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Viertes Kapitel

Marie erwachte in einem Zimmer, das sie an die Diakonissinnen bei Warmsdorf erinnerte. Ihr fiel auch ein, daß sie sich, wie damals, nach einer Katastrophe befände. Die Pflegerin fragte, wie es ihr gehe. Damals hatte eine Diakonissin ihr erklärt, daß sie kein Kind mehr sei. War jetzt nicht wieder ein neuer Abschnitt erreicht? Vom ersten Öffnen der Augen an fühlte Marie, daß sie dem Leben werde anders begegnen müssen als bisher.

»Mein Kind!« befahl sie der Pflegerin. Diese antwortete:

»Es geht ihm gut. Es ist im Hause.«

»Bringen Sie es mir!«

Das Mädchen ging hinaus, aber sie holte nicht das Kind; herein trat Vicki.

»Ich höre, es geht schon wieder«, sagte sie. »Wegen des gebrochenen Fußes mußt du liegen. Deinem Gesicht ist nichts geschehen, das ist die Hauptsache. Der Verband um den Kopf kleidet dich sogar.«

»Warum bekomme ich mein Kind nicht?«

»Wenn du es wissen willst, es wird grade gepudert. Es hat seine eigene Pflegerin. Mit ihm ist alles in Ordnung. Ich dachte, zuerst sollten wir beide uns aussprechen.« Vicki nahm einen Stuhl.

»Weiß die Polizei, wo ich bin? Die Sache ist die, daß ich für Kurt Schuhe gestohlen habe und zu vier Wochen verurteilt bin.«

»Das hat noch gefehlt! Aber eigentlich macht es auch nichts mehr. In den Berichten über den – Unglücksfall wird ohnehin kein Name genannt werden, das laß meine Sorge sein! Was liegt denn schon viel daran, ob du vier Wochen sitzt.«

»Dir nicht, Vicki. Aber mein Kind würden sie mir wegnehmen.«

»Kommt nicht in Frage, ich behalte es solange.«

Marie betrachtete sie eindringlich, grübelnd sogar, – bis es Vicki zu viel wurde.

»Es ist das Kind meines Bruders! Verstehst du?«

»Ja, Vicki. Ich habe mir nicht eingebildet, daß du nur meinetwegen die Klinik bezahlst und in Lübeck bleibst. Ich verstehe auch, warum du nicht willst, daß Namen in der Zeitung stehen. Das nützt dir aber nichts.«

»Möchtest du mir drohen, Marie? Laß das lieber! Lieg da und sieh schön aus!«

»Sie können mich aber doch, wann sie wollen, ins Gefängnis abholen. Ich muß mir einen Anwalt nehmen, damit er mir Bewährung verschafft. Dabei spricht man dann allerdings wieder von dem – Unglücksfall, wie du es nennst.«

»Marie! Du bist plötzlich kein Trottel mehr! Verzeih, es ist mir ausgerutscht. Du willst etwas von mir haben. Sag es nur! So bist du mir lieber.«

»Ich will mit meinem Kind zu dem Bauern zurück. Wenn ich nicht sitzen muß, nimmt er mich wieder.«

»Aber ohne das Kind, bitte!«

»Es ist meins!«

»Das Kind meines Bruders wächst nicht bei den Schweinen auf. Ich hab auch ein Recht darauf.«

»Wir wissen beide, daß ich ganz allein das Recht habe.«

»Wie denkst du dir dann den Vergleich? Soll ich es dir abkaufen? Ich wiederhole dir, das Kind meines Bruders aufzugeben, ziehe ich überhaupt nicht in Betracht.«

»Ich brauche dein Geld nicht. Ich kann den Bauern heiraten.«

Kaum hatte Marie dies ausgesprochen, da sah sie im Gesicht Vickis, was sie von ihr zu erwarten hatte. Der Bauer sollte erfahren, daß Marie eine verurteilte Diebin war!

»Wenn du das tust, Vicki –!«

»Schon wieder drohen? Du hast dich wirklich zu deinem Vorteil verändert. Sagen wir uns lieber ein für alle Male, was wir voneinander denken! Du trägst mir die Sache mit Mingo nach; daher alle Schwierigkeiten, die du machst. Deine Geschichte mit Kurt war mir aber ebenso unerwünscht«, log sie. »Jede von uns hat getan, was sie wollte!« setzte sie der Ironie wegen noch hinzu.

Was ich wollte! Marie wäre aufgesprungen. Soviel wie sie zu erwidern hatte, ließ sich nicht sagen mit einem festgelegten Fuß und diesem Kopf, den sie vor Schmerzen nicht rühren konnte. Sie rang alles hinunter, sie wurde todbleich von der Anstrengung. Der Tag sollte kommen, fühlte sie, der Tag sollte kommen! Auch Vergeltung macht ihren Weg, wie das Unrecht den seinen gemacht hat – vom Tage der Ankunft Kurts und von noch weiter her, bis heute, als Marie mit ihrem Kind vor der Lokomotive lag!

Der Erfolg ihrer Selbstüberwindung trat sogleich ein; Vicki schlug vor:

»Komm also mit dem Kind nach Berlin!«

Das hatte Marie hören gewollt, jetzt aber erschrak sie und verstummte. Was war ihr? Der Bauer hätte sie vielleicht niemals geheiratet, und wenn Vicki sie an ihn verriet, dann sicherlich nicht. Übrigens war der Hof überschuldet; bitter um ihn kämpfen zu müssen, blieb das einzige, was sie hoffen durfte. Gleichviel, mit ihrem Kind unter dem eigenen Dach – oder auch auf der Landstraße und im Dienst bei Fremden, aber allein mit ihrem Kind: alles lieber, als bei dieser Frau! Sie unterschied nicht, wovor sie Grauen empfand, – vor Vicki, vor dem Unbekannten, vor sich selbst? Aber sie wußte in diesem Augenblick genauer als jemals später, daß sie in das Verhängnis ging.

»Nach Berlin mit meinem Kind, darüber ließe sich reden.« Ihre Stimme war trotz allem nicht schwächer als begreiflich bei einer Kranken, und sie schwankte nicht.

Vicki sah Marie genau an, bevor sie weiterging. »Du scheinst Bedingungen stellen zu wollen«, sagte sie. »Aber natürlich mußt du selbst für euch sorgen. So reich bin ich nicht, daß ich dich und das Kind einfach übernehmen kann.«

»Und meine Mutter. Und meine drei Geschwister.«

»Sie mußt du der Wohlfahrt überlassen, dafür zahlen wir Steuern. Willst du dein Glück machen oder nicht? Du bist groß, blond, vollschlank, ich sehe dich gradezu schon auf dem Kurfürstendamm. Laß mich raten! Der leicht degenerierte Vetter zweiten Grades aus einem Konfektionshaus, der ist es! Er erbt nicht, aber er wird sachte mit durch die Krise geschleppt. Noch kein Auto, bitte. Genügt dir das?«

»Sage mir lieber, ob du mir Arbeit als Hausschneiderin verschaffen kannst.«

»Du bist sachlich. Du kommst vom Lande, das setzt dich in Vorteil. Sollten wir jemals wegen eines Mannes –. Genug, Hausschneiderei kannst du zuerst bei mir haben; und wie du aussiehst, findet sich davon mehr. Aber das ist noch nicht alles. Ich wünsche mir auch etwas, nämlich, daß mein Ignaz vollständig draußen bleibt. Er darf von den Sachen, die wir gemacht haben –«

»Wir«, wiederholte Marie.

»– kein Sterbenswort erfahren. Warum betonst du, daß auch ich etwas gemacht habe? Dein eigenes Konto würde ihm vollauf genügen, dich hinauszuwerfen, sobald er davon hörte.«

»Und was er über dich hören könnte? Siehst du, Vicki, davor hast du die ganze Zeit einzig und allein Angst. Deshalb sitzt du hier. Deshalb soll ich auch nach Berlin, denn bei dem Bauern draußen hätte ich dich immer noch in der Hand. Du kannst ihm sagen, daß ich gesessen habe. Aber ich schreibe deinem Mann, daß du mit Mingo geschlafen hast.«

»Du stellst dir meinen Ignaz falsch vor«, bemerkte Vicki einfach. »Außerdem aber vergißt du, wozu Mingo fähig wäre, um eine Frau zu schützen. Der ist doch sicher noch ein Ritter, wenn ich ihn auch nur flüchtig kenne, und in meinem Scheidungsprozeß schwört er einen glatten Meineid. Das hättest du davon. Mir dagegen kann im Grunde niemals etwas geschehen. Wir sind also einig«, schloß Vicki. »Dann lasse ich dir das Kind bringen.«

Ihr kann niemals etwas geschehen! Marie hatte die niederdrückende Gewißheit, daß es wirklich so war, – ohne daß sie hätte sagen können, woran es lag.

Vicki nahm für Marie den Anwalt, der einer besonders guten Familie angehörte. Dieser erreichte wirklich, daß die Verzweiflungstat einer armen Mutter und ihr Schmerzenslager vom Gericht als hinlängliche Sühne des versuchten Diebstahls angesehen wurden. Marie war frei. Vicki kam eigens wieder aus Berlin herbei, um sie abzuholen. »Ich habe in Schlesien eine Tante«, erklärte sie, »und die ruft mich zuweilen an ihr Sterbebett. Heute komme ich von ihr. Wenn ich dich nächsten Montag als Hausschneiderin aufnehme, hast du mich vorher nie erblickt. Willst du dir das merken?«

Solange sie in dem Abteil allein waren, äußerte Vicki noch:

»Kurt steht unter Beobachtung, du weißt, weshalb. Du kennst auch den Kommissar Kirsch. Warum heißt er eigentlich nach einem Schnaps? Er hat dich gesehen, aber es wäre Kurts wegen durchaus peinlich, wenn er dich wiedererkennte. Sorge dafür, daß du nicht mehr bäurisch aussiehst, sondern wie das, was du bist, eine schlechte Schneiderin. Vor allem darf weder Kirsch noch ein anderer Freund des Hauses erfahren, daß du das Kind hast! Das wäre das Peinlichste. Ich gebe dir eine Chance. Gib du Kurt eine!«

Als Mitreisende hinzukamen, verleugnete Vicki ihre Begleiterin. Nach der Ankunft bestieg sie allein ihren Wagen, Marie sah es von weitem. Sie selbst hatte Geld genug für eine Autotaxe bekommen, lieber fragte sie sich aber durch. Ihr Kind auf dem Arm erreichte sie endlich das Haus, in dem für sie ein Zimmer gemietet und bis Ende des Monats auch bezahlt war.

Sie wurde mit Auszeichnung begrüßt, und bald war es deutlich, daß Frau Zahn, die Wirtin, einen unbeschreiblichen Eindruck von Vicki empfangen hatte. Die Erscheinung der Frau Direktor, wie sie Vicki nannte, verkörperte ihr restlos, was sie unter Erfolg verstand und übrigens persönlich nie gekannt hatte. Es konnte nur das Auftreten Vickis sein, denn schließlich hatte sie für nichts den Beweis erbracht, – daß sie reich und Frau Direktor war oder auch nur die Milchschwester Maries, wie sie behauptet hatte. Hiervon war Frau Zahn überzeugt, daher die besondere Achtung. Sie hatte ein vom Kummer eingedrücktes Gesicht, an das nicht häufig frische Luft schlug.

»Ich muß nur einen Spalt offenlassen«, sagte sie, zog die Tür an sich und sah der Mieterin zu, wie sie ihr Kind pflegte. »Der Junge ist Ihnen gelungen. Sie kommen direkt vom Lande?«

»Von Norddeutschland«, antwortete Marie. Denn Berlin lag für sie südlich.

»Und bleiben lange hier?«

»Das weiß ich nicht.«

»Es hängt wohl von Frau Direktor ab?«

»Das kann ich auch nicht sagen. Aber sie will mir Arbeit verschaffen.«

»Das Zimmer ist mit Küchenbenutzung«, erklärte Frau Zahn; sie hatte immer ein Auge auf den Türspalt. »Ihnen darf ich trauen. Schon bevor Sie kamen, habe ich gewußt, daß Sie ein guter Mensch sind. Nur Gott kann Sie geschickt haben, denn an dem Tage, als Ihre Milchschwester für Sie mietete, sollte ich exmittiert werden. Sie haben mich gerettet.«

»Oh!« machte Marie erschrocken. Selbst von Gefahren verfolgt, hätte sie einer anderen eine Wendung gebracht?

Die Wirtin schielte unruhig nach dem Türspalt. »Die beiden Holländerinnen könnten mein Gemüse fortholen aus der Küche. Man hört sie nicht. Es ist erst halb gekocht, aber die essen alles. Haben Sie die beiden gesehn? Wenn es an der Flurtür läutet, sind sie früher da als ich. Sie wollen die Wohnung haben. Sie können es nicht erwarten, daß ich exmittiert werde. Sie haben Geld, weil ihr Konsulat sie unterstützt. Außerdem schneidern sie.«

»Ich auch«, sagte Marie.

»Sie hab ich wahrhaftig durch die Kraft des Gebetes herbeigerufen! Sie müssen den Holländerinnen die Kunden wegnehmen, dann ziehen sie aus und ich behalte die Wohnung. Es ist das einzige, was mir aus der Zeit meines Mannes geblieben ist, und wir waren gut bürgerlich.«

Das sah man noch. Das Bett war stattlicher als jedes, in dem Marie bisher geschlafen hatte. Das Unbehagen, das sie fühlte, ging nicht von der Einrichtung aus, aber die Häuser gegenüber standen zu nah, ragten zu hoch, und in diese tiefgelegene Wohnung gelangte nur auf Umwegen ein Rest des Tageslichtes. Indes Marie dies feststellte, riß Frau Zahn die Türe auf. Gebrochen wendete sie sich her.

»Sie haben es.«

»Das Gemüse? Aber Frau Zahn, dann laufen Sie doch!«

Die beiden Mieterinnen waren noch nicht ganz vorüber an der Tür, als die Wirtin sie aufriß. Deutlich hatte Marie, trotz der Dunkelheit des Ganges, zwei kurze dickliche Gestalten erkannt. Im Nacken hingen ihnen graue Rattenschwänze.

»Das geht doch nicht, Frau Zahn! Wenn Sie nichts tun, will ich selbst –«

Die Frau schloß einfach die Tür. »Ich habe aufgepaßt. Gott hat es anders beschlossen.«

»Dann wollen Sie heute nichts essen?« fragte Marie mit Empörung.

»Das überlaß ich ihm auch«, antwortete Frau Zahn. Marie erinnerte sich der belegten Brote, die von der Reise übrig waren, sie gab eins der Frau. »Sehen Sie!« sagte diese.

Beide aßen. Der Junge trank an der Brust Maries. Die Mutter fühlte: ›Er soll groß und stark werden wie Mingo, und er soll sich wehren!‹ Der Anblick von Hilflosigkeit und Niedergang erfüllte sie mit Widerwillen. Sie sah sich selbst bedroht, da andere es bis dahin kommen ließen. »Ihnen hat gewiß noch kein Mieter richtig gezahlt«, bemerkte sie, achtete dann aber wenig auf die Geschichte, die Frau Zahn sofort berichtete. Ein Schauspieler und seine Frau hatten monatelang auf ihre Kosten gelebt, worauf sie verschwanden. Aber auch hier war Gott in Gestalt der Polizei endlich Sieger geblieben.

Marie fragte: »Ist in Berlin die Polizei sehr mächtig?«

»Gar nicht«, sagte Frau Zahn. »Es kommt auf die Kraft des Gebetes an.«

Von der Ohnmacht der Polizei war Marie befriedigt, es blieb dunkel, warum. Flüchtig erschien ihr die Gestalt des Kommissars. Hier ging er umher und wachte. Sie war sicher, ihm in einer dieser zahllosen Straßen zu begegnen; aber gleich jetzt beschloß sie, daß er sie nicht erkennen sollte. Noch vor dem Schlafengehen stellte sie ganz klar, daß sie sich hier gegen alle und jeden zu behaupten haben werde. Sie war darüber belehrt, wie es kam, wenn man vertraute, nachgab oder nicht seine volle Kraft einsetzte. Sie schwur, es künftig zu tun. Ihrem Sohn schwur sie es.

Sie hatte einen langen Sonntag allein zu verbringen. Sie fing damit an, daß sie nach Möglichkeit ihr Aussehen veränderte. Sie hatte Vicki genau angesehen, jetzt rasierte auch sie sich die Brauen. Frau Zahn holte ihr das Messer aus dem Zimmer eines Mieters, während er noch schlief. Dabei ließ sie ein Markstück mitgehen, es hatte merkwürdigerweise neben dem Messer gelegen, was doch wohl auf höhere Absichten schließen ließ. Übrigens war der junge Mann ihr ohnehin Geld schuldig.

Da staunten beide Frauen, was sich mit ausrasierten Brauen und gefärbten Lippen aus einem Gesicht machen ließ! Die gestrickte Kappe, das selbstgefertigte Seidenkleid, am ärmlichsten leider die Fußbekleidung, – Frau Zahn stellte fest: »Wie vom Lande sehen Sie nicht mehr aus. Sie hält man schon für eine kleine Schneiderin aus dem Norden, Invalidenstraße.«

›Vicki hatte gesagt: »eine schlechte Schneiderin.« Das findet sich‹, dachte Marie. Jedenfalls zog sie aus, um von Berlin Besitz zu ergreifen. Sie fühlte Mut, weil sie ein Ziel hatte, wenn auch ein bis jetzt noch namenloses. Frau Zahn erklärte ihr die verschiedensten Beförderungsmittel, aber vergebens. Sie zeigte ihr an der nächsten Ecke ein großes U, dort sollte Marie unter den Erdboden hinabsteigen. Sie war durchaus abgeneigt. Nicht nur die Untergrundbahn, die ganze Unübersehbarkeit des Verkehrs flößte ihr Mißtrauen ein. Sie beschloß, zu Fuß zu gehen.

»Wie weit wollen Sie damit kommen«, sagte die Frau. Lassen Sie mir wenigstens das Kind hier, ich bekümmere mich darum. Wenn Sie morgen zur Arbeit gehen, muß ich es doch übernehmen; das ist mit Frau Direktor schon verabredet.«

»Heute hab ich es noch selbst.« Aber sie ließ sich gefallen, daß die Portiersfrau ihr einen Kinderwagen lieh. Den schob sie vor sich her und bewegte ihre Füße, gleichmäßig und ohne Ermüdung, wie beim Pflanzen oder Mähen. Der eine war kürzlich gebrochen, in Wirklichkeit hielt er weniger aus, aber das ließ sie nicht gelten. Nach Umwegen und langen, mühseligen Stunden kannte sie endlich den Weg und das Haus. Dort oben, zwei Treppen, wohnten Bäuerleins. Marie betrachtete es lange und eindringlich von der anderen Seite der Straße her.

Es war ein Haus wie alle anderen in der Reihe, sehr viel großartiger als Häuser sein müssen, denn was stak in Wahrheit dahinter? Eine Vicki, ein Kurt und ein noch unerforschter Ignaz, der wahrscheinlich auch mehr vormachte als er hielt. Es war gut, alles zu wissen. Nach vorn hinaus aßen sie vermutlich und empfingen andere feine Leute, bei denen ebensoviel nicht stimmte. Aus dem Durchgang, der Marie deckte, sah sie sich rechts und links nach dein Kommissar um.

Wie sie Kurt kannte, lag er auf der Rückseite der Prachtwohnung noch immer im Bett, obwohl bald Mittag war. Er ahnte nicht, daß gegenüber in dem Durchgang Marie mit dem Kinde, das von ihm war, die Wand des Hauses auf- und niederblickte, ja, daß sie hindurchsah. Seine Schwester hatte ihn schon längst unterrichtet über alles, was geschehen war, seit er mit den von Marie gestohlenen Schuhen aus dem Warenhaus entkommen war. Er hatte sich nicht gemeldet. Das schien auch klüger, da er es nicht nötig hatte. ›Man muß klug sein, muß Kraft und Gewalt haben‹, dachte Marie. Sie hatte eine Eingebung. ›Mehr Klugheit, Kraft und Gewalt als dies Haus‹, dachte sie. ›Mit ihm muß ich fertig werden!‹

Es war gut, alles zu wissen, daher wartete sie, bis Rechtsanwalt Bäuerlein aus dem Haus käme. Kurz nach Mittag erschien er – mit Vicki, und auch das Auto fuhr vor. Der Gatte Vickis verhielt sich dick und gütig, er hätte Marie getäuscht, wenn sie nicht auf der Hut gewesen wäre. Sie bemerkte, daß er bei seiner Schwere etwas Federndes hatte und sich ganz schnell vergewisserte, wer in der Nähe war, – vielleicht auch er wegen des Kommissars? Marie fühlte voraus, daß sie es mit dem wohlbeleibten Mann noch besonders zu tun bekommen werde.

Sie wußte genug, große Überraschungen fürchtete sie nicht mehr. Auch war es Zeit, dem Kinde die Brust zu geben. Der Weg zurück dauerte nicht halb so lang. Ihr Ortssinn war gut, weil sie durch alles unbeirrt blieb, wie auf einer Landstraße mit entgegengetriebener Hammelherde und Wolken, die darüber hinziehen.

Am Montag wurde sie in Empfang genommen von einem hübschen Dienstmädchen, das zuerst einmal ironisch lächelte. ›Warum‹, fragte sich Marie, die niemals ohne einen Grund das Gesicht verzog. Sie befürchtete, daß ihr ein Streich gespielt werden sollte, besonders da Vicki unsichtbar blieb. Das Mädchen Lissie, wie es sich nannte, führte die Hausschneiderin in ein Zimmer und zu einem Tisch, wo die Arbeit bereit lag. Es erklärte sie ihr in durchaus wegwerfendem Ton. Marie sagte ungeduldig: »Gehn Sie nur!« Das hatte Lissie nicht entfernt erwartet, sie zuckte die Schultern und ging wirklich. ›Die ist nicht von hier‹, dachte sie. ›Die begreift noch nicht, daß meine Ironie ebensosehr der Herrschaft bestimmt ist wie ihr. Und überhaupt möchte ich wissen, ob man sich anders verhalten kann gegenüber dem Quatsch, der Leben heißt!‹

Das Zimmer, in das Marie sich setzte, hatte eine geschlossene Tür nach dem Flur und eine offene ins Eßzimmer. Es war ein bewundernswertes Eßzimmer mit flacher Anrichte, ovalem Tisch, Sesseln, die ovale Lehnen und hellgelbe Kissen zeigten, alle Möbel gelblich und spiegelnd, die Wände rot gemalt und voll von Bildern. Die fortgehende Lissie war unhörbar auf dem roten Bodenbelag. Sie entschwand in ein Damenzimmer, wie es schien; nur der Winkel beim Fenster blieb noch sichtbar. Die Zimmer lagen nicht in einer Reihe, sondern offenbar im Halbkreis um den Flur, der selbst ein Raum zum Sitzen war; Marie hatte es bemerkt, bevor Lissie schloß.

