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VII

Am nächsten Morgen hatte Dora sich zeitiger erhoben, als es seit Jahren ihre Gewohnheit war. Sobald sie Herrn von Grubeck in seinem Zimmer wußte, war auch sie in ihr Boudoir hinübergegangen, und ihr Frühstück, bei dem sie sonst eine lange, träumerische Stunde verweilte, war beendet, als drunten die aufschlagenden Hufe ihr den Ausritt ihres Gatten und Annas ankündigten.

Das Zimmer, das sie nun sofort aufsuchte, pflegte sie bis vor kurzem wenig zu betreten, obwohl bei der Einrichtung, die sie von Anfang an ganz dem Major überlassen, gerade an sie gedacht worden war. Herr von Grubeck hatte, da Dora in ihrer Brautzeit noch zuweilen vor ihm musizierte, eben das Musikzimmer gewählt, um einen Raum ganz nach dem Wesen und der Eigentümlichkeit der Bewohnerin abzustimmen. Dora hatte dies kaum zu würdigen gewußt. Der feine Geschmack, der für sie mit der Lust am Gefallen ab- und zunahm, bekam seine Geltung erst wieder, als das Erscheinen Wellkamps der Gleichgültigkeit und Müdigkeit ihres Daseins ein Ende gemacht. Die junge Frau lächelte, während sie sich langsam am Flügel niederließ, bei dem Gedanken an die vielen Morgenstunden, in denen, so flüchtig sie vielleicht den Geliebten gesehen, jedesmal ein neuer kleiner Kunstgriff in ihrer Toilette ein wenig dazu beigetragen haben mochte, sie dem jetzt erreichten Ziele näherzubringen. An diesem Morgen nun trug sie das Kleid dieses Zimmers, schlanker Empirestil, gehoben durch moderne Gewagtheiten, die Farbe noch etwas heller als die hell-lila Seide ringsum. Bei halbgeschlossenen Fenstervorhängen begann sie zu spielen: abgerissene, leise Töne, und ihre träumenden Sinne folgten weniger ihnen, als den Bewegungen ihrer biegsamen Finger. Dann bemerkte sie, daß das nur oben eingelassene Tageslicht grade in den großen Spiegel fiel; ihr Bild sah ihr entgegen im Glorienschein, das Bild der Frau, die geliebt ward. Sie staunte, triumphierendes Glücksgefühl ergriff sie. Davon war in dem Liede, das sie dann anschlug, kaum etwas zu spüren. Dora aber sang es mit jener Melancholie des Glückes, die doppelte Lust ist. Während sie dann, die Lippen leicht geöffnet und die Hände lässig auf die Tasten gelehnt, die wachgerufene Bewegung in sich ausklingen ließ, meinte sie, mehr vielleicht durch sympathische Ahnung als durch eigentliche Sinneswahrnehmung, die äußere Tür des Zimmers hinter den davorgelegten Portieren sich öffnen zu hören. Unter einer süßen Spannung, abzuwarten, sich belauschen und überraschen zu lassen, begann sie wiederum, und es war abermals Melancholie, aber eine sozusagen wirklichere, mehr greifbare: statt unsicherer Traumstimmung das tiefe Aufschluchzen eines Menschenlebens. Die Sängerin ward hingerissen, weil jener Unsichtbare ihr zuhörte, es sang aus ihr:

»... Falsch meine Liebe,
Echt nur mein Leid …«

Sie war selbst erstaunt, einen so ganz von der wahren Stimmung durchtränkten Ausdruck zu finden. Wirklich war während des Gesanges sogar ihre Stimme weicher geworden; sie schien ihre gewöhnliche Härte zugleich mit dem Zwange abgelegt zu haben, der ihr im alltäglichen Verkehr gewohnt war und dessen sie in diesem Augenblicke und unter dem Deckmantel, den ihr die fremden Worte verliehen, nicht bedurfte.

Der Lauscher hinter dem Vorhange wurde von dem intimen Einblick, der ihm so unvermutet in die Seele der geliebten Frau eröffnet schien, heftig erfaßt. Er dachte nicht daran, zu unterscheiden, was in dieser Stimmung wesentlich, was paradox darin sein mochte. Er wurde vollends überwältigt durch ihre ausdrucksvolle und dabei so schlichte Klage:

»Keiner hat lieb mich
Auf dieser Welt –«

»Wie magst du das aussprechen!« rief er schmerzlich und stieß den Vorhang zurück.

Er erstickte den Schrei, den sie bei seinem plötzlichen Erscheinen ausstieß, mit seinen Lippen. Das Erschrecken hatte alle Spannung der letzten Augenblicke gelöst, Dora gab sich seinen Liebkosungen mit zärtlicher Zufriedenheit hin.

»Du hast mir mutwillig eine ganze Viertelstunde unseres kostbaren Zusammenseins geraubt, du Horcher an der Tür,« sagte sie. »Was du gehört hast, war nur deine gerechte Strafe.«

Sie richtete sich an seinen Schultern auf, lässig an ihn gelehnt, durchschritt sie das Zimmer, kaum noch bemüht, das leichte Nachziehen ihres linken Fußes zu verbergen. Es war, als sollte in solchen ersten, seltenen Stunden ihrer Verbindung, recht im Gegensatz zu all ihrem früheren Leben, die Intimität ihrer Liebe keine Grenzen kennen.

Die Begrüßung war zärtlich und still gewesen; erst allmählich kam wieder die ungestüme Leidenschaft des vergangenen Abends über sie. Sie wiederholten sich die Liebesworte, die sie füreinander gefunden, und belebten mit halben Worten die süßen, erst so frischen Erinnerungen. Ein weiter, vor den Kamin geschobener Sessel nahm beide auf. In dem engen Beisammensein teilten sich ihre Körper die Wärme gegenseitig mit, die sie von dem zu ihren Füßen flackernden Feuer erhielten. Zugleich schien diese Flamme sie wecken und beleben zu wollen mit ihren über sie hinhuschenden, spielenden und lockenden Reflexen, die Wellkamp mit seinem Finger liebkosend auf den Händen der Geliebten verfolgte. Dann riß er sie wieder mit sich in einem jener plötzlichen, wilden Anfälle, die sie in seiner nervösen, springenden Natur vorausgeahnt und die sie dennoch in dieser ersten Nacht so unbeschreiblich süß erschreckt hatten. Bevor sie sich jedoch seinem Drängen ganz überließ, fand sie einen Augenblick für eine von dem leidenschaftlich Erregten kaum bemerkte Bewegung. Sie hatte kurz das Haupt erhoben, den Blick nach oben gerichtet, und zwischen ihren wie inbrünstig halb geöffneten Lippen hervor drang ein kaum hörbarer Ausruf, ein »O Gott!«, das Dankgebet und Flehen um Verzeihung in einem war.

Als er sie endlich freigab, entfuhr diesen selben Lippen ein seltsam klirrendes Lachen, wie wenn zwei Messer in schneller Wiederholung leise aufeinander stießen. Sie hatte solche überraschende Umschläge, die vielleicht ihr Instinkt nach ihm zu richten wußte. Ton und Ausdruck brachte ihr Gesicht, das ein wenig Farbe bekommen, dem seinen ganz nahe, und sie hatte die Genugtuung, den schlaffen Zug, der augenblicklich darin lag, und die kleinen, seine Augenlider zusammenziehenden Falten, welche den Blick plötzlich so nüchtern erscheinen ließen, sogleich wieder verschwinden zu sehen. Sie lachte noch einmal, und wie zuerst ihren Schreckensausruf, so nahmen jetzt seine Lippen dieses Lachen von den ihren fort. Er liebte an Dora diese Unberechenbarkeit, die ihn nie ganz zur Besinnung kommen ließ. Sein Durst nach wechselnden, flüchtigen und doch starken Eindrücken hatte im Verkehr mit ihr Nahrung erhalten, und es ließ ihn mit einer Art nachsichtigen Mitleids lächeln, als ihm jene Frage Annas einfiel, ob er denn eine Frau lieben könnte, die er nicht verstände? Das Fremde, Unbegreifliche zog an. Weshalb hatte die Intimität mit seiner Gattin ihn auf die Dauer nicht befriedigt? Sie war zu einfach. In Annas Seele blieb zu wenig Unausgesprochenes, nicht Offenkundiges zurück, und wenn es Verborgenes darin gab – welche Frau würde nicht vom Reize des Rätselhaften wenigstens etwas zurückhalten! – so war es doch nicht der Art, seine Phantasie dauernd zu beschäftigen.

Jenes fragwürdige Mitleid, das sich hier zuerst deutlich geregt, überwog während der ersten Zeit seines neuen Glücks in Wellkamps Gefühlen für Anna. Es kam warm über ihn, als er sie beim Frühstück so still ihres Hausfrauenamtes walten sah. Die Erinnerung, wie inbrünstig er gestern abend jene andere Hand geküßt, die ihm den Tee gereicht, schien ihm etwas wie einen traurigen Schatten über die Gestalt der ernsten jungen Frau zu legen. Er hätte sie gern sein Glück teilen sehen: Eigennutz der glücklichen Liebe schloß für jetzt jedes Schuldgefühl von ihm aus. Dora, welche der Major wegen ihres frischen Aussehens lobte – »du solltest noch viel fleißiger Musik treiben, nun du weißt, wie gut sie dir tut« – triumphierte heimlich über die ahnungslose Feindin, in deren Täuschung ihr Geliebter, wie ihr schien, sehr viel Geschicklichkeit setzte. Doch war die Unterhaltung Wellkamps, welche sie so auslegte, durchaus aufrichtig. Anna wieder sah in den Aufmerksamkeiten, die ihr Gatte ihr seit langem nicht gewidmet hatte, nichts anderes als das Bestreben, den unfreundlichen Vorfall des gestrigen Tages vergessen zu machen, und erwiderte es von Herzen. Ihr Gespräch ward mehr und mehr vertraulich, zuweilen selbst von einer scherzenden Vertraulichkeit.

»Magst du mich heute nachmittag auf einem Ausgange begleiten?« fragte Anna.

Er nahm eifrig an.

»Es kommt mir sehr gelegen, feurige Kohlen auf dein Haupt sammeln zu können, nachdem du uns gestern deine Begleitung in die Oper abgeschlagen hast. Aber es ist wahr, daß für meine ernsthafte Frau die Musik von gestern abend nicht gemacht worden ist.«

Dora, die die letzten Worte für eine leichte, frivole Anspielung nahm, blickte unter einem kleinen boshaften Vergnügen errötend vor sich nieder, während Anna ruhig fortfuhr:

»Es handelt sich nämlich um die Gründung eines Mädchengymnasiums, nach Schweizer Muster, weißt du. Eine ehemalige Bekannte hat mich zur ersten Zusammenkunft des Komitees aufgefordert, dem ihr Mann angehört. Es ist natürlich ein Privatunternehmen. Der Staat kümmert sich ja nicht um uns,« setzte sie mit naiver Geringschätzung hinzu. Wellkamp wurde dadurch belustigt.

»Das mag interessant genug werden,« sagte er, »euch Emanzipierte einmal unter euch zu sehen.«

Zur bestimmten Zeit stellte er sich bei ihr ein und fand sie mit der Beendigung ihres Anzugs beschäftigt. Er prüfte ihn, während er, im Rücken der jungen Frau auf dem Diwan sitzend, seine Handschuhe glättete. Sie fragte über den Sitz des schlichten dunkeln Rockes um seinen Rat, und indes er seine Meinung aussprach, war ihm zumute, wie wenn er zu einer vertrauten Schwester redete, von der ihn kein Geheimnis trennte. Er mußte, als sie zusammen das Zimmer verließen, sich besinnen, um nicht von seinem Glücke zu ihr zu reden, so groß war die moralische Verwirrung seines neuen Zustandes. Der Traum seiner Liebe vereinigte alles ringsumher für ihn zu einem harmonischen Ganzen, in welchen: Freundschaft und Vertrauen an seinem Glück freundlich teilnahmen und worin Täuschung, Mißtrauen und Schuld sich nicht fanden.

Diese seine Gefühle sollten sich nur allzu schnell ändern. Dabei blieb es aber für den Stand seines Verhältnisses zu Dora bezeichnend, wie Wellkamp sich zu seiner Gattin verhielt. Am Kummer Annas hätte er ermessen können, wie furchtbar schnell seine Liebe zu Dora sich zersetzte und abstarb. Er gab frühzeitig der Neigung nach, die in den Beziehungen mit seiner Geliebten aufgetauchten Schatten dadurch auszugleichen, daß er sich in offenen Gegensatz zu ihrer Feindin stellte. In dem Maße, wie die Bande zwischen ihnen drückend wurden, suchten und fanden die beiden Schuldigen eine neue und vielleicht letzte Zusammengehörigkeit in der gemeinsamen Abneigung gegen die von ihnen betrogene Frau. Das beifällige Aufleuchten von Doras Blick machte Wellkamp Mut zu den Demütigungen und selbst Gehässigkeiten, in die seine üble Laune gegen Anna allmählich sich verstieg.

