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VI

Waren die Vorgänge des Weihnachtsabends Wellkamp von solcher Endgültigkeit erschienen, daß er unter der Wucht der Entscheidung dem Zusammensinken nahe gewesen war, so sollte er unmittelbar darauf noch einmal den der Seele eingeborenen moralischen Willen kennenlernen, in dem gerade schwache Charaktere zu ihrem instinktiven Fatalismus ein seltsames Gegengewicht zu besitzen pflegen. Das Gewissen weiß sie allemal zur Anerkennung seiner Ansprüche zu zwingen, ehe sie diese dennoch verletzen. Die innere Stimme wird auch noch im lautesten Toben ihrer Leidenschaft hörbar, sei es auch nur, um sich von der Logik ihrer Begierde sogleich widerlegen zu lassen. Ohne sie ihren Wünschen nachzugehen, vermögen sie ebensowenig, wie schließlich ihr zu gehorchen. Nirgend in ihrer Innenwelt gibt es einen geraden Weg, der nicht von irgendeinem Sophismus durchkreuzt und umgebogen werden könnte. Ihr Denken und Empfinden bewegt sich in Winkelzügen; man sollte meinen, daß ihr Wesen der Selbstbetrug sei.

Für Wellkamp stellte sich nach dem Vorgefallenen die Gewissenspflicht mit völliger Klarheit so dar, daß er sofort mit seiner jungen Frau Haus und Stadt zu verlassen hatte, um in absehbarer Zeit nicht dorthin zurückzukehren. Es war dies ganz offenbar das einzige Mittel, um die tatsächliche Vollendung dessen, was an jenem verhängnisvollen Abend innerlich entschieden war, unmöglich zu machen. Im Vergleich mit dieser Aussicht erschien alles andere als Nebensache und mußte demgemäß kurz abgetan werden. Wie er Anna gegenüber, wie er ihrem Vater seinen schnellen Entschluß begründen sollte, mußte sich finden, wenn es der Zweck einmal so wollte.

Ob aber der Zweck der Abreise wirklich erreicht werden würde? fragte er sich, und er fand leicht eine seinen Wünschen dienende Antwort, wobei in diesem Falle seine vielseitige Betrachtungsweise durch eine nicht unbeträchtliche Belesenheit unterstützt ward. So kam ihm im Augenblick fast wörtlich eine Stelle eines seiner Lieblingsbücher, der »Wahlverwandtschaften«, ins Gedächtnis.

»Wenn dein Entschluß,« so wiederholte er innerlich, »so fest und unveränderlich ist, so hüte dich nur vor der Gefahr des Wiedersehens. In der Entfernung von dem geliebten Gegenstande scheinen wir, je lebhafter unsere Neigung ist, desto mehr Herr von uns selbst zu werden, indem wir die ganze Gewalt der Leidenschaft, wie sie sich nach außen erstreckt, nach innen wenden. Aber wie bald, wie geschwind sind wir aus diesem Irrtum gerissen, wenn dasjenige, was wir entbehren zu können glaubten, auf einmal wieder als unentbehrlich vor unsern Augen steht!«

Es wäre also, folgerte Wellkamp, vor allem eine unwiderrufliche Trennung nötig, die ohne starke Auffälligkeit und vielleicht Verdacht nicht zu erreichen war. Und wäre sie möglich, welches Mittel gab es sodann gegen die Leidenschaft, die nicht anders können würde als wachsen, in demselben Maße, wie in der Entfernung ihr Gegenstand von seiner Phantasie gereinigt und idealer werden würde. Wie mußte die Leidenschaft, deren ganze Gewalt sich »nach innen« wenden würde, sein Verhältnis zu Anna gestalten? Es würde langsam und nie ausgesprochen, aber unvermeidlich in gänzlicher Entfremdung enden. Dies Schlimmste aber ließ sich vielleicht, ja sicher, abwenden, wenn er den Dingen ihren notwendigen Lauf ließ. Es würde dann so oder so zu einer befreienden Aussprache zwischen seiner Gattin und ihm kommen. Damit würde zugleich gewonnen sein, daß Anna einen tieferen Einblick in seine Natur erhielte, eine Bedingung, deren Fehlen ja ihm selbst ehedem als ein Hindernis für die dauernde Befestigung ihres Verhältnisses erschienen war.

