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III

Es war schließlich schwieriger, als man anfangs angenommen hatte, in den vier Wochen, die ursprünglich nur noch für den Brautstand bestimmt waren, alles Erforderliche zu beschaffen. Die jungen Leute wurden auf ihren Wegen in der Stadt, denen sie zumeist den ganzen Morgen und einen Teil des Nachmittags widmeten, fast immer von dem Major begleitet. Nun war der alte Herr ein recht geschmackvoller Berater bei der Wahl der Einkäufe, nur daß er über seinen Kunstliebhabereien etwas zu sehr die ersten Bedürfnisse des künftigen Haushaltes vernachlässigte. So kam es vor, daß er die luxuriöse Ausschmückung eines Raumes bereits im einzelnen angeordnet hatte, über dessen praktische Bestimmung er sich durchaus noch nicht klar war. Seine beiden Kinder ließen ihn in den meisten Fällen gern gewähren. Es war ihnen beiden ein süßes Gefühl, sich bei jeder Gelegenheit sagen zu lassen: »Das da ist etwas sehr Passendes für euch.« Es hatte etwas davon, als würden sie durch ein Paradies geführt, das Gott für sie geschaffen; sie fanden alles fertig vor, und alles war für sie.

Auch waren sie damit einverstanden, als Herr von Grubeck ihnen eines Tages einen Besuch der Gemäldeausstellung – es war eine soeben eröffnete Aquarell- und Pastellausstellung – vorschlug, da doch die Auswahl einiger Bilder unumgänglich nötig sei. Dann war es auch hier erstaunlich, wie rasch und mühelos das Auge eines jeden in der Menge der ausgestellten Kunstwerke eben jenes herausfand, das den eigentümlichen Begriffen seiner Seele entsprach. Nach einem kurzen Rundgang durch die verschiedenen Räume war Wellkamp an den Eingang des Hauptsaales zurückgekehrt, wo er sich in ein Gemälde Gabriel Max' vertiefte, dessen vergeistigte und doch so sinnlich wirksame Art in der blassen und zarten Ausführung des Pastells in erhöhtem Maße zur Geltung kam.

Inzwischen verweilte Anna vor einigen italienischen Aquarellen, Szenerien vom Canal grande oder vom genuesischen Golfe. Über den bunten und heiteren Farben schien die geheime Melancholie des bloß vegetierenden Lebens zu liegen, aber nur wie ein ungewisser Duft und jedenfalls mehr gefühlt als gesehen. Dann wurden beide junge Leute von dem Major an den Platz geholt, den er eingenommen hatte, »um seine Studien zu machen«, wie er sagte. Es waren die Zeichnungen zu Illustrationen der »Fliegenden Blätter«, und auch die beiden andern mußten die feine und anmutige Koketterie dieser Tusch- und Federzeichnungen bewundern. Der Major behauptete, nirgends für seine eigene Kunstübung so viel lernen zu können wie an diesen scheinbar leicht hingeworfenen Skizzen, die für ihn technische Offenbarungen enthielten. Wellkamp und Anna gingen gefällig auf die Bemerkungen des alten Herrn ein, auch erwähnten sie sodann die Stücke der Ausstellung, welche sie selbst besonders gefesselt. Aber weder er noch sie ließen sich näher über die Art des Genusses, den sie ihnen gewährt, aus. Anna mochte wohl zu der Zahl der feiner fühlenden Beschauer gehören, denen es widerstrebt, ihre Empfindungen vor einem Kunstwerke in die dem großen Publikum geläufigen Urteile und Ausrufe zu kleiden, während ihnen zugleich der echte und persönliche Ausdruck dafür versagt ist. Wellkamp seinerseits hätte sich niemals entschließen können, die tiefen seelischen Erregungen, welche ihm zuweilen ein Kunstgenuß verschaffte, durch eine Aussprache, zumal in den Augenblicken, wo er sie empfing, preiszugeben. Er hätte dies als eine Entweihung angesehen, so sehr hatte er sich, trotz seines abnutzenden äußeren und inneren Entwicklungsganges – oder aber gerade dank ihm – in dieser Hinsicht eine empfindliche seelische Keuschheit bewahrt.