Einmal in eine solche Feindseligkeit eingelebt, war es ihm ein leichtes, sie auch auf den Vater seiner Gattin auszudehnen, der zugleich der Mann seiner Geliebten war. Die bisher in ihm niedergehaltene, wilde und paradoxe Eifersucht des Liebhabers auf den Gatten ward jetzt erregt, wie er sie auch immer vor sich selbst verleugnen mochte. Sie war da und blieb da mit der ganzen Unlogik einer Leidenschaft, und sie ward nicht dadurch erträglicher, daß er ihr bei der Art dieser Ehe die Berechtigung bestritt. Er hätte sie am liebsten fortgeleugnet, er wollte alles mit dem Gegensatz der Naturen erklären. Ehemals durch günstigere Umstände so wenig wie möglich fühlbar, trat freilich jetzt ihr Gegensatz in seiner ganzen Schärfe hervor. Was war aus der offenen Sympathie geworden, die in der guten Zeit ihres Verkehrs zwischen den Männern geherrscht, was aus der gefälligen Rücksichtnahme Wellkamps diesem bescheideneren Geiste gegenüber, der für ihn gleichwohl etwas von väterlicher Autorität besaß? Nun war es eben die Einfachheit der Natur Herrn von Grubecks, die den komplizierten, weniger durchsichtigen Menschen in Wellkamp abstieß, ja beleidigte. Rückhaltlosigkeit und innere Freiheit des Wesens, die alle seelischen Krisen hier dennoch überlebt hatten, erschienen ihm wie ein schweigender Vorwurf für alles das, was von seinem eigenen Leben verborgen und schuldig war. Sehr bald begann er sich zu fragen, ob Herr von Grubeck in Wahrheit so ahnungslos sei, wie es den Anschein habe, und seinem wachsenden Argwohn ward es nicht schwer, in den gleichgültigsten Gesprächen Anspielungen zu entdecken, die ihn erzittern ließen. Aus Scham über diesen Zustand beschäftigte er sich ernstlich mit dem Gedanken an einen Ausbruch und eine Erklärung. Dem anderen sprach er nur den Mut dazu ab. Dennoch dauerte es auch bei Wellkamp eine geraume Weile, ehe der Wunsch, der unerträglichen Unsicherheit seiner Lage ein Ende zu machen, die Oberhand über den natürlichen Widerwillen gegen einen derartigen Schritt behielt. Noch dazu bedurfte es einer Gelegenheit, wo seine üble Laune rein zufällig die Sache auf die Spitze trieb, ohne daß er eigentlich beabsichtigt hätte, den entscheidenden Schlag zu führen. Der Anlaß war von jener Kleinlichkeit, bei der nur die Streitsucht in einer Familie nicht scheut, sich aufzuhalten. Gerade hierdurch erweist sie die Wichtigkeit, welche unscheinbarste Bande und Einverständnisse für das bescheidene Glück der Menschen haben.

Wellkamp fand eines Tages seinen Schwiegervater damit beschäftigt, eigenhändig den Vorhang herabzunehmen, welcher die Verbindungstür zwischen den beiden zu einem Haushalt vereinigten Wohnungen verdeckte. Die kleinen Sorgen um das Behagen seiner Kinder hatte der alte Herr von jeher zu seinen Beschäftigungen gezählt, neuerdings aber erregten sie Wellkamps Mißfallen. Er trat ungeduldig hinzu.

»Darf man wissen, was Sie vorhaben?« fragte er. Der Major, ganz vertieft, beachtete kaum den gereizten Ton, in dem die Frage gestellt war und an den er übrigens in letzter Zeit durch den jungen Mann gewöhnt war.

»Sehen Sie sich nur den Stoff an, dort auf dem Stuhle,« rief er von seiner Trittleiter herab. »Er hat den Vorzug, mit der Bekleidung der beiden Räume gleichmäßig zu harmonieren. Ich komme heute endlich dazu, ihn statt dieses häßlichen Fetzens anzubringen, der mir damals bei unsern Einkäufen auf dem Halse geblieben ist und für den ich keine andere Verwendung hatte als diese.«

Der andere wurde durch den ruhigen Ton der kleinen Auseinandersetzung noch mehr gereizt.

»Gestatten Sie mir, Ihnen zu bemerken, daß ich erwartet hätte, Sie würden mir von Anschaffungen, die meinen Haushalt so gut betreffen wie Ihren eigenen, vorher Mitteilung machen.«

»Aber meine Tochter hat mich ja gerade erst darauf aufmerksam gemacht. Ich dachte. Sie wüßten –«

Betroffen durch die unerklärliche Heftigkeit war Herr von Grubeck die Stufen der Leiter herabgeklettert und wies auf Anna, die, durch die laute Stimme ihres Gatten aufmerksam gemacht, soeben eintrat.

»Ich bin nicht benachrichtigt,« fuhr Wellkamp von neuem auf, froh, seinen Unmut auf Anna ausdehnen zu können, »und ich bedauere die Übereilung meiner Frau. Ich meinerseits würde von der Ausgabe abgeraten haben.«

Herr von Grubeck wechselte abermals einen erstaunten Blick mit seiner Tochter, die berechtigten Grund hatte, im allgemeinen sich selbst für den sparsameren Teil des Wellkampschen Haushaltes zu halten.

»Die Ausgabe ist ja minimal, und –«

Wellkamp unterbrach seinen Schwiegervater mit einer heftigen Bewegung und nahm, ohne nur die Unschicklichkeit und Lächerlichkeit seines Gebarens zu fühlen, einen neuen Anlauf. Plötzlich war ihm die Idee gekommen, die Lage für einen längst gehegten Vorsatz auszunutzen. Er konnte jetzt endlich erfahren, ob dieser versteckte alte Mann etwas wußte oder nicht.

»Wenn die Ausgabe,« sagte er mit absichtlich beleidigendem Tone, »durchaus gemacht werden mußte, so konnte man vielleicht, statt den Vorhang anzubringen, noch summarischer gleich das Loch vermauern. Das Spionieren, das diese bequeme Verbindung mit sich zu bringen scheint, würde dann wohl vermieden werden.«

Seine Erregung war nur noch künstlich während dieser Worte, deren Wirkung er, innerlich ganz ernüchtert, beobachtete.

Indes schienen die Worte selbst ohne besonderen Eindruck zu bleiben. Es war mehr die Art, wie sie gesprochen, die den Major reizte.

»Ich finde, daß Sie da einen Ton –«

Anna legte dem nun seinerseits sich erhitzenden alten Herrn von hinten sanft die Hand auf die Schulter und Zog ihn beiseite, während sie ihrem Gatten ein bittendes, wiewohl energisches Zeichen gab, den unerquicklichen Auftritt durch seine Entfernung zu beendigen.

Wellkamp fand es gut, dem Winke nachzugeben, hatte dabei aber seine Absichten. Zugespitzte Lagen bewirkten bei ihm eine nervöse Anspannung, die ganz der Geistesgegenwart glich. Mit wenigen raschen und lauten Schritten eilte er durch den ersten Raum seiner eigenen Wohnung, wie wenn er ihn durch den jenseitigen Ausgang sogleich wieder verließe, um dann plötzlich, mit höchster Vorsicht und alle Sinne angestrengt, an die nur angelehnte Tür zurückzuschleichen, hinter der er den Major leise reden hörte.

»Was mag er nur haben? Seine Stimmung wird immer unerträglicher.«

Anna suchte ihren noch ziemlich erregten Vater zu beruhigen.