Wie leicht wir eine solche Scheinlogik erfinden in Lagen, wo unsere Leidenschaft bereits vorweg die Entscheidung gesprochen hat! Wellkamp hatte niemals das Bewußtsein, diesem seinem Gedankengange, darin er eine Aussprache mit Anna als wünschenswert bezeichnete, geradeswegs entgegenzuhandeln, wenn er zu gleicher Zeit begann, seiner Gattin gegenüber weit ängstlicher als früher seine Bewegungen zu überwachen, seine Miene wie seine Worte zu überlegen und vor allem in seinem ganzen Benehmen auch den leisesten Zusammenhang mit Frau von Grubeck gleichsam schweigend abzuleugnen. Gleichwohl war auch diese Wendung, die er ihrem Verkehr gab, nur zu natürlich. In dem Maße, wie der innere Entscheidungskampf jedes einzelnen der beiden Schuldigen ermattete, wuchs die Heftigkeit desjenigen, den sie gemeinsam gegen die Gegner in der Außenwelt zu führen hatten, gegen die Gläubiger, die sie schädigen, denen sie sich selbst entziehen mußten, um sich einander darzubringen.

Die Gereiztheit, in welcher Wellkamp in diesen, wie ihm schien, unruhigsten Wochen seines Daseins lebte, wurde vor allem auch dadurch hervorgerufen, daß es für ihn galt, eine Gelegenheit abzuwarten. Alles in ihm drängte zum letzten Schritt als zu einer Lebensnotwendigkeit. Aber ihn zu beschleunigen, war er immer noch nicht fähig, täglich entmutigten ihn die Verhältnisse, unter denen er liebte. Da gleichwohl die Begierde, die geliebte Frau zu berühren, überhand nahm, geschah es nunmehr zuweilen, daß er in ihrer Abwesenheit und möglichst unbeobachtet ihr Boudoir aufsuchte, um lange, lange sich ganz seinen Wünschen zu überlassen an eben dem Orte, wo er sie einst verwirklicht zu sehen hoffte. Aus der Luft dieses Raumes, den er hin und her durchmaß, wehte ihm gleichsam ihr Wesen entgegen, an jedem der Gegenstände ringsumher haftete etwas davon. Er öffnete ihre Bücher, er trank Duft aus Stoffen, denen ihr Körper vertraut war. Dann wieder blieb er in der Mitte des Gemaches stehen, um mit ängstlich pochendem Puls, ob niemand ihn belauschte, nach dem Sessel, in dem sie zu ruhen pflegte, den Namen der Geliebten hinüberzuflüstern:

»Dora …«

Selbstvergessen sank er einst vor jenem Sessel nieder und preßte seinen Kopf in die Kissen. Dabei hatte er beängstigend deutlich ihre Antwort im Ohr, er hörte ihre geheimnisvolle Stimme »Erich!« rufen, und es klang wie Schicksalsruf. Als er in vollständiger Verwirrung lauschte, ob es nicht Wirklichkeit sei, vernahm er seinen Namen von einer andern Stimme ausgesprochen, und er hatte kaum noch die Zeit, aufzuspringen, gehabt, als Anna bereits die Portiere zurückschlug.

»Nun!?« rief er ihr sofort entgegen, und seine Stimme war, um seine Überraschung zu verbergen, unwillkürlich überlaut und heftig geworden. »Man bleibt nicht einen Augenblick allein. Ich habe Kopfschmerzen.«

»Dann solltest du dich nicht dem einnehmenden Parfüm aussetzen, das hier im Zimmer liegt. – Ich habe dich von Papa zu fragen, ob du uns statt seiner heute abend in den ›Tannhäuser‹ begleiten willst. Das heißt, ich bleibe für meinen Teil auch gern zu Hause. Du weißt, ich bin nicht für Wagner.«

»Laß dich nicht abhalten,« sagte er rauh, indes Ärger in ihm aufstieg, wie jetzt öfter bei Begegnungen mit Anna, die er innerlich bereits als Hindernis für seine Wünsche anzusehen gewöhnt war.

»Also du sagst zu?« fragte sie, während sie den Blick, der ein stilles Erstaunen bei seiner Heftigkeit ausdrückte, auf ihn geheftet hielt.

Natürlich reizte ihn ihre Ruhe noch mehr.

»Jedenfalls. Man hockt hier ohnehin zu viel beieinander. Das macht matt auf die Dauer.«

»Du langweilst dich, lieber Junge«, sagte sie begütigend. »Ich glaube, du solltest dir eine Beschäftigung suchen.«

Sie sah den Grund seiner häufiger auftretenden Launen einzig in seiner Beschäftigungslosigkeit und hatte im Grunde wohl recht. Ihm konnte ihre Auffassung, die ihre Aufmerksamkeit ablenkte, für seine Zwecke nur erwünscht sein. Doch ward er jetzt bloß erbittert durch das, was er als »Schulmeisterei« an ihr empfand.

Er wandte sich mit einer so deutlich beleidigenden Bewegung ab, daß sie es bemerken mußte. Anna war besonnen genug, ihn ohne weitere Entgegnung zu verlassen. Sie sah solche kleinen Szenen, die in letzter Zeit nicht selten waren, ruhig an. Es würde ihr morgen ein leichtes sein, dachte sie, alles wieder zu ordnen, wenn er nicht von selbst käme. Er ergab sich leicht genug, wenn ihm Zeit gelassen wurde; auch schien er wirklich etwas gelangweilt; die Oper mochte ihn anregen, sie kannte seine Empfänglichkeit für Musik. Indessen pflegte sie auch ihre eigene Würde in ihrem Verhalten abzumessen. Nach dem Vorgefallenen mit Wellkamp in die Oper zu gehen, erschien ihr nicht tunlich. So überbrachte sie Herrn von Grubeck ihre eigene Entschuldigung und die Zusage ihres Gatten.

Der Hauptgrund, weshalb Anna dem Besuch des »Tannhäuser« von vornherein abgeneigt gewesen, lag darin, daß er von Frau von Grubeck angeregt und ihr zu Gefallen beschlossen war. Dora hatte die Kleinlichkeit in bezug auf ihre eigene Person, welche Anna niemals verleugnen konnte, richtig berechnet, als sie die Verantwortung, vor welcher der Mann zurückscheute, auf sich nahm. Sie konnte, während sie es tat, das Gefühl triumphierender Rache durchkosten bei dem Gedanken an die Frau, die für den Besitz des Mannes von ihr so beleidigend wenig fürchtete. Doch war dies Gefühl nicht die eigentliche Triebfeder ihres Entschlusses gewesen, noch war er ihr leicht geworden. Sie hatte all diese Zeit um so mehr gelitten, als sie die Erfüllung ihres Schicksals nunmehr völlig in der Hand des Mannes glauben mußte. Je länger sie ihn unentschlossen sah, desto fieberhafter ward der Zustand, der sie zugleich zu einer erschöpfenden Aufmerksamkeit gegen ihren Gatten verdammte. Denn mit welcher Heftigkeit nach der Entbehrung ihres ganzen Lebens der Trotz gegen alles, Personen und Verhältnisse, die sie umgaben, in ihr zum Ausbruch gelangt war, blieb sie doch immer unfähig, sich ihrer Leidenschaft rücksichtslos und ohne Besinnung hinzugeben. Sie hatte sich ängstlich gehütet, die Besuche im Arbeitszimmer Herrn von Grubecks, welche sie seit der Abwesenheit des jungen Paares zu machen begonnen, seltener werden zu lassen, und es war ihr gelungen, den freundschaftlichen Ton im Verkehr mit ihrem Gatten zu erhalten und zu befestigen. Heute nun, da sie ihn stark beschäftigt gefunden und von ihm gehört, daß er den ganzen Tag reichlich zu tun haben werde, hatte sie die Gelegenheit genützt, seine Begleitung in die Oper zu erbitten. Er hatte gefürchtet, sich tagsüber allzusehr zu ermüden, und ihr angeboten, sich von Wellkamp begleiten zu lassen. Der Ablehnung Annas war sie hinreichend sicher gewesen.

Das Ganze hatte sich zufällig und wie absichtslos ergeben; doch hätte sie, falls sich nicht jene Gelegenheit geboten, an diesem Tage irgendeine andere gesucht und gefunden. Es gibt einen Steigerungsgrad in jedem lange ausgehaltenen und dabei außerordentlichen seelischen Zustande, wo eine plötzliche Abspannung notwendig wird. Ein Ruhepunkt kommt, der zur Vorbereitung künftiger Stürme notwendig ist. Denn das Fahrwasser, das wir einschlagen, braucht nicht stiller zu sein als das, welches wir verlassen, nur wissen wir sicher, daß es ein anderes sein muß. Dora erhielt mit jenem Augenblick die Gewißheit, daß die Zeit der Erwartung für sie zu Ende sei.