Man mußte schließlich, da die Zeit des Diners gekommen war, aufbrechen. Während der Major von seinen Lieblingen Abschied nahm, hatte Wellkamp, bereits zum Gehen gewandt, unweit jener Skizzen, die ihn bisher von dem übrigen Inhalt des Saales abgehalten, ein Bild entdeckt, das im gleichen Augenblicke seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Dies geschah sogar in der Weise, daß er mit unwillkürlich weiter geöffneten Augen und mit einer seltsamen Spannung, welche sich nach und nach zu einem förmlichen Grauen steigerte, an das Gemälde herantrat. Diese Wirkung konnte wohl durch den absonderlichen Stoff, welcher hier behandelt war, hervorgebracht werden, noch weit unheimlicher aber war die Auffassung des Künstlers. Vor einer elenden Bauernkate, deren schmutzig braune Umrisse kaum durch den dichten, alles einhüllenden Nebel hindurchdrangen, stand ein Weib, das mit einer Miene namenlosen Entsetzens vor sich in die dicke, graubraune Luft hineinstarrte. Darin zeigte ihr »das zweite Gesicht« die Gestalt eines Mannes in bäuerischer Tracht, wohl ihres Gatten – vielleicht als eine Mahnung des Verstorbenen, vielleicht als Todesahnung. Die Erscheinung stand nicht gestalthaft im Nebel, sie schien vielmehr ein Gebilde dieser Luft selbst und nicht aus ihr zu lösen. Beim Beschauer wurde hierdurch der Eindruck bewirkt, die Luft sowie die ganze Natur, welche sie ausfüllte, und das ganze Leben in dieser Natur sei gespenstig. Kaum begreiflich, wie dies mit den sinnenfälligen Mitteln der Malerei hatte erreicht werden können: auch dies mochte zu jener ersten starken Wirkung, die das Gemälde auf Wellkamp gemacht, beigetragen haben.

Letzterem blieben zur Betrachtung nur wenige Minuten, aber die seltsame Eindringlichkeit des Geschauten hatte ihn für den Heimweg schweigsam und nachdenklich gemacht. Während man im Boudoir Frau von Grubecks die Meldung, daß angerichtet sei, erwartete, berichtete der Major seiner Gattin von der Ausstellung. Seine Stimme bekam, wenn er von seiner Lieblingskunst sprach, jedesmal eine wärmere, fast jugendliche Klangfarbe. Er redete sich auch diesmal so in Feuer, daß er schließlich Dora zu einem Besuch der Ausstellung aufforderte, wiewohl er wissen konnte, wie vergeblich es war, sie zu einer Wanderung durch sechs oder acht Säle veranlassen zu wollen. Der Major liebte die Malerei mit einer scheinbar ganz aus seinen übrigen seelischen Anlagen herausfallenden Inbrunst. Alternde, unter der Erkaltung ihres Lebens leidende Menschen klammern sich so an die Heiterkeit, die Wärme und Fülle der Kunst, die ihnen ein neues und letztes Sinnenglück gewährt.

Eben als sie in das Speisezimmer – ein dunkel getäfeltes Gemach, worin einfallendes Licht den darunterstehenden Tisch kreidig beleuchtete – hinübergingen, fragte der alte Herr seinen Schwiegersohn nach dem, was diesen in seinen Gedanken noch immer beschäftigte.

»Was war denn das eigentlich, wovor Sie ganz zuletzt stehengeblieben waren, es schien Sie sehr zu interessieren? Ich bin nicht mehr dazu gekommen, es mir anzusehen. Übrigens müssen wir ja ohnedies noch mal hin, wenn wir bei unserem Vorsatz bleiben, uns etwas zum Ankauf auszusuchen.«