Jenseits des Eßzimmers machte die Straße ihr Geräusch. Das Fenster, vor dem Marie arbeitete, bekam Licht aus einem Hof. Die Tür mußte geöffnet bleiben, damit dieses Zimmer hell genug war. Übrigens hatte es gleichfalls eine ansehnliche Ausstattung, kein Vergleich mit der einstigen Arbeitsstätte Maries bei Fräulein Raspe. Dennoch wurde sie erinnert an jene glücklichen Tage – seit je die glücklichsten, wie sie glaubte; in ihrer Erinnerung lachten alle Gesichter von damals. Die Arbeit war ein Spiel, sie geschah um ihrer selbst willen, noch nicht, damit soundso viele Menschen zeitweilig vor dem Verhungern bewahrt blieben.

›Paßt Frau Zahn jetzt wirklich auf Mi auf?‹ fragte Marie. Sie nannte ihren Jungen bei sich Mi; das konnte Michel bedeuten, wie sie ihn getauft hatte. Es konnte auch Mingo sein. Ferner berechnete sie, wie viel das ausmachte, der Lohn für acht bis zehn Stunden täglichen Nähens. Wenn ihre Miete bezahlt war, konnte sie dann noch den Zuschuß leisten für das Essen ihrer immer hungrigen Mutter in Brodten, und erübrigte sie außerdem den Beitrag, den die Gemeinde Warmsdorf von ihr verlangte, damit man ihre drei jungen Geschwister zum Teil versorgte? Arbeiten mußten sie natürlich auch schon. Marie dachte, daß Mingo doch einmal zurückkehren werde von seiner langen Fahrt. Dann werde er sie selbst nicht mehr finden, wohl aber begegnete er ihrer kleinen Schwester Inge, die ihr immer ähnlicher wurde. Dann, wenn nicht früher, bekam die Gemeinde Warmsdorf den geschuldeten Beitrag; Marie wußte es tief im Herzen, obwohl nicht einmal das Herz es in Worte faßte.

Wenn damals die Arbeitswoche zu Ende gewesen war bei Fräulein Raspe, hielt Marie sechsunddreißig Stunden lang in ihren Händen und unter ihren nie gestillten Blicken das Gesicht ihres Freundes – der Liebe selbst, das einzige auf Erden, mit dem die Liebe jemals Marie ansehn sollte, und daher mußte es verlorengehen. Das Herz zog sich ihr zusammen, da sie zurückdachte; aber sie berief sich selbst. In Wirklichkeit hatte noch jede Zeit ihre Ängste und ihre Rückschläge gehabt, sogar die mit Mingo. Vielleicht sehne ich mich auch nach dem schönen Zimmer bei Bäuerleins noch einmal zurück!

Niemand kam. Nur Lissie glitt mehrmals über den Bodenbelag, mit Gläsern voll Blumen oder mit blank geputztem Silber. Sie übersah Marie, die aber einfach ein Glas Wasser verlangte. »Sie können es sich aus der Küche holen«, antwortete Lissie. Auf diesem Wege kam Marie durch andere Zimmer, für die Dame, für den Herrn, zum Schlafen, Ankleiden, Baden, sogar ein Zimmer, wo nur Ping Pong gespielt wurde, nach der ironischen Aussage Lissies. Dort aber hing eine Erdkarte, mit allen Meeren, – einzig ihretwegen blieb Marie stehen. »Was machen Sie denn?« fragte Lissie ausnahmsweise verwundert. »Ich zeige Ihnen eine ganz große Klasse nach der andern, und hier kieken Sie!«

Zurückgekehrt an ihren Arbeitstisch, bedachte Marie zum erstenmal, was sie eigentlich in diesem Haus wolle. Das kam, weil von den Leuten keiner sichtbar wurde. In der Wohnung war niemand, jetzt um elf. Als Marie sie betreten hatte, um neun, waren sicher alle noch darin gewesen; aber sie hatten sie verlassen, ohne daß es zu hören war. Nicht einmal Vicki hat Kenntnis davon genommen, daß ich da bin! Kurt schläft gewiß, es wird ein verschlossenes Zimmer geben. Und was will ich hier?

›Ich muß Geld schicken‹, dachte sie wieder. ›Das wird noch schwieriger sein, als bei dem Bauern. Die Leute wissen von mir so viel weniger. Ja, ich habe das Kind von dem einen hier, aber warum? Ebensogut könnte es einer aus dem anderen Stockwerk sein, und das Schlimmste ist, wie alles zufällig ist. Spielen sie eine Treppe höher auch Ping Pong? Statt einer anderen hasse ich grade Vicki!‹

Sie erschrak und ging über den Haß hinweg. Ich mit Kurt, sie mit Mingo, jede hat getan, was sie wollte! Marie sprach es Vicki nach, obwohl sie kein Wort glaubte. Ihr kam alles ebenso unerwünscht wie mir, wiederholte Marie geduldig, obwohl sie schon in der Klinik gefühlt hatte, daß Vicki log. Aber was hätte es ihr genützt, zu hassen? Kann ich Rache üben in einem Hofzimmer, das keiner betritt? Rache an wem, wofür – und mit welchen Mitteln? Wenn Vicki sie so lange allein ließ, um ihr den Mut zu nehmen, dann war es erreicht. Zum Schluß dachte Marie: ›Ich diente immer nur als Spielball und muß es bleiben!‹

Da war es halb eins geworden, sie hatte eine halbe Stunde zu lange gewartet, ihr Kind sollte zu trinken bekommen. »Fräulein, Sie kriegen doch Essen!« rief Lissie ihr nach, als Marie die Treppe hinunterlief.

Am Nachmittag war es sichtlich dasselbe. Das Eßzimmer zeigte keine Spuren einer kürzlich vergangenen Mahlzeit. Aus einem der entfernteren Zimmer ertönte plötzlich eine Stimme, bald blieb aber kein Zweifel, daß sie nur aus dem Radioapparat kam. Sie sagte Wetter- und Börsenberichte her, wurde übrigens im besten Zug unterbrochen. Plötzlich ging im Eßzimmer die Beleuchtung an, und Rechtsanwalt Bäuerlein persönlich begab sich zu dem Likörschrank.

Er trank den Schnaps im Stehen, daher arbeitete er wohl entweder allein im Herrenzimmer, oder stärkte er sich für eine Verhandlung, die er dort haben sollte? Marie drang in die Vorgänge des Hauses ein, weil alles sie anging. Andererseits glaubte sie den Leuten nicht, daß sie in Wahrheit von ihr keine Kenntnis nahmen. Sie taten nur so. Der Neugierigste von ihnen bekam Lust auf ein Gläschen, nur um einen Blick auf Marie zu werfen. Das machte er genau so schnell und unauffällig, wie er sich gestern der Straße vergewissert hatte. Der war nicht der Mann, sich Zufällen auszusetzen und ohne Rückendeckung zu bleiben! Er hatte Blicke, die er fließen lassen konnte, ohne daß man sie kommen fühlte. Er sah scheinbar aus dem einen Augenwinkel, aber aus dem anderen schlängelten sie sich, und sicher war auch das nicht.

Dem Syndikus stand die Nase kühn über dem Mund, der ausgezeichnet in Ordnung gehalten war. Im Gegensatz dazu hatte er große schläfrige Wangen, seine Behendigkeit aber war darum nicht geringer. Er trug seinen Körper so geschickt, daß die Beleibtheit wie komische Absicht wirkte, bestimmt, ihn in Gesellschaft beliebt zu machen – ähnlich wie das stürmische Gelock um eine kleine Glatze. Marie fühlte deutlich, daß er einer Menge von Frauen gefiel. Während er austrank, meinte sie ihn in Ruhe betrachten zu können. Plötzlich traf er sie mit den Augen voll ins Gesicht, fragte: »Auch einen Schluck, Fräulein? Nein? Dann nicht.« Federnd war er fort, und hinterlassen hatte er ein Lächeln voll tiefer Ironie, Lissie ihres verschwand daneben.

Marie räumte schon ihre Sachen auf, da erschien endlich Vicki. Leise sagte sie:

»Ich komme soeben nach Hause. Was hat er gemacht?«

»Radio gespielt und Schnaps getrunken.«

»Hat er nichts gesucht? Nicht? Das tut er sonst am liebsten.«

Dazwischen sprach sie laut. »Fräulein, der Bolero ist schon verkracht. Bei den Zeiten! Na, früher hätte ich Sie auch niemals zum Schneidern genommen. Morgen versuche ich es noch mit Ihnen. Dann hab ich eventuell genug.«

Wieder leise: »Das ist nur für ihn gesagt.«

»Er ist nicht so dumm, glaube ich.«

»Im Gegenteil. Er ist der geborene Kriminalist. Ich muß immerfort Sachen erfinden, und er bringt sie heraus. So erhalte ich unsere Ehe frisch. Ich will übrigens dein Kind sehen. Geh nur voran, ich hole dich mit dem Wagen ein. Er hat mich dann in einem ganz anderen Verdacht.«

An der übernächsten Straßenecke konnte Marie auch wirklich zu ihrer Freundin in das glänzende Auto steigen. Solange der Chauffeur die Tür noch offenhielt, sagte Vicki: »Fräulein, den Stoff haben Sie doch zu Hause, damit ich mich nicht umsonst bemühe?« Als der Wagenschlag geschlossen war, erklärte sie: »Der nimmt auch von Ignaz.«

So beglückt war Frau Zahn nicht oft gewesen seit ihrer gut bürgerlichen Zeit. Sie konnte Frau Direktor in keinen Salon führen, denn die Möbel ihres ehemaligen Empfangszimmers waren über die ganze Wohnung verteilt. Trotzdem spielte sich alles, was folgte, in einer eingebildeten guten Stube ab. »Wenn Frau Direktor gestatten, ich hole das Kleinchen. Nur ein Viertelstündchen mußte ich fortgehen. Inzwischen ist das Kleinchen in allerbesten Händen.«

»Wo?« fragte Marie entsetzt, als die Wirtin schon draußen war. »Bei der Portiersfrau, oder bei den Holländerinnen?« Sie berichtete, wer das sei.

»Dein Kind kann hier nicht bleiben«, entschied Vicki. Sie überlegte: »Oder ich muß mir die Holländerinnen ansehen.« Diese begleiteten übrigens Frau Zahn, und alle Frauen umringten Marie, die das Kind trug.

»Es interessiert mich persönlich«, erklärte Vicki. »Es ist mein Patenkind. Ich sähe es am liebsten in zuverlässiger Pflege, die Mutter arbeitet außer Hause.«

»Wir sind immer da«, beteuerten die Holländerinnen und Frau Zahn. Marie empörte sich.

»Was soll das? Ich komme doch alle paar Stunden und stille es.«

»Damit solltest du aufhören, Marie, schon deiner Figur wegen.«

»Das Kleinchen ist doch auch schon vier Monate.«

»Kaum drei, Frau Zahn. Aber ich hab es selbst genährt.«

»Jetzt kann das nichts mehr nützen, Fräulein.«

Die Wirtin redete einfach Vicki zum Munde, denn Frau Direktor schien Gründe zu haben. Auch die beiden Holländerinnen merkten etwas, und ein Wettbewerb entspann sich zwischen ihnen und Frau Zahn, welcher Aufenthalt geeigneter für eine geliebte Puppe wäre, die Küche oder die Schneiderinnen-Werkstatt. Die Holländerinnen glaubten gesiegt zu haben, als sie geltend machten, daß sie zwei seien und eine von ihnen bewache ständig die Wohnung. »Frau Zahn dagegen ist oft fort, weil sie zum Beten gehen muß.« Diese erwiderte, das müsse sie allerdings, denn leider gäbe es Menschen, die ihr nachstellten.

