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Zweites Kapitel

Marie besserte den Diakonissinnen ihre Sachen aus, dadurch erfuhr man, was sie konnte. Allerdings hatte sie schon zu Hause die Kleider der ganzen Familie Lehning in Ordnung gehalten, dies war nicht weiter beachtet worden. Marie hatte aber nie vergessen, was ihre Schwester Antje ihr geraten hatte: »Du könntest Schneiderin werden! Damit ist immer etwas zu machen. Und was die uns für Geld abnehmen!« Daher ihr Eifer.

Die Diakonissinnen verschafften ihr eine Lehrstelle bei Fräulein Raspe, Große Gröpelgrube in Lübeck. Dort saß sie in einem überheizten Zimmer mit sechs anderen Mädchen, nähte emsig und freute sich, daß es so warm war. Sie schlief und aß im Hause und hätte es daher den ganzen Winter nicht verlassen müssen, wäre sie nicht ausgeschickt worden, die fertige Ware abzuliefern. Damit ging sie in die Geschäfte, die an Raspe ihre Bestellungen weitergaben, manchmal auch zu Kundinnen. Es kam vor, daß ein Angestellter ihr vorschlug, am Abend mit ihr auszugehen. Marie sah ihn verständnislos an und sagte:

»Ich bin man bloß von Dörpen.«

Als einer zudringlich wurde, haute sie sofort. Nach Wegen, die sie nicht wußte, fragte sie nur Kinder. Es kam auch noch vor, daß sie mit ihnen zusammen sich hinsetzte und die vereiste steile Straße hinunterrutschte. Einer Frau, die hierüber schalt, antwortete sie wieder:

»Ich bin man bloß von Dörpen.«

Da sie groß war und das einheimische Gesicht hatte, das länglich war, mit aschblonden Haaren, graublauen Augen, und noch dazu die schönen Zähne und die frische Haut – gingen manche ihr nach, und schon war bekannt geworden: bei Raspe ist eine Hübsche. Nur Marie selbst sprach davon nicht; sie hörte lieber zu, wenn ihre Kolleginnen sich eigener Erfolge rühmten. Daneben traten die ihren zurück, denn bei den anderen hatte es immer gleich Autofahrten und Rumgrog gegeben; das war das wenigste. Sie erzählten ihr aber auch ganze Filme von armen Mädchen, die zuerst von Verbrechern verfolgt, dann aber große Frauen werden, und alles wollte die Näherin selbst erlebt haben.

»Ach!« seufzte Marie, die Wangen gerötet, aber ohne von ihrem Stück Zeug aufzusehen. »Muß das schön sein!« Sie sprach immer noch so langsam und ernst, und dann die kindliche, ganz leicht aufