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Viertes Kapitel

Sie war entsetzt, zuerst begriff sie nichts. Was geschah, mußte Irrtum sein, eine willkürliche Störung. Die Wirklichkeit lag vielleicht ungewöhnlich, jedenfalls aber einfach. Sie hatte ihr Kind wiedergefunden, es war ihres. Zum Beweis half sie ihm sowohl wie der Familie, in der es aufgewachsen war. Dies ließ keinen Zweifel zu, denn wer hätte schon gehört, daß jemand so viel verschenkte von seinem schwer erworbenen Geld. Hier aber war es ihr Recht und ihre Pflicht.

Sie hatte sich ihres Kindes erinnert – vor einem Jahr, ja, nur ein Jahr. Auch damals kam der Sommer. Sie war an einem altgewohnten Strande und nie allein, sogar Verehrer, natürlich Verehrer wie je. Trotzdem kam ihr das sichere Gefühl, daß sie etwas versäume, einen Vorteil im Leben verliere, der bei besserer Disposition unschwer zu haben sei. Die Verehrer schienen ihr nachgrade unsachgemäß, nur noch unergiebige Beziehungen waren denkbar.

Sie fühlte ein Alter kommen, das keine neuen Menschen mehr will. Es wird schwierig, noch anzuknüpfen, wenn man jedes Wesen ganz anders als früher, wie eine eigene Welt sieht. Früher waren sie ein Spiel deiner Sinne. Der Ernst der Alternden entfernt sie von dir. Nahe wäre nur der Sohn! Sie sah ihn erscheinen, irgendeiner der Hotelgäste verwandelte sich in ihren Sohn, nahm, gut gewachsen, gekleidet und erzogen, den Korbsessel neben ihr und sagte, die Stimme voll einer unbekannten Wärme: »Mutter!«

Der Träumereien ungewohnt, unterdrückte sie anfangs leicht auch diese. Zu wenig Gegebenes entsprach ihr. Wo war der Sohn, und lebte er auch nur? Sie bemerkte, daß sie ihn in der ganzen Vergangenheit eigentlich als tot betrachtet habe. Denn sie brauchte die Unabhängigkeit ihres durchaus berechneten Daseins. Ihre Abenteuer gingen in der Rechnung auf, sie hatte gelernt, auch Abenteuer, die den Kopf kosteten, zum Schluß sich noch dienstbar zu machen. Selbst ihr Prozeß, jener alte Prozeß, ein so schwerer Fehler er sein mochte, hatte sie sozial nur gefördert. Er gab ihr Glanz. Der Glanz überzeugte viele, es sei Ehre, was sie zuerst für Schande gehalten hatten.

Mutterschaft allein hatte sie sich lange nicht erlauben können. Es war das von der Welt ihr schlechthin versagte Abenteuer. Die Welt hatte sich ihr von frühauf durch Schläge auf das gründlichste verständlich gemacht, sie gehorchte ihr blind. Sie hatte ihr Kind vergessen. Seit dem vorigen Sommer aber lebte es in ihr wieder. Jetzt ließ es sich nur noch anfangs verleugnen und nie mehr ganz. Wozu auch? Sie war reich, jetzt konnte sie es haben. Die Welt war jetzt mit ihr im Bunde, sie erlaubte ihr sogar den Sohn, sobald mit einem Sohn das Leben ergiebiger schien.

Dies stand noch nicht ein für alle Male fest. Zurück von der Sommerreise, ließ sie sich Zeit mit allen Schritten. Sie war nicht gewillt, Geschäfte zu machen, die eher Verlust als Gewinn versprachen. Der ersten, schweren Gefahr, für ihr Kind ein anderes zu bekommen, begegnete sie mit äußerster Vorsicht. Sie hatte nie gewußt, wie die Leute hießen im Haus Berliner Straße, vor dem einst jener Brunnen stand, in das einst jener Mann ging, das Kind im Arm. Sie erfuhr aber, daß es noch immer dieselben waren, daß kein Kind im Hause je erblickt war außer diesem und daß sein Alter stimmte. Dann erst trachtete sie, es zu sehn.

Was sie sah, war ein gewöhnlicher junger Mensch, er machte ihr zuerst noch weniger Eindruck, als sie erwartet hatte. Auf Enttäuschungen war sie gefaßt. Das erträumte Idealbild eines Sohnes, womit dies ganze Abenteuer begonnen hatte, blieb außerhalb ihrer vernünftigen Voraussicht. Wohl aber vermißte sie die halbwegs lebendige Sympathie, etwas, das sie mit weniger Vorsicht hätte Instinkt nennen können. Nicht einmal das. Bei ihrer großen Erfahrung mit Männern fand sie diesen weder rühmlich noch vielversprechend. Er schmeichelte ihr nicht. Er konnte ihr keine Illusionen über sich machen, denn er hatte selbst keine. Er war kein Eroberer, mindestens war schon die Unbefangenheit fort. Nicht viel fehlte, sie hätte ihn gelassen, wo er war.

Er ward erst interessant, als er bei ihr in Spielschulden saß. Wie er sich damals abarbeitete, sie konnte sich nicht satt sehn. Um ihr nichts schuldig zu bleiben, beging er anderswo Kunstgriffe, die schlimmer waren, als nicht zu bezahlen. Er kämpfte unsinnig auf verlorenem Posten und um so wenig Geld. Sie dachte: »Und ich kann ihn loskaufen mit einem Wort!« Das Wort Mutter. Sprich es aus, er ist dein! Nein, doch nicht, dann beginnt erst dein eigener Kampf. Nicht er hat Eroberer zu sein. Du sollst dir deinen Sohn erobern.

Zum erstenmal entdeckte sie Schwierigkeiten, die ihr eigenes Machtwort nicht beseitigen konnte. Es lag an ihm. Er war ein vielfach bedingter, abhängiger junger Mann, vom Leben schon längst in überaus wirksame Schulung genommen. Er hatte nicht darauf gewartet, daß seine wahre Mutter kam. Er würde sie kaum mit offenen Armen empfangen. Seine Arme öffneten sich schwer.