Genug, die Auseinandersetzung wurde persönlich; Vicki schickte die drei kurzweg hinaus.

»Marie –« begann sie, stockte aber sogleich.

Das Kind lag auf seinem Bettchen, unbekleidet, weil gut geheizt war, und es strampelte, lachte, weinte, während Vicki auffallenderweise die Hände gefaltet hielt.

»Hast du das gesehn, Marie? Es ist Kurt – aber Kurt ist gesund, ein kräftiger, gesunder Kurt, etwas, das es gar nicht geben kann, ein Märchen.« Sie betrachtete Marie, wahrhaftig durch Tränen hindurch. »Das hast du gemacht, Marie?«

Keine Antwort, denn die Mutter verspürte einen Stoß, der sie aufweckte. In ihren Träumen war ihr Sohn ein kleiner Mingo, jetzt stieß sie plötzlich auf die Wahrheit, ja, einen Augenblick erkannte sie in ihrem Geschöpf völlig Kurt. Sie wurde davon ergriffen wie seine Schwester. Diesen Augenblick lang fühlte sie, durch ihr eigenes Kind hindurch, sowohl den Bruder wie die Schwester. Natürlich liebt sie es!

Bei Vicki waren Tränen nichts Alltägliches, Marie hätte sie ihr sogar niemals zugetraut. Eine Hoffnung auf Gemeinschaft mit dieser anderen Frau regte sich in ihr. Die Hand ergreifen! Sich aufschließen! In der Minute danach war dies vorbei, und Vicki, die ihre Tränen nicht über das geschminkte Gesicht laufen ließ, sondern sich bückte, damit sie zu Boden fallen konnten, fand aufblickend bei Marie nur Kälte. Sie sagte gleichfalls sachlich:

»Das blendende Aussehen täuscht vielleicht, der Junge kann trotzdem die Anlagen Kurts haben. Weißt du, wenn ein Junge unter Polizeiaufsicht kommt, angefangen hat es manchmal damit, daß die Ohren nicht in Ordnung waren. Bei uns Frauen ist das anders, aber Männer sollten überhaupt nicht abenteuern, wenigstens die nicht, mit denen wir nichts haben, sondern die uns zu gut sind.«

»Was willst du eigentlich?« fragte Marie.

»Er muß sehr bald in allererste Pflege. Der Arzt im Hause ist unerläßlich.«

»Wer soll das bezahlen?«

»Ich natürlich.«

»Du bist nicht seine Mutter.«

»Grade darum. Höre, Marie, du wirst doch keine Schwierigkeiten machen. Zwischen mir und dir mag sein, was will, hier aber ist der Junge. Willst du, daß er groß wird?«

»Ich weiß besser als du über ihn Bescheid. Das ist es auch gar nicht.«

Marie beglückwünschte sich, daß sie die Versuchung, ihrer Feindin zu trauen, so schnell überwunden hatte. Was Vicki vorhatte, war unverkennbar: das Kind ihr fortnehmen – ihr Mingo nehmen, noch einmal und immer wieder!

»Was du willst, daraus wird nichts«, schloß Marie.

»Wir werden sehen. Jedenfalls, Marie, mußt du ab morgen aufhören, von deiner Arbeit alle paar Stunden fortzulaufen, damit der Junge die Brust bekommt. Sonst entlasse ich dich. Das bedeutet in Berlin: stempeln gehn. Die Weiber hier im Hause sind zwar ekelhaft, aber da du bockst, müssen sie dem Kinde seinen Grießbrei geben, anstatt daß es in anständige Hände kommt. Na, Wiedersehn!«

Sie küßte Marie, es war sehr merkwürdig, – als wollte sie den Haß, der zwischen ihnen beiden bestand, körperlich fühlbar machen, und auch, als suchte Vicki die Gefahr.

Der Dienstag verlief wie der Montag, Marie blieb in der Bäuerleinschen Wohnung völlig allein. Von zwölf bis halb eins kämpfte sie mit sich, bevor sie den Versuch machte, durchzugehen. Lissie fing sie ab und meldete: »Die gnädige Frau läßt sagen, wenn Sie jetzt fortgehen, brauchen Sie nicht wiederzukommen«, – dies mit einer Ironie, die hier bedeutete: Na, nun möchte ich sehen!

Wirklich fügte Marie sich und bekam ihre Mahlzeit, die gut war, an ihrem Arbeitstisch. Das Eßzimmer wurde von niemand benutzt. Lissie erklärte ungefragt, daß die Herrschaften ganz andere Sorgen hätten als ihre Häuslichkeit, und zwar jeder verschiedene Sorgen. »Es kommt aber vor, daß sie sich hier zum Essen verabreden. Eine halbe Stunde vor der Zeit telefoniert gewöhnlich der eine ab, und eine Viertelstunde nach der Zeit der andere. Trotzdem glückt es auch mal, daß alle da sind, sogar der Bruder.«

»Der Bruder der gnädigen Frau?«

»Den werden Sie unbedingt erleben, Fräulein. Soweit meine Informationen reichen, sind Sie ausgesprochen sein Typ.«

Marie antwortete lieber nicht; die Art Lissies, sich auszudrücken und zu lächeln, war zu vieldeutig. Sie erfuhr noch, daß der Hausherr mit ziemlicher Sicherheit am Nachmittag eine Stunde auf dem Sofa lag. Dies schien sich zu bestätigen, denn zu derselben Zeit wie gestern beleuchtete er das Eßzimmer, trat aber diesmal ohne weiteres bei Marie ein. Er stellte vor sie hin eine Kristallschale mit Schokolade. »Das essen Sie doch hoffentlich.«

Sie war aufgestanden vor ihrem Arbeitgeber. Er sagte: »Behalten Sie Platz. Dies ist keine Fabrik, wir haben noch nicht taylorisiert. Übrigens führt Deutschland in seinen Sitten die Demokratie schon durch, – und wenn sie erst in den Sitten ist –. Sie zum Beispiel sind mit meiner Frau befreundet!« Das schoß er ab; Marie erschrak, und Kirsch fiel ihr ein.

»Können Sie darüber aussagen, weshalb Vicki sich gestern fünfzig Minuten lang in Ihrer Wohnung aufgehalten hat? Das ist zu viel Zeit, um einen Stoff anzusehen. Seit wann kennen Sie Vicki?«

Marie zögerte. »Rein zufällig. Wir sind neulich ein Stück zusammen gereist.«

»Dann kommen Sie von Schlesien?«

Hierauf schwieg Marie lieber ganz. Bäuerlein machte federnde Wendungen durch das Zimmer.

»Nach Ihrer Aussprache sind Sie eher aus Holstein. Sagen Sie nicht ja! Dann würde ich es auch wieder in Zweifel ziehen müssen. Einigermaßen fest steht immerhin, daß Sie gesund sind. Das ist ein seltenes Fest: ruhige Augen, eine Haut, die gelüftet ist und doch hell bleibt!«

Marie fühlte Boden unter den Füßen. »Das meinen Sie auch nicht so. Sie haben doch eine Frau mit brauner Hautfarbe.«

»Das ist aber nicht, was mich an ihr besonders reizt. Wenn ich Ihnen sagen wollte, weshalb ich Vicki liebe –! Gleichviel, ich liebe sie – ein für alle Male. So was ist Sache des Entschlusses. Verstehn Sie nicht. Ich auch nur, solange ich will. Ich könnte jeden Tag ein neues Leben anfangen, – Entschlußfrage.« Er führte offenbar ein Selbstgespräch, und Marie durfte zuhören.

»Was wollen Sie eigentlich von mir?« fragte sie ungeduldig.

»Sieh mal an, das haben Sie gemerkt. Ich will Ihr Einkommen erhöhen – dafür, daß Sie mich über alles, was Sie von Vicki erfahren, pünktlich unterrichten.«

»Das wäre nicht gut für mich. Ihre Frau ist rachsüchtig.«

»Das wissen Sie auch schon? Was hat sie denn dir für Streiche gespielt?«

Plötzlich duzte er sie. Auch trat er nahe vor ihren Arbeitstisch hin. Er hatte runde Augen bekommen, im Grunde schien er ihr hilflos mit seinen großen, zitternden Wangen und hätte sie rühren können. Sie paßte aber auf, das ging schon ganz von selbst, ihr Mißtrauen war immer bereit, sie zu schützen.

»Wenn die entsprechende Konjunktur einträte, würde Vicki mich umbringen«, sagte er klar und die Augen rund. Hierauf strich er die Vision fort und zeigte seine in Ordnung gehaltenen Zähne. »Unsinn natürlich!«

Marie fühlte, daß seine Ironie tiefer gemeint war, je beiläufiger er sprach. »Merke dir, Schatz, daß man meistens keine Verbrechen begeht, weil man vorher stirbt. Das Verbrechen wäre nur unser vollendetster Ausdruck, wenn wir so weit kämen. Wer bringt es dahin? Ich – eventuell; aber wahrscheinlich lasse ich es nur von anderen machen. Vicki und ihr süßer Bruder – mit Auszeichnung. Bei ihnen setze ich Sieg und Platz; und das hat mehr zu bedeuten als braune Haut, verstehst du?«

War er doch schon beim Likörschrank gewesen, als Marie nicht hinsah? Oder war er verrückt? Sie hatte immer häufiger den Eindruck, daß niemand im Grunde richtig war. Man bezwang sich, solange man beobachtet wurde. Allein gelassen, ging man wahrscheinlich über die Stuhllehnen spazieren oder machte vorsichtige Versuche, sich aufzuhängen. Gegen sie benahm dieser dicke Mann sich, als ob er allein gewesen wäre. Auch sie beachtete ihn nicht mehr, sie senkte den Blick auf ihre Arbeit. Nur hörte sie ihn äußern:

»Die Gesundheit ist das höchste Gut. Wenn ich das da ansehe, müßte ich eigentlich einen schweren Kampf führen gegen meine verdammte Duldsamkeit für Krankheit und Kriminalität.«

Er machte eine Pause. »Das sitzt da und ist aus Holstein, naturblond, nordische Rasse sagt man, wenn man den Komplex hat. Und welches Verbrechen wird sie zu begehen haben, damit sie sich restlos ausdrückt?« Wieder eine Pause. »Auch in uns Gesunden steckt es. Wir brauchen nur in die Nähe zu kommen. Hüte dich vor deiner Sympathie für Vicki!«

Er sprach es nicht mehr laut, es war schon sein Abgang. Marie hatte dennoch verstanden, und so sehr sie verachtete, was sie hörte, diesen Menschen, der nichts war, weder böse noch gut, – der Schauder in ihrem Rücken lief weiter. Er war noch nicht verlaufen, da bemerkte sie, daß vom Flur her jemand eintrat. Als sie aufsah, stand er schon im Zimmer. Marie ließ fallen, was sie in der Hand hielt; innerlich und aus tiefster Seele machte sie den Versuch, sich zu verkriechen. Ganz anders Bäuerlein! »Na, Herr Kirsch?« rief er munter.