Der Ruhemoment wurde in diesem Falle geradezu durch körperliche Ermattung herbeigeführt. Frau von Grubeck hatte die Nacht, ebenso wie manche der voraufgegangenen, fast ganz schlaflos verbracht. Aus einem vor Übermüdung unruhigen Schlummer war sie nach Mitternacht unter Schluchzen aufgefahren. Wieder hatte sich Weinkrampf eingestellt. Fieberhafte Sehnsucht wuchs in solchen Stunden bis zur Unerträglichkeit; dazu erfaßte bitterer Trotz die gequälte Frau bei dem Gedanken, daß dieser unmenschliche Zustand recht eigentlich die Folge und das Ergebnis ihres bisherigen Lebens sei. So lange hatte sie die Widersprüche ihrer Natur gewaltsam unterdrückt, sich in Abgeschlossenheit und künstlicher Ruhe erhalten, um am Ende dennoch die unbezwinglichen Grundtriebe hervorbrechen zu sehen! Bis zu ihrem neunundzwanzigsten Jahre hatte sie jenes Dasein geführt, um nun die Arme krampfhaft nach dem Leben auszustrecken, von dem sie bisher nichts anzunehmen gewagt! – Dazu war, wie eine ausdrückliche Erinnerung an ihr verflossenes Dasein, durch ihr Ankleidezimmer, das die beiden Zimmer verband, das Geräusch, welches ihr Gatte im Schlafe verursachte, zu ihr herübergedrungen.

An diesem Morgen nun hatten sich die Folgen all der seelischen Anstrengungen endlich in einer halben Bewußtlosigkeit geltend gemacht. Dora saß, das kaum berührte Frühstück noch neben sich, fröstelnd am Kamin, in dem ein schnelles Tannenholzfeuer brannte. Es kam der jungen Frau darauf an, möglichst viel Wärme auf einmal zu erhalten; sie bog sich zuweilen ungeduldig gegen die Glut vor, wenn die kalten Hände, die sie im Schoße ruhen ließ, sich immer noch nicht erwärmen wollten. Dabei schoben sich die weiten Ärmel des Nerz-Jacketts, das sie über dem hellen Morgenkleide trug, zurück und ließen den Feuerschein über ihre feinen, etwas zu knochigen Arme gleiten. Flackern im Gesicht, sah sie mit starren Augen und festgeschlossenem Munde in die Glut. Nun saß sie wieder bewegungslos, die Füße in den schmalen Lackschuhen gegen das Kamingitter gestützt. Ihr Haar, bereits vollständig geordnet, vermochte nicht so wie die meisten Schattierungen des Blond, im Feuerschein Funken zu sprühen. Es bewahrte seinen matten Glanz, gleich der Hautfarbe, die unter der hin und her huschenden Beleuchtung weiß hervorblickte. Das Zimmer erhielt sein Licht nur von dem flackernden Feuer, da die grelle Sonne des Wintermorgens durch doppelte Fenstervorhänge fast vollständig abgewehrt war.

Tiefe Dämmerung des übrigen Raumes lullte sie noch mehr in ihre wohltuende Betäubung, die Vorstellungen ihres ermüdeten Geistes vermochten kaum an etwas anderes anzuknüpfen als an die Flamme, die sie vor ihren Augen abwechselnd heller leuchten, rauchen, zusammenfallen, wieder aufflackern sah.

Ihr innerer, unbewußter Sinn wandte Kampf und Sterben des Feuers auf die Leidenschaften an, die sie selbst durchlebte. Wie oft mochte sie den Vergleich in sich aufgenommen haben als Gesprächsphrase, als Scherz, vielleicht als Dichtung. In ihrer Träumerei fanden sich Bruchstücke von Versen zusammen; in ihrer New-Yorker Zeit hatte ein junger Mann, der eine Weile in ihrem engeren Kreise gelebt, sie ihr, auf ein Zettelchen geschrieben, zugesteckt. Der junge Dichter spielte darin mit einer Stimmung, die so, wie er sie ausdrückte, niemals zwischen ihnen bestanden. Da sie jedoch nicht ungeschickt wiedergegeben war, hatte Dora sich, ihrerseits mit dem Dichter spielend, gern in sie hineingeträumt. Sie hatte das Gedicht damals häufig genug gelesen, um es auch jetzt noch, ohne sich des Wortlauts bewußt zu werden, gleichsam mit der Seele zu überschauen.

»Du aber streutest die welken Zweige
Gedankenlos lässig in den Kamin …
Der warme Winter ging zur Neige,
Ein kühler Frühling ließ weiter mich ziehn.

Wir saßen einander genüber am Feuer,
Wie oftmals, in unsere Sessel geschmiegt;
Nur daß es zuletzt war, es wärmt uns kein neuer
Glutwirbel nach dem, der dort verfliegt.

Ich dachte, indes wir beide verstummten,
Wie hoffnungslos in Asche sank,
Was die Flammen – wie oft! – ins Ohr uns summten,
Das Glück ein ganzes Leben lang.

Ich dachte, es wäre wieder zu bringen
Nicht mehr von dem Leben, das hier entschwand,
Als von dem der welken, zu frühen Syringen,
Die zerknickt deine schmale, blasse Hand.