Grade dies begriff sie. Es war das erste, was sie mit ernstem Sinn begriff und billigte. Auch sie hatte Mißtrauen erst erlernen müssen. Sogar Alleinsein kommt erst mit dem ärgsten Gedränge. Er war nicht wie sie, er hatte weniger heiße, trübe Natur zu besiegen als einst sie, bevor er ganz der Welt gerecht ward. Gleichviel, sie erkannte ihn – erkannte ihn von innen her, mit ihrer eigenen frühen Not, mit ihren Eingeweiden; und plötzlich erkannte sie auch sein Gesicht. Sie erkannte den Mund, erkannte die Stirn. Sie fand auf der Kopfhaut das Mal.

Welch einzige Zeit heimlicher Liebe, unausgesprochen, als ob das Kind sie noch nicht verstände. Sie hatte es manchmal neben sich wie in der Wiege. Gleichzeitig war es ein Erwachsener, der zweifelte an ihr. Sie fühlte alles mit, seine Zweifel, Vorbehalte, wann er nur nachgab aus Eigennutz oder höflicher Schwäche und wann er sich hingab. Er ließ sich erobern, er ließ sie seine Zuflucht sein – und behielt als sein eigen doch, was vorher lag, Geheimnisse, die auch hinter ihr noch glommen. Sie sah ihn erwärmt, sie selbst war glücklich. Dies Glück in aller Unerfülltheit, ihr war es lieb. Sie ahnte wohl doch schon, es dürfe ungestraft nicht weiter damit kommen.

Nur war es völlig unvermeidlich, in der Sache mit Geld zu arbeiten, wie sie es vor sich ausdrückte. Was wäre sie für ihren Sohn ohne Geld gewesen? Eine zudringliche Bettlerin. Sie hatte nie vergessen, wie das Leben ohne Geld aussieht. Eher hatte sie ihr Kind vergessen können. Das Leben ohne Geld, sie hatte es als den Zustand gekannt, in dem jeder Trieb gefährlich, die eigene Natur zur Hölle wird, und die Welt peitscht dich nur immer tiefer hinein. Geld dagegen gibt kalte Besinnung, es bereitet unsere Selbstachtung vor. Es ist die innere Erlösung, sofort nimmt auch die Welt ihre schwere Hand von uns.

Reinigung und Freiheit sind Erfolge des Geldes. Sie war völlig überzeugt, daß auch Liebe eine seiner Wirkungen ist. Arme sind noch niemals lange geliebt worden. Sie verachtete die bürgerliche Romantik, die es sich vormacht. Käuflich ist jede Liebe, bezahlt wird jede. Wer sich einst aus Not, grob und unverblümt verkauft hat, bringe es dahin, daß es mit Anstand geschieht, er steige auf zu den ehrenvollen Formen des Handels … Hat er aber die unehrenhaften gekannt und an sich erfahren, wie sollte er, selbst zum Käufer geworden, den anderen nicht schonen wollen! Sie hatte Valentin doch geschont. Die Generalin war von ihr keiner unnötigen Demütigung ausgesetzt worden.

Warum Haß? Sie kam als Freundin mit allen gebotenen Rücksichten. Wie viele zarte Umschreibungen für Geldgeschenke bis zum Kauf eines Halsbandes, dessen Echtheit sie lieber ununtersucht ließ. Zu arbeiten war freilich in jedem Fall nur mit Geld. Die Lage der Familie machte es ebenso notwendig wie ihre eigene. Die wirkliche Mutter kann nur mit vollen Händen kommen. Dann aber ist sie die Mutter, sie beweist es. Bei gewöhnlichen Armen wäre sie einfach im Triumph eingezogen.

Hier lag es anders. Diese waren reich gewesen, sie hatten den Luxus feiner Gefühle genossen. Dieses Luxus sich entwöhnen zu sollen erbittert mehr als der Verzicht auf feine Wäsche. Wer näher einging auf die Familie, begriff manches. Nicht nur, daß sie sogar den zartesten Vorwand, Geld geschenkt zu nehmen, noch als grob empfanden. Sie liebten auch Valentin – nicht sehr, aber sie liebten doch, was sie an ihm getan hatten, und die nun schon eingefleischte Selbsttäuschung, als sei er ihr Kind. Vielmehr, nur von der Generalin galt es. Der General war gutgläubig, oder doch fast.

Alles bedacht, alles zugegeben. Baronin Hartmann hatte lange genug an Menschen gelernt, um auch diese zu verstehen. Da aber brach mitten in ihrer reifen Gesittung und Erfahrung eine heiße Stunde an, kein Zweifel kam mehr auf, alle Haltung hatte sie verlassen. Sie war nur noch ein Schrei: »Hin und mein Kind holen! Ich will. Er ist mein. Ich will.« Wie der Sturm fuhr sie bis unter sein Fenster. Er stieg zu ihr in den Wagen. Sie jagte ihn mit neunzig Kilometer Geschwindigkeit ins Weite, sie sagte kurzweg: »Bleibe bei mir!« Sie befahl: »Du bleibst!« Sie bestürmte ihn. Sie drohte. Sie drohte mit dem falschen Halsband. Es sei nicht falsch, behauptete er. Oder doch nur zum Teil, sagte er schon viel leiser.

Erst als er alles, was sie wollte, versprochen hatte, ließ ihre Kraft nach, und sie verzagte selbst. »Ich weiß wohl, daß es nicht so einfach ist.«

Sie jagten unter dem schönsten Frühlingshimmel schon weit draußen an grünenden Feldern hin, durch ein Gehölz, das noch soeben fern geblaut hatte, jetzt aber sich als schütter und feucht erwies. »Es ist nicht, wie man es wohl sieht, solange man noch nicht mittendrin ist«, sagte Valentin. »Wenn ich meine Eltern verließe, ich will sagen, aus der Berliner Straße fort und zu dir zöge – Felicie, hast du schon bedacht, welches Aufsehen?«

Er fühlte sehr wohl, daß sie schwächer ward, er eröffnete sich langsam. »Du willst zu schnell vorgehn, Felicie. Du hast viel Takt, aber wer könnte in dieser Sache genug haben. Du weißt, daß du der Generalin nicht gleich alles ins Gesicht sagen darfst. Im Grunde weißt du sogar, daß man so etwas überhaupt nicht sagt. Von mir aber erwartest du es dennoch. Leugne nicht, Felicie, du erwartest, daß ich mich vor die Generalin hinstelle und sie auffordere zu gestehn. Ist das nicht phantastisch?«

»Natürlich«, sagte sie, »das ist phantastisch. Es ist aber auch phantastisch, daß ich ins Haus wie eine Fremde komme – und was sonst noch alles geschieht.«

Er verstand. Sie meinte das Geld. Sie meinte auch die Prinzessin, aber das erste war das Geld. Lieber hielt er sich noch an das zweite.