Der Rechtsanwalt hatte mit einem Schlage alles Besondere abgelegt. Selbstgespräche wie die vorhin gefallenen konnte dieser Durchschnittstyp, der sich da heranbewegte, unmöglich gehalten haben. Mit ausgestreckter Hand ging er dem Kriminalkommissar entgegen. »Was bringen Sie Neues?«

Zwei breite, umfangreiche Männer begrüßten einander. »Wollen Sie einen Schnaps haben?« fragte der eine. Der andere antwortete:

»Den kann ich brauchen. Sie heben auch einen, wenn ich Ihnen die Sache erzähle.«

»Wieso? Immer noch der verlorengegangene blaue Stein? Nach meiner Meinung kommt bei dem Fall nichts mehr heraus.«

»Da hab ich einen anderen Eindruck. Mit dem Stein hat er vielleicht nur angefangen.«

Der Hausherr trug Liköre herbei. Er mußte sie hier in dies Zimmer bringen, da Kirsch es trotz seiner Aufforderung nicht verließ. Marie fühlte deutlich, wie er sie musterte.

»Schießen Sie los!« verlangte Bäuerlein kräftig, nachdem beide getrunken hatten.

»Ihr Schwager wohnt wieder bei der Adele Fuchs.«

»Soviel ich weiß, wohnt er bei mir!«

»Da irren Sie.« Kirsch dämpfte die Stimme. »Er ist jede Nacht dort, und er hat einen guten Magen. Denn nebenan liegt der Ehemann und stirbt. Eigentlich ist es dasselbe Schlafzimmer; die Tür ist ausgehoben.«

»Sie glauben doch nicht –«

Eine Pause entstand in dem Geflüster.

»Ich glaube nie etwas«, behauptete Kirsch. »Ich weiß«, betonte er, »daß der Mann vor fünf Tagen frisch und gesund von der Reise gekommen ist, und daß wir ihn öffnen lassen werden, sobald er tot ist.«

Bäuerlein schien zu überlegen. »Ausgeschlossen«, entschied er. »Ihr Verdacht ist abwegig. Soweit ist der Junge noch nicht. Dahin bringt auch die Frau ihn nicht. Sie können mir glauben! Ich bin mit seiner Schwester verheiratet, und die beiden sind Zwillinge.« Er raunte: »Kommen Sie doch weiter! Muß die Hausschneiderin das durchaus alles mit anhören?«

»Ihr kann es auch nicht schaden«, sagte der Kriminalkommissar, – und nach diesem Wort war Marie genötigt, ihn anzusehen, sie konnte nicht anders; zu genau fühlte sie, wie er sie erkannt hatte trotz ihren kosmetischen Veränderungen, – und wie er sich erinnerte. In seiner Erinnerung stand er wie damals auf jenem feuchten Acker. Kurt hatte dort seine Befehle entgegengenommen in furchtsamer Haltung, die erst allmählich dreist wurde. Marie arbeitete inzwischen, aber beobachtet wurde auch sie. So war es gewesen, und nachdem er sich zurückversetzt hatte, wußte Kirsch jetzt wieder, wer sie war. Er nickte ihr sogar zu!

Zum erstenmal übrigens, hier in der vollen Deckenbeleuchtung, zeigte er sich ihr als ein ganz natürlicher Mensch. Zwei vorige Erscheinungen hatten ihn in ihrem Gedächtnis eher hinterlassen als Gewalt ohne Gestalt, etwas plötzlich Herversetztes, ebenso jäh Entrücktes. Seine zweite Verkörperung, auf dem Acker, war immerhin schon weniger unförmlich gewesen als die erste, im Frühlicht vor der dämmernden See. Aber auch ein weiter Himmel mit ziehenden Wolken und wechselndem Licht nimmt doch dem Fremden, der mit unbekannten Absichten kommt, manches weg von seiner Alltäglichkeit. Hier im hellen Zimmer war es endlich so weit, daß Kirsch eine rötlich gesprenkelte Haut sowie eine behaarte Warze sehen ließ.

Marie war jetzt darüber unterrichtet, warum er dies Zimmer betreten hatte – zweifellos infolge einer Auskunft Lissies. Er suchte hier Marie, und von Kurt sprach er hauptsächlich ihretwegen! Sie sollte gewarnt werden vor Kurt, aber nicht nur das. Sie sollte wissen, daß sie selbst der Polizei bekannt war – als Warenhausdiebin und als Mutter eines Kindes, das von Kurt war. Wenn sie ihm nachreiste und hier im Zimmer seiner Schwester saß, warum konnte sie nicht auch eingeweiht sein in seine eigenen dunklen Angelegenheiten – jene mit dem berühmten blauen Stein, und sogar die weit schrecklichere, von der Kirsch heute anfing zu reden.

Sie war verdächtig! Das ist aber eine Lage, in der man sich innerlich nicht mehr verkriecht, im Gegenteil spannt man sich an und rüstet zur Gegenwehr. Marie, die den Kriminalkommissar nun einmal ansehen mußte, machte dabei wenigstens ein Gesicht, als verstände sie kein Wort und könnte überhaupt nicht Hochdeutsch. Auf einmal zeigte sie einen Ausdruck wie zu der Zeit, da sie endgültig zu verbauern schien. Es war vor der Ankunft Kurts auf dem Hof. Damals blieb ihr verborgen, daß sie döste. Jetzt konnte sie es mit Bewußtsein und Absicht.

Kirsch hob seine schweren Schultern und ließ sie wieder fallen. Damit drückte er genug aus, auch wenn er die Augen schloß. Er glaubte ihr nicht! Endlich verließ er aber mit Rechtsanwalt Bäuerlein das Zimmer. Auch nebenan hielten sie sich nicht auf, die beiden Männer verschwanden in der Wohnung.

Marie sah sie nicht mehr, dadurch wurde das entfernte Gemurmel noch undeutlicher. Um so größer war ihre Angst, weil jetzt Kirsch doch sicher von ihrem Kind sprach. Sie wollten ihr das Kind fortnehmen, denn sie war bekannt als Diebin! Sie hatte die Schuhe gestohlen, daher konnte man ihr alles zutrauen! Die Schuhe waren für Kurt gewesen; hätte auch sonst niemand dies herausgebracht, Kirsch brauchte keinen Beweis, – und um so eher war sie für Kirsch mit dabei, wenn Kurt noch etwas verbrach. Womöglich sah er in ihr die Anstifterin des Jungen, sie war doch größer und stärker.

Allmählich unterschied sie die Stimme Bäuerleins, zeitweilig auch, was er sagte. Denn er wurde lauter als Kirsch, er regte sich mehr auf.

»Der arbeitet seit vier oder sechs Wochen bei mir in der Kanzlei! Soll ich den Jungen auch noch persönlich jeden Abend zu Bett bringen? Meinen Sie, er ist mit meinem Willen wieder in Berlin? Aber da ist draußen etwas vorgekommen, ich kann nicht herauskriegen, was. Seine Schwester weiß es, aber die brächten auch Sie nicht zum Sprechen. Die Zwillinge machen Sie mal voneinander los! Ich bin doch mit Zwillingen verheiratet!«

Nachdem Kirsch etwas gesagt hatte, schrie Bäuerlein: »Der Lausejunge!« Dies wiederholte er öfter. »Aber wie soll ich verhindern, daß er wieder wettet. Natürlich arbeitet er nicht, sondern wettet. Mein Bürochef läßt ihn laufen, und ich bin überlastet, ich habe auch nichts zum Kriminalisten, ich bin Syndikus. Also? Machen Sie, was Sie wollen, aber stellen Sie mich nicht bloß, das haben Sie mir versprochen!«

Die nächste Antwort Bäuerleins klang ruhiger, ungefähr als spräche er mit den Händen in den Hosentaschen. »Ich will Ihnen etwas sagen, Kirsch, ich glaube an den ganzen blauen Stein nicht mehr, sonst hätte ich ihn schon gefunden. In der Wohnung ist kein Fleck, wo ich nicht gesucht habe. Was machen Sie für Sachen, Kirsch! Sie reden sich ein, daß der Junge dieser Adele Fuchs verfallen ist, weil er den blauen Stein hat. Daraufhin bringen die beiden den Ehemann um – wie?« Bäuerlein lachte.

»Sie werden eine Enttäuschung erleben, Kirsch. Der Ehemann Fuchs stirbt eines natürlichen Todes, und mein kleiner Schwager wird über Bagatellsachen nie hinauskommen. Das ist nicht jedem gegeben. Er ist nur, was hunderttausend Arbeitslose aus seiner Schicht sind. Warum haben Sie sich die Hausschneiderin so scharf angesehen? Die gehört wohl auch zu den Hintergründen Kurts? Ihn soll nun einmal jeder Schritt der Unterwelt näherbringen – wie?«

Marie zitterte. Was entgegnete der Kommissar? Er, der alles wußte von ihr und Kurt! Da aber auch die Stimme Bäuerleins abklang und nicht wieder einsetzte, hatten die Männer sich offenbar entfernt. Sie wartete; dann sah sie nach. Die Wohnung war leer.

Am nächsten Vormittag kündigte Lissie ihr an, daß die Herrschaften heute zu Hause essen würden. Das Mädchen bezweifelte es allerdings selbst; sie war erstaunt, als sie um ein Uhr wirklich den Tisch decken mußte. Um halb zwei hatte immer noch niemand abgesagt, auch Kurt nicht. Marie dachte im voraus: ›Dort kommt er herein, er stellt sich, als entdeckte er mich erst heute, er sagt guten Tag – und dann? Was machen wir weiter?‹ Sie wußte es nicht. Aber Kurt kam gar nicht. Nach einigem Warten ging das Ehepaar Bäuerlein zu Tisch.

Was sie hier trieben, machte auf Marie den Eindruck, als ob sie den Verstand verloren hätten. Ein Vorhang war zwischen die beiden Zimmer gezogen worden, aber sooft Lissie der Hausschneiderin ein Gericht brachte, verschob sich der Vorhang weiter. Dann sah und hörte Marie, wie der dicke Rechtsanwalt seiner Gattin das Essen vom Teller stahl, aus Schelmerei und kindischer Lüsternheit. »Von dem süßen kleinen Würstchen will Igi auch naschen. Puttchen hat so reizend daran geknabbert.« Er nuschelte, machte einen Mund wie ein Knöspchen, benannte sich selbst mit einem Kosenamen.

Vicki ging ihm bereitwillig auf alles ein. »Puttchen will Igi seinen Wein haben. Puttchen ist schon doß.«

»Kriegt Nuttchen aber nicht«, flötete Bäuerlein. »Sonst ist Nuttchen nachher besoffen, und Nutti Putti soll doch bei Staatssekretärs Tee trinken.«

»Nuttchen sch–scherzt aber mit Staatssekretärs«, quäkte Vicki mit der Stimme einer Fünfjährigen.

»Muttchen, warum läßt du die Hausschneiderin nicht mit bei Tisch essen? Du bist unsozial, Mutti Nutti Putti!«

»Das bin ich wegen des Tiefs über Alaska«, war die nicht zu erwartende Antwort. Das »Tief« stammte aus Wetterberichten, das andere Wort wer weiß woher. Ignaz fand die Äußerung einleuchtend. »Aha!« machte er.

»Dem Syndikus gefällt sie wohl? Der schöne kleine Syndi möchte sein Mutti Nutti Putti ein bißchen betrügen.«

»Aber Muttchen! Nein doch, Nuttchen!« Er drehte sich geschämig auf dem Stuhl umher.

»Bis Syndi soweit kommt, hat Nuttchen es schon längst demacht!« verhieß sie.

»Syndi paßt aber auf, und Onkel Kirsch funkt auch dazwischen«, behauptete Bäuerlein immer noch wie ein Junge, aber trotzig.