Während man sich zu Tische niederließ, hatte der Angeredete die Absicht, seine Antwort in der augenblicklichen Gesprächspause verschwinden zu lassen und auf einen anderen Gegenstand überzuleiten. Doch verspürte er plötzlich die Lust, zu sehen, welchen Eindruck die Beschreibung jenes eigenartigen Bildes auf andere hervorbringen würde. Er wollte dabei besonders an Anna denken; dennoch glitt sein Blick, wie er nun mit Worten, die ihm durch eine lebendige, greifbare Vorstellung eingegeben wurden, die Schilderung jenes »Zweiten Gesichtes« gab, unvermerkt zu Dora hinüber. Und während er noch sprach, konnte er, neugierig und erfreut wider Willen, die Wirkung auf dem Gesicht der jungen Frau wahrnehmen. Wir sehr glich ihr Eindruck dem seinen! Wie noch vor wenig mehr als einer halben Stunde seine eigenen, so öffneten sich nun, unvermutet rasch, wie vor einer das ganze Wesen eines Menschen tiefinnerlich berührenden Überraschung, ihre Augen und ließen Wellkamp zum ersten Male eine eigentümlich wasserhelle Iris sehen, die jetzt aus rätselhafter, dunkeler Tiefe winzige, goldglänzende Funken zu sprühen schien. Es war eine Wahrnehmung von wenigen Sekunden, dann sanken die breiten Augenlider wieder herab, und zugleich mußte Wellkamp sich der anderen Seite zuwenden, da Anna ihn, zum ersten Male seit ihrer Rückkehr von der Ausstellung, anredete.

»Es mag sehr gut gemeint sein,« sagte das junge Mädchen in auffällig kurzem und entschiedenem Tone, »aber ich meine, daß die Kunst besser daran täte, sich nicht mit der Pflege derartig romantischer Empfindungen abzugeben, die für unsere Zeit nicht nur überflüssig, sondern hinderlich sind.«

»Aber ich denke,« erwiderte Wellkamp, der, überrascht von der energischen Stellungnahme seiner Braut, seine eigene, sonst beobachtete Vorsicht in der Äußerung Widerspruch erregender Meinungen vergaß – »aber ich denke, daß die Kunst, wenn sie nämlich überhaupt irgend etwas ›soll‹, es sich zur allerersten Aufgabe machen muß, die übersinnlichen Vorstellungen zu unterhalten. Denn für das Kulturleben bleiben sie unentbehrlich.«

Anna hatte das Auge Doras gesehn: die Wirkung der von ihr kritisierten Vorstellungen, durch die Erzählung ihres Verlobten hervorgerufen, in dem Auge der ihr verhaßten Frau. Sie war erregt. Der Klang ihrer Stimme war in ihrer neuen Antwort noch härter als vorher, es mischte sich sogar etwas wie Spott hinein.

»Ach! Du bist also Reaktionär?«

»Wenn's nur gut gemalt ist!« Der Major versuchte, durch eine Wiederholung dieses Lenbachschen Wortes das Gespräch, welches in gefährliche Bahnen zu laufen schien, zurückzulenken. Die beiden jungen Leute drohten auf eine unheimliche Weise politisch zu werden, was Herr von Grubeck immer für unnütze Aufregung gehalten hatte. Er selbst war pflichtgemäßer Christ und Monarchist, ohne vor einigen dem Liberalismus zu machenden Zugeständnissen, die er seiner Zeit schuldig zu sein glaubte, zurückzuschrecken.

Hierüber war Wellkamp hinaus. Er traute sich Organe zu, die mehr verborgenen Zeitströmungen zu fühlen. Angesichts der Pöbelherrschaft des Geldes glaubte er sich geboren für eine vornehme, größer gesinnte Zeit. Aber der Fluch der Ironie traf ihn fühlbar. Was hätte er selbst der Welt denn noch gegolten ohne das Geld seines Vaters, der ein Emporkömmling war. Unmöglich konnte er für seine Person zu gewinnen glauben, hätten Name und Herkunft, geistige Leistung oder verdienstvolle Tat den Vortritt erlangt vor dem Gelde. Ihm war nur erlaubt, ästhetisch zu liebäugeln mit Zuständen, die er ungern erlebt hätte.

Nicht anders stand er zur Religion. Er glaubte natürlich weit eher an die Naturwissenschaft. Wie jedermann, war er über ihre vorläufigen Ergebnisse mehr oder weniger unterrichtet und von ihnen überzeugt. Statt sich selbst aber hinzunehmen, wie er war, suchte er auch hier wieder das andere, ihm nicht Gemäße, und erstrebte eine Persönlichkeit, die nicht sein war, den tiefen Zweifler, die ringende Seele. Verlockt von dem Eingeständnis eines populären Forschers, ruhte sein Zeitgenosse in dem Bewußtsein aus, daß der Wissenschaft die letzten, entscheidenden Fragen immer unlösbar bleiben werden.

