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X

Schluß

In die Vorbereitungen zum Leichenbegängnis setzten sowohl Anna wie Wellkamp viel Eifer, der nicht ganz frei von einer gewissen Verlegenheit war. Gewöhnlich dienen die äußerlichen Pflichten, die aus einem Sterbefalle den Hinterbliebenen erwachsen, einer gesunden Ableitung des Schmerzes, der dadurch, ins alltägliche Leben herabgezogen, etwas von seiner Schrecklichkeit einbüßt. Schließlich ist man es beinahe zufrieden, durch handwerksmäßige Beschäftigungen eines Austausches seiner Empfindungen überhoben zu sein, durch den man bisher wechselseitig seine Erregung erhöht hat. Hier aber machten die Beteiligten es sich eher zum Vorwurf, durch Nebensächlichkeiten die innere Bedeutung der Lage zu verdunkeln. Wenn Anna die Liste, welche sie für die Mitteilungskarten aufgestellt, geschäftsmäßig mit ihrem Gatten durchging, war es ihnen, als buchstabierten sie in einem Buche umher, über dessen Inhalt und Sinn sie sich vielmehr zu verständigen hatten.

Indirekt geschah dies dennoch einmal schon während der Tage, da sich die Leiche noch im Hause befand. Da Herr von Grubeck sich tief niedergeschlagen und keiner der an ihn herantretenden Aufgaben gewachsen zeigte, hatte seine Tochter ihm insbesondere die schwierigste abgenommen, die Anzeige des traurigen Ereignisses an Doras Vater abzufassen. Wellkamp, dem sie den fertigen Brief unterbreitete, wurde tief ergriffen von dem wahren, bewegenden Ton, den er selbst, wie es ihm schien, nie so hervorgebracht hätte. Er fühlte wohl, daß ebenso sehr wie das ausgezeichnete Herz seiner Gattin hier jener weibliche Gemeinsinn sprach, der Frauen untereinander ihr Leid so gut begreifen läßt, wie sehr sie auch oft im Glücke sich hart und hinderlich sein mögen. Ihre Darstellung hielt sich taktvoll mehr an Doras, durch ihr unglückliches Naturell bedingte Lage als an das eigentlich Geschehene. Zuweilen aber drang doch jene geheime Erregung hindurch, die verrät, daß man sich anders als nur danebenstehend und mitleidend, daß man sich in gewisser Weise tätig beteiligt glaubt. Gewiß war sie nur Wellkamp fühlbar, diese eigentümliche Ahnung einer Schuld, die für ein zartes Gewissen beunruhigender sein kann als eine völlige Gewißheit der Verantwortlichkeit. Er aber war um so sicherer, sie zu verstehen, und als er Anna das Schreiben zurückgab, vermied er ihren Blick, der gleichzeitig dem seinen auswich.

Erst auf der Rückfahrt von der Beerdigung, die für die Trauernden, ohne daß sie selbst es ahnen, etwas Befreiendes hat, da nun, vielleicht gegen ihren eigenen Willen, das Leben endgültig wieder in seine Rechte tritt, fanden sie Stimmung für eine gegenseitige Beichte. Anna ließ zärtlich besorgte Blicke über ihren Vater gleiten, der stark gealtert erschien und dessen von so vielen ungewohnten Aufregungen schwere Augenlider gleich nach dem Besteigen des Wagens zugefallen waren. Seltsamerweise war hierdurch die gleiche Lage hergestellt wie damals auf der Herreise von Kreuth bei ihrer ersten vertrauten Unterredung, deren Gegenstand genau wie heute Dora war. Hier schloß sich einer der Ringe an der Kette ihres Lebens.

»Es hätte ja nicht immer so bleiben können,« sagte Wellkamp unvermittelt, und es erwies sich, daß beide denselben Gedanken gehabt.

»Sie mußte früher oder später unsere Rückkehr erfahren,« fuhr Anna fort, »und wir hätten uns in irgendeiner Art zueinander stellen und wenn keinen Verkehr, so doch einen Ausweg finden müssen.«

Beide fühlten seit langem, daß das Fernhalten Doras etwas Vorläufiges gewesen, das sie mit Unrecht hatten fortdauern lassen, das jedoch die Selbstsucht ihres Glückes sie zu unterbrechen gehindert hatte.

»Ich weiß wohl,« begann Anna nach einem Schweigen wieder, »daß du mich vor unserer Herkunft an die Schwierigkeit unserer Lage erinnert hast. Viel mehr als du hab' ich zum Aufbruch gedrängt, weil ich so unwiderstehlich gern ein Nest bauen wollte, das endlich einmal ganz uns gehören sollte, und dann des armen Vaters wegen. An sie, mit ihrem viel schwereren Unglück, mochte ich nicht einmal denken. Da liegt meine Schuld, die ich mir nicht vergebe.«

Wellkamp machte eine abwehrende Bewegung.