»Was hat Kirsch dabei zu suchen?« fragte sie und vergaß auf einmal, sich zu verstellen. Als es ihr wieder einfiel, quäkte sie: »Puttchen mag böse Onkels nicht. Puttchen Tirsch Nähnadel Hintern stechen!«

»Würde dir auch nichts helfen. Kirsch gibt die Spur nicht auf.« Er sprach, wie in seinem Büro, mit vollendeter Ruhe und Sachlichkeit.

»Kirsch glaubt, daß Kurt den blauen Stein hat, er glaubt noch ganz andere Sachen.«

»Kann sich aufhängen«, plärrte Vicki. Es war ihr letzter Versuch in der Kinderrolle. »Wo soll der Stein denn sein?« fragte sie gereizt, aber verhalten.

»Wenn du es nicht weißt, kann ich es dir nicht sagen.« Auch er flüsterte.

»Ach! Ihr glaubt, daß ich ihn habe? Darum finde ich meine Sachen durchwühlt. Du bist das. Ich wollte Lissie hinauswerfen.«

»Bleibe, bitte, leise!« bat er, ging hin und zog den Vorhang zusammen. »Fräulein, Sie bekommen Kaffee in der Küche«, ordnete er an. Marie verließ infolgedessen das Zimmer nach dem Flur, schloß die Tür geräuschvoll und öffnete sie unhörbar wieder. Sie erlauschte dennoch nur wenig von dem weiteren Gespräch.

»Dein Bruder ist ein Ganove«, begann Bäuerlein. »Etwas von der Sore hat er bestimmt abbekommen damals bei dem Einbruch. Dank meinem Einfluß ist er aus dem Prozeß herausgeblieben. Das ist ein Schlag für Kirsch, der ihn verhaftet hatte. Das vergißt er mir nicht. Nimm jetzt an, der Stein wird gefunden – hier im Hause.«

»Ich schwöre dir bei dem Leben meiner Mutter!«

»Was folgt daraus? Daß ich selbst in Verdacht komme. Bei Kirsch bin ich es schon.«

»Du sollst eingebrochen haben?«

»Unsinn. Auch Hehlerei wird er mir nicht zutrauen. Aber geschäftlich, – er wird meinen Verhältnissen auf den Grund gehen. Du weißt wohl, daß keine Verhältnisse das heute noch vertragen.«

»Ach! Du hast dich hoffentlich für alle Fälle gesichert?«

Darauf erfolgte keine Antwort außer einem schnellen Blinzeln seines linken Auges.

»Jedenfalls ist der Stein ein lächerlich unwichtiger Anlaß. Man sollte ihn entfernen«, bemerkte Bäuerlein mehr beiläufig.

»Aber wie?« fragte sie unvorsichtig.

Er beachtete durchaus nicht, daß sie noch soeben bei dem Leben ihrer Mutter geschworen hatte.

»Kennt Kurt die Hausschneiderin schon?« Die Frage schoß er ab, in der Art von Kirsch.

Sie lachte einmal auf. Dann wurde sie tief nachdenklich. Wenn ihr Ignaz den ersten Teil der Angelegenheit nur unvollkommen kannte, wie konnte er plötzlich Kurt in Verbindung bringen mit Marie? Vicki betrachtete ihren dicken Mann von unten aus halbgeschlossenen Mandelaugen. War er jemals auf den Gedanken gekommen, daß der ganze Einbruch damals nur veranstaltet worden war, um ihr die große Aufmachung zu verschaffen für den Presseball, auf dem sie ihn einfing? Zum erstenmal fiel ihr auf, daß es sein konnte oder auch nicht und daß ihr Ignaz unergründlich war.

Zweitens mußte ihm vernünftigerweise verborgen geblieben sein, daß Kurt von Marie ein Kind hatte, und alles, was sich daranschloß. Trotzdem erschienen ihm einfach beim Anblick Maries offenbar Möglichkeiten, – sie selbst begriff sie noch gar nicht bis zu Ende. Manchmal fürchtete sie sich vor Ignaz.

Aufs Geratewohl und nur zur Abwehr sagte sie: »Kurt kommt selten. Außerdem ist das Mädchen nicht sein Typ.« »Das letztere ließe sich bezweifeln. Wahr ist leider, daß ich ihm weder hier noch in meiner Kanzlei begegne. Dafür aber höre ich, daß er schon wieder wettet.«

»Kirsch ist der größte Lügner! Ich schwöre dir bei dem Leben –«

»Geht es deiner Mutter gut? Siehst du, das Wetten führt zu interessanten Bekanntschaften, und das vorige Mal sind sie in Wirksamkeit getreten bei Gelegenheit des Einbruchs. Nimm einmal an, Kurt hätte aus den Kreisen niemand gekannt, schon haben wir weder den blauen Stein, noch Kirsch –«

Vicki dachte: ›Noch den Presseball, noch mich.‹ »Auch Marie nicht«, ergänzte sie. »Was sollte eigentlich deine Frage nach der Hausschneiderin?« erkundigte sie sich.

»Nichts Besonderes. Was ist schon der blaue Stein. Gar nichts ist er. Aber jemand muß ihn doch haben. Vielmehr, versteh mich recht, die Eigentümerin, Adele Fuchs heißt sie und ist eine berufstätige Frau, muß ihn früher oder später zurückbekommen; der Scherz hat lange genug gedauert. Na und irgendwo im Hause wird sie ihn eben finden – aber bei wem am besten? Bei dir nicht, bei mir auch nicht. Wir sind uns selbst die nächsten, so gesund bin ich.«

Inzwischen faltete er seine Serviette, er war verhindert, Vicki anzusehen.

»Begriffen«, sagte sie sachlich.

Das nächste war, daß beide die Münder spitzten, einander küßten und gesegnete Mahlzeit wünschten. Draußen entfernte Marie sich jetzt wirklich. Sie hatte nicht viel gehört und noch weniger verstanden.

»Hat Syndi seinen Bauch schön dick dedessen?« quäkte Vicki.

»Nuttchen hat sich danz schön andeschickert!« stotterte ihr Gatte.

»Jetzt wünscht sich Nuttchen noch ein nettes Viertelstündchen mit ihrem eigens angetrauten Rekordmännchen!« »Hier hast du!« Er zog die Brieftasche. »Zu der Hauptsache kommt man gar nicht mehr. Immer Deld machen, immer Deld machen!«

»Kurt ist klüger. Der sitzt im Wettbüro und schiebt den Sieger rein.«

»Der liebe Junge sollte sich auch mal seiner Familie widmen. Das ergibt gelegentlich eine hübsche kleine Aussprache, wie wir sie heute hatten. Sag ihm – höre, Puttchen, sag ihm, daß Kirsch alles weiß und sich noch mehr ausdenkt, als er verantworten kann!«

Rechtsanwalt Bäuerlein federte auf den Füßen, schon war er draußen.

Seine Frau läutete, damit Lissie abräume. Vicki verhielt sich inzwischen im Damenzimmer völlig lautlos, sie dachte nach. Als sie Schritte hörte, war es schon zu spät, sich umzuwenden; ihr Bruder küßte sie auf den entblößten Nacken. »Lumpchen!« sagte sie. »Du bekommst nichts mehr zu essen.«

»Ich brauche nur Wasser und ein Handtuch.«

»Um Gottes willen!« Er hatte ein schwarz unterlaufenes Auge, das er nicht öffnen konnte. »Ein Stoß? Wer war es? Lissie! Wasser! Eine Serviette!«

Er ließ sich nieder, seine Schwester und das Mädchen bemühten sich hingebend um ihn.

»Ein Geschäftsfreund«, erklärte er. »Ich hatte verdient. Einer kann immer nur verdienen, das wollte der Junge nicht einsehen. Ich kann das Auge nicht aufmachen, aber an seiner Stelle möchte ich nicht sein. Der liegt vierzehn Tage im Krankenhaus.«

»Du bist ein Held.«

»Ganz im Ernst!«

»Natürlich ganz im Ernst.« Denn seine Schwester sah ihn nicht anders als er war, mit Schwindel und allem übrigen, und so war er ihr Held. Andere fand Vicki nur lächerlich.

Sie ließ ihn sich ausstrecken, sie legte ihm Kissen zurecht und erneuerte den Umschlag. »Sie können gehen, Lissie! Sagen Sie der Schneiderin, daß sie in der Küche bleiben soll. Es macht mich nervös, den ganzen Tag jemand in Hörweite zu haben. Man hat kein Privatleben mehr«, ergänzte sie, als das Mädchen gegangen war.

Kurt bemerkte: »Richtig! Wir haben ein Privatleben.« In diesem Augenblick überzeugte Vicki sich persönlich von der Abwesenheit Maries. Sie kehrte zurück.

»Hast du arge Schmerzen, Liebling? Oder können wir reden?«

»Du hast mit dem Syndikus zu Mittag gegessen. Nur gegessen? Wenn ihr euch grade heute so abscheulich naheständet –«

»Laß deine Eifersucht! Ich hätte mehr Grund. Du hast ein Kind.«

»Was beweist das schon«, murmelte er leicht.

»Jedenfalls ist es da. Es ist dein Kind, ist da, und die Frau dort hat es. Sie soll es nicht behalten. Ich will nicht! Ich will, was ich will!«

Sie ging nicht weiter – ›noch nicht‹, dachte sie. Ihr Bruder wurde aufmerksam. »Du liebst mein Kind?« Er sah ihre Augen feucht werden, es bewegte ihn endlich selbst. »Wenn ich könnte, solltest du es haben. Es ist doch ein Junge? Möge er dir Ehre machen, Vicki!«

»Die restlose Ähnlichkeit!« brachte sie unter Schluchzen hervor. »Und die dicke dumme Mutter! Was geht dein Kind sie an? Sie hat ihren Zweck erfüllt und muß aus dem Wege!« Sie bekam eine schöne, bewegte Bruststimme.

Ihre Leidenschaft befriedigte den Bruder tief, obwohl sie ihn auch erschreckte.

»Sei vorsichtig!« bat er. Sie aber zeigte sich völlig sicher.

»Das Kind ist schon so gut wie meins, ich bereite alles dafür vor, ich kann hingehen, sooft ich will, während die Mutter hier sitzt.«

»Wenn ich mitreden darf, Vicki: du hättest Marie lassen sollen, wo sie war. Ich habe kein gutes Gefühl dabei, wenn sie in dem hinteren Zimmer sitzt und hier alles miterlebt. Was soll es? Ich bin lieber noch gar nicht hineingegangen.«

»Dann wird es Zeit. Jedenfalls lasse ich sie nicht fort. Mir ist nur wohl, wenn ich sie mit der Hand anfassen kann.« Vicki dachte sogar: ›mit den Lippen berühren.‹

»Du mußt sie furchtbar hassen. Meinetwegen? Vicki, das lohnt sich nicht.«

»Du wirst bald begreifen, wie sehr sie uns nützen kann.« Vicki ging zum zweiten Teil über, das waren die von Bäuerlein empfangenen Anregungen. Daher setzte sie sich auf die Couch, zart und leicht neben den verbundenen Kopf ihres Bruders.