»Die Prinzessin – Felicie, wenn du verständest, wie wenig sie dir schadet. Was sage ich, sie nützt dir. Ich kann bei ihr der große Herr sein, nur weil du zu mir gut bist. Du machst mir Mut, es wieder mit einem Menschenkind zu versuchen. Wie werde ich dir, wenn es gut geht, danken«, sagte er mit so sanftem Lächeln. Er bat noch: »Laß mich nicht fallen, wie könnte ich die Arme sonst halten.«

Aber sie sagte gramvoll: »Lüge nicht! Du liebst sie. Ich würde es noch ertragen, aber du liebst sie unter dem Einfluß der Generalin. Sie haßt mich, sie entzieht dich mir mit Hilfe dieses Mädchens.«

Er hätte vieles zu erklären gehabt, sie aber war schon bei dem Präsidenten. Das Ärgste in der Sache war der Präsident. Sie fand keinen Namen für das, was hier geschah – »und ich bin nicht Generalin«. Der Präsident ward ins Haus gezogen und auf das Mädchen losgelassen, auf die Braut des Sohnes! »Ich fürchte ihn nicht«, behauptete Valentin – da fiel auf ihn ein schwerer Blick. »Du hältst ihn für einen Menschen, wie du sie kennst.« Was er denn sei. »Ein Albdruck.«

Valentin nahm ihre Hand. »Felicie, ich bin dir ergeben, aber du sprichst manchmal aus einer anderen Welt.«

Ihre Hand erbebte, er fühlte es. Sie tat ihm leid, trotz der Befangenheit, die er nicht los ward vor diesem großen Gefühl. »Ich will dir verraten, Felicie, wie es in Wirklichkeit aussieht.« Ohne abzusetzen: »Die Prinzessin ist arm. Man hat dir das Gegenteil erzählt, aber sie ist arm, und der Präsident, der nur zum besten gehalten wird, soll sie versorgen. So. Mir geht der Atem aus. Und dir?«

Er hob die Schultern, er lachte mit Takt, weder schamlos noch naiv, sie konnte nur mitlachen. Sie sah aber: es ist ein Fehler, als Freundin und mit vollen Händen zu kommen. Beliebter macht es, wenn du, wie Seehase, mit bösen Absichten erscheinst, wofür sie dir dein Geld durch List und Tücke herausziehn. »Auch mein eigenes Kind tut mit!«

Zorn überfiel sie. »Bin ich denn wehrlos? Sie sind nicht einmal gewärtig, daß ich mich wehre.« Die Stadt war erreicht, sie ließ halten. »Steige aus!« sagte sie.

Er kam ihrem Befehl nach. Seine Bewegungen betonten, daß er jedem, jedem ihrer Befehle gefolgt wäre. Der Zornigen verschärfte es nur den Eindruck, mit ihr werde gespielt. Sie schlug ihm die Tür vor der Nase zu.

Schon am Abend fand er sich wieder ein. Er hatte zu Hause sofort verlangt, der Präsident solle fortbleiben. Wohlverstanden, er hatte nichts erreicht. Was tun? »Wir sind arm, Felicie, hast du mir nicht gesagt, daß du weißt, was das heißt? Man hat nicht mehr die Wahl der Mittel, selbst Damen nicht – und die Generalin ist doch gewiß die geborene Dame.«

»Du siehst, geboren wird keine«, sagte sie hart. »Damen sind nur wie der Kopf auf den ehemaligen Goldstücken: eine Form des Goldes. Ich merke, daß sogar der eigene Sohn nur solch ein Kopf ist.«

»Es liegt an dir«, sagte er, »du willst es nicht anders.« Mit den festen Worten, den ersten, die er sie hören ließ, kam ihm auch die Haltung. »Du hättest bei uns nie Geld zeigen sollen. Du hättest mir nichts leihen dürfen. Ganz anders mußtest du es anfangen. Felicie, wärst du doch arm!«

Sie stand betroffen, kein unverhoffteres Wort hätte fallen können.

»Arm –«, wiederholte sie. »Als ich arm war, hättet ihr mich –«, Handbewegung, er begriff: hinausgeworfen. Aber er sagte mit Anstand: »Nicht gleich verstanden. Nein, wir hätten dich nicht gleich verstanden – aber es schließlich doch leichter gehabt, dich zu verstehn.«

»Du weißt nichts«, sagte sie schonungslos. »Schweig!« Denn dies war nun die verachtete Romantik, bei ihrem Kinde selbst fand sie das klägliche Wegsehn von den Tatsachen des Lebens. Nur so bekamen alle den Mut, grausam zu sein … In diesem Augenblick war sie näher als je vor- oder nachher daran, zu sagen, sie habe sich geirrt, sie kenne ihn nicht, er möge gehn.

Plötzlich sagte sie etwas ganz anderes. Sie wunderte sich selbst, wie verschieden es von ihren Gedanken war.

»Ich will die Prinzessin hier haben. Hier bei mir. Mit dir.« Worauf er sofort einging. Er war froh, daß sie endlich dasselbe wünschten. Vor Freude umarmte er sie.

»Felicie, du machst zwei Menschen glücklich.«

Sie sagte mit ihrem ersten Schmerzenslächeln: »Du ahnst noch nicht, wie sehr. Ich werde euch allein dinieren lassen. Ich gehe ins Theater, ihr sollt das Haus für euch haben.«

 

Tags darauf gab sie alle Aufträge, beaufsichtigte noch die Küche und den Tisch, war aber schon fort, als sie kamen.

Sie saß in der Loge eines Theaters, ohne zu bemerken, was gespielt wurde. Die Prinzessin wurde jetzt von Herrn Tietge, zweifellos mit Zärtlichkeit, in ihren weißen Sessel gesetzt, Valentin von Franz. Bis jetzt saßen sie noch erfüllt vom Gefühl ihrer Würde einander gegenüber. Beide hielten sich aufrecht, sie wirkten unbegreiflich jung. Ja, dies war es, sie hatten Gesichter ganz ohne Hintergrund. Auch Valentin. Sie sah ihn, mit seiner jungen Prinzessin hatte er ein neues Gesicht, nicht das schon erfahrene, schon enttäuschte, das schuldige, mit dem Haß bekannte. Zwischen ihm und der jungen Prinzessin erhoben sich keine Leichen.

»Ich mache ihn älter. Ich kann ihm nicht Mut machen. Mein Geld vergiftet alles, was ich ihm sein will. Wieviel ich auch sonst erkämpft habe, die Jugend liebt ohne Kampf. Er braucht die Prinzessin.«

Wobei das Herz sich krampfte. Aber es war die Wahrheit, seine Wahrheit, sehr viel mächtiger als ihre eigene, über die man hinging. »Ich bin eifersüchtig. Auf ihn und sie, auf beide. Sind sie nicht arm? Und werden doch geliebt! Die Prinzessin, die geliebt wird, ist nicht nur arm, sie ist töricht, was weiß sie eigentlich von ihm, was bindet sie an ihn?«

Nicht das Tiefste. Nicht, daß er durch ihre Schuld gelitten hatte, ja, lebte durch ihre Schuld.

Ein Augenblick inneren Verstummens, dann stieg dröhnend der schwere, harte Stolz auf. »Ich aber habe einen Menschen zu verantworten. Mein großes Recht auf ihn ist, daß ich so großes Unrecht an ihm tat. Die Schuld zieht keiner von mir ab, ich kann sie mit Geld nicht bezahlen.«

Sie wiederholte nachdrücklich: »Ich kann sie mit Geld nicht bezahlen.«

Was sie noch nicht wissen konnte, meldete sich von fern her. »Hätte ich mich arm geschenkt, ich wäre ihm noch immer alles schuldig. Wäre ich tot, ich fände meine Schuld dort drüben wieder, zugleich mit meiner Liebe. Ich liebe ihn. Ich liebe mein Kind, aber es ist schwer, wenn du es ganz begreifst. Hilf mir! Wer hilft mir?«

Sie dachte noch nicht: Gott. Sie fühlte sich, der Demut ungewohnt, mit dem, was ihr geschah, nicht mehr ganz in jetziger Gestalt. Sie war eine andere, war fern, war klein: das Mädchen, das seinen schweren Krug vor der Tür der Bergkirche absetzt, das eintritt und die Knie beugt. Ein Donner hallt, die Orgel. Aber die Kanzel hinan erhebt sich ein Engel. Es ist der junge Pfarrer, einst ein Engel. Er ist es wieder. Sein junges Gesicht!

Baronin Hartmann ward qualvoll zurückgerufen. Ihr ward übel, sie glaubte das Bewußtsein zu verlieren, bis sie merkte, daß sie es im Gegenteil wiederfand. Statt der Orgel brüllte die zuversichtliche Revuemusik, fünfzig scharfe Stimmen auf der Bühne sangen voll Überzeugung mit. Kein Zweifel, dies waren Körper, durchweg Körper. Sie waren teuer, sie waren reich, das Licht ließ sie erstrahlen, immer noch greller, immer noch bunter. Das ganze Haus erkannte auf der Bühne sich selbst, sein bestes Selbst wenn auch fast niemand genug Geld hatte, um so schön zu sein, um dergestalt zu schwelgen im Lebensglanz.

Die fünfzig weiblichen Körper trugen goldene Westen, die funkelten bis um das Kinn. Vom Magen abwärts waren sie vorwiegend nackt. Hundert lange, schlanke Beine auf goldenen Schuhen bewegten sich im gleichen Takt durch die glitzernde Welt des Bühnenbildes. Zum Schluß beschrieben sie einen dreifach gestuften Halbkreis um die drei Hauptpersonen. Dies waren als weibliches Hauptstück die beiden ansehnlichsten unter allen Beinen, als männliches ein junger, gutgewachsener Frack, der Magen hohl, aber die Schultern wie Herkules. Der zweite Frack, ein Greis in mittleren Jahren, war das Opfer, alle zweiundfünfzig graden jungen Körper hatten es unverblümt auf ihn abgesehen. Er heiß Wichtig, sie nannten ihn den alten Wichtig und sangen, mit ihm sei es richtig, er werde bald sterben, es gebe was zu erben. Was Wichtig sogar mitsang. Die ansehnlichsten Beine und der gutgewachsene Frack aber kamen nach vorn zur gemeinsamen Verklärung. Ja, der Scheinwerfer verklärte sie nahezu.

Baronin Hartmann traf zu Haus ein, das Grammophon spielte. Sie zeigte sich nicht, sie betrachtete vom Vorraum her die beiden Jungen, die tanzten. Sie machten es wahrhaftig nicht schlechter als die Erben des alten Wichtig. Übrigens war die Musik die gleiche. Bei näherem Hinhören und nun der gewaltige Lärm abgeschwächt war durch die kleine Maschine, trat das Kindliche der Musik hervor, ein harmloser lustiger Marsch, woraus großer Aufwand motorischer Kraft wer weiß was machte.

Die beiden Jungen setzten die Füße haargenau, obwohl sie manchmal nach Vorschrift zitterten am ganzen Leibe wie elektrisiert. Auch dann noch blieben die Gestalten gestreckt, zwei Arme ausgereckt mit ineinandergeschlungenen Fingern, die Gesichter ernst. Die Jungen waren mit sich allein so ernst und streng, als tanzten sie vor voller Halle um die Weltmeisterschaft. Sie würden die vereinzelte Zuschauerin nicht beachtet haben, auch wenn sie von ihr gewußt hätten.

Die Seele der Zuschauerin erfaßte alles, das süßlila Kleidchen, den stolzen Frack, erfaßte lange Beine, kurze Haare, Gesichter ohne Hintergrund – und den Glanz, den etwas zu lauten Jugendglanz wie von geheimen Scheinwerfern. Sie fühlte: »Nicht daran rühren!« und fühlte: »Wie schade um sie!« Sie wandte sich ab.

Da sah sie das Paar im Spiegel des Vorraums vorbeitanzen, sah aber auch sich – sich selbst groß vorn mit dem Gesicht dieses Abends, alles heute abend Erlebten. Ihr ward kalt vor dem Anblick. »Was geschieht mir? Das ist eine alte Frau.«

Obwohl dort immer noch die Schönheit auf dem einzigen, nicht meßbaren Punkt der Reife stand. Aber sie wußte sich unterwühlt. Sie erblickte schon auf der Fassade, was noch nicht nach außen gelangt war. Glatte Stirn, die Haut ohne Makel, und wollte sie es, verstummten die großen Augen. Nur hinter ihnen arbeitete der Gedanke. »Ich hatte lange nichts mehr erlebt, die Fassade ist über die Frist hinaus unberührt geblieben. Das rächt sich jetzt.«

Ihr graute.

 

Sie vergaß nicht so bald, daß ihr gegraut hatte. Sie wehrte sich gegen Angreifer, der junge Valentin mochte auftreten, die nächsten Tage fand er einfach eine kurz entschlossene gute Freundin, die sich auf Erschwerungen ihres Falles nicht einließ. Er und die ganze Berliner Straße hatten ihre Pflicht zu tun. Baronin Hartmann äußerte Verwunderung, daß ihr Besuch noch immer nicht erwidert worden war. Man schickte ihr Aufmerksamkeiten, Valentin wenigstens behauptete, sie kämen von der Generalin. Einmal erlaubte sich der General, seinen Sohn zu begleiten – worauf sie beide abwies.

Es ward Zeit, daß jemand einen neuen Zug tat, um die Verhandlungen zu beleben. Dies geschah, man verlangte viel Geld von ihr. Dann sollte der ersehnte Gegenbesuch folgen. Valentin sagte es ihr unter ausdrücklicher Mißbilligung des ihm leider erteilten Auftrages. Das Geld war nicht für ihn, noch weniger für die Generalin bestimmt. Es sollte ausschließlich der Prinzessin eine für den Augenblick nachweisbare Mitgift verschaffen, ward aber von den Ergebnissen der Fürstenabfindung zweifellos zurückgezahlt. Ihr Vater der Herzog konnte sich unmöglich weigern, die Schuld seiner Tochter anzuerkennen, wenn noch dazu eine Persönlichkeit wie der General Vogel von Lambart als Geldgeber auftrat. Eine solche Darstellung der Dinge konnte sogar dahin führen, daß der Prinzessin ihr volles Recht ward. Dann war sie reich.

»Dann seid ihr reich und werdet hundert Jahre alt. Das alles ist Unsinn, und niemand glaubt daran«, erwiderte sie schroff. Er behauptete freilich, die Generalin sei aufrichtig – mehr oder weniger, gab er zu. »Bedenke, Felicie, wie sehr sie sich hat gewöhnen müssen, von Hoffnungen zu leben, von Illusionen, sagen wir. Sie will dir nicht unrecht tun.«

»Nein. Warum sollte sie es wollen. Aber wenn ich eines Tages mein letztes Geld verschenkt hätte, würde sie dann, um das Unglück wieder gutzumachen, sich solche Mühe geben wie jetzt, um es herbeizuführen? Nein, mein Lieber, seine Illusionen bezahle jeder selbst.«

Diese Stimme des Geschäftsmannes enthob ihn weiterer Antworten. Er hatte alles bisher einschmeichelnd und mit gemachtem Leichtsinn heruntergesprochen. Auf einmal ward er ernst. »Ich freue mich, Felicie, warum freue ich mich? Es wäre doch nur in der Ordnung, daß wir dich zu schlechten Geschäften bereden. Wo in der Welt geschieht etwas anderes. Dich aber mag ich in solcher Rolle nicht sehen. Ich mag an dir nicht zweifeln«, sagte er, die Augen schließend.

Ihr Herz schlug hoch auf. Er liebte sie, er wollte an seine Mutter glauben. Seine wahre Mutter war nicht die Frau, die ihn kaufte. Das Geld, das sie aufwandte, bewies ihm immer nur, daß sie die echte nicht sein konnte. Es verfälschte ihn wie sie. Er war erlöst, da sie nein sagte. Erlöst war sie selbst.

Er verriet einiges von seiner wahren Meinung über die Generalin, so unbefangen trat er auf die Seite Felicies. Ihrerseits traute sie ihm endlich zu, er könne in Sachen der Prinzessin hören, was sie dachte. »Mein Junge!« sagte sie langsam. »Wie kommst du darauf, die Prinzessin zu heiraten? Stellst du dir eine Puppenstube vor? Ich habe euch tanzen gesehn wie Maschinen. Sie ist doch lieb und unschuldig, aber ich sehe immer die Maschine – trotz ihrer veilchenblauen Augen. So sind viele, dabei sind nicht alle Prinzessinnen. Sie müssen an einen Strom angeschlossen sein, der gerade noch ausreicht, sie aufrecht zu erhalten.«

Da er genau zuhörte, sagte sie mit um so tieferer Überzeugung: »Sieh mich an! Ich hatte kein Geld, des Geldes wegen mußte ich alles lernen, was sie wollen, daß man lernt. Ich aber behielt doch immer noch mein Herz, mein Blut.« Hier bewegte sie sich, wie ihr Herz, ihr Blut sich im Leben wohl bewegt hatten, nicht zart, nicht abgemessen. »Ich wollte noch lieber –« Die gespreizten Finger ihrer beiden Hände stießen hart in die Luft, dann gegen ihre Brust. Er verstand genau. Es hieß: »Heirate eine wie mich, eine arme Arbeiterin, eine Frau ohne Bedenken und anerkannte Sitten – nur nicht die Prinzessin!«

Er saß gebannt, er beugte sich vor. Sein Kopf kam, unwiderstehlich angezogen, ihren Händen nahe – da griff sie nach ihm. »Mein Junge«, sagte sie, wie zu ihrem Eigentum. Nochmals »mein Junge« – aber jetzt in seine Haare. Ihr Mund versank, sein soeben noch harter Laut schmolz und ertrank in diesen Haaren.

