen Platz einnähme. Sie selbst trat ihren Weg an durch den dicht besetzten Gang zwischen den Bänken. Sie bat jeden, ihr zu verzeihn. Sie wartete, bis man sich bemühte. Sie sah niemand an, sie hielt unverwandt auf den Beichtstuhl hinten links zwischen den Säulen. Endlich hingelangt, trat sie ein, hinkniend schloß sie über sich den Vorhang. Hinter der dunklen Öffnung der Zwischenwand ahnte sie zwei Augen. In Richtung der Augen ihres Beichtvaters sagte sie:

»Ich heiße Marie.«

 

Sie wußte nicht weiter. Nun, er hatte schon gesehn, wer hier nahte. Solche kamen um diese Zeit, nach dem Gebet, wenn es Abend ward. Sie kamen aus mehr oder weniger verwirrtem Leben, im Augenblick wußten sie, wie diese, nicht weiter. Er half ihnen, in sich klarer zu sehn, er lehrte sie Gottes wahre Meinung in ihren Sachen erkennen, womöglich auch jene geistige Freundschaft zu Gott. Mit etwas gekräftigter Vernunft schickte er sie zurück in das Leben, mit dem sie sich leider bald wieder berauschten. Grade aus dem Leben und seinen Taten eintreffend, schwankten sie manchmal von Rausch und Verwirrung nach Art dieser feingekleideten Dame. Er begrüßte sie: »Gelobt sei Jesus Christus!« – »In Ewigkeit, amen«, erwiderte sie ohne Stimme.

»Beginnen Sie doch!« sagte er, gab ihr auch gleich den Anfang. »Im Namen des Vaters und des Sohnes –«

»Und des Heiligen Geistes, amen.« Sie hatte Mühe, nicht mit den Zähnen zu klappern, aber die nächsten Worte schossen noch von selbst weiter. »Ich bekenne vor Gott dem Allmächtigen –« Sie stockte.

Er sagte höflich: »Das Orgelspiel lenkt Sie ab, gleich wird es aufhören. Inzwischen sammeln Sie sich!«

Hatte sie nicht verstanden? Sie begann ihr Bekenntnis von vorn, die Worte schossen diesmal auch über das Hindernis fort. »Daß ich gesündigt habe in Gedanken, Worten und Werken.«

Er überlegte, was dies sei: Ungeübtheit zusammen mit dem feststehenden Geleier eines Kindes. Schon beim Eintritt in den Beichtstuhl hatte die Dame eine verfehlte Bewegung gemacht. Er ward mißtrauisch. Manche Frauen suchten hier anderes als den Empfang des Sakramentes der Buße. Im Gegenteil, sie suchten Abenteuer … Hart und sachlich sagte er:

»Haben Sie Ihr Gewissen erforscht? Bereuen Sie? Kommen Sie mit gutem Vorsatz? Dann höre ich.« Die Augen in der Öffnung der Zwischenwand blickten kalt.

Sie fand nichts mehr, nicht einmal Grund zu sprechen. Ihre Sache schien ihr hoffnungslos. Womit anfangen? »Alles ist nur Geldfrage«, sagte sie plötzlich, sich selbst unverhofft. Warum von tausend Sätzen, die kommen mußten, gerade dieser?

»Was soll das heißen?« sagte er schroff. Seine Augen verschwanden aus der Öffnung.

Sie war tief erschrocken. »Verstehn Sie mich! Hochwürden, ich sage alles. Ich habe verschwendet, das ist es. Ich habe mein Kind mit Geld kaufen müssen. Aber konnte ich ohne Geld seine Mutter sein? Vorher war ich geizig, ja habgierig. Das mußte ich sein, wie ich jetzt weiß, für das Kind. Wie könnte es mich sonst lieben. Ach! ich liebe ihn, als ob ich mich zerfleischte.«

»Sie waren geizig. Geiz zum Schaden anderer ist eine Todsünde. Weiter!«

»Bin ich unwert meines Kindes?« fragte sie äußerst dringlich. »Ich hatte es ausgesetzt.«

»Sie, eine Reiche? Dann hatten Sie schwer gesündigt, als Sie es empfingen. Unkeuschheit ist eine Todsünde. Aber Sie müssen sie längst gebeichtet haben.«

»Ich war unkeusch mein Leben lang«, sagte sie hastig, denn zu viel anderes drängte, alles fiel ihr auf einmal ein, verwirrte sich, sie fürchtete, nicht durchzukommen. Sünden wider den Heiligen Geist: »Ich habe in der Unbußfertigkeit vorsätzlich verharrt.«

»Und nicht gebeichtet?«

Himmelschreiende Sünden: »Ich habe den Tod von Menschen verschuldet. Ich habe Arme unterdrückt.« Fremde Sünden: »Ich habe andere sündigen geheißen.« Sie staunte selbst, wie alle einst gelernten Formeln vom Leben angefüllt und volle Wahrheit geworden waren.

Er fragte stark: »Wann haben Sie zuletzt gebeichtet?«

Sie sah seine Augen wieder, fand sich durchschaut, jäh aufgehalten, sie stürzte wie von einem Turm. »Ich weiß nicht«, stammelte sie. »Zwanzig Jahre nicht. Noch länger.«

»So ist es«, sagte er. »Ich sah es.«

»Sie sahen es«, wiederholte sie gehorsam. Mit Selbstüberwindung, kaum hörbar: »Hochwürden, verlassen Sie mich nicht!«

Sie wartete angstvoll. Endlich entschied er. »Ihr Inneres verlangt nach dem Sakrament der Buße. Sie sind auf dem Wege zur wahren Reue, halten aber weit vom Ziel. Sie müssen sich ernsthaft prüfen, ich gebe Ihnen dafür Zeit.«

»Sie schicken mich fort?«

»Ihre Gewissenserforschung braucht um so mehr Zeit und Fleiß, je falscher Sie gelebt und je länger Sie nicht gebeichtet haben. Sie hielten das sechste Gebot Gottes nicht, welches hielten Sie? Es handelt sich für Sie um eine Generalbeichte. Jetzt ist es spät.«

»Nicht fortschicken!« Sie unterdrückte noch den Schrei.

»Kommen Sie wieder, wenn Sie gesammelt sprechen können! Gott will nicht angegangen werden vom verwirrten Gefühl. Nur klare geistige Vorstellung soll ihm nahen. Sie müssen gewiß sein, daß Sie ein neues Leben beginnen werden. Dann kommen Sie! Ich will nach drei Tagen für Sie allein hier warten.«

Ihr blieb nur übrig zu gehn. Er sagte noch: »Ich will an Sie denken.«

In der Kirche, die jetzt leer und fast dunkel lag, wartete eine einzelne Gestalt – kreuzte ihren Weg und betrat den Beichtstuhl. Sie hatte die Gestalt erkannt, das Dienstmädchen, dessen Platz auf der Kirchenbank sie selbst heute eingenommen hatte. Vom Ausgang sah sie lange um, aber der Vorhang des Beichtstuhles blieb geschlossen. Das Dienstmädchen durfte bleiben.

 

Sie holte zunächst den Schlaf der vorigen Nacht nach. Dann bestellte sie Kleider ab, die Anproben würden sie in ihrer jetzt wichtigeren Aufgabe beirrt haben. Eine geschäftliche Sitzung mußte verschoben werden. Auch nahm sie eine Einladung zurück, gab einem ihrer Diener den erbetenen Urlaub, sie verschaffte sich Stille. Valentin, sogar Kappus glaubten sie verreist. In ihren kühlen, ungestörten Zimmern war sie drei Tage lang einzig bedacht, zu ordnen, was gewesen war. Freilich fand sie schon alle Briefe nach Jahren geschichtet – ein Griff, ein Jahr. Auch die Rechnungsbücher sprachen lückenlos von jeher. Die Zahlen lebten auf, anders als jene Haufen alter Photographien, die eher der Reue hinderlich waren, denn sie hätte die Gesichter hiernach nicht wiedererkannt. Unlängst hatte sie manche von ihnen in apokalyptischen Übertreibungen erblickt.

Sie aß fast nichts, sie wünschte klare geistige Vorstellung zu erlangen – von Gott, seinen Absichten mit ihr, ihren Absichten mit ihm, und ob der Augenblick der Gnade, von dessen Eintreffen in jedem Menschenleben sie einst gehört hatte, wirklich dieser sei. Es war schwer zu erfahren. Unzweifelhaft bestand allein, daß sie ihr Kind liebte, es in Verzweiflung liebte. Wenn Gott wollte, war dies die Gnade. Wenn nicht? … Ihr schauderte. Sie sagte wohl: »Kein Gefühl! Ich habe Rechnungen abzuschließen.« Aber das waren nur Erinnerungen an die Zeit ihrer goldbedeckten Himmelskönigin, die für immer in einem Koffer lag. Gedanken kamen, die Rufe waren, Rufe an das Entfernteste, das Kind, das sie selbst einst gewesen war, ja, an die Zeit, da sie nicht gewesen war, die Zeit, die bald wiederkehren sollte.

Das Meer des Ungewissen bot zuletzt einen einzigen Halt, den Gedanken ihres Beichtvaters. Sie sah ihn unablässig dasitzen und an sie denken. Er hatte es ihr versprochen, diesem glaubte sie – indes kein anderer mehr ihr Vertrauen hatte, nein, auch Valentin nicht. Er hatte das unsichere Herz, das alle Lebenden haben, womit sie einander versuchen. Der Gedanke im Beichtstuhl dort hinten schien ihr sicher, er allein besaß Kraft, sie mit Gott zu befreunden, sie auch auszusöhnen mit dem, was sie erlitt.

Einer Unberatenen blieben die Zumutungen des Leidens doch nur harte Schläge im Dunkeln, es war voll Widerspruch. Der Kaplan im Beichtstuhl mochte ihn auflösen. Schon wußte er, daß sie Marie hieß, als einziger nannte er sie in seinen Gedanken Marie. Nur er sollte ihre Geheimnisse hören – noch zwölf Stunden fehlten, noch acht. Sie wartete darauf sehnlich, sich in seine Hände zu geben. Er dachte an sie. Seine Augen waren streng, die Stimme, wenn er wollte, eiskalt. So sollte es sein. Er mußte ein Mann von fünfzig Jahren mit kraftvoll durchfurchtem, kahlem Denkerkopf sein. Sie hatte ihn nicht gesehn, war aber sicher, ihn überall zu erkennen.

Draußen dämmerte es, da betrat sie die Kirche. Hier herrscht schwach beleuchtete Spannung, es gilt, fasse Mut! Wenige verstreute Beter, der Weg zum Beichtstuhl stand frei, sie ging ihn jugendlichen Schrittes, wie lange keinen Weg. Dennoch waren die Augen, die ihr entgegensahen, schnell genug, um sie abzuschätzen. Der Priester sah: »Diese Frau, die Marie heißt, freut sich zu beichten, die Freude macht sie jünger. Ein Weib wird sichtbar, das noch auf Liebe hofft, sie sind unheilbar. Die Leidenschaft der Reue ist nur bestimmt, sie einer anderen Leidenschaft entgegenzuführen.«

Während sie schon anlangte, dachte er noch: »Die niedere Natur ist zu reich in ihnen, nie können sie den geistigen Kampf um Gott bestehn. Bestenfalls überlassen sie ihm ihr unerforschtes Innere. Frauen, ihr seid zuweilen von Gott begnadet worden – mehr als wir, die wir kämpfen. Darum müssen wir euch ehren. Mißtrauen bleibt gleichwohl geboten. Die, die da kommt, wird schwerlich die Begnadete sein.« Hier empfing er sie mit dem katholischen Gruß.

Sie begann: »Ich war arm, ich bin von Sünde zu Sünde gegangen, um reich zu werden. Als ich es dann aber geworden war, quälten mich erst die schlimmsten Versuchungen.«

»Wer versuchte Sie?«

»Der Präsident.«

»Nennen Sie keine Namen! Berichten Sie nichts Zweckloses! Sagen Sie, ob Sie verheiratet sind!«

»Ich bin Witwe.«

»Unterhalten Sie sündhafte Beziehungen? Was wollte der Mann, den Sie Präsident nennen?«

»Er wollte –« Sie konnte es nicht ausdrücken, sie merkte, es sei mehr, als sie damals erfaßt hatte – sie erschrak tief.

»Sind Sie ihm gefolgt?«

»Nein. Aber es könnte noch immer geschehen.« Denn sie fühlte Angst.

»Wozu beichten Sie? Um nachher beruhigt weiterzusündigen? Flüchtige Zerknirschung genügt nicht, Gott schätzt nur den Willen.«

Sie seufzte schwer. »Ich war ein Kind, das Gott sehr liebte, nur darum hatte ich den jungen Pfarrer so lieb. Aber die Sünde, die ich verabscheute, Gott hat sie mir aufgedrängt.«

»Nicht lästern!«

»In meinem Heimatdorf sah ich, ohne es zu wollen, zwei Menschen sündigen. Ich war entsetzt. In mir erstarb durch den Anblick alles menschliche Gefühl – ich glaubte, für immer. Ich beichtete dem jungen Pfarrer, ich sagte, ich würde nie mehr lieben können. Grade ihm sagte ich es, den ich doch geliebt hatte. Wenig später verließ ich mein Dorf und ward unkeusch – sofort, ohne Widerstand. Ich unterlag der Versuchung, je mehr ich sie verabscheute.«

Die Kniende sprach zögernd, rückwärts lauschend. Sie fand es mühselig, ja unergiebiger, als die so sehr ersehnte Beichte hätte sein sollen. Freilich dachte für sie noch jemand. Diese leichte Holzwand trennte sie von einem ganz nur auf sie gerichteten Gedanken.

»Sie verließen Ihr Dorf«, so hörte sie sagen, »weil Sie den, den Sie den jungen Pfarrer nennen, nicht mehr liebten. Um so gieriger verbissen Sie sich in die Welt, das war der Anfang. Sie hatten einen ersten Geliebten. Sie hatten noch viele, dieser aber war der erste. Wie hat er Sie behandelt?«

»Es ist endlos lange her«, sagte sie schwach – aber viel stärker hinter der Wand der Gedanke: »Nein! Es war gestern!«

Worauf sie erstarrte und lange Schauer kommen fühlte. Wovon? Daß hier die Zeit nicht galt und daß es kein Vergessen gab. Daß selbst das Armseligste alles je Erlebten den ganzen Wert der Seele hatte, daß aber die Seele unschätzbar und ewig war.

Auf einmal erblickte sie deutlich das Gesicht ihres ersten Geliebten. »Er war schön«, stammelte sie, die Schultern hochgezogen, mit einer Art Furcht, als könnte er sie noch treffen. »Er schlug mich, aber er war schön und stark, ein Reitknecht. Ich kannte nur ihn, ich sah auf der Welt nur ihn, ich folgte ihm, wohin er ging, zuletzt nach Berlin. Durch seine Liebe blühte ich auf, ich hatte Glück bei den Herren auf seiner Reitbahn. Er schlug mich, aber ich hätte für ihn gemordet. In Berlin hatte er mich nacheinander verstoßen, wiedergenommen, ganz verlassen. Ich arbeitete, ich war ein armes Dienstmädchen. Er wollte auch noch, daß ich mich andern hingab«, schloß sie wild.

»Von wem war Ihr Kind?«

»Wie?« Ungeformter Laut, ihr war der Atem vergangen.

»Wer war der Vater?«

»Das sage ich nicht.«

»Was haben Sie Ihrem wiedergefundenen Sohn gesagt?«

»Daß ich es nicht weiß. Lieber das als die Wahrheit! Eine allerletzte Scham soll bleiben.«

Da hörte sie den verborgenen Gedanken sagen: »Sie haben Ihr Kind um seines Vaters willen – gehaßt.«

Sie rief schnell: »Nicht lange! Nur bis es da war, nur bis es mich ansah.« Sie staunte: »Woher wissen Sie? Kann ich es denn hassen? Auch jetzt?« fragte sie dringlich … Keine Antwort drüben, aber der Gedanke sprach aus ihr selbst. »Ja. Ich kann es hassen. Auch wenn ich es liebe, kann ich es töten, als haßte ich es. Was geschieht mir!« Jetzt oder damals? Sie fragte, als sei es jetzt, erlitt aber Gesichte von einst. Das stürmte heftig an wie jüngste Qualen. Sie konnte nur hinstammeln, was sie selbst erst erfuhr – erzählte aber ihren alten Schmerz.

Sie sah und sprach nur nach. Eine Gestalt schlich vor ihr her um die Ecken, unkenntlich verhüllt, die Verlassene, Arbeitslose, die das noch Ungeborene trägt. Am Kanal bei der Laterne erscheint mit ungeheuren Augen des Entsetzens das bleiche Gesicht, umfaßt von dem groben schwarzen Tuch, unter dem die verzweifelten Mädchen ins Wasser gehn … Eine Hand hält sie noch auf, sie darf nicht sterben, muß gebären. Auch findet sie Arbeit.

Bedienstet in einem rettenden Haus, mit dem Leben schon versöhnt – plötzlich aber war sie wieder am Leben bedroht, denn das Kind ward ihr von der Pflegestelle zurückgebracht. Sie konnte nicht für es bezahlen. Aber niemand durfte von ihm wissen.

Noch einmal die vorige Irrfahrt, und unter dem Tuch der Selbstmörderin das Kind. Es lebt, es sieht dich an, du kannst nicht mehr zu sterben beschließen. Du kannst es nicht töten … Sie legt es in ein Haustor, braune Nische, zwei Stufen, und läuft. Kehrt atemlos zurück, reißt es an sich … Welche Qualen, um endlich doch zu handeln, wie es sie am meisten schmerzt! Zuletzt findet sie sich wieder, von wo sie ausgegangen war, nur kraftloser. Dort steht das Haus ihrer Herrschaft, es hat noch immer für sie den Frieden, sie wäre sofort geborgen. Nur das Kind leg fort! Nur das Kind leg fort! Drüben der Brunnen – bezwungen geht sie hin, ihr Herz erlischt.

Sie öffnet das Tuch, das Kind gleitet hervor wie ein Silberstück.

»Der Mond schien ihm ins Gesicht, und es lachte. Mir ward leicht, furchtbar leicht, ich ging in meine Küche und sang. Es war die erste halbe Stunde, oder war es weniger?«

»Sie sind zu dem Brunnen zurückgekehrt? Ihr Kind war fort?«

»Ich hatte noch selbst gesehen, wie ein Mann es forttrug – in das Haus gegenüber. Dort haben sie es aufgezogen. Ich, seine Mutter, die es nicht aufziehn konnte, hörte noch oft seine Stimme. Ich schlich mich um ihr Haus bis in ihren Garten, der Schnee machte meine Füße lautlos. Ich stand am Fleck, sah ihnen ins Fenster, sah Schatten, nur nicht seinen. Nie seinen. Aber ich hörte es weinen. Da beugte ich mich zu dem harten Schnee und weinte selbst – so heiß, daß er schmolz … Das schlimmste ist, daß ich dies vergessen mußte, damit es mir gut erging. Ich habe nicht wieder geweint und nie mehr im Schnee gekniet.«

»Schwere Sünde! Ihre ärgste Sünde!« sagte der Beichtvater verschleiert von fern. Die Beichtende erhob befangene Augen nach der Öffnung der Zwischenwand, sah aber nichts, selbst die Stimme war wie zergangen, nur noch geträumt. Dichtes Dunkel, vollkommene Stille, sie wußte nicht, was er sagte, was sie nur träumte. »Dieser Sünde wegen aber könnten Ihnen alle andern vergeben werden. Die andern haben Sie begangen, um glücklicher zu werden, diese allein um des heilsamen Leidens willen.« … Vollkommene Stille.

 

Plötzlich sein klarer Ton. »Sie sollen Ihre Sünden vor sich haben wie ein häßliches Geschöpf. Nicht soll die Beichte Ihnen den Reiz der Sünde vermehren. Bedenken Sie es, indes Sie weitersprechen!«

»Ich weiß«, sagte sie. »Denn alles, was in meinem Leben wie Glück aussah, war im Grunde nur Strafe Gottes für jene meine schwerste Sünde. Ich mußte weitersündigen. Sofort darauf hatte ich Glück. Ein reicher Mann nahm sich meiner an. Er war gütig, wie ich jetzt sehe. Ich weiß aber jetzt auch, was Güte bedeutet bei Alternden. Ich strafte ihn für seine späte Herzensregung, wie es sich gehört. An ihm nahm ich Rache für alles Erlittene, alles Entbehrte. Ich forderte unermüdlich Glanz. Ach! wie wunderbar die Welt erglänzen kann – mit achtzehn Jahren! Meine Welt war einmal achtzehn Jahre alt! Der dreifach Ältere bezahlte sie mir, bevor er entgeistert abging. Er ließ mich zurück mit etwas Geld und viel erworbener Härte. Vermittels ihrer vermehrte ich das Geld.«

Sie sprach ungestört in sich hinein. »Die Geschäfte brachten mir nicht nur Geld. Ich erwarb Würde, die Bestätigung der Welt. Ohne Geld kein inneres Gleichgewicht – für mich, an meinem Platz. Jetzt brachte ich vielen andern Unglück. Selbst Unglück haben oder andern Unglück bringen, ich habe nicht erfahren, daß sich auf dritte Art leben läßt.«

Ein Gedanke, den sie halb vergessen hatte, fragte: »Haben Sie sich gegen das siebente Gebot vergangen?«

»Nein. Ich habe es nur übersehen. Wir übersehen es alle.«

»Nein? Dann beschuldigen Sie sich leichtfertig! Geldgeschäfte sind wie die andern niedrigen Dinge der Welt: Gott, der seiner Welt nicht fremd ist, hat auch sie gewollt. Er verständigt sich mit Ihnen und Ihrer Natur durch Niedriges.«

Sie sagte überzeugt und schwer: »Hochwürden, Sie kennen die Reichen nicht. Kein Reicher hat je einen bis ins Tiefste guten Gedanken. Sie können es nicht wissen, Hochwürden. Der vom Nadelöhr und dem Reichen sprach, wußte es.«

Der andere Gedanke fiel heftig ein. »Keinen Stolz! Sie folgen nur Ihrem Stolz, wenn Sie sich der Habsucht bezichtigen. Sie waren sogar habsüchtig aus Stolz. Sie wollen urteilen über die Welt? Keine Leidenschaft trübt das Vermögen zu urteilen, das von Gott ist – wie der Stolz. Hüten Sie sich! Er ist Todsünde – und von den sieben die erste.«

Worauf sie verstummte. Mehrmals wollte sie antworten, blieb aber stumm. Wie? Sie war ihrer Sache gewiß – noch soeben. Sie hatte teuer bezahltes geheimes Wissen, nur war es vergiftet am Ursprung, es fiel dahin, es war kein Wissen mehr. Was in ihr feststand noch soeben, erwies sich als Rauch, zufällig geformt von einer ihrer versteckten Leidenschaften … Ihr ward es schwül und ungewiß, jetzt erst fürchtete sie sich. Sie fürchtete hinter dem dünnen Holz, an das sie tastete, den alles entlarvenden Gedanken. Wollte er sie zuletzt durchscheinend und ohne den Halt der letzten Täuschung vor Gott hinwerfen? Sie fürchtete sich.

Der Gedanke wartete, bis sie ihm demütig genug war, da fragte er:

»Was taten Sie mit Ihrem Geld?«

Sie wollte sagen: »Ich kaufte mir einen Mann mit adeligem Namen.« Sie stammelte, bis er verstand. Er fragte:

»Sie lebten damals nicht mehr in Sünden gegen das sechste Gebot?«

Sie schwieg, um nicht die Wahrheit aus Stolz zu sagen. Sie traute sich selbst nicht mehr, Sünden konnten Verdienste, Zerknirschung aber konnte Stolz sein. So haßte sie Valentin, den sie doch liebte! Hätte für ihn ihr Leben lassen und ihn dabei töten können. Was sie im ganzen Leben getan hatte, schien ihr an ihm getan, die innere Welt aber darum ins Schwanken geraten, weil sie sein Bild war.

»Sie sündigten noch immer gegen das sechste Gebot?«

»Ich bin in die Welt einzig und allein verwickelt worden durch meine Sinnlichkeit. Der erste meiner Liebhaber war schön und stark, ein Reitknecht.«

»Verweilen Sie nicht! Wecken Sie keine unkeuschen Bilder!«

»Wenn doch alles, was vorging, unkeusch war – bei weitem nicht nur meine Handlungen! Ich hing an den Eindrücken der Sinne, von Menschen wollte ich nicht allein ihr Geld, auch ihr Menschliches, ihre Blutnähe und alles, was sie mich fühlen ließen. Ich hatte Augen, Ohren, alle Sinne und das Blut voll Menschentum. Sie konnten mich nur so um sich betrügen, daß sie starben. Ich habe sogar wohlgetan – nicht um Gottes willen, nur um der Blutnähe willen. Ich fürchte, noch was ich gedacht habe, war Blutdunst. Was mein Kopf tat, und ob er sich bis nahe an Gott vermaß, ob er betete – Blutdunst.«

»Das Gebet des Menschen, der sich demütigt, dringt durch die Wolken.« Die Stimme ward drohend. »Sie aber fügen zu allem andern noch den Zweifel an der Güte Gottes. Sie setzen seine gesamte Schöpfung herab, um selbst als überlegen dazustehn. Aber nichts ist geschehn, als daß der Teufel, wie so oft, durch Ihre Phantasie bei Ihnen eingedrungen ist, um endlich auch Ihren Willen zu erfassen. Unglückliche, merken Sie nicht, daß nur Ihr unverbesserlicher Stolz Sie in immer ärgere Fallen verstrickt? Nichts brauchen Sie dringender als Verdemütigung.«

Da von ihr keine Regung kam, verlangte er kurz: »Antworten Sie ohne alle Umschweife auf meine Fragen! Sie waren Ihrem Gatten treu?«

»Er starb freiwillig, wir hatten uns nicht besessen.«

»Weil er starb?«

»Weil ich nicht wollte. Weil ich sah, daß er mich liebte, anstatt mir einfach seinen Namen zu verkaufen. Weil ich ihn dafür verachtete. Weil ich nur liebe, wo es Unheil bringt.«

»Seit wann wissen Sie das? Antworten Sie mit Bedacht!«

»Ein anderer Mann, den ich heftig liebte, hatte mich bestohlen und wollte mich verlassen. Ich brachte ihn vor Gericht, er ist zugrunde gegangen. Soll ich noch mehr sagen?«

»Wann erinnerten Sie sich Ihres ausgesetzten Kindes?«

»Als es für mich spät und einsam wurde. Als nichts anderes mir noch blieb, zu lieben und zu verderben.«

»Wodurch nur verderben Sie Ihren Sohn?«

»Mit Geld. Ich kaufe ihn. Wie alles vorher, jetzt auch ihn. Ich komme über ihn mit meinem Geld wie eine Strafe. Er lebte solange im Gehorsam und Frieden.«

Hier schwieg der um sie bemühte Gedanke, schwieg länger als je vorher. Sie fühlte eine Wendung nahen, ihr ward es kalt, noch ehe er sprach.

»Kann denn auch eine Mutter ihren Sohn verderben?« sagte der Gedanke. »Das ist unmöglich, wenn es eine Mutter ist.«

»Ich bin seine Mutter!«

»Dann lieben Sie ihn gewiß auch so. Dann treten Sie zu ihm das Herz voll Güte. Ist es, wie ich sage? Sie lieben, wen er liebt. Sie verzichten noch eher darauf, ihn zu sehen, als ihn zu beirren.«

»Wenn es so wäre!«

»Wie lieben Sie ihn dann?«

Sie stockte, sie stieß hervor: »Mit Eifersucht. Ich hasse seine falsche Mutter, seine Verlobte, alle um ihn. Ich hasse auch ihn – weil er nicht mir allein gehört!«

»Wie lieben Sie ihn dann?«

Sie hörte den dunkel drohenden Gedanken nicht. Aus ihr brach alle Leidenschaft. »In Verzweiflung!« rief sie. »Ich will ihn töten, nein, lieber sterben, ich will ihn verjagen, aber doch an mich reißen. Ich bin irre. Ich habe mich schon verloren – und bald auch ihn!«

»Wie lieben Sie ihn?« fragte der Gedanke unheimlich leise, so durchdringend leise, daß sie ihn hören mußte.

»Wie?« sagte sie verstört. »Als mein Kind. Wie denn sonst? Ich muß doch mein Kind für mich haben.«

»Haben Sie seinen Anblick begehrt? Nicht ertragen, daß er fortblieb? Schrien Sie des Nachts nach ihm?«

»Ja, es ist mein Kind.«

»Lockten Sie ihn an sich mit List und mit Gewalt?«

Sie keuchte. »Ja.«

»Haben Sie sich seinetwegen gemessen mit andern Frauen? … Sich sogar entblößt vor ihm? … War er beschämt durch Sie, seine Mutter? … Und Sie, schmeckte nicht Ihnen alles – nach Schande?«

Erstarren – »jetzt werde ich aufschreien«, fühlte sie, »jetzt schreie ich.« Aber kein Laut kam. Sie erstickte, warf die Arme um sich, fing den Vorhang, floh schon. Sie floh aus dem Beichtstuhl, sie taumelte dahin, geschlagen und betäubt. Plötzlich erinnerte sie sich wieder. »Nein!« schrie sie. »Nein!« und taumelte schneller durch das Dunkel des Hauses. Es hallte leer, eine ferne Ampel schien die einzige Hoffnung. Die Taumelnde hielt sich Schritt für Schritt an der runden Wand.

»Der Präsident!« sah sie plötzlich, als erhöbe er selbst sich aus dem Dunkel. »Schon der Präsident hat geglaubt, ich liebte Valentin wie einen Mann. Ich hatte ihn nicht verstanden bis jetzt. Doch! Vorhin, einen Augenblick ahnte ich schon, was kommen wollte. Die Wahrheit kommt mir seit langem näher, immer näher. Ach! ich ahne sie schon längst … Nein! Nicht Wahrheit! Es ist nicht Wahrheit! Nein!« schrie sie nochmals, aber schwächer, mit jedem Laut schwächer. Sie taumelte herbei – in Pausen, mit Versuchen der Umkehr, aber die runde Mauer brachte sie von selbst ans Ziel. Sie hatte eine weite, schwere Reise gemacht, todmüde langte sie an. Da war sie wieder. Im Beichtstuhl kniete sie wieder.

»Gestehen Sie«, sagte der Gedanke, qualvoll drängend wie in ihr selbst. »Legen Sie den menschlichen Stolz ab, sprechen Sie aus tiefinnerster Seele: ich armer sündiger Mensch!«

Sie rang mit sich um ein Wort. Er half ihr ringen, jeder fühlte die Not des andern in seiner eigenen.

»Nicht Menschen hast du belogen, sondern Gott, sprach Petrus zu Ananias. So sage auch ich Ihnen, so bitte auch ich Sie: bemänteln Sie Ihre große Sünde nicht! Belügen Sie Gott nicht! Ich weiß, daß Sie Ihre Sünde jetzt erkannt haben. Sünde kann nur sein, was wir erkannt haben. Sie haben erkannt, jetzt beichten Sie!«

Er war stürmisch und rauh gewesen, er ward weich. »Erleichtern Sie sich durch eine gute Beichte! Nachher werden Sie frei und verjüngt dastehn, die Hölle kann Sie nicht mehr schrecken.«

Er wartete. Da er sie, tief unter sich, schwer atmen hörte, befahl er: »Werfen Sie einen Blick in den Abgrund der Hölle! Ihnen graust. Eine Beichte, in der Sie eine schwere Sünde verschweigen, trägt Ihnen weder Sündenvergebung noch Gewissensruhe.«

Sie wimmerte. Hier begriff sie zuerst wieder, wie einst als Kind, daß es ernst sei und was ihr drohe. Sie wimmerte: »Hochwürdiger Vater, erretten Sie mich!«

Er bat weich: »Haben Sie Mitleid mit sich selbst, liebe Frau!«

»Ich kann nicht«, fühlte sie, »und wenn sofort die Flamme mich faßte!« Da hörte sie Stöhnen – erstickt, wie von jemand, der das Gesicht in die Hände preßt.

Nach der Pause sagte er entschlossen: »Ich kann Ihnen die Absolution nicht erteilen. Ihre Sünde ist ungewöhnlich und schwer zu vergeben. Auch sind Sie nicht bußfertig. Meine Verantwortung wäre zu groß. Ich muß den Fall meinen geistlichen Oberen vortragen.«

Sie fühlte: »Könnte ich sprechen, wie er will! Ich will sprechen.«

Da sagte er:

»Des einen kann ich Sie schon jetzt versichern: Sie werden die nächste Gelegenheit zur Sünde meiden müssen.« Durchdringend: »Sie dürfen ihn nicht wiedersehn.«

Sie schrie auf. »Ihn nicht wiedersehn? Daraus wird nichts. Lieber sterben! Vieltausendmal lieber sterben!«

»Sie?« fragte er. »Eine gläubige Frau, Sie wären so schwach? Gott braucht keine Schwachen, der Glaube ist nicht Sache der Schwachen. Er gehört, wie alles, den Starken. Ein großer Gläubiger hat soviel Kraft wie ein großer Eroberer. Bedenken Sie es! Waren Sie im Leben nicht stark? Sie sollen weiterleben! Sie sollen büßen.«

Er hatte sie an ihre Kraft erinnert, sie stand auf. Von der andern Seite trat auch er aus dem Beichtstuhl, sie sah ihn. Erstaunen, er war ein junger Mann! Sein Gesicht war nicht ehern, wie sie es gedacht hatte, es blickte vom überstandenen Kampf sogar verwirrt, ihr eigenes konnte verstörter nicht sein. Er sah nichts in diesem Zustand, er sah sie nicht, obwohl sie einander anblickten. Vielleicht auch, daß diese tiefen, eifrigen Augen niemals etwas anderes sahen als ihren eigenen Gedanken. Er war wohlgestaltet und hatte unter seiner erdachten Blässe gesundes Blut. Wie aus Zerstreutheit lächelte einmal die Umgebung der Augen. Gleich darauf war er sich wieder der ungeheuren Lage bewußt, seine Brauen hoben sich spitz zueinander, gemeinsam übergiebelten sie beide Augen. Ein Dreieck entstand, sie dachte sofort des Dreiecks an der Kirchenfront, worin alle Gestalten der höchsten entgegenzogen.

Sie empfing dies alles mit ihren geübten Sinnen, sogar im Dunkeln. Der Kaplan legte Stola und Chorhemd ab, er sagte weltläufig, es sei spät geworden, man habe die Kirche inzwischen geschlossen. Er winkte ihr mit der Hand, um sie eilig und so gebückt, als wollte er sich unsichtbar machen, zum Ausgang durch die Beichtkapelle zu führen. Sie bemerkte noch, daß die Hand gepflegt war. Er trug feine Schuhe. Das geistliche Kleid machte ihm die moderne, tiefsitzende Hüftenlinie und breite Schultern.