»Was gibt es Neues bei Adele Fuchs? Ich frage, Liebling, weil du vielleicht in Gefahr bist.«

Er kam hoch. »Was weißt du?«

»Nichts Bestimmtes. Aber ist dir nicht selbst so?«

»Wenn du Kirsch meinst, – an ihn bin ich gewöhnt. Gestern nacht ist der Mann Adeles gestorben, Kirsch hat natürlich die Leiche beschlagnahmen lassen.«

»Nimm an, sie finden Gift darin!«

»Sie können keins finden. Ich bin auf Mord nicht eingestellt. Mir müßte man mächtig zureden, und selbst dann. – Ich kann Adele doch nicht heiraten, – so gern ich ihre Bar erben möchte.«

»Aber Adele, – traust du ihr zu, daß sie mit Kirsch gegen dich arbeitet?«

»Durchaus. Deshalb wollte ich mit dir reden, Vicki. Mein geschwollenes Auge kommt auch daher. Ein Ganove wollte von mir wissen, wo der blaue Stein ist. Natürlich ein Junge von Kirsch.«

»Du hast doch nicht –?«

»Das – verraten?« erwiderte er – lächelte ironisch mit seinem einzigen Auge und lehnte schnell, für einen kurzen Augenblick seinen Kopf an ihre Schulter. Als er aufsah, schaukelte der blaue Stein an ihrer erhobenen Hand.

»Da haben wir ihn«, sagte Kurt zärtlich, ganz ohne Überraschung. »Ich wußte, zur rechten Zeit würde er sich wiederfinden. Darf ich ihn an Adele weitergeben?«

»Du persönlich?«

»Also mit der Post. Dann kann Kirsch uns wieder nichts beweisen. Hauptsache, sie bekommt ihn zurück. Adele ist eine gute Frau.«

»Du meinst: das bösartigste Stück, das du kennst. Sie hat die ganze Sore zurück, aber mir läßt sie keine Ruhe wegen des blauen Steins, der mir Glück gebracht hat!«

Vicki kämpfte mit Tränen, ganz anderen als die um das Kind, und sie wollte sie nicht weinen. Statt dessen bekam sie die wütende Stimme eines kleinen Mädchens; ihr Ignaz würde es für den üblichen Scherz gehalten haben. Sie war aber tiefernst, und ihr Bruder tröstete sie.

»Bei der ersten Gelegenheit hol ich ihn dir wieder, Vicki. Nur jetzt muß Adele ihn bekommen. Weißt du, sie nimmt alles Geschäftliche schrecklich genau. In anderer Hinsicht hat die alte Frau sogar Herz, nur dort hört es auf. Du tust mir wirklich den größten Gefallen. Jetzt kann ich bei Adele anders auftreten. Drohungen ziehen nicht mehr.« Nebenbei versuchte er, den Stein von der Hand Vickis loszumachen; sie krümmte aber die Finger.

Daher bemerkte er:

»Ich habe nie verstanden, warum du an dem Ding so sehr hängst.«

»Maskott«, sagte sie.

»Und wegen einer Sache, die Glück bringt, soll man sich den Hals brechen!«

»Die halsbrecherischen Lagen kann ich nicht entbehren«, bekannte sie. »Ich werde doch noch heulen, weil ich den blauen Stein hergebe. Ich sollte es nicht tun, trotz Kirsch und dem Syndikus!«

»Dir bleibt Marie, sie leistet denselben Dienst, was Halsbrechen angeht.«

»Allerdings, – und das wollen wir aufbauen. Sie soll noch viel gefährlicher werden – und doch nichts machen können. Merke dir eins! Den blauen Stein wirst du Adele nicht mit der Post schicken.«

Sie glitt von ihrem Sitz, dem Bruder gab sie ein Zeichen, sich ruhig zu verhalten, schon verschwand sie durch das Eßzimmer. Kurt horchte; aber kein Geräusch ließ erkennen, was sie tat. Übrigens kannte er sie und war sicher, daß sie davon schweigen werde; er mußte es selbst herausfinden. Soviel bemerkte er gleich, als sie wieder eintrat: der blaue Stein hing nicht mehr an ihrer Hand.

Sie sagte: »Ich gehe zu einem Tee. Du bleibst schön liegen und machst Umschläge. Das Auge ist nicht so schlimm, wie es anfangs aussah.« In der Tür hielt sie an. »Marie soll wieder ihr Zimmer benutzen.«

»Meinetwegen. Lieber wäre mir allerdings, du setztest sie überhaupt –« Anstatt auszusprechen, gab er seinen Hüften einen Schwung und kehrte sich der Wand zu. Vicki verschwand.

Kurt lag noch nicht lange allein, da läutete neben ihm das Telefon. Er hob ab und hörte zuerst nur ein leichtes Geklapper. Als endlich die Stimme kam, antwortete er in schlechter Laune:

»Jetzt klappern dir die Zähne, Adele, und das mit Recht. Hast du es nötig gehabt, dich mit Kirsch einzulassen? Den wirst du nie wieder los. Alles wegen des popligen blauen Steins, und zum Schluß beschlagnahmt er die Leiche. Es ist nicht deine Schuld? Aber meine vielleicht, ich bin ein elternloser Junge. Nein! Nicht hierherkommen! Auch nicht, mir sind sie in den Wagen gefahren, ich liege. Nein! Hör zu! Fräulein, ich bin unterbrochen.«

»Der Teilnehmer hat eingehängt.«

Kurt ließ nochmals seine Hüften herumschnellen, aber er fand keine erträgliche Lage mehr. ›Zuerst die eine‹, überlegte er und stand auf.

Er zögerte. Aber warum nicht? Irgend jemand muß die Kosten tragen, so ist es immer. Und Vicki hat so viel Spaß davon!

»Ach! Marie!« rief er. »Hier sitzt du! Ich denke mir: sie ist doch in Berlin. Aber weißt du, ich komme jede Woche mal nach Haus. Und sonst geht es gut? Dir sieht man nichts an. Ach ja, das Kind – es lebt doch? Na also. Du wirst lachen, ich weiß noch, daß es ein Junge ist!«

»Er ist dir nicht ähnlich«, erklärte Marie, ließ das Nähen und behielt ihn im Auge. Kurt hob die Schultern.

»Er soll mir zwar aus dem Gesicht geschnitten sein – abgesehen von dem blauen Auge, das ich mir heute geholt habe. Du fragst nicht, wo. Marie, du liebst mich nicht mehr.« Seine Ironie! Da sie noch knabenhaft blieb, mußte Marie lächeln, so gegenwärtig ihr alles Erlebte war, – Kurt hatte es soeben zusammengefaßt in das Wort »lieben«!

Er äußerte: »Ich wollte nur feststellen, daß wir nach wie vor gute Freunde sind. Überall kann was vorkommen.« Meinte er damit, was auf dem Bahnhof in Lübeck vorgekommen war? »Deswegen siehst du noch immer aus wie preisgekrönt. Ich bin gespannt, was Adele zu dir sagt. Adele mit dem blauen Stein, weißt du noch?«

»Was willst du von mir?«

»Richtig, seien wir kurz! Adele kann jeden Augenblick eintrudeln. Du hilfst mir doch bei ihr! Du brauchst bloß zu allem still zu sein, mehr verlange ich nicht.«

»Deine alte Adele ist auf mich eifersüchtig.«

»Das auch – besonders, wenn sie dich erst sieht! Du brauchst ihr nicht grade anzuvertrauen, daß wir ein Kind haben. Aber abgesehen davon, mach keinen Krach, was auch vielleicht geschieht!«

Draußen läutete es.

»Jetzt hilfst du mir. An mich kommt auch noch die Reihe. Auseinander können wir jedenfalls nicht!«

Mit der geflüsterten Mahnung drückte er sich durch die Tür, um Adele gleich auf dem Flur zu empfangen. »Abschwirren!« befahl er Lissie.

»Einen glänzenden Gedanken hast du da gehabt! Kirsch beargwöhnt uns alle schon – deinetwegen. Da ist es bestimmt das beste, du kommst auch noch persönlich her. Du hast überhaupt einen guten Tag«, setzte er hinzu; denn die Säcke unter ihren gemalten Augen waren ungewöhnlich dick, ihre Wangen hingen besonders tief.

»Du auch!« Ihr funkelnder Finger zeigte auf sein Auge. »Willst du mich nicht vielleicht ins Zimmer einlassen?«

»Nein. Dort kann leichter jemand horchen als hier.«

»Und außerdem entweihe ich das Zimmer deiner Schwester.«

»Außerdem«, wiederholte er frech. Sie erhob plötzlich die gefalteten Hände. Er hörte zuerst nur das Geklapper, wie am Telefon.

»Bedenkst du denn gar nicht, daß wir beide ins Zuchthaus kommen können? Grinse nicht! Dein Grinsen allein kostet uns vor Gericht zehn Jahre mehr!«

»Wir sind unschuldig«, sprach Kurt mit Überzeugung.

»Jetzt liebe ich ihn wieder«, sagte sie entspannt und mit bewegter Brust. »Er glaubt noch an die Menschen. Herzchen, hast du eine Ahnung, wieviel Gift sie in Leichen finden? Ganz giftecht soll keine sein, und ob sie einen Angeklagten freisprechen, hängt mehr von seiner sonstigen Beliebtheit ab. Willst du nun behaupten –?«

»Nein. Wir sind nicht einwandfrei – du schon wegen deines Ladens nicht.«

»Einen Einbruch hab ich noch nicht mitgemacht.«

Er zischte, mit einem Gesicht, von dem sie zurückfuhr:

»Du bist die bösartigste Sege in Berlin W 15. Wenn die Polizei dir fast alles zurückbringt, dann hetzt du Kirsch noch eigens auf mich und meine Schwester. Halte die Klappe! Natürlich ließ dir der blaue Stein keine Ruhe. Du – und irgend etwas loslassen, was dir gehört!«

»Besonders dich nicht«, sprach sie dazwischen.

»Das war allerdings die Hauptsache! Eifersucht! Mich in den Fingern halten, bis ich nie wieder herauskann!«

»Ohne mich müßtest du noch immer Mist fahren. Jetzt ist Otto tot, wir können heiraten, du erbst die Bar, mein Gold!«

»Oder wir kommen ins Zuchthaus.«

Die ältere, gefärbte Frau bebte sofort wieder und löste sich auf. Kurt sah seine Chance.

»Du hast aus reiner Bosheit Vicki verdächtigt. Wenn du deinen verfluchten blauen Stein bei einer anderen fändest, was würdest du mit ihr machen?«

»Sie der Polizei übergeben!«

»Dann bist du mich los, das merke dir.«

»Ach so. Du weißt, wo ich ihn mir abholen kann? Hier vielleicht?«

Eine fast unmerkliche Bewegung Kurts zeigte ihr, wo. Sie öffnete die Tür und sah sich Marie gegenüber. Marie hatte es richtig gefunden, stehend aufgerichtet die Eintretende zu erwarten. Es zeigte sich, daß sie einen Kopf größer war als die alternde Person, die überall schlaffe Polster sitzen hatte an Körper und Gesicht. Adele war nicht fett, aber sie hatte getrunken seit langen Jahren. Marie kannte die Wirkung des teuren Trinkens nicht; sie wußte nur, wie man vom Schnaps aussehen wird. Adele in ihrer aufgepumpten Wohlerhaltenheit, fast noch eine Schönheit, blieb ihr rätselhaft. Dagegen fühlte sie: bis jetzt bin ich im Vorteil.

»Darf ich bekannt machen«, sagte Kurt. »Marie Lehning, Adele Fuchs. Marie schneidert hier. Sie ist mit Vicki befreundet.«

»Nur mit Vicki?« fragte Adele nebenbei. Hauptsächlich bewunderte sie Marie. »Fräulein, wieviel wiegen Sie?« fragte sie sogleich mit wirklicher Neugier.