»Du hast es zu leicht gehabt, mich zu überreden. Und dann, wer in Vergessenheit und Leichtsinn Wunden geschlagen hat, ist selbst der Allernächste, sie zu verbinden – wenn er nicht eintretenden Falles Mörder heißen will.«

Die letzten, hart und grausam gesprochenen Worte ließen die junge Frau zusammenfahren, sie schmiegte sich dichter an den Mann, als drängte sie ihn ängstlich, die Selbstanklage zurückzunehmen. Als er sich aber zu ihr wandte, bot sie ihm dennoch nur mit gesenktem Blick die Hand zu einem Druck voll Verständnis und Zärtlichkeit.

So war die anfängliche Stimmung, die alsbald der Bearbeitung des Lebens unterworfen wurde. Dieses aber verfuhr eigenmächtig wie immer mit unsern Eindrücken und Erlebnissen. Die kleinsten läßt es in der Erinnerung oft wachsen und an Reiz oder Schrecken gewinnen, während es den großen stets etwas von ihrer Macht nimmt, ja sie zuweilen fast auslöscht. Unter der fortwährenden Reibung des Alltagslebens zog sich die Erinnerung der Schuld aus den Gedanken und dem täglichen Bewußtsein zurück, um auf dem Seelengrunde liegen zu bleiben, von dem sie endlich selbst nur noch einen Teil ausmachte. Und da es kein Glück ohne Reue geben kann, so diente dieser leise, leise Zusatz von Bitternis dazu, ihre Liebe vor dem faden Geschmack der Gewohnheit zu bewahren, sie zu befestigen. Doras Opfer war nicht unfruchtbar geblieben.

Der Sommer ist voll raschen, vollen Lebens verstrichen. Auf häufigen Ausflügen, aufs Land und in den Wald, am liebsten auf Ruderfahrten, haben die Glücklichen jedem Element, jeder Landschaft die eigentümliche Stimmung abgelauscht, welche sie für Liebende bereithalten, froh, der ganzen Natur ihre Liebe mitzuteilen und den Widerhall von ihr zurückzuerhalten. Jetzt sitzen sie gern an schönen Herbstabenden auf der Terrasse ihres Hauses. Die Sonne nimmt Abschied von dem Wasser drunten am Abhange des Gartens; es erglänzt bezaubernd in vergoldetem Violett, indes tausend Blumen dem Licht und der Wärme, die sie belebt haben, duftende Grüße nachsenden. Dann und wann ein leises Rauschen in den Zweigen, von denen ein paar gebräunte Blätter sich lösen, um langsam zu Boden zu rascheln; es macht die Luft nur noch stiller, den Abend friedlicher. Die beiden Menschen lieben mehr als je diesen Frieden, da sie seit wenigen Tagen wissen, daß sie nicht mehr allein sind in ihrem Bunde. Er hat wohl erst jetzt, da er gereinigt und erneuert ist, gesegnet werden sollen. Wenn sie es wagen, die große Stille zu durchbrechen, tun sie es nur, um von ihrem Kinde zu sprechen, »von unserm Jungen«, denn sie wünschen beide, Anna fast inniger als ihr Gatte, daß es ein Knabe sein möge. Mit dem zuversichtlichen Blick auf die Zukunft, der außer Verliebten nur jungen Eltern eignet, setzen sie sich schon über ihre Erziehungsgrundsätze auseinander.

»Ich überlasse ihn ganz dir«, sagt Wellkamp. »An dem, was du aus ihm machst, werde ich mich auf alle Fälle erfreuen können. Das wird der beste Dienst sein, den ich unserm Jungen erweisen kann.«

»Du willst ihn zum Muttersöhnchen machen?« wendet Anna lächelnd ein.

»So brauchst du es nicht zu nennen. Der weibliche Einfluß, der mir gefehlt hat, ist ganz allein imstande, in der ersten Jugend das Gewissen zarter, die Ehrfurcht größer, den Geschmack feiner zu machen. Ich meine, daß gegen solche Wirkungen alle etwaigen Nachteile unbedeutend erscheinen müssen.«

»Weißt du, was ich einleuchtend fände? Wenn er dir gleicht, so habe ich seine hauptsächliche Leitung zu übernehmen; ist er dagegen mir ähnlich, so liefere ich ihn ohne Umstände dir aus. So erreichen wir vielleicht eine natürliche Ergänzung seiner Anlagen.«

Wellkamp hat indes seinen Gedanken festgehalten.