Du aber streutest die welken Zweige
Gedankenlos lässig in den Kamin –
Und es war, wie wenn aus der Asche steige,
Was für uns beide gestorben schien.

Wir sahen uns an und wußten, die Flammen,
Die Sträuße, die ihre sinkende Nacht
Noch einmal erhellten, sie hatten zusammen
Uns beiden den nämlichen Wunsch entfacht.

Sie hießen uns, unsere Abschiedswehen
Vereint zu letztem Glück zu weihn;
Es sollte das Auseinandergehen
Eine letzte Liebeserfüllung sein.«

Wesenlos, unzutreffend dies alles, und doch verdichtete sich die dadurch genährte Stimmung so weit, daß am Ende eine ganz bestimmte seelische Richtung sich klarstellte. Sicher würden wir erschrecken, wenn unser Bewußtsein nach Beendigung eines solchen inneren Vorganges noch die unsicheren, wenig bedeutenden Elemente festzustellen vermöchte, die häufig den Grund bilden, aus welchem unsere wichtigsten, verhängnisvollen Schlüsse hervorwachsen. Wahrscheinlich würden wir uns nur noch inniger an den Glauben klammern, daß es eine Schicksalsmacht ist, die mit zufälligen oder doch für uns nicht zu unterscheidenden Mitteln uns hier wie überall zu dem von ihr vorherbestimmten Ziele leitet.

Tatsächlich war der Entschluß, der Dora, als sie endlich aus ihren Träumereien aufgestört wurde, als ihr Ergebnis vor Augen stand und den sie noch am selben Tage zur Ausführung brachte, ähnlich bedeutend dem, in welchen jenes Gedicht ausklang.

Da der Beginn der Oper in die tägliche Dinerstunde fiel, so pflegte man an Theaterabenden frühzeitig etwas zu sich zu nehmen und die Mahlzeit nach der Vorstellung durch einen Imbiß zu vervollständigen. Indes hatte heute nur Wellkamp auf seinem Zimmer flüchtig gespeist. Dora fühlte sich trotz der großen Schlaffheit, die ihr noch immer die Glieder lähmte und den Kopf einnahm, nicht imstande, auch nur das Glas mit rotem Wein zu leeren, das sie auf den niedrigen Spiegeltisch ihres Toilettenzimmers hatte stellen lassen. Sie hatte früher als gewöhnlich und ohne Hilfe der Jungfer begonnen, sich anzukleiden. Es war die einzige Beschäftigung, die sie ablenken und voll in Anspruch nehmen konnte. Dieser Raum, in dem sie sich lange bewegte zwischen Spiegeln und Tischen von verschiedenen Formen und bedeckt mit den zahllosen kostbaren und notwendigen Toilettegeräten, besaß für sie die ruhige Abgeschlossenheit und die Fähigkeit anzuregen wie ein Arbeitszimmer. Heute verwandte sie auf jede Einzelheit eine so ängstliche Aufmerksamkeit, daß es sie, als sie es wahrnahm, erschreckte. Sie warf sich, um Beruhigung zu suchen, auf das breite, bequeme Ruhepolster, welches eine Seite des kleinen Gemaches einnahm – bis hinter ihren geschlossenen Lidern von neuem das Gesicht des nahe Bevorstehenden, Unvermeidlichen auftauchte, auf das sie geradeswegs zuging und das sie dennoch bis zum letzten Augenblick nicht zu sehen wagte. Sie sprang auf und setzte ihre Toilette fort. Endlich war nur mehr eine weiße Rose als einziger Schmuck in dem mit kunstvoller Schlichtheit geordneten Haar zu befestigen. Hatte sie die Blume ungeschickt berührt? Aus der Knospe, die kaum begonnen, sich zu öffnen, hatte schon eines der zarten Blätter sich gelöst und flatterte langsam zuerst auf die Schulter der jungen Frau, dann zu Boden. Es mußte eine von den Rosen sein, die sich unnatürlich lange nicht zu erschließen vermögen, um endlich, ohne ein äußeres Verdorren, in voller Schönheit und noch als halbe Knospe alle ihre Blätter zu verlieren. Dora wollte nach einer anderen Blume greifen, doch sie ließ es; ihre Geduld war erschöpft, auch wurde es Zeit, bereit zu sein. Zwischen den hohen Spiegeln, die schräg einander gegenüberstanden, musterte sie noch einmal ihren Anzug. Um die fast durchsichtig lichtgraue Robe schmiegte sich weich und kühl der weiße Umhang mit seinem leise wogenden Schwanenfederbesatz. Als Frau von Grubeck mit Hilfe des Handspiegels noch einmal aufmerksam ihr Gesicht betrachtete, erstaunte sie über den fast fieberhaften Glanz ihrer Augen, bei sonst mattem Ausdruck der Züge. Ein schlaffer Zug um die Nasenflügel schien ihr allzu scharf ausgeprägt, die bläulichen Adern unter den Augen allzu deutlich sichtbar. Sie hielt bereits die Puderquaste in der Hand, legte sie aber wieder beiseite. Wozu die Wirklichkeit jetzt noch verleugnen? Mochte er sehen, was sie um ihn gelitten. In der Stunde, bevor sie sich auf Gnade und Ungnade ergeben sollte, ward sie von der eigentlichen weiblichen Weichheit und Passivität ergriffen. Sie fühlte sich zu müde und abgehetzt, um noch zu trotzen und gegen irgend etwas oder irgend jemand sich noch zu empören. Und was das Schuldgefühl betrifft, so gibt es Augenblicke, wo es notwendig tödlich wirken müßte, wenn es Einfluß gewänne.