»Hundertdreißig, aber es ist schon lange her.«

»Richtig; und auch sonst stimmt es. Sie haben ein Gesicht, – wenn Sie bei mir Barfrau wären, der Gast glaubt Ihnen jede Rechnung!«

»Lassen Sie das dumme Zeug, ich muß weiterarbeiten.« Marie wendete sich dem Tisch zu.

»Nein, Sie können auch schneidern!« Immer noch gebrauchte Adele den Ton der Bewunderung, ihre Haltung wurde sogar demütig. Sie hob halbfertige Sachen auf, um sie zu betrachten; darunter erschien die leere Tischplatte. Allmählich verlor sich ihre weiße und beringte Hand in einem Korb mit bunten Fetzen.

»Wieviel nehmen Sie, Fräulein, für ein Abendkleid, ich meine, ein – oh!« Sie brach ab, ihre Hand zog sich schnell aus dem Korb zurück.

»Fassen Sie lieber selbst hinein!« verlangte sie, auf einmal verändert.

Marie sah die Person wachsen vor ihren Augen, die ganze Unterordnung ging verloren. Eine Wendung steht bevor, fühlte Marie, sie haben etwas Neues vor! Ihre erste Regung war, sich abzuwenden und das Zimmer zu verlassen. Ich will das nicht wissen! wollte sie sagen. Was aber sofort durchdrang, war das Bewußtsein ihrer Kraft. Bekam sie die Frau mit dem weichen Fleisch je in ihre Hand, dann wehe! Den Jungen, der sich hier ironisch stellte, hatte sie einst auf gereckten Armen über sich in die Luft gehalten, bis er in Krämpfe fiel. Die mochten sich ausdenken, was sie wollten, ganz so mußte es doch wieder enden. ›Ich mache alles mit‹, beschloß sie. ›Meine Stunde kommt nur um so sicherer!‹

Damit griff sie unter die Stoffreste und zog den großen blauen Stein hervor. An seiner Kette, deren Brillanten glitzerten, hing er von ihrem Finger herab, und die Deckenbeleuchtung entzündete in ihm den übertriebenen Glanz von Meeren, die niemand kannte. Der Anblick kam unerwartet, selbst denen, die den Stein schon oft gesehen hatten. Wie sehr bezauberte er Marie! Sie dachte einen Augenblick nichts, nur ihre Sinne waren ergriffen, und in ihrer Tiefe stand etwas auf wie Begeisterung, flüsterte etwas wie Rührung. Sie hatte das Gefühl, reiner und schöner dazustehen. Das ist das andere Leben! Das könnte ich sein! Vielleicht fühlte sie das, – eine Sekunde später war es schon verflossen.

Marie seufzte, sah auf und bemerkte Adele. Wozu die imstande sein mußte, da sie einen solchen Stein besaß! Dieser Gedanke führte Marie mitten in die Wirklichkeit zurück. Ihr wurde bewußt, daß sie gefangen, richtig gefangen war und sich auf keine Weise heraushelfen konnte. Der Stein war in ihrem Korb gefunden worden, und sie war die Freundin dessen, der ihn gestohlen hatte. Zehn Monate hatten sie zusammen auf dem Lande gelebt, und der Stein, der die ganze Zeit in Berlin vergebens gesucht worden war, kam zum Vorschein, sobald sie selbst sich zeigte. So sah es aus. Sogar Kirsch konnte nichts anderes glauben. Wenn er jemals Vicki im Verdacht gehabt hatte, damit war es aus, denn jetzt fand sich der Stein bei einer vorbestraften Diebin!

Plötzlich warf Marie den Oberkörper nach vorn, als ob sie vorstürzte, aber ohne die Füße zu bewegen. Sie zeigte die Zähne wie ein Tier, – Adele und Kurt zogen sich beide eilig zurück.

»Das habt ihr fein gekonnt!« rief Marie rauh.

»Was denn, was denn!« brachte Adele hervor, sie wußte selbst noch nicht, ob zur Beruhigung oder als Gegenangriff. Für Kurt stand es fest, was er wollte.

»Marie!« Er gab sich gleich die äußerste Anspannung. »Der Spaß hatte lange genug gedauert. Du weißt doch, was ich dir immer sagte in dem Kaff, wo wir so lange zusammenhockten. Ich sagte dir: Wir lassen das Ding wieder auftauchen, bevor es zu spät ist. Adele war hinter Vicki her, Kirsch auch schon!«

Das letzte keuchte er. Marie, mit bloßen Zähnen: »Darum muß ich dran glauben!«

»Natürlich lieber du! Hast du den Stein behalten wollen oder nicht?«

»Du sollst mit zwei Sipos –!«

»Nach dir!« erwiderte Kurt ihr, blaß und mit verrenktem Mund. Das zerbeulte Auge unterstützte sein verhängnisvolles Aussehen.

Marie fand im Augenblick keinen Atem. Die Verabredung des Ehepaares, zum Schluß ihres Mittagessens! Plötzlich verstand sie die paar erhorchten Worte. Das waren die Anstifter, die Betrüger. Ihr wurde übel vor Wut; sie griff um sich, sie hielt sich am Tisch fest.

»Nun kommt die Reue nach!« bemerkte Adele. »Daß sich wenigstens noch Ihr Gewissen meldet!« Sie schob Marie einen Stuhl unter.

Als Marie zu sich kam, waren ihre Gefühle umgeschlagen. Dann soll es wohl sein, fühlte sie. Es stimmt alles viel zu gut. Eigentlich haben die Leute recht. Ich komme eben wieder vor den Schnellrichter.

Adele wischte den Stein ab, sie prüfte, ob von der Kette kein Brillant fehlte, dann verpackte sie den Gegenstand in ihrem Handkoffer. »Schluß, er kommt in den Safe«, sagte sie, den Mund streng abwärts gezogen. Kurt kannte ihre nächtlichen Augen, die angenehm verbummelt aussahen. Hier aber machte Adele im höchsten Grade ihre Tagesaugen; er zog es vor, abzuwarten. Für Marie legte er den Finger auf die Lippen, damit sie den Mund hielt. Adele sagte denn auch:

»Jetzt habt ihr nichts mehr zu melden. Gut, daß ihr's einseht! Ich kann mit euch machen, was ich will. Ganz wie ich lustig bin!« Sie verzog den harten Mund, braune Zähnchen erschienen; in all der Schminke lächelte die alte Frau – armselig und schrecklich.

»Ihr habt in gemeinsamer Täterschaft den blauen Stein geklaut, das ist nun heraus. Dafür müßt ihr aber auch beide hübsch artig bei Tante im ›Harem‹ bleiben.«

Sie suchte einen Sitz, Kurt beeilte sich, sie zu bedienen. Da sie das Handköfferchen nicht losließ, dauerte es eine Weile, bis sie saß; Marie konnte inzwischen denken: ›Nicht vor den Schnellrichter? Was will sie? Ist die auch verrückt?‹

Kurt sagte eifrig: »Sehr liebenswürdig, Adele. Schließlich wirst du mir sogar noch dankbar sein. Was ich dir bringe!« Er zeigte auf Marie. »Das hast du im Leben nie gehabt.«

»Keine Übertreibung! Aber das Fräulein könnte passen. Waren Sie schon mal in einem Betrieb?«

»Ich?«

»Als Barfrau«, erklärte Kurt ihr.

Marie wollte rufen: ›Nicht vor den Schnellrichter?‹ Rechtzeitig schloß sie den Mund wieder.

Adele sprach geschäftlich. »Ich stelle Sie ein, Fräulein. Morgen abend halb acht Uhr können Sie antreten. Sie haben Prozente. Wieviel Umsatz Sie machen, ist Ihre Sache. Eins müssen Sie sich besonders merken: Kurt ist mein Süßer.« Sie schob eine bedeutungsvolle Pause ein. »Ihre Vorgängerin hat ihn mir kappen wollen. Noch denselben Abend mußte sie auf das Revier. Das kann ich immer machen. Ich weiß was gegen jede. Schön. Das war das.« Sie klappte hörbar den Mund zu und wackelte mit dem Kopf.

»Noch sieht sie aus wie eine Schneiderin«, äußerte Kurt. »Aber ein Körper! Schultern, Hüften, lange Beine! Ihr Rückenausschnitt – ganz große Klasse! Soviel glatte Haut ohne einen Leberfleck, ohne ein Körnchen hat dein Laden nie erlebt.«

Adele widmete ihm einen Blick, er behielt das weitere lieber für sich. Indes ging sie auf seinen Gedanken ein.

»Blondieren Sie sich! In Naturblond werden Sie immer eine Nummer zu solide aussehen. Ihre Note ist zwar das Solide, darauf fliegen die internationalen Hochstapler, obwohl es jetzt keine mehr gibt. Die anständigen Gäste können das selbst. Schminken Sie sich nicht viel! Hauptsächlich die Augen, helle Augen wirken nicht groß genug in einem langen Gesicht. Das ist der Fehler bei allen Hamburgerinnen.«

»Ich bin keine Hamburgerin.« Es war das erste Wort Maries bei dem ganzen Handel. Kurt machte eine ungefähre Handbewegung.

»Alles aus der Gegend dort oben heißt Hamburgerin, wenigstens jede, die den Typ hat. Ist Adele nicht bezaubernd?« fragte er ohne Übergang. »Ich hatte doch recht, wenn ich dir von ihr erzählte? Jetzt wirst du erst sehen, daß sie auch nett sein kann! Adele, ich habe dir den blauen Stein und die beste Hamburgerin gebracht, außerdem bleibe ich dein Süßer, bis du an Altersschwäche stirbst. Was bekomme ich?«

Bevor er sich bücken konnte, hatte er ihre Hand im Gesicht. »Das«, sagte sie.

Er duckte sich nachträglich. Von unten, mit seinem bösen, bleichen Grinsen zischte er: »Das ist noch nicht heraus. Ich bin jünger als du, Adele.«

Sie zuckte die Schultern. Aber sie fürchtete sich, ihre Bewegung verriet es, als sie aufstand.

Kurt öffnete ihr die Tür. Erst jetzt besann Marie sich; schrill rief sie hinterher: »Gehen Sie nur gleich zur Polizei! Denn in Ihr Lokal komme ich nicht!«

Adele ließ sich dadurch nicht aufhalten. Kurt wendete nur den Kopf und streckte die Zunge heraus. Dann verschwanden die beiden.

Noch während sie die Treppe hinunterstiegen, kam die Frau auf ihre größte Furcht zurück.

»Wenn sie aber bei Otto Gift finden! Hast du vielleicht doch –?« flüsterte sie. Der Junge raunte ihr unter den Hut, in das rote Haar hinein:

»Kann man wissen?«

Aber er war des einen sicher: Vicki blieb heraus aus der Sache! Das machte wahrscheinlich auch ihn selbst weniger verdächtig, sogar was die Leiche betraf. Adele mußte sagen, daß sie den blauen Stein ganz einfach wiedergefunden hatte; dann ließ Kirsch ihn in Ruhe. Vor allem blieb Vicki heraus! Vor Freude schwang er sich auf das Geländer und rutschte es hinunter.

Im Zimmer droben hob Marie eine begonnene Arbeit auf, unschlüssig, ob sie sich hinsetzen und weiternähen sollte. Sie versuchte es. Dennoch stand fest, daß dies schon hinter ihr lag, und daß der nächste Abschnitt folgte. Der nächste Abschnitt sollte sie wieder ein Stück weiter entfernen – von wem?

Sie dachte: ›Ich gehe noch einmal in das Ping-Pong-Zimmer, zu der Karte mit den Weltmeeren.‹


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