»Hältst du es für möglich,« fragt er nachdenklich, »daß nach uns eine Generation von Männern käme, die wieder einfacher, lebenstüchtiger und in einem Glauben besser gegründet wären als wir heutigen?«

Anna nickte ihm zu.

»Du sagst mir, daß ihr alle die Sehnsucht nach dem Glauben kennt. Das ist augenscheinlich die letzte Spur dessen, was schon eure Großväter zu verlieren begannen. Aber sollte es nicht zugleich das sicherste Vorzeichen sein, daß eure Söhne und Enkel es, ich weiß nicht in welcher Gestalt, wiederfinden? Denn die geistige Bewegung ist eine Wiederholung ohne Ende. So wie wir's erleben, hat es sich unzähligemal zugetragen. Auch im geistigen und sittlichen Leben gibt es nur darum Verbrauch, damit mehr nachwächst.«

»Und du glaubst, daß wir beim Mehr angelangt sind?« fragt Wellkamp freudig und erwidert Annas zuversichtliches Lächeln.

Beide hoffen, weil sie lieben.

Dann geht die junge Frau ihrem Vater entgegen, der, auf die Terrasse heraustretend, die Tochter auf die Stirn küßt; dann schüttelt er dem Schwiegersohn kräftig die Hand.

Die Verheerungen, welche die grausamen Erlebnisse des letzten Winters an ihm hinterlassen hatten, sind so gut wie möglich geheilt. Anfangs hat auch er sich gesträubt, vom Schicksal die Lösung anzunehmen, welche es durch den Tod seiner Gattin allen Schwierigkeiten seiner Familienverhältnisse gefunden. Er hat Doras Opfer mit derselben Notwendigkeit wie Wellkamp als, wenn nicht für ihn, so doch zu seinen Gunsten gebracht, ansehen müssen.

Indes hat er auch noch das drückende Vermächtnis zu übernehmen gehabt, daß seine Lebensführung in der Abhängigkeit der Toten bleibt, wie sie so lange aus der Hand der Lebenden unterhalten worden ist. Und um sein Alter in der Nähe der geliebten Tochter beenden zu können, hat er seinen Widerwillen und seinen Stolz gegenüber dem Manne, welchen seine Gattin geliebt, zum Schweigen bringen müssen.

Sein Verhältnis zu seinem Schwiegersohn ist in letzter Zeit selbst herzlicher geworden, als es je früher gewesen. Mit Hilfe des ihn immer leichter gefügig machenden Alters hat er bald in jedem Punkt die Waffen gestreckt.

Nichts aber verrät an Herrn von Grubeck, daß er ein vom Leben Gedemütigter ist. Er fühlt sich behaglich im Hause seiner Kinder, in dessen oberem Stockwerk ihm die schönsten Zimmer hergerichtet sind. Den Verkehr im Klub, der ihm liebgeworden ist, hat er beibehalten. Während er eine dort gehörte Anekdote erzählt oder die Einladung einer der Familien überbringt, mit denen man seit kurzem den lange Zeit unterbrochenen Verkehr wieder angeknüpft, hat er sein gutes, lautes Lachen von ehemals. Jede seiner Bewegungen, sein ganzes, schon etwas großväterliches Gehaben spricht aus, wie zufrieden der alte Herr es ist, noch einmal wiedergefunden zu haben, was er seit seiner Kindheit verloren: das echte, stetig geordnete, einträchtige und in seinem unscheinbaren Frieden so inhaltsreiche Leben in einer Familie.

In Augenblicken des Schweigens sehen die drei Menschen, nun alle in jene Hafenruhe eingelaufen, von der Wellkamp von jeher unter dem Blick von Annas Augen geträumt, in den Garten hinaus, wo schon dichte Schatten über der Stelle liegen, an welcher Dora gestorben, und über welche die Blicke schon ohne unausgesetzte Erinnerung hinweggleiten. Der nun regelmäßiger durch die Wege streifende Abendwind treibt die im Dunkeln geheimnisvoll raschelnden Blätter vor sich her. Sie flattern, eines ums andere, langsam und still, aber nicht eben traurig, wenn keine traurigen Augen es sehn, die Terrassenstufen hinab, und von der letzten ins Wasser, auf dessen mondbeglänzter Fläche sie kurze Zeit aufleuchten, um dann stromabwärts im Schatten zu verschwinden, gleichwie unsere Jahre, eins ums andere, von uns forttreiben, oder wie uns das Andenken einer Toten entgleitet.


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