Sie betrat mit Wellkamp zusammen das Speisezimmer, um sich von ihrem Gatten zu verabschieden, der mit Anna bei der Mahlzeit saß. Noch an ihren langen Handschuhen nestelnd, war sie mit ihrem Begleiter mehrere Schritte vor dem breiten Speisetisch stehen geblieben. Auf Anordnung Herrn von Grubecks, der tagsüber seine Augen angestrengt, war die Beleuchtung auf eine kleine japanische Lampe beschränkt; sie gab ausschließlich dem Tische ihr Licht. Die beiden hohen Figuren, die Dame ganz hell gekleidet, der Mann im schwarzen Gesellschaftsanzug, beide im Schatten nebeneinanderstehend, den andern, im Licht Sitzenden, nur in verschwimmenden Umrissen sichtbar, konnten den Eindruck machen, als seien sie aus einem alten Gemälde hervorgetreten. Die dunkle Holztäfelung des Speisesaales bot den Hintergrund. Der Major machte eine dahingehende Bemerkung.

»Findest du es nicht auch?« fragte er seine Tochter.

Anna stimmte schweigend zu. Sie hatte beim Anblick der beiden eine blitzschnelle Regung wie von Angst und Abneigung zugleich gehabt. Es zitterte noch in ihr nach, ohne daß sie ahnte, was es sei. Wieviel später und nach wie vielem, das sich inzwischen ereignet, sollte sie erfahren, dies sei Eifersucht gewesen. Ihre reine Natur ward nur dieses einzige Mal, wie mit gehässigem Biß, angefallen. Die junge Frau glaubte nicht anders, als die heutige Szene mit ihrem Gatten errege sie nachträglich. Die im Zimmer herrschende Dämmerung begann ihr unheimlich zu werden. Unwillkürlich erhob sie sich und entzündete mit einer Handbewegung die elektrischen Lampen in der Krone über dem Tische.

»Wie bleich du bist,« sagte ihr Vater, als ihr Gesicht im grellen Lichte erschien.

»Es ist gut,« fügte er hinzu, »daß du dich rechtzeitig entschlossen hast, zu Hause zu bleiben.«

»Du gehst hoffentlich früh zur Ruhe,« riet Wellkamp, der es gut fand, noch den leicht verletzten und verletzenden Ton von heute morgen beizubehalten.

»Bleib nur nicht auf, uns zu erwarten. Es könnte zu spät werden.«

Dora erschauerte. Sie meinte in seinen Worten eine Absicht zu bemerken, die sie zu verdecken suchte.

»Wir werden wohl vor Schluß nach Hause kommen«, sagte sie. »Ich bin ziemlich müde.«

Selbst dieses kurze Lebewohl hatte sie nur durch äußerste Anstrengung ermöglicht. Einen Augenblick glaubte sie sich von ihren Kräften verlassen, erst während der Fahrt kehrten sie langsam zurück. Sie fühlte sich freier, je weiter zurück das Haus blieb mit denen, deren Existenz sie bedrückte. Vergessen, wenigstens für diesen Abend, an der Seite des Mannes, auf den fortan ihr ganzes Leben gestellt war! Durch die Wagenfenster blickte nur ein dichter Abendnebel zu ihnen herein. So hatte ihr Gefühl auch um sie her etwas wie einen Dunstkreis gelegt, durch den alles Fremde nur verschleiert und wesenlos bis zu ihnen beiden zu dringen vermochte. Die Einsamkeit, die sie umgab, ward nur noch tiefer, als sie von der dunkeln Loge auf die Menschenmenge hinunterblickte, aus der keiner sie kannte noch kennen sollte; ferne Welt, gleich den Vorgängen auf der Bühne. Sie kamen traumhaft weit herüber. Sie waren nichts als wirre Begleiterscheinungen einer Musik, welche sie nach und nach in Rausch versetzte, vielleicht der erste und letzte ihres Lebens. Welche Bedrückungen und Tiefen mußten vorausgehen und nachfolgen, damit ein Leben sich einmal erhob zur Freiheit des Gefühls!