Und unter den Vermutungen, mit welchen diese einzig beantwortet werden können, ist die religiöse, zu der man auf solchem Wege zurückkehrt, eine so schöne, die Mehrzahl der Menschen befriedigende. Gehöre zur Mehrzahl! fühlt der mit sich selbst zerfallene Moderne. Versage dir doch nicht das von keiner Zeit je abgeschwächte Bedürfnis der Seele nach den Vorstellungen und Hoffnungen, welche die Religion verleiht.

Wellkamp hatte sich über alles dies niemals so ausführlich Rechenschaft abgelegt. Er hatte selbst keine Ahnung, wie stark er innerlich an den von Anna berührten Gegenständen interessiert war, und so mußte ihn der Eifer, mit dem er auf ihre herausfordernden Bemerkungen einging, selbst überraschen. Doch vermochte er das junge Mädchen durch ein Andeuten seiner Ansichten jetzt nicht zu weiterer Darlegung der ihren zu veranlassen. Es schien ihm, daß sie ihm eine Erläuterung in Abwesenheit von Zeugen zu geben wünschte.

Mit ihren Gedanken beschäftigt, ließen die beiden jungen Leute während des Restes der Mahlzeit den Major fast allein das Gespräch unterhalten. Als er und seine Gattin sich nachher in ihre Zimmer zurückgezogen, gingen Anna und Wellkamp in stillem Einverständnis gemeinsam in den kleinen Salon. Er lag dem Boudoir Doras gegenüber auf der andern Seite des Speisezimmers und war Annas gewöhnlicher Aufenthalt. Hier konnten sie sich ungestört über ihr Verhältnis zu den angeregten Fragen verständigen.

Der Major kam noch einmal herüber, um sich zu erkundigen, ob man nicht eine Tasse Tee nähme. Als diese abgelehnt ward, entfernte sich der alte Herr, dem es schließlich bei dem Charakter seiner Tochter unumgänglich dünken mochte, gelegentlich die Geister aufeinanderplatzen zu sehen.

Der Vater besaß, wie so oft, mehr Verständnis für die Art seines Kindes, als dieses selbst ihm zuschrieb. Er ahnte wohl, daß die Ruhe und Abgeschlossenheit, welche das Wesen der Tochter trotz ihrer großen Jugend kennzeichnete, mit den außerordentlich festen Meinungen, die sie sich über gewisse Dinge gebildet, verknüpft war. Wovon er dagegen nicht wußte, waren die schweren, stillen Kämpfe, unter denen jene Ruhe erworben war.

Anna war damals zur Welt gekommen, als die junge Frau, welche ihr Gatte schon jetzt zu vernachlässigen begonnen hatte, still und bitter die ersten Leiden ihrer immer freudloser werdenden Ehe durchlebte. Es war, als sei von jener Stimmung der Mutter etwas in das Wesen des Kindes übergegangen.

Später, in dem heranwachsenden Mädchen, das die Krankheit der Mutter sich steigern und steigern sah, suchte ein dumpfes Gefühl nach seinem Ausdruck, welches den Vater beschuldigte – wessen doch? Wenn sich dann das Herz, das den gütigen und frohen Vater liebte, gegen solche Pietätlosigkeit empörte, ergaben sich aus diesem ersten Widerspruch ihrer Natur die ersten Kämpfe.

Dann starb die blasse Frau, an deren Lager Anna fast ein Jahr lang den größten Teil ihrer Tage zugebracht, und zu dem Schmerz über diesen trotz der langsamen Vorbereitung ungeahnt und unbegreiflich schrecklichen Verlust gesellte sich ein für die Zurückgebliebene nicht weniger empfindlicher. Ihre innige religiöse Überzeugung, teuerstes Erbteil der Mutter, hielt den jetzigen Prüfungen nicht stand.