»Er ist so nervös, weißt du; man muß ihm einiges nachsehen,« sagte sie und setzte hastig, wie um den Alten nicht zu Worte kommen zu lassen, hinzu:

»Ich glaube nämlich schon seit einiger Zeit, daß er zu sehr an Aufenthaltsveränderungen gewöhnt ist, um ununterbrochen hier bleiben zu mögen. Die Aussicht, auf Jahre hinaus hier stillzuliegen, macht ihn ungeduldig, und er scheut sich, besonders deinetwegen, es einzugestehen. Du sollst einmal sehen, daß sich das ändern wird, wenn ich ihm eine längere Reise Vorschläge; wir könnten sie vielleicht gleich mit Beginn der bessern Jahreszeit antreten. Bis dahin,« wiederholte sie in leise bittendem Tone, »müssen wir ihm schon noch einiges nachsehen.«

»Das tun wir seit langem,« brummte der alte Herr, »aber sein Betragen sieht jetzt bald nach Verfolgungswahnsinn aus. Was meinte er von Spionieren? Sprach er nicht davon?«

Alter Narr! dachte Wellkamp, während er die beiden sich drüben entfernen hörte.

Das Erhorchte hatte seiner Unruhe und Gereiztheit vorläufig ein Ende gemacht. Statt dessen nahm er als Verkehrston mit seinem Schwiegervater eine überlegte, kühle Höflichkeit an, während er seine Gattin so viel wie möglich unbeachtet ließ, wie um ihr seine Unzufriedenheit zu bezeigen. Wohl wahr: das teils Lächerliche, teils Empörende seines Verhaltens entging ihm nicht völlig. Nur gelang es ihm vorerst noch, sich über seine innere Demütigung mit der selbstsüchtigen Kraft seiner Leidenschaft hinwegzusetzen. Wenn jener beschämende Auftritt glückliche Folgen hatte, waren es die, daß wenigstens für eine kurze Frist Stockung eintrat in dem schmerzlichen Verfall, dem Doras und Wellkamps Verhältnis geweiht war. Während dieses Stillstandes schien äußerlich ihre erste Herzensnähe unbeschränkt wiederhergestellt. Wodurch nur war sie zuerst angegriffen worden? Keime der Auflösung, jeder ihrer Küsse trug sie in sich. Wo aber kamen sie zum Ausbruch?

Dora war vielleicht nicht mehr jung genug und jedenfalls durch die Prüfungen und Krisen ihres Lebens zu sehr in ihrer unglücklichen Eigenart befestigt, um selbst durch große Leidenschaft noch von Grund aus umgestaltet werden zu können. Die Bildung, die das Unglück gibt, ist so grausam unverwischlich! Was sie ehemals, während ihre widerstrebende Natur und hindernde Umstände ihr jedes Glück verweigerten, als armseligen Ersatz zu nehmen gewöhnt war, nämlich im Verkehr mit jedem Manne, der sich ihr näherte, die Herrschaft zu führen und, solange er sich in ihrem Kreise befand, sein Schicksal zu sein – das war ihr zum Bedürfnis geworden, das sie auch jetzt nicht verleugnen konnte. Die zweite Natur war stärker als jeder ursprüngliche Instinkt.

Kaum verflog daher der erste, glühende Rausch der Leidenschaft, kaum hatte das so lange verleugnete und kasteite Weib in ihr sein Recht erhalten, als sie schon ihre Gewalt über den geliebten Mann zu prüfen und nachzufragen begann, ob sie in Wahrheit seine ganze Existenz uneingeschränkt leite und ausfülle. Einmal ihrem alten, mächtigen Bedürfnis verfallen, fand sie unschwer einen Vorwand für die Qualen, die sie von jeher nicht weniger sich selbst als dem Manne auferlegt hatte. An dem freundschaftlichen Verkehr Wellkamps mit seiner Gattin, den sie anfangs für ein Mittel, die Feindin irrezuleiten, gehalten hatte, begann sie nun Anstoß zu nehmen. Die bewegliche und unberechenbare Natur Wellkamps machte es ihm vielleicht möglich, sich Anna zu gleicher Zeit wieder zu nähern, wo er endlich ihr selbst anzugehören begann. Und gehörte er denn überhaupt ihr? Während ihr Leben sich ganz auf ihn zusammengezogen und gestützt hatte, mit allen ihren letzten Hoffnungen und Ansprüchen auf ein Glück, das sie so oft getäuscht, schien es ihr vielmehr, daß von dem seinen nur ein Teil auf sie käme, nur das, was die verhaßte andere ihr übrig ließ. Ach! Eifersucht ließ sie ahnen, daß die widerstreitenden Bedürfnisse ihres Geliebten so wenig durch sie wie durch ihre Rivalin ausschließlich befriedigt werden konnten.

Die Arme überließ sich ohne Widerstand ihrem immer schwieriger werdenden Zustande. Sie zögerte anfangs, zu Wellkamp von ihren Zweifeln zu reden, dann verlor sie die Lust dazu in dem Maße, wie sie ihre Qual und den ebenfalls wieder sie selbst peinigenden Haß gegen den, der sie ihr verursachte, lieb gewann. Es gibt unglückliche Naturen, für welche die Liebe nur Vorwand für den Haß ist, den sie alsbald unter irgendeinem Vorwande auf die geliebte Person werfen. Nicht Liebe, nur der Haß soll leben.

So wäre vielleicht, langsam und traurig, ohne ein lautes Wort und unter unüberwindlichen innern Kämpfen, wie sie es errungen, das seltsame Glück der beiden Menschen erstickt, hätte nicht Wellkamp selbst mit dem Instinkt seiner Leidenschaft das letzte Mittel ergriffen, durch welches es noch kurze Zeit erleichtert und erhalten werden konnte. Nach jenem Vorfall erlebte ihr Verhältnis eine der späten und gewaltsamen Erneuerungen und Wiederbelebungen, welche die Natur kennt und auf die bald ein um so schnelleres, unerbittliches Verblühen und Erkalten zu folgen pflegt.

Bald zeigte es sich, daß während dieses scheinbaren Stillstandes der Zerstörungsprozeß, dem ihr Bund kraft seines innersten Wesens wie der ihn erdrückenden Umstände unterworfen war, erschreckende Fortschritte gemacht hatte. Aus dem zweiten, noch kürzeren und vielleicht, unter der Angst vor dem Ende, noch heftigeren Rausche erwachte Dora, da fand sie sich mehr als je allen zerstörenden und selbstquälerischen Neigungen unterworfen. Mißtrauen ergriff sie wie eine aus ihrer Klasse Verstoßene, die kaum mehr sieht, daß sie in dem gegenwärtigen Leben ihres Geliebten, ja seit dem Augenblick, wo sie auf ihn zu wirken begonnen, ohnegleichen, ja unersetzlich dasteht. Was sie peinigt, ist der Zweifel, ob nicht andere vor ihr ihm ganz das gleiche gewesen, sein Leben genau so ausgefüllt haben, wie sie es jetzt tut; ob nicht wieder andere ihr folgen sollen. Sie leidet unter dem »Zu spät«, da sie dem Manne nicht früh genug begegnet, um ihm die Erste und Einzige zu sein. Je mehr aber dieses Ideal, »die Einzige zu sein«, welches allein das ungeheure Opfer, das sie gebracht, in ihren Augen rechtfertigen könnte, ihr zu verblassen scheint, nehmen Reue und Skrupel in ihrem bürgerlichen Herzen zu. Dora war zu lange eine anständige Frau gewesen, um nicht in ihrem jetzigen Zustande die volle Gewalt ihrer momentan von der Leidenschaft betäubten bürgerlichen und religiösen Instinkte empfinden zu müssen. Die besonderen Umstände erschwerten ihr noch die Schuld. Sie hatte nicht nur gesündigt wie eine andere, sie hatte es im eigenen Hause getan und in der Familie. Ihre Schmach erschien ihr so ungeheuerlich, daß sie der Verachtung ihres Mitschuldigen gewiß war, über den zu herrschen es sie doch verlangte. Und sofort beantwortete sie seine vorausgesetzte Verachtung mit ihrem Hasse. Alles mündete für sie in diesen schlimmen Haß, der mehr als das, dem er gilt, das Herz verwundet, von welchem er ausgeht und das ihn einst als Liebe empfing.