Wellkamp empfand dies. Seinen Hauch im Nacken, wendete sie sich um und las die Bemerkung, die er ihr zuzuflüstern hatte, schon vorher von seinem Munde mit Augen, deren Größe und Glanz ihm die Besinnung nahm. Sprach er, lächelte sie ihm zu mit einem Ausdrucks als verstehe sie nichts. Entsetzt von Leidenschaft waren beide. In der Begleitung der Venusbergszene mit den aus dem Brausen des Orchesters sich losringenden, tollen Violinwirbeln, die durch einfallende Trompetenmotive immer maßloser gesteigert wurden, erreichte am Ende die Leidenschaft einen Grad, wo sie für den Mann in seltsamer Weise unerträglich wurde. Er mußte sich in dem Augenblicke, da er selbst im Begriffe stand, ein neues Glück an sich zu reißen, machtlos fühlen vor der Gewalt der Lebensenergie, die hier auf ihn eindrang. Er kam sich ihr gegenüber fast alt und jedenfalls zu wenig naiv vor, um noch immer so voll überzeugt einer Leidenschaft anheimzufallen. Es war das erstemal, daß er eine neue Verbindung einging mit jener Bitterkeit, die der Vorgeschmack des Endes ist. Und wer ein Ende absieht, ist nicht mehr jung. Wie wenig das ehemals seine Art gewesen war! Er hatte in jeder neuen Liebe zugleich Halt, Gewißheit und etwas Dauerndes erblickt, stets wieder enttäuscht, dennoch aufs neue vertrauend. War's jetzt der Mühe wert, noch zu beginnen? Und alles in ihm drängte und rief doch danach, die geliebte Gestalt dort vor ihm an sich zu reißen und festzuhalten! Aber schmerzlich krampfte sich ihm das Herz, bevor er auch nur mit seinem Finger ihre feine, biegsame Taille berührte.

Seine gereizte Ratlosigkeit ward erst aufgehoben, als nach des Tannhäusers erlösendem Schrei mit dem Szenenwechsel der Charakter der Musik von der empörtesten, dämonischen Leidenschaft sich in die keusche Lieblichkeit des Hirtenliedes verwandelte. Wie sich dieses mit dem langsam näher tönenden Pilgerchor untermischte, traf es den noch soeben unter dem heftigsten Widerstreit der Gefühle Leidenden wie ein Balsam von heiliger Einfalt, nur mit Mühe enthielt er sich der Tränen. Sanfte Romantik zog ihn nun wieder zu Dora. Mystische Empfänglichkeit, ihnen beiden vertraut, verband sie wieder. Er war sicher, daß die Schauer, die ihn in diesem Augenblick berührten, auch durch ihr Blut gingen. Sie sprachen es nicht aus.

Auch nach Beendigung des Aktes saßen sie im dunkeln Hintergrund der Loge, von niemand beobachtet, schweigend beieinander. Er hatte sich, einen Arm aufs Knie gestützt, auf ihre Hand niedergebeugt, die er wieder und wieder küßte, nicht stürmisch, sondern mit leichter Selbstverständlichkeit oder mit träumerischer Ruhe: in ihrem stillen Einverständnisse die einzige offene Erklärung. Dora nahm sie ohne eine Antwort entgegen, den schlanken Körper steif, wie um sich Haltung zu geben, gereckt. Mit Mühe hielten die Augen, gleich unsichern Sternen in dem ganz beschatteten Gesicht einen Punkt des Vorhangs fest, nur gewaltsam bewahrten die Muskeln ihres Gesichtes Ruhe unter dem Drängen dieser Liebe.

Plötzlich sanken ihre Lippen über ihn, als brächen sie zusammen. Sie zerdrückten sich auf seinem Gesicht, schmolzen und bluteten in seinen Mund.

Der Aufführung folgten sie schon im zweiten Akt nicht mehr, die Musik hatte gegeben, was sie ihnen zu geben hatte. Dora lehnte sich ermüdet zurück.

Er zog die Uhr. »Es ist kaum zehn.« Ihre Blicke trafen sich, der ihre wich aus. Jeder hatte den Gedanken des andern verstanden, daß man nicht heimkehren dürfte, bevor man nicht sicher wäre, die Zurückgelassenen nicht mehr vorzufinden. Dann wandten sie wieder eine scheinbare Aufmerksamkeit den Vorgängen auf der Bühne zu.