Valentin schluchzte heimlich auf. Ihn schüttelte ein Sturm von Gefühl, und er gab sich hin, er begrüßte den Sturm. Im Leben ward der innere Aufstand nur immer abgewehrt, er aber ließ ihn bis zum Rausch gehn. Dies seine Mutter! Sie war es so sicher, als er nur seiner selbst war. Seine Mutter war die verdächtige Abenteurerin, vor der man stutzte. Sie war die Arme auf ihrem schlechten, selbstgebahnten Weg. Er glich ihr, auch sein Geschick war außerordentlich – ja, sie machte ihn seiner selbst doch wieder bewußt. Sie übertrug ihm ihre Kraft, das Leben zu bestehn. Daran erkannte er sie – überglücklich, weil er nie, nie mehr an ihr, an sich zweifeln konnte. Er stammelte, und auf ihre Hände stürzten seine Tränen:

»Verzeih mir! Verzeih mir, daß ich lau war, daß ich zurückhielt. Längst hätte ich vor meiner Mutter so daliegen sollen.«

Er lag auf den Knien, die Stirn gegen ihre Knie.

»Ich habe in mir dein Leben«, stammelte er, »ich bin namenlos stolz darauf. Ich will endlich deiner würdig und Mann werden. Kämen wir doch in Gefahr, damit ich es dir beweise! Für dich verlasse ich alles. Nimm mich auf!«

»Kind! Mein Kind!« Sie wollte seinen Kopf aufheben, aber er hing an ihren Knien wie an der Zuflucht. Da ließ auch sie sich hingleiten, jetzt knieten sie voreinander.

»Endlich«, sagte sie. »Es war schwerer als alles andere bisher.«

Er hörte nicht, er sprach mit ihr zugleich. »Ich verlasse alle, auch die Prinzessin.«

»Ich nehme an«, sagte sie stark. Sie küßte ihn und stand auf. Er folgte ihr. »Gib mir ein Zimmer für die Nacht! Ich gehe nicht mehr zu den andern.«

Sie wandte sich um. »Im Gegenteil! Du schläfst auch diese Nacht noch in ihrem Hause, und morgen sagst du ihnen allen ins Gesicht deinen Entschluß. Unseren Entschluß.« Auch an diesem Ton erkannte er sie.

Sie wollte um ihre Rache nicht kommen. Ihr Triumph sollte unbezweifelbar sein. Bedingungsloses Zerreißen der Familie, alle Hoffnungen auf Ausbeutung niedergeschlagen, in das Elend mit ihrer Feindin, der Generalin – sie gab nichts nach, auf Mitleid hatte bei ihr niemand zu rechnen, auch ein hilfloses Kind nicht. Dem Verlobten der armen Prinzessin ward weh und angst. Was sollte aus ihr werden. »Aus uns«, hauchte in ihm eine verstörte Stimme, die er schweigen hieß.

Er ging, sie glaubten alles geregelt. Valentin hatte versprochen, morgen mittag wieder dazusein, er sollte sein Zimmer beziehn. Gleich jetzt, trotz später Stunde, gab sie den Auftrag im Haus. Sie war so glücklich, daß sie nicht gern schlafen, kein Glück durch Schlaf versäumen wollte. Dies war der Augenblick seiner Übergabe. Was immer kommen sollte, sie hatte diesen Augenblick.

Aber es hatte Kraft gekostet, sie war müde. »Ich werde von ihm träumen.«

Wirklich träumte sie von ihm – es geschah aber im Gerichtssaal. Er war im Zuschauerraum auf der höchsten der ansteigenden Bänke, sie wußte es, ohne daß sie ihn fand. Sich selbst fühlte sie drunten vor den Richtern. Betrieben wurde das Verderben des Mannes auf der Bank der Angeklagten, ihres einzig Geliebten, der sie hatte verlassen wollen. Sie dachte: »Was geht es das Gericht an! Er wird gefürchtet und geliebt, ihm widersteht keine. Er hat für alle nur Verachtung, ich allein bin seine Gefährtin, die Gefährtin des Spielers. Wir spielen, wir reisen, spielen, sind immer in Gefahr – ich, die aus den schlimmsten Abenteuern doch schon heraus und auf bestem Weg zur Anständigkeit war. Aber ihn fand ich, ihn liebe ich, das ist meine Sache. Ob er mich bestiehlt und verläßt, er bleibt der einzige seit meiner dunkelsten Jugend, dessenwegen ich mich vergessen mußte. Es geht nur mich an, nicht Sie, meine Herren!«

Da winkte aber der Vorsitzende des Gerichts den Zeugen herbei. Der Zeuge trug eine verschlossene Schmuckschatulle. Er selbst war ohne Hemdkragen, auch schien er ohne Augen. Seine grauweiße Stirn, fleischig, schräg gefaltet, beweglich wie ein Tier, sprach von Sorgen und von Grausamkeit. Er setzte die Schmuckschatulle ab, er streckte schmutzige Krallen hin, um seinen Angeberlohn zu fassen. Er war der Spießgeselle ihres eleganten Geliebten, hatte ihn ertappt über Vorbereitungen zur Flucht, er brachte der Geliebten, die verlassen werden sollte, ihren Schmuck zurück.

Die Träumende versuchte zu schreien. Erst jetzt begriff sie: dies war ihr alter Prozeß. Sie selbst – sie selbst hatte ihren einzig Geliebten angezeigt. Das Schlimmste kam zutage, und ihr eigenes Kind sah zu. Denn es war zugegen, sie fand es nur nicht. »Mein Kind! So ist es nicht gemeint. Glaube es nicht. Ich will ihn nicht verderben. Seine Flucht war es, die mich von Sinnen brachte, nicht, daß er den Schmuck nahm. Ich habe ihn nur zu sehr geliebt, für ihn gäbe ich alles, was soll mir der elende Schmuck, der falsch ist. Ja, falsch. Er selbst wäre der Betrogene, er wird mich im Ernst nicht verlassen wollen. Verlaß mich nicht, mein Kind!«

Denn auf einmal ward es klar, daß ihr einzig Geliebter Valentin selbst war. Seine Züge trug er. Auch auf die Knie wäre er gesunken, nur packte ihn der Gendarm. Sie wollte hin, war aber in Todesangst auf diesen Fleck gebannt, indes die Stimme des Richters entschied: »Sie bleiben und lassen ihn gehen!«

So sagte der Richter: »Was wollen Sie von ihm? Er ist nicht Ihr Gefährte. Hier haben Sie Ihren Gefährten.« Er wies auf den Zeugen ohne Hemdkragen. »Das ist das Verrätergesicht, der natürliche Verbündete der Frau, die ihren einzig Geliebten vor Gericht zerrt. Nehmen Sie ihn sich, zusammen bringt ihr es weit!« Womit der Richter sie beide, ohne sich aber selbst zu rühren, gegeneinander bewegte. Schon streckte der Elende die Krallen nach ihr aus. Der Wulst des Stirnfleisches hob sich, steinharte Augen gingen auf.