Die Prüfungen hatten, mit dem schmerzlichen Nachdenken, das sie erregten, zweifellos in hervorragendem Maße auch die seelische Entwicklung des kaum achtzehnjährigen Mädchens begünstigt. Ohne daß der Vater, den eine Art Scham davon zurückhielt, ihr Erklärungen gegeben hätte, begriff sie, daß die schwierigen häuslichen Verhältnisse ihr künftig eigene Arbeit notwendig machen würden, und begann sich alsbald auf eine geeignete Tätigkeit in aller Stille vorzubereiten. Ihr Vater ließ sie, erfreut über ihre verständige Schickung in die unvorhergesehene Lage, den Weg betreten, welcher sie schnell weiter und weiter den Grundbedingungen seiner eigenen Anschauungen entfremden sollte. Von der pädagogischen und philosophischen Literatur, die sie anfänglich zu ihrer wissenschaftlichen Ausbildung gewählt, geriet sie infolge textlicher Hinweise und durch ahnungsvolle Neugierde geleitet, an die Lektüre volkswissenschaftlicher, sozialistischer Schriften. Auffassungen, welche mit der Begeisterungsfähigkeit und idealistischen Gerechtigkeitsliebe eines jugendlichen Geistes kennengelernt werden wollen, fanden hier überdies ein durch Leiden auf sie vorbereitetes Gemüt. Gleich unzähligen Mühseligen und Beladenen von heute nahm sie mit allem Vermögen ihres Geistes und ihrer Empfindung die neue, weltliche Religion in sich auf.

Es waren nun zwei Jahre, daß auf solche Weise der seelische Zwiespalt jener Zeit in ihr ausgeglichen war, und das junge Mädchen schrieb seither ihrem ganzen Wesen Abgeschlossenheit zu, ein unverrückbares inneres Ziel, dem nachzugehen ein volles Leben befriedigen kann.

Je fester dies Ziel in ihr stand, desto mehr mußte ihr jetzt daran gelegen sein, sich mit dem Manne ohne den sie ihre Zukunft nicht mehr dachte, über einen so wichtigen Bestandteil ihres Denkens und Empfindens zu verständigen.

So hatte Anna sich allerdings auf die nun bevorstehende, für sie so wichtige Unterredung vorbereitet, und die innere Ruhe, die sie ihr entgegenbrachte, war so vollständig, daß sie die kleine Störung, welche ihr die Erwähnung des fatalen Bildes verursacht, jetzt bereits überwunden hatte.

Wellkamp las in ihrem Gesicht die Festigkeit, und er fühlte, wie Anna über alles, womit sie in Berührung kam, eine eigentümliche Macht gewann.

Dies schien ihm auch in der Einrichtung des stillen, von den übrigen, untereinander verbundenen Räumen der Wohnung abgeschlossenen Zimmerchens ausgedrückt zu liegen, in dem sie einander gegenüber saßen, sie auf einem altmodischen, geschweiften Sofa, er in dem weiten, mit verblichener Stickerei bekleideten Korbstuhl. Überall waren zwischen die ursprüngliche moderne Ausstattung des Raumes ältere Stücke gestellt, welche von der Mutter des jungen Mädchens und aus deren Mädchenzeit stammen mochten, so die große, mit Perlenstickerei gefertigte Landschaft, die als Schirm vor dem Kamin stand, und das Klavier von einer längst außer Anwendung gekommenen Form. Die hier und da angebrachten Photographien und Stiche wiesen einen besonderen, etwas strengen Geschmack auf. Alles dies stimmte gut zu der Erscheinung der jungen Bewohnerin des Raumes. Auch in der schlichten Art, wie sie ihr volles dunkles Haar trug, auch in dem einfachen, wiewohl tatsächlich nicht merklich von der Mode abweichenden Schnitt ihres Kleides schien etwas Fremdes, in gewisser Weise Altmodisches zu liegen, und in ihrem Gesicht prägte sich bei aller frischen Jugendlichkeit ein seltsam ernster, strenger Grundzug aus. Es war der in dieser Umgebung überraschende Typus eines slawischen Rassegesichtes mit der nicht breiten, doch stark gebauten, reinen Stirn, der feinen und dabei energischen Nasenwurzel, den vollen Lippen des schöngeformten, nicht kleinen Mundes und der aus dem allen redenden Willensstärke, verwandt mit edlem Starrsinn.