Sie verweilten auch noch in der Pause, während welcher sie mit gezwungener, zuweilen leicht zitternder Stimme gleichgültige Bemerkungen über die Vorstellung austauschten, und den größten Teil des letzten Aufzuges. Gegen elf brachen sie auf. Die Bewegung, mit der Wellkamp die Geliebte in den Wagen hob und sich an ihrer Seite niederließ, war die erste nach der Besitzergreifung, die ihr sagte, sie sei sein.

In der Dunkelheit des Wagens hörte er einmal einen tiefen Atemzug, der ausklang in ein leises, leises Schluchzen. Er ergriff mit zärtlicher Bewegung ihre beiden Hände, welche beängstigend kalt waren und bei seiner Berührung erzitterten.

»Du hast Furcht?« fragte er.

»Warum?«

»Weil ich dich liebe?«

Ihre Stimmung ward erst wieder heimlicher, als sie, in den Flur des Hauses eintretend, alles bereits dunkel fanden. Wellkamp geleitete die junge Frau mit zärtlicher Sorgfalt die Treppe hinan. Auch droben waren, außer einer weit heruntergeschraubten, alle Flammen gelöscht. Er machte Licht, dann war er Dora behilflich, ihre Toilette zu ordnen. Sie waren zusammen vor den Pfeilerspiegel des Vorplatzes getreten, ihre Blicke suchten einander darin. Er sah ihr mit einem leise fragenden Lächeln in die Augen, in denen jener traurige Fieberglanz einer leichten zärtlichen Koketterie Platz zu machen begann. Dankbar streifte er mit seinen Lippen ihre Schulter. Dann tasteten sie sich zusammen durch das ganz düstere Speisezimmer, in welchem aus einem Winkel von einer winzigen blauen Flamme her das Summen des Teekessels sie grüßte. Als Wellkamp hier und nebenan in Doras Boudoir das Licht entzündet hatte, setzte er sich still auf seinen Platz am Speisetisch, um der Geliebten zuzusehen, die den Tee bereitete. Den Kopf in die Hand gestützt, folgte er ihren Bewegungen, wie sie ging und kam. Als sie endlich mit seiner Tasse auf der silbernen Platte vor ihm stand, griff er nicht sogleich zu. Er sah zu ihr auf; ihr Gesicht erhielt durch die langen Wimpern, welche über ihre zu ihm gesenkten Augen hingen, einen Ausdruck wie das einer Schlafwandelnden.

Da fiel vor ihn hin auf das Tischtuch eine weiße Rose. Die weiße Rose aus ihren Haaren! Sie hatte noch mehr Blätter verloren; er bog die, welche sie noch besaß, auseinander und küßte sie einzeln. Dann nahm er auf gleiche Weise Doras schlanke Finger in seine Hand, um jeden zu küssen, wie wenn er nochmals eine Rose entblätterte. Sie bat ihn, sie loszulassen; sie fürchtete, das Teegeschirr fallen zu lassen, das sie noch immer mit einer Hand hielt. Als er ihr nicht gleich willfahrte, berührte sie schnell, mit reizender, halb mädchenhafter Bewegung, mit den Lippen seine Stirn. Darauf gab er sie frei.

Sie saßen lange, während der Mahlzeit und nachher, einander gegenüber. Allmählich begann er ihr von seinem früheren Leben zu erzählen, harmlose Kleinigkeiten, denen sie mit stiller Aufmerksamkeit zuhörte. Zuweilen anknüpfend, teilte auch sie ihm Erlebnisse und Eindrücke aus ihrer Heimat und aus vergangenen Tagen mit. Keiner von ihnen gedachte der jetzigen Verhältnisse; es war, als hätten sie alles vergessen, was sie trennte, und seien sich nur dessen bewußt, was sie zusammenhielt, ihrer Liebe.

Später im Leben gedachte Wellkamp nicht der Verzückungen und Genüsse, die dann folgten; er erinnerte sich, und niemals ohne Herzklopfen, dieser friedlichen Augenblicke als des einzigen, wehmütigen Glückes, das ihm jene traurige Liebe geschenkt. Er fragte sich dann wohl, ob sie im Grunde nicht doch von gutmenschlicher Art gewesen sein müsse, auch sie dem Leben zugehörig und nur von unfreundlichem Schicksal aus ihm vertrieben. Er hätte nicht verstanden, wie Schuld und Leiden sich vereinen konnten zum Idyll.


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