Sie fuhr zurück, ihre Blicke rangen notgepeitscht um ein rettendes Gesicht. Ihr Geliebter hielt vor seines die Hände. Da entdeckte sie auf der höchsten Bank den Besten von allen, einen Engel vom Himmel, den jungen Pfarrer ihrer Kindheit, der sie schon in ihrem Dorf errettet hatte von der ersten Verzweiflung. Er war so schön wie je die erste Liebe, nur sah sie jetzt, daß er ihr eigenes Kind war. »Valentin!« rief sie. Keinen Augenblick wunderte sie sich, daß ihr eigenes Kind mit dem jungen Pfarrer wie mit ihrem Geliebten eins war. Der junge Pfarrer rief von oben: »Marie!« Er rief »Marie!« wie je, als sie ihn liebte. Er allein hatte sie so genannt. Er reckte die Arme nach ihr, wie sie nach ihm, nur daß viele dazwischen waren. Es wurden immer mehr, Zuschauer, Bewaffnete, Richter, alle verbündeten sich, um sie zu trennen von ihrem Kind – indes der verbrecherische Zeuge die Krallen schon um ihren Hals spreizte, sie selbst aber wie gelähmt nur wartete, was kam … Hier erwachte sie.

 

Frühmorgens rief sie Valentin an. Sie sei ermüdet, er möge noch nicht kommen. Statt seiner erschien der Präsident.

Er erschien in ausgewählter Eleganz und mit Sitten von verlorengegangener Vornehmheit. Er blieb, als sie sich gesetzt hatte, noch während mehrerer Sätze vor ihr stehn. Er fiel ihr nicht ins Wort. Er bewunderte, womit sie sich umgab und was sie äußerte. Erst als sie ausdrücklich fragte, was er wolle, brachte er einen Brief hervor. Sie hatte so lange nicht gefragt, weil sie seine Absichten fürchtete, wie nichts auf der Welt. Wirklich erkannte sie auf dem Brief die Schrift Valentins und den Namen der Prinzessin.

»Seehase«, sagte sie vor Angst, »den Brief haben Sie gestohlen.«

Ihn verließ der feine Ton nicht. »Ich habe mich, vielleicht zum Schaden meiner Gesundheit, daran gewöhnt, der Prinzessin meinen Morgenbesuch zu machen.«

»Ob Sie sich schaden! Neulich Ihre Ohnmacht!«

»Die Generalin läßt mich vor, weil ich kleine Aufmerksamkeiten bringe.« Er lächelte duldsam. »Heute nun, Frau Baronin, was glauben Sie, daß die Prinzessin heute morgen in meiner Anwesenheit auf silbernem Brett und mit Verbeugung vom Diener überreicht bekommt? Die Leute haben Diener«, sprach er beiseite.

»Was sagte ich, gestohlen« – womit sie nahm und las. Valentin schrieb der Prinzessin, daß er nur vorläufig genötigt sei, das Haus zu verlassen, in dem er sein Liebstes wisse. Sie las nochmals, »mein Liebstes«. Er schloß: »Ich werde dir alles erklären. Wir werden dennoch glücklich werden.«

Sie zerriß den Brief. »Es bedeutet nichts«, sagte sie. Der Präsident sagte höflich: »Wie Sie wünschen.«

Er atmete ein. Hierauf mit großer Schonung: »Ich gestehe meine Schwäche, ich bin an der Prinzessin interessiert. Sie, Frau Baronin, haben nicht weniger Interesse für den jungen Mann. Wir haben schon so viel geleistet für die beiden Kindchen, jeder für seins, daß es kein Wunder wäre, wenn wir uns gemeinsam zur Wehr setzten gegen ihre Verrätereien.«

»Verrä –« Sie fuhr vom Stuhl auf. Schon die ganze Zeit schien ihr Angsttraum ihr weiterzugehn.

Er war sogleich mit aufgestanden. Er erschrak vor ihr. »Unbesonnenheiten, wenn Sie lieber wollen. Unbesonnenheiten.«

Sie stand drohend da. »Das Wort mußte fallen«, sagte sie. »Als Verräter habe ich Sie damals kennengelernt. Wissen Sie noch?«

Er schwieg, nur seine Falten sanken tiefer.

»Wissen Sie noch, Seehase?« Mit Nachdruck: »Sie schickt Gott! Grade heute mußte ich es Ihnen vorhalten. Sie haben mich damals um mein Glück betrogen. Brachten mich dahin, daß ich gerichtlich vorging gegen den einzigen, den ich liebte, und nahmen noch Geld von mir! Ich haßte ihn aber nur, weil er mich betrog, nicht wegen des Schmuckes. Begreifen Sie doch! Nicht wegen des Schmuckes!«

Er sah mit Bedauern zu, wie sie sich aufregte. »Es wird sein, wie Sie sagen«, erklärte er. »Jedenfalls ist es sehr lange her, ich hatte alles vergessen. Sogar Ihr Gesicht, Frau Baronin – obwohl Schönheit unvergeßlich sein sollte.« Er bewegte würdig die Hand. Sie reckte sich.

»Wenn es hundert Jahre her wäre! Bei der Generalin habe ich Sie wiedererkannt.« Es klang wie das Gericht. Er flüsterte:

»Ich Sie auch, Frau Baronin. Ich gebe sogar zu, daß meine Ohnmacht nicht nur auf Rechnung der Prinzessin kommt.«

»Sie sind erkannt, Seehase. Begreifen Sie, was das heißt? Sie stehen nicht mehr als Präsident da. Ihr neuer Tanzanzug fällt in Lumpen von Ihnen weg. Sie haben keinen Hemdkragen.«

Er war ergriffen, er ward kleiner, womöglich wäre er zu seinem Schatten hingeflossen.