Den Eindruck einer eigenen, geschlossenen Persönlichkeit, dem er immer aufs neue im Verkehr mit seiner Braut unterlag, empfand Wellkamp in diesen ersten Augenblicken der schweigenden Beobachtung stark und bis zur förmlichen Entmutigung, seine Meinungen jetzt noch den ihrigen entgegenzusetzen. Er hörte ihren Auseinandersetzungen, die sie in ruhiger, gar nicht aufdringlicher und vielleicht darum jeden Widerspruch nahezu ausschließender Weise gab, in der träumerischen, benommenen Stimmung zu, der nervöse und nicht willensstarke Menschen in Gesellschaft ruhiger und überlegener Persönlichkeiten verfallen können.

Gelegentlich nur ward er aus seiner schweigsamen Hingabe herausgerissen durch eine ihrer Fragen, eine der naiven Fragen, die einem weniger beeinflußten, ruhigen Zuhörer ohne weiteres die vollständige Jugendlichkeit der Denkweise der Fragestellerin verraten hätten; denn für sie bedeuteten die von ihr besessene Wahrheit und der Irrtum der Andersgläubigen die schroffsten Gegensätze, die sie nicht in der Idee zusammenfaßte. Sie vermochte nicht vermittelnd zu denken und kannte keine Vielheit der Gesichtspunkte.

Einmal wenigstens, als sie ihm seine Beweise für das Dasein eines Gottes, an welches zu glauben er vorgäbe, abverlangte, vermochte er eine abgerundete, gelegentlich einmal zu eigenem Troste zurückgelegte Antwort vorzubringen.

»Siehst du,« sagte er, »du kannst alles, was in unserm Empfinden und in unseren Schicksalen für das Dasein eines persönlichen Gottes zu sprechen scheint, trügerisch nennen. Auch ich empfinde es im Grunde als einen Trug, aber es scheint mir einer in der Art der Fata Morgana zu sein. Hinter der phantastisch schönen Luftspiegelung, welche sie uns vorzaubert, gibt es doch immer, in weiter Ferne, etwas, das gespiegelt wird und ohne das keine Spiegelung möglich wäre.«

»Nur daß eben dies Dahinterliegende dir den Gegenbeweis an die Hand gibt: es ist immer etwas sehr Irdisches und häufig sogar etwas ganz Unansehnliches, was in der Luft – oder in deinem Empfinden – gespiegelt so große Wirkungen hervorbringt.«

Wie Wellkamp nach diesem leicht und wie selbstverständlich ausgesprochenen Einwande in die vorige passive Stimmung zurücksank, tauchte unvermutet mit seltsamer Deutlichkeit ein Bild vor seinem Geiste auf. Er erblickte sich selbst in einer Lage, die in eigentümlicher Weise den Vergleich mit der augenblicklichen herausforderte.

Er sah sich als zehn- oder elfjährigen Knaben im Hause seiner alten Großmutter, in dem sogenannten Sommerzimmer, welches weniger nach seiner Aussicht auf den schattigen alten Garten so benannt war, als nach den die Wände zierenden altmodischen Tapeten, auf denen die wechselnden Szenen des sommerlichen Landlebens dargestellt waren. Der kleine Erich, der auf einem erhöhten Schemel an dem ungeheuer breiten und festen Tisch saß, richtete seine Blicke von dem violetten Abendhimmel nach dem Muster des Claude Lorrain, der in der Reihe der Landschaften immer wiederkehrte, auf die alte Frau ihm gegenüber. In ihrem graugestreiften Seidenkleide und der Spitzenhaube, unter der ihr welkes, frommes Gesicht hervorblickte, saß sie, ohne sich anzulehnen, gerade aufgerichtet in dem steifen Sofa von rotem Damast und kannte keine Ungeduld bei der Menge von Fragen, die der Enkel ihr mit dem Anspruch auf alsbaldige Lösung vorlegte. In einer Pause gewissenhaften Nachdenkens strich sie wohl mit ihrer knochigen und auch wie Knochen weißen Hand über die gleich dem Sofa rotdamastene Tischdecke hin und her, um dann aufs neue den Wissensdurst des Kindes zu befriedigen.