Das nächste war, daß die überhandnehmenden Bedenken und Wirrungen ihres Gefühls sie nun wirklich die Sicherheit verlieren ließen, mit der sie den Geliebten bisher zu leiten, seine Instinkte zu treffen und zu beherrschen verstanden. Dieses Gefühl hatte ihr früher verraten, daß es in ihrer Liebe geheime Hilfsquellen gab, aus welchen sie ihre beste Nahrung zog, unantastbare, unaussprechliche Dinge. Sie wußte nicht, daß ihr Drama Stellen hatte, an denen Schweigen die einzig gestattete Sprache war. Sie hatte es nie gewußt, nur gefühlt.

Eines Morgens, als er zur gewohnten Zeit Dora in ihrem Boudoir aufsuchte, ward Wellkamp durch den Empfang überrascht, den er kaum noch so günstig zu finden gewohnt war. Sie waren seit Tagen in der ohne sichtbaren Grund gereizten Stimmung, die dadurch noch schlimmer ward, daß jeder von ihnen bemüht war, sie dem andern zu verheimlichen. So fand Wellkamp sich schwer in diese Herzlichkeit, welche an ihr allererstes Glück erinnerte und noch verschönt ward durch eine Weichheit und Hingebung, die er selbst damals selten genug an Dora wahrgenommen. Sie küßte ihm die Falten von der Stirn, während seine Schläfen das zärtliche Schmeicheln ihres weichen Haares empfanden. Warum konnte er dennoch ein Gefühl des Unbehagens, beinahe der ungewissen Furcht nicht unterdrücken? Er war versucht, sich ihrer Liebkosungen zu erwehren, doch wagte er es nicht, bis er sie plötzlich mit einer Stimme, die tief, ja geheimnisvoll klang, fragen hörte:

»Sag' mir, hast du das Stückchen Holz, das kleine bunte Götzenbild, das ich dir damals gab, du weißt, an deinem Hochzeitstage – gut aufgehoben?«

Er zögerte; warum war die Frage ihm peinlich?

»Ja, gewiß – wie alles, was von dir kommt,« sagte er endlich, sein unerklärlicher Unwille drang durch, trotz seinem Bemühn.

»Das ist gut,« fuhr sie hastig fort, innere Erregung prägte auf ihre blassen Wangen zwei rote Flecke.

»Es liegt mir so viel daran, weil – weil« – sie wühlte in den Falten ihres Kleides, aus welchem sie ein grotesk bemaltes Stück Holz hervorzog, das Wellkamp ähnlich dem in seinem Besitz befindlichen erkannte – »weil ich selbst ein ebensolches bewahre,« vollendete sie dann. »Es ist ein Talisman, der uns zusammenhält, solange jeder von uns seinen Teil besitzt. Eine alte Negerin, drüben bei uns, hat ihn mir gegeben. Ach, du glaubst nicht, wie kindisch abergläubisch ich bin.«

Auf diese letzten, in heftigem Flüstertöne sich überstürzenden Worte folgte wieder jenes leis klirrende Lachen, das Wellkamp so gut kannte. Vielleicht erwartete sie, daß er ihr wie früher mit einem Kusse die Lippen schließen würde. Er aber vermochte plötzlich ihre Atemnähe nicht mehr zu ertragen. Die Berührung ihrer fieberheißen Hände war ihm unleidlich. Unfähig, seinen Widerwillen zu verbergen, erhob er sich. Dann folgte langes Schweigen; ihr verwirrter Blick, in dem es wie kleine Schlangen feindlich aufleuchtete, wich nicht von seiner Gestalt. Er warf kaum noch einige gleichgültige Bemerkungen hin, die sie unbeantwortet ließ. Dann sah sie ihm, nun mit einem Ausdruck wahren, tiefen Schmerzes, nach, bis der Türvorhang hinter ihm zusammenfiel.

Sie ahnte wohl Unglück, das für den Mann wie für sie selbst das soeben Vorgefallene bedeutete, aber ermaß sie es auch? Nur ein ausnahmsweise starker Eindruck kann Naturen wie Wellkamp, wenig naiv, vor ihren eigenen Erlebnissen und Gefühlen in dem Grade betäuben, daß sie für Augenblicke ohne die gewohnte Rechenschaft von sich selbst bleiben. In der Tat war Wellkamp, ohne einen Gedanken zu fassen, in sein Zimmer gegangen. Zufällig trat er vor den Spiegel, da betrachtete er zum erstenmal aufmerksam sein mattes, von Zimmerluft, Mangel an körperlicher Bewegung, zu viel innerer Unruhe und Leidenschaft gebleichtes Gesicht. Es fiel ihm ein, daß er seit Wochen kaum anders als zu den nötigsten Ausgängen den Fuß vors Haus gesetzt, und sogleich erfaßte ihn ein jäher Abscheu vor dem eingeschlossenen, unfreien und qualvollen Leben, das er schon so lange führte. Zu spät sah er sein Schicksal vor Augen. Er war gefesselt, verarmt; er hatte es bis jetzt nur geahnt. In diesem Augenblick schrieb er ohne Bedenken den vier Wänden, in die er mit drei, immer denselben drei Menschen zusammen eingeschlossen gewesen, die Verantwortung für alles Geschehene zu. Er erkannte, daß das Fragwürdige, das Unsichere und Zerstörende seiner Natur, das ehemals auf seinem flüchtigen Wanderleben nur hier und da zerstreute Spuren zurückgelassen hatte, hier im Engen ganz andere, furchtbare Wirkungen hatte hervorbringen müssen. Ohne Ausweg aus dem geschlossenen Kreise einer Familie hatte sie gleich Sprengstoff zu wirken begonnen. Jetzt stand er vor der Katastrophe.