Da sie ihn schon für besiegt hielt und von ihm fort in andere Luft trat, erholte er sich. »Sie irren«, vermochte er zu sagen. »Für mich arbeitet ein englischer Schneider, der in Frankreich sein Geschäft hat. Korrektheit, gemildert durch Anmut, das ist sein Schnitt, wie Sie feststellen können. So, liebe Freundin, steht es mit uns auch sonst.«

»Sie sind korrekt und anmutig?«

»Hauptsächlich Sie, Frau Baronin. Vergessen Sie ganz, daß unsere Laufbahn Ähnlichkeiten bietet?«

Sie hörte nicht. »Ich kenne Sie anders, Seehase, als Sie heute tun«, behauptete sie.

Er sagte in Pausen: »Tun? Dann tun wohl auch Sie nur und sind heimlich gar nicht die Baronin? Nein, verzeihen Sie, natürlich sind Sie es. Ich aber, warum sollte ich eher der sein, der ich vor zwanzig Jahren war, als der Präsident? Gewesen ist gewesen, und es wäre noch leicht und einfach, hätte man unter den überwundenen Stufen nur den Mann ohne Hemdkragen. Es sind ihrer mehr. Ich will nicht einmal sagen, daß sie abgetan wären. Sie sind zur Disposition gestellt. Dort wollen wir sie lassen. Es hätte keinen Sinn, sie zu erwähnen, wäre nicht die Ehre des Gesprächs mit Ihnen, Frau Baronin.«

Der Präsident hatte seine Haltung wieder. Er stützte sich, wie sie wohl sah, auf die große Achtung, die er, von Zwischenfällen unbeeinflußt, ihrer Person erwies – und dann auf sein unbefangenes Denken. Er zweifelte an sich, da kann man sich viel erlauben.

Ihr nahm er den Mut, noch anzugreifen. Sie blieb ratlos, bis er weitersprach.

»Allzu deutliche Erinnerungen sind kein gutes Zeichen«, sagte er vorsichtig. »Darf ich Sie warnen, als alter Bekannter? Sie sind in begreiflicher Erregung dank den Stückchen der jungen Leute. Mir selbst wird mein Hemdkragen eng. Wir werden angeführt, Frau Baronin. Dies Wort will ich wählen. Wir schwindeln nicht mehr. Jetzt schwindeln andre.«

Sie versuchte abzuwehren. »Sprechen Sie gefälligst von sich allein!« Aber sie hatte schon nicht mehr das Übergewicht.

»Wir sind solidarisch, Frau Baronin«, sagte er bestimmt. »Man lebt von Ihrem Geld, man läßt sich von Ihnen sogar ins Haus nehmen wie das eigene Kind.«

Sie rief, aufflammend: »Er ist mein Kind!«

Gleich darauf bereute sie. Es war zwecklos, denn Seehase lächelte gewitzt. »Kenne ich«, sagte er. »Mein Kind ist die Prinzessin … Machen wir uns nichts vor!«

»Schweigen Sie!« rief sie. »Sie kennen die Unschuld nicht.«

»Aber Sie«, sagte er entgegenkommend.

Sie schüttelte die Hand mit den Ringen. »Ich liebe rein.«

»Ich nicht schmutzig«, behauptete er. »Schon weil es das letztemal ist. Bin ich dann fort, verklärt mich vielleicht sogar Erinnerung. Denn die Prinzessin wird nach mir reich sein. Vorläufig aber ist es geboten, daß sowohl sie wie der junge Mann an Geldmangel leiden. Sonst scheitern unsere Absichten, Ihre wie meine.«

Er sprach geschäftlich. Es war der Ton, auf den es jedenfalls hinauskommen mußte. Hier aber demütigte er sie, noch dazu war sie wehrlos. Hatte sie sich nicht geweigert, Geld zu geben für die Prinzessin? Hier ward nur unbeschönigt ausgesprochen, was sie tat. »Ich will es nicht wissen«, murmelte sie, auf den Stuhl fallend.

Er stand vor ihr, über ihr. Sie murmelte: »Ich, seine Mutter!« Wen beschwor ihr Gemurmel? Über sich fühlte sie die Gestalt. Die Gestalt sagte ungedämpft: »Frauen, die lieben, verlieren den Kopf, sogar Sie. Geben Sie dem Jungen kein Geld mehr!«

Es war ein Befehl, aber er kam nicht von der Gestalt, er kam aus ihr selbst. Über ihr der Versucher prüfte sie nur, sie war daran, zu erliegen. »Wie, wenn ich gar nicht seine Mutter wäre?« Ihr Denken hielt an, sie fühlte den Abgrund. Nur fort vom Abgrund, noch lieber das Gesicht über ihr. Sie sah auf.

Sie sah den Geschäftsmann, der abschließen wollte – keinen Teufel. Dieser hatte gelernt, Rechte anderer mit zu beachten, ja, manchmal nachzugeben. Wo seid ihr Zeiten ungehemmter Triebe. Er war belehrt. In seiner Grausamkeit waltete Skepsis. Vereinigt wurden beide von seiner Krankheit. Seine Miene sagte ihr, daß sie sich verstanden wie alte Brüder, sie sollte sich nicht sträuben.

Übrigens war er ihr verbunden durch jenen Richterspruch in ihrem Traum. Er ließ sie nicht, denn ihre Vergangenheit war unverlierbar, sie erfuhr es hier.

Das Atmen verging ihr. Da hörte sie, auch wie im Traum: »Marie!« Der junge Pfarrer – er rief nochmals, jetzt war er der Sohn und rief nach der Mutter, rief »Mutter Marie!«

Sie stand auf. Ihr Gesicht, auf dem der Gegner so viele Abschnitte eines unglücklichen Kampfes verfolgt hatte, trug auf einmal fest und still den Sieg. Worte waren unnütz, er sah sie nur an und wußte, er habe verloren. Er verbeugte sich, er ging.

 

Sie schrieb an Valentin:

 

»Mein Kind!

Du sollst Dein Zimmer in meinem Hause nicht beziehn. Deine Verlobte bekommt von mir das Geld, das ihr nötig ist. Denn ich bin Deine Mutter!«


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