 

Sie schlief erschöpft, nach jedem Aufwachen stürzte sie sich nochmals in das einzig rettende traumlose Dunkel. Auch dieser Morgen war aber gekommen, da sah sie auf einmal, was nur die Nacht noch hinausgeschoben hatte, sah sich und ihren Bestand hüllenlos. Sie schrie in ihrem Zimmer laut auf. Dann hielt sie so lange wie möglich den Atem an, lauschend, ob es vorübergehe.

Es blieb. Sie bestellte das Auto, bis nachmittags machte sie Geschäftsbesuche. Von Kappus verlangte sie Geld für die Villa in Heringsdorf, sie sollte bezogen werden, die Hochzeit stand bevor. Er wollte nicht hören. Sie habe beträchtliche Verluste erlitten, behauptete er. Ihre Eingänge verzögerten sich – wobei er heimlich feststellte, daß die Vogel von Lambart ihm schon bald soviel für sie schuldeten, wie seine Freundin ihnen gegeben hatte. Er hatte für sie gearbeitet. Die Villa in Heringsdorf, die sie dem Jungen bezahlte, konnte er ihm pfänden lassen … Da erschrak er, denn sie übergab ihm ihr Testament.

Sie eilte weiter – um endlich doch zu erkennen, daß kein Entkommen war. Sie blieb, wohin sie immer floh, im Kerker. Kein anderer als der Gedanke hatte sie hineingeschleudert. Nur er konnte sie daraus erlösen. Sie hatte ihm Genüge zu tun. Sie mußte sich reinigen vor ihm. Büße!

»Und wie? Mein Kind nicht wiedersehn!«

Sie war zu Hause, draußen läutete jemand, sie unterschied, wer. Seine Stimme – sie zitterte ihm entgegen. Als aber schon die Tür sich bewegte, aufging, ihn bringen wollte – floh sie. Noch sah sie sein befremdetes Gesicht. Was er alles nicht wußte! Was jene dort, bei ihm zu Hause, nicht wußten! Sie begriff ihn mit unter jene, in dieser Minute verachtete sie ihn. »Könnte ich ihn haben! Ich will ihn rufen!« Dennoch verachtete sie die Welt derer, die um sich nicht wußten, sich nicht verantworteten – die Welt, in der nicht dies Gewitter war.

Sie atmete Gewitter, die Brust gepeitscht vom Sturm, und nie geahntes, höllenhaftes Licht flog um sie her. Sie sagte wohl: »Was ist es? Noch ist nichts geschehn. Ich will nicht.« Aber es war geschehen, denn es war gesprochen. Jetzt strich gelbes Licht über ihren einstigen Traum, worin sie Valentin verwechselt hatte mit ihrem Geliebten. Alle Träume flammten auf, waren Wirklichkeit, die von ihr forderte, sie zu bekennen.

Zwei Tage lebte sie so, dann kehrte sie zurück in die Sankt-Hedwigs-Kirche. Sie fragte nach dem Kaplan, geduldig erwartete sie seine Zeit. Sie bat ihn um seinen Beschluß. Er sagte, für sie gebe es nur volle Umkehr. Die Wende ihres Lebens müsse sie ganz ergreifen, wie vorher der Fall. »Werden Sie begnadet werden? Die Gnade ist ein Geheimnis Gottes. Uns gab er den Willen, wir sollen kämpfen …« Er nannte ihr als Schauplatz ihres schwersten Kampfes ein Exerzitienhaus draußen im Lande. Sie werde die vorgeschriebene Anzahl von Tagen dort leben. Sie werde mit niemand sprechen und wie alle andern vom Exerzitienmeister sich zu ihrem Heil befehligen lassen. Die Vereinigung mit Gott werde dort erreicht durch zielbewußtes Vorgehn, unter Bindung an wohlerwogene Betrachtungen und Übungen, mit Einfügung in eine bestimmte Ordnung des äußeren Lebens.

Sie neigte die Stirn. Er sah endlich, daß sie vor großer Ermüdung kaum stehen konnte und widerstandslos vor sich hin weinte. Er nahm ihre Hand, er war erschrocken. »Die Beichte soll keine Folter sein«, murmelte er. »Sie soll den Frieden bringen, nicht rauben. Gehen Sie mit Gott – Frau Marie.« Er wußte für sie keinen andern Namen.

Sie ging und ließ einpacken. Sie verreise, unbestimmt, wie lange, mehr erfuhr niemand. Wenn Valentin kam und nach ihr fragte, mehr erfuhr er nicht. Sie nahm eine Autodroschke, sogar der Bahnhof, von dem sie abreiste, blieb unbekannt. Am Abend suchte sie ihren Weg durch die unbegangenen Straßen einer Kleinstadt, fand einen hoch umschlossenen Garten, ein Tor, das dunkel und lautlos vor ihr aufging, das aber, als sie noch umsah, schon zugefallen war.

 


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