Der Aufenthalt in den verhaßten vier Wänden ward unerträglich; er drängte hinaus. Vor der Türe stand er eine Zeitlang, ohne den Pelzmantel zu schließen, der frische Wind sollte besser gegen seine so lange nur mit eingeschlossener Luft gespeiste Brust wehen. Die Straße hinab in die innere Stadt zu gehen, scheute er sich. Es sollte recht weit, recht frei um ihn her sein, damit in der Größe und Allgemeinheit der Natur sein Einzelleid und seine Einzelschuld unbemerkt untergehen könnten. So schlug er den Weg ein, der ihn von der Stadt entfernte und bald auf die Straße nach Räcknitz führte. Erst hier mäßigte er seinen Schritt. Hier ward ihm freier; von der hochgelegenen Straße sah er über die Stadt hinweg auf die dahinter sich entlangziehenden Höhen. Der Schnee, ringsumher erglänzend in der ruhig-heitern Wintersonne, war seinen so lange an Halbdunkel gewöhnten Augen Offenbarung und Erlösung. Die Flocken, welche in der windstillen Luft langsam und weich gegen sein Gesicht fielen, bereiteten ihm Liebkosungen, die er angenehmer fand als jene andern, denen er sich soeben entzogen. Er atmete die kalte Luft ein wie neue Gesundheit. Wirklich kam Beruhigung, und statt fieberhafter Gesichte zeigten ihm jetzt ordentlich einander folgende Überlegungen seine Lage.

Seine Lage aber war voller Verantwortung. Ein Schuldbewußtsein ganz neuer Art enthüllte ihm auf einmal alles, was Dora während der vergangenen Wochen erlitten hatte. Er sah durch ihre Erziehung und Erleben diese trostlosen, gleichsam toten Verhältnisse, in denen ihr Leben endigen zu wollen schien, war sie auf völlige Ruhe und Gesetzmäßigkeit angewiesen. Weniger als irgendeine andere ertrug sie Aufregungen, Furcht und Gefahr, die ein außergewöhnlicher Schritt mit sich brachte. Verantwortung des Geschehenen erdrückte sie, es fiel auf ihn, er allein mußte es verantworten!

Der Schauer von Furcht, Abscheu und Scham gedenkend, die ihn selbst noch soeben geschüttelt, kannte er nichts anderes mehr als Mitleid für die unglückliche Geliebte. Jene tiefe und rätselhafte Feindlichkeit, welche die Grundlage aller ihrer Beziehungen zu sein schien und die nur durch den Rausch der Leidenschaft eine Zeitlang betäubt worden war, entschwand zum erstenmal ganz. Den Trümmern ihres gemeinsamen Glückes zugewandt, fühlte er einzig: »Arme Frau!« Ach! Er fühlte es nicht, ohne um seine Überlegenheit zu wissen. Wie würde Dora ihn gerade hierfür gehaßt haben, sie, die nicht sein Mitleid, sondern seine Unterwerfung begehrte!

Von diesem Gedanken festgehalten und ganz darin verloren, war er fortgeschritten, ohne darauf zu achten, daß der immer tieferliegende Schnee ihm das Gehen mehr und mehr erschwerte. Erst der dichtere Flockenwirbel, der sein Gesicht durchnäßte und ihm die Aussicht nahm, bewog ihn, umzukehren. Mit seinem Blick ward auch seine Überlegung wieder frei.

Für all dies Elend, diese unfreie Heimlichkeit und diese Gewissensangst sollte doch ihre Liebe reichen Ersatz bieten, sie, deretwegen sie beide das alles auf sich genommen, und die einzig durch das, was sie gab, wettzumachen vermochte, was sie an Opfern erforderte!

Da schrie es in ihm auf. Was war heute morgen geschehen, was hatte ihn fortgetrieben von der Geliebten?! Der Schmerz riß von seinem Bewußtsein die letzten Schleier; dies war das Ende, er erfaßte es nun. Heute zuerst hatte der Zerstörungsprozeß, der, seit er und Dora ihre verderblichen Beziehungen geknüpft, ihr ganzes Dasein bedrohte, ihre Liebe selbst ergriffen, so teuer erkauft sie war. Nichts zählte dagegen: ihr angstvolles, gejagtes Dasein nicht noch das feindliche Drängen der Umstände. Das hatte sie nur noch enger verbunden. Selbst der Haß war noch nichts; gibt es doch eine Liebe, von der der Haß unzertrennlich ist. Wellkamp faßte kaum den Abstand dieser früheren Leidensstationen ihres Verhältnisses von der heute erreichten; er wußte nur, daß seit heute ihre Herzensnähe vernichtet und unmöglich gemacht war. Und nun, da er sie zerstört wußte, stand es ihm klar vor Augen, worin sie bestanden und was es gewesen war, wodurch ihre Liebe über eine bloß sinnliche Leidenschaft hinausgehoben war.

Was ihn unwiderstehlicher als körperlicher Reiz oder Begehren zu Dora gezogen, war etwas wie der Kultus einer heimlichen Schönheit gewesen, die etwas im Alltagsleben Verbotenes ist, auch wenn dieses sich in so gütiger und lieber Gestalt zeigt, wie Anna ihm trotz allem im Innern stets erschienen war. In Dora hatte er etwas wie das Innewerden seines eigenen tiefsten Wesens gesucht, ja, Entdeckungen über sich selbst hinaus. Neugier nach tieferen Schauern, als die Sinne sie kennen, nach Geheimnis vom Rand der Sinne und dessen, was hinter ihnen ist: dies war von Anfang an die Saite, die hinüberschwang aus ihrer Seele in seine.

Er erinnerte sich nach der Reihe aller Anlässe, bei denen sie berührt worden war, daß sein ganzes Innere davon erzitterte; so, als von jenem, als von wunderbaren Gemälden die Rede gewesen, oder während des »Tannhäuser«-Abends. Immer aber waren sie den Schauern, die das Vibrieren der Saite in ihnen weckte, schweigend unterworfen gewesen. Nichts schien ihm jetzt so bedeutend als dieses Schweigen, das in allen sehr erhobenen wie in den sehr versunkenen Augenblicken ihrer Herzensnähe, zwischen ihnen geherrscht. Es war stumm? Liebe gewesen, die sie verbunden hatte! Darum war auch mit dem Schweigen zugleich der Zauber gebrochen. Bei der Erinnerung an die ungeschickte Urheberin der Zerstörung ergriff ihn nun plötzlich heller Zorn. Im Zorn behauptete er, womit sie in Wirklichkeit seinem so unbestimmbar Zarten und heimlichen Verlangen begegnet war, es sei nichts als ein gemeiner, plumper Aberglaube gewesen, und bei der ersten Gelegenheit, wo sie sich für ihren sinnlichen Kitzel Vorteil davon versprochen, habe sie ihn verraten.

Sie hatte ihn betrogen! Seine seelische Kompliziertheit und Empfindlichkeit war nicht ihre, aber mit treuloser Benutzung seiner seelischen Bedürfnisse, denen sie innerlich fernstand und in Wahrheit nichts entgegenzubringen hatte, hatte sie ihn überlistet und gefangen. Er aber hatte sie benutzt als das »banale Instrument unter seinem siegreichen Bogen«. ›Und wie ein Lufthauch, der auf dem hohlen Holze einer Gitarre den Klang weckt, so hab' ich meinen Traum auf deinem leeren Herzen singen lassen.‹

Es fehlte nicht viel, daß er die ganze Sache auf die leichte Achsel nahm. Er hatte eine Enttäuschung mehr zu verzeichnen: was war da weiter zu bedenken? So half er sich in dieser Stunde gegen das Joch seiner Leidenschaft. Er fühlte nicht mehr: »Arme Frau!« Wahrhaftig, mit erfrischtem Körper, abgekühlten Sinnen vermaß er sich, alles Vergangene zu verleugnen und abzuschütteln und unmittelbar von vorn zu beginnen.

Ach! dieser mutige Rausch war sogleich verflogen, als er das Haus wieder betrat, das sein ganzes Drama enthielt und dessen gleichmäßig laue Luft ihm schwerer auf der Brust lastete, als wenn sie eine Mitwisserin und Verräterin seines Geheimnisses gewesen wäre. Nicht mit dem Schritt des Siegers schlich er die Stufen hinan, aber langsam ging er doch, wie an jenem Abend, der plötzlich vor seiner Erinnerung stand, als sie beide, zum ersten Male ganz einander gehörig, sich auf der dunkeln Treppe aneinander drängten. Es ward nicht besser, als er oben die Räume wiedersah, die alle unauslöschlich durchtränkt schienen mit dem Atem seiner Leidenschaft. Wo war ein Winkel, nicht gezeichnet durch Gedanken, Blicke, Liebkosungen, die das Licht scheuten? Alles ringsumher war lange, so lange zum Zeugen und zum bösen Gewissen geworden; es war zu spät, in diesem Kreise, der sich so erstickend fest um ihn geschlossen, vergessen und erneuern zu wollen.

Anna saß in ihrem gemeinsamen Salon vor dem Kaminfeuer in einem der beiden Sessel, deren anderer, sein eigener, ihn zu erwarten schien. Ihr Blick drang so mitleidig-still und besänftigend durch den Nebel seiner Trostlosigkeit, daß seine Seele, wie ein tiefes Aufschluchzen, einen Augenblick den heißen Wunsch fand:

›Wenn es sein könnte!‹

Aber er ging vorüber, denn er wußte, ›es konnte nicht sein‹.

Auf den soeben erlebten jähen Willensaufschwung war unmittelbar die tiefste Niedergeschlagenheit und Ergebung gefolgt. Er wagte von der Zukunft nichts mehr zu hoffen und suchte einen verzweifelten Trost darin, alles gehen zu lassen, wie es mochte. Als er sich am Abend von Dora verabschiedete, tat er es, ohne selbst zu wissen, warum, mit dem Blicke, in dem ihr gewohntes Einverständnis ausgesprochen war: »Auf morgen!«

Beim Fortgehen aus der Zusammenkunft am nächsten Morgen faßte er dennoch den Vorsatz, nicht dahin zurückzukehren; bis zu dem Grade hatte ihn der Zustand, in den das Verhältnis jetzt eingetreten, mit Widerstreben und Abscheu erfüllt. Er ahnte nicht, daß sich Dora zur gleichen Zeit dasselbe Versprechen gab.

Aber tags darauf fanden sie sich wieder einander gegenüber.

Was war aber auch aus ihrer Liebe geworden! Die Hoffnung und sogar jeder Anspruch auf ein seelisches Einverständnis, der kostbare Traum, welcher ihre Vereinigung über das niedere Gebiet der Sinne hinauszuheben vermocht, einmal ausgeschieden, blieb nichts als die rein körperliche Anziehung. Der Fall war, so jäh und so tief, daß sie ihn zuzeiten noch immer nicht begriffen. Sie wollten nicht sehen, daß jeder seine Enttäuschung nur sich selbst verdankte. Beide litten sie unter dem übersteigerten Bedürfnis, zu lieben, während es einem wie dem andern an der Fähigkeit dazu gebrach; ebenso wie jeder von ihnen Fragmente religiösen Gefühles in sich trug, ohne die stete Innigkeit des Glaubens zu besitzen. Da sie sich also nicht zu ergänzen vermochten, hatten sie begonnen, sich zu Zerstören.

Zuweilen in der Folgezeit unterbrachen beide zugleich einen Ausbruch von Begierde, und ihre Blicke, die sich suchten, befragten sich gegenseitig mit einerlangen, übermäßig traurigen Frage, worauf die Antwort: Nichts, immer nichts. Von der schrecklichen Furcht vor dem Leeren rasend gemacht, ließen sie sich dann von neuem im Wirbel ihrer Sinne fortreißen, die, je mehr sie sie zu befriedigen suchten, nur desto unersättlicher wurden. Es dauerte nicht lange und sie griffen zu Mitteln, welche nur überreizteste Fleischlichkeit kennt. Wellkamp mußte in die wildeste Zeit seines unruhigen Lebens zurückdenken, um ihresgleichen zu finden; aber in solcher Sprache drückte sich jetzt die Leidenschaft aus, die sie beide einst – wie lange war es doch her? – als das unverdiente Glück, als den endlichen Inhalt ihres Lebens begrüßt hatten.

Der Verlust der gegenseitigen Achtung machte alles roh und maßlos, auch den Haß; er stieg zu erschreckenden Ausschweifungen. Sie trachteten danach, sich gegenseitig wehe zu tun, mit Worten wie körperlich; sie schienen von der Gier beherrscht zu sein, als solle keine Stelle an ihrem Leibe und an ihrer Seele unverletzt bleiben.

Das schlimmste war vielleicht, daß diese Überanstrengung ihrer Leidenschaften sie nahezu unfähig machte, sie in Gegenwart der andern zurückzuhalten. Sie waren manchmal nahe daran, jede Verstellung aufzugeben, ja, sie einander als Verbrechen anzurechnen. Es kam vor, daß einer von ihnen, während sie an der Familientafel mit Anna und Herrn von Grubeck sprachen, dem anderen hinter dem Tisch die Nägel ins Fleisch drückte – dies unter Blicken verzweifelter Wut: ›Du kannst heucheln? Bist du es nicht, der mich mißhandelt und zerstört hat?‹

Wellkamp kämpfte bei solcher Gelegenheit mit dem Bedürfnis, ihr irgendeine unflätige Beleidigung ins Gesicht zu schleudern, die sie vor aller Welt bloßstellen sollte als »Dirne«. Er nannte sie nicht mehr anders, laut ihr ins Gesicht wie leise bei sich selbst. Und in den Stunden der Selbstbetrachtung, welche trotz allem nicht ausblieben, mußte er sich gestehen, er selbst sei dieser »Dirnenliebe« würdig.

Sie waren die grausamsten, diese Stunden der nüchternen Besinnung, sie zwangen ihn, das im Augenblick des Taumels nur zu gern vergessene Ergebnis zu ziehen aus dem, was seine Seele ausgefüllt und sein Leben ausgemacht seit langer, langer Zeit, wie es ihm vorkam: in Wirklichkeit aber seit kaum einem halben Jahre.

In der Einsamkeit seines Zimmers fürchtete er verrückt zu werden.

Wie hatte es sein können? Wie war das alles in der Schnelligkeit über ihn gekommen?

Er kam dann wieder auf die unheimliche, dumpfe Ahnung zurück, die ihn wirr und erschreckt die Wände ringsumher anstarren ließ. Es war das Haus, der geschlossene Kreis der Familie, in dem, wie in einem Treibhause, alles unnatürlich früh reif geworden war, schneller als unter andern Umständen, und ehe er zur Besinnung zu gelangen vermochte. Das Ergebnis, das er nun hielt, war ein Vernichtungskampf voll Haß und Verachtung, der den beiden Unglücklichen jede Entschädigung im Genuß versagte, in dem es nicht einmal die endliche Erschöpfung zu geben schien und noch weniger einen Sieger.

Trotz der Schrecklichkeit dieser Vorstellung hielt er sie fest, klammerte er sich an sie, da sie immer noch erträglicher war als das Zurückgehen in die erste Zeit seiner Annäherung an Dora. Aber auch dies blieb ihm nicht erspart.

Was war es denn im Grunde gewesen, was dem jetzigen tollen Kampfe vorausgegangen war und ihm Liebe vorgetäuscht hatte? Die zweieinhalb Monate seines Verlobtenstandes hatte er bereits so gut wie völlig im Kreise der Familie verbracht. Die ständige Gesellschaft seiner Braut hatte ihn in Flammen versetzt. Aber vor der natürlichen, keuschen Strenge des jungen Mädchens zurückweichend hatte er sein Feuer dorthin getragen, wo er fühlte, daß es einen bessern Empfang finden werde.

Diese grausame Vereinfachung der Dinge hatte das Gute, ein Gefühl zum Ausbruch zu treiben, das er bislang meistens nur zu gut von allen seinen Selbstbetrachtungen ausgeschlossen. Hatte er hiermit seine Handlungsweise noch unendlich tiefer erniedrigt und jede Entschuldigung vor sich selbst unmöglich gemacht, so erhob sich endlich ungebeugt das Bewußtsein seines Verbrechens an Anna.

Es warf ihn auf die Ottomane nieder. Seine Züge zogen sich zusammen unter der furchtbaren Anstrengung, welche sein gequältes Hirn machte, diesen unerträglichen Gedanken zu bezwingen.

In seiner Geistesabwesenheit hatte er ein wiederholtes Klopfen an der Tür überhört, auch den Eintritt Annas nicht bemerkt und ward ihre Gegenwart erst gewahr, als sie nahe herangetreten war. Er fühlte einen inneren Stoß, als müsse er aufspringen. Da stand sie vor ihm, unerwartet und wie eine Mahnerin, die Frau, der er alles schuldete, die er betrogen, solange er sie kannte! Es war, als sähe er sie mit völlig veränderten Augen: wie hatte er jemals in ihrer Gegenwart ruhig bleiben können! In der letzten Zeit hatte er sie, seinen wirren Stimmungen folgend, bald als Feindin angesehen, bald sich bei dem Gedanken an ihre getäuschte Ahnungslosigkeit erweicht, war selbst zärtlich geworden … Dieser Augenblick nun enthüllte sie ihm plötzlich als Richterin, und wie in einer Stunde des Urteils steigerte sein erwachtes Gewissen alle seine Sinne. In fortwährendem Blitzen brach alles Geschehene nochmals herein und schlug in diesen Augenblick …

Anna hinderte ihn, als sie seine Bewegung bemerkte, am Aufstehen; leise legte sie ihre Hand auf seine heiße Stirn. Er hätte ihr zurufen mögen:›Nimm sie weg!‹ eine so beängstigende Vorstellung hatte er sogleich davon, daß seine Stirn wie sein ganzer Leib durch so viele verbrecherische Zärtlichkeiten entweiht und unwürdig gemacht sei, die keusche Liebkosung dieser Hand zu empfangen, die kühl wie die eines jungen Mädchens war.

»Du bist noch blasser, als du in letzter Zeit warst,« sagte sie mit ihrer ruhigen Stimme. »Was fehlt dir?«

Er zuckte zusammen. Noch blasser als sonst, noch blasser, als ihn seine Schuld und die Ausschweifungen seiner Leidenschaft gemacht hatten! Er schloß die Augen vor Scham und Abscheu.

»Was fehlt dir? Sag' es mir!« wiederholte sie, wie wenn sie ein krankes Kind drängte.

Und es fand sich, daß dies der rechte Ton war. Wie sie sich tiefer über ihn neigte, fühlte er es bei geschlossenen Lidern und gab sich einer ersten Abspannung hin.

»Jetzt nichts mehr,« sagte er, »nun du bei mir bist.«

Er verbarg das Zucken seines Gesichts in ihrer Hand, die er mit seinen Tränen benetzte.

Seine Hingebung war in diesem Augenblick vollkommen. Es gab für ihn schon kein Hindernis mehr zwischen ihm und Anna; es gab kaum noch ein Geheimnis. Mußte sie nicht schon alles wissen? Wie es ihn damals, ihr von seinem Glück wie zu einer Vertrauten zu sprechen, drängte, so konnte ihr jetzt sein tiefstes Unglück unmöglich verborgen sein. Sie war seine natürliche Trösterin, sein Halt; vielleicht war dies das wichtigste Band, das ihn für alle Zeit an sie fesselte.

Er küßte die Hand, die sie nicht zurückgezogen, und war im Begriff, ihr sein ganzes Herz zu öffnen. Indes hatte sie das Krampfhafte seiner Hingebung beschäftigt. Diese Nervenkrisis ließ ihr seinen Zustand schlimmer erscheinen, als sie ihn sich vorgestellt. Sie suchte nach einer Beruhigung und sagte mit plötzlichem Einfall:

»Das Leben hier ist nichts mehr für dich. Warte, es wird besser werden, wenn wir reisen. Wann willst du? Ich dächte, wir brächen auf, sobald es Frühling wird. Wir finden einen schönen Platz in der Schweiz oder in Oberitalien, wo ich dich pflege, mein Lieber.«

Er blickte auf, erst verwundert, dann mit jähem Begreifen. Es war, als höbe sich eine Wolke auf, die über sie beide gefallen, und er sah nun wieder, daß zwischen ihnen etwas lag, das er einen Augenblick lang vergessen: sein Geheimnis, seine Schuld. Aber zugleich öffneten ihre Worte einen unverhofften Ausweg für seine, sofort mit der Besinnung zurückgekehrte, feige Unentschlossenheit.

Wenn sie reisten, änderte sich alles. Dies aber sollte ihn kein Eingreifen kosten, dessen er in seinem Zustande nicht fähig gewesen wäre, sondern sie selbst war es, die alle Hindernisse aus dem Wege räumte. Einmal fort aus dem erstickenden Kreise, konnten ferne die Beziehungen leicht vollständig abgebrochen werden. Selbst wenn man sich später einmal wiedersehen müßte, die Zeit und das Vergessen würden dazwischen kommen. So konnte er dieser geliebten, gütigen Frau den Schmerz seines Geständnisses ersparen.

Er sagte sich dies mit aufrichtiger Zärtlichkeit; wie gewöhnlich verkettete er die Scheingründe seines Verstandes mit der Ehrlichkeit seines Gefühls für ihn selbst unentwirrbar.

Noch einen Kuß auf ihre Hand drückend, sprach er einfach: »Ich danke dir,« während er innerlich aufatmete:

›So kann dennoch alles gut werden.‹


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