»Wie die Welt einmal untergehen wird, mein Kind,« hörte Wellkamp sie sagen, »das wissen wir sicher, denn die Schrift sagt es uns: Es wird durch Feuer vom Himmel geschehen.«

Dann legte sie ihre weiße Hand auf die vor ihr aufgeschlagene dicke, messingverzierte Familienbibel, während ihre hellbraunen, niemals fragenden Augen noch zuversichtlicher blickten als vorher. Der Knabe pflegte in den seelischen Nöten erster kindlicher Zweifel sich an die alte Frau zu wenden. Wohl wuchs die Krankheit dieses frühen Unglaubens trotz ihrer Heilungsversuche in ihm fort; aber er kannte doch in diesen Augenblicken, wenn in der nun eintretenden Stille nur das leise, klingende Ticken der Stutzuhr auf dem Schreibtische der Großmutter hörbar war, schon damals das weiche, süß schmeichelnde, einschläfernde Gefühl von heute. Dieselbe Sicherheit und Beruhigung umfing heute den Mann, der so viele Anschauungen und Überzeugungen nacheinander angenommen und als ungenügend wieder von sich abgetan, bei dem Klange der festen, durch keinen Zweifel getrübten Stimme seiner Braut und ließ ihn leise erschauern.

Das plötzliche Auftauchen jener seit langen Jahren kaum mehr belebten Erinnerung zeigte, ob er sich nun ausdrücklich darüber klar ward oder nicht, zur Genüge, wie innig seine Empfindung die beiden Situationen, die jetzige und die von damals, miteinander verband. Hier wie dort war er, der auf offener See von widerstreitenden Winden Umhergetriebene, zur Rast in einen stillen Hafen eingelaufen, wie die andere Seele in beiden Fällen ihn zu bilden schien. Die fremden Wellen, welche in das Wasser hineinfließen, vermögen dennoch an seiner festabgegrenzten, tiefinneren Ruhe nichts zu ändern.

Zugleich aber knüpfte sich für ihn an die soeben wieder durchlebte Kindheitsszene die wie nie vorher sichere und ausgeprägte Erkenntnis der Mittel, mit denen eine solche »Hafenruhe« in einer Seele hergestellt wird. Daß das Leben eines Menschen zu seinem sinnlichen Glück geführt war – und es hatte eine Zeit gegeben, wo Wellkamp allein in dem Mangel eines solchen den Grund für die Unausgeglichenheit seines Daseins erblickt hatte –, war nicht alles. Ebenso unerbittlich forderte ihre Befriedigung jene unerklärliche Sehnsucht, die man ehemals als die »übersinnliche« zu bezeichnen gewohnt war und die, mit etwas verändertem Wortsinne, vielleicht tatsächlich etwas Übersinnliches, das heißt den denkbar feinsten und gleichsam über die Sinne hinaus verlangenden Ausdruck des sinnlichen Verlangens darstellte.

Diese Überlegung hatte indes die heimliche, hingegebene Stimmung aufgelöst, in der ihn die Nähe und das Gespräch seiner Braut bisher unterhalten. Der Zauber, den sie auf ihn ausübte, war zuletzt einfach auf ihre Gesundheit und Natürlichkeit zurückzuführen. Davon strömte mit jedem ihrer Worte eine Fülle zu ihm hinüber, der gleichsam in geistiger Krankenluft zu leben gewohnt war. War nicht dies der größte, entscheidende Vorzug, den Anna von Anfang an für ihn gehabt? Durchaus im Widerspruch hiermit fand er nun plötzlich diesen Einfluß unbehaglich und störend und fühlte sich versucht, ihn von sich abzuschütteln. So läßt ein Kranker sich nur ungern zum ersten Male zum Verlassen des Lagers bewegen, er findet keinen Gefallen mehr an dem Leben der Gesunden, dessen ihn sein Zustand seit so langer Zeit entwöhnt hat. Trotz riet Wellkamp, keine Minute länger diese Unterhaltung fortzusetzen.

Mitten in einer weiteren Bemerkung des jungen Mädchens sprang er, fast wider seinen eigenen Willen, auf und verabschiedete sich eilig; ihm sei plötzlich eine in der Stadt zu ordnende Angelegenheit eingefallen. Wenngleich mit seinem Benehmen nicht zufrieden, atmete er doch leichter, als er die Tür des kleinen altmodischen Zimmers hinter sich geschlossen hatte. In Frau von Grubecks Boudoir, das er passierte, obwohl er einen andern Ausgang vom Speisezimmer aus hätte benutzen können, fand er Dora an ihrem gewohnten Platze. Halbdunkel, denn von der hohen bronzenen Lampe hing über dem Schirm noch eine seidene Draperie, ließ Wellkamp, nach der hellen Beleuchtung, welche Anna liebte, nur undeutlich die lichtgrau gekleidete Gestalt unterscheiden; doch fühlte er, wie gewöhnlich in ihrer Nähe, ihre Augen auf sich gerichtet. Sie schien heute noch keines der Bücher geöffnet zu haben, die auf dem Tischchen neben ihr lagen; ihre Hände ruhten müßig im Schoße. Um ihm, der nach der Begrüßung einen Augenblick unschlüssig vor ihr stand, ihre Beschäftigungslosigkeit zu erklären – er fragte sich später, ob es nur deswegen geschehen sei –, erzählte sie dem jungen Manne, daß sie sich die verflossene Stunde in ihren einsamen Gedanken noch immer mit dem Inhalt jenes wunderlichen Bildes beschäftigt.

»Ich grübele gern über solchen geheimnisvollen Dingen,« fügte sie auf seine verwunderte Frage hinzu, »und ich glaube auch an sie.«

Und als er noch immer schwieg, – »vielleicht gerade darum, weil man sie niemals zu sehen bekommt.«

»Kommen Sie her!« sagte plötzlich Wellkamp. »Schnell!« – und er streckte den Arm aus. Sie kam ihm entgegen, wortlos, den Blick in seinem. Da schraken sie auf und sahen zurück, es krachte, splitterte, und Möbel fielen um. Ein schweres Bild war von der Wand gestürzt, genau auf den von Dora soeben verlassenen Sitz.

Nach langer Pause sagte Dora: »Nun haben wir es doch zu sehen bekommen.« Er ergänzte: »Das Geheimnisvolle.« Zugleich erblickte er die Mischung von leisem, verhaltenem Grauen und tiefinnerer, suchender und verlangender Hingebung, die er selbst empfand, auch in ihrem Auge.

Dies war viel stärker, viel bestimmter als das erstemal, daß sie gemeinsam erschauerten. Ja, es war, als ob jene suchende Hingebung einen Gegenstand zu finden auf dem Wege sei. In einer augenblicklichen Willenslähmung bemerkte Wellkamp, ohne es doch hindern zu können, wie sein Schauer die bestimmtere Gestalt von Verlangen, sogar von Begehrlichkeit annahm. Der Vorgang war ohne Zweifel bei Dora ohne Unterschied der gleiche; denn als der junge Mann sich endlich von dem seltsamen Banne befreien konnte, nahm er auch bei ihr das plötzliche Erschrecken, wie beim Auffahren aus einem halben Traumzustande, wahr. Auch war die darauffolgende peinliche Verlegenheit bei beiden gleich stark. Sie wechselten, aneinander vorübersehend, noch einige wenige Worte, worauf Wellkamp sich verabschiedete.

Im Vorzimmer fiel ihm unvermittelt ein, daß der gedankenlos gesprochene Vorwand zufällig der gleiche gewesen, mit dem er kaum eine Viertelstunde zuvor Anna verlassen. In hastiger Gedankenverbindung drängte sich ihm ein Vergleich der beiden hinter ihm liegenden Unterredungen auf. Und die soeben empfundene Verlegenheit wurde zur Scham und zu stillen, heftigen Selbstvorwürfen, als er sich das Ergebnis dieses Abends gestehen mußte, welches darin bestand, daß er das Gespräch mit seiner Braut beendet hatte, weil ihre ruhige und verständige Auffassung der Dinge, wie sehr sie ihn damals angezogen haben mochte, ihn heute erkältet hatte – während er im Gegenteil dasjenige mit Dora abgebrochen, weil sein Interesse allzu stark, sein Blick zu heiß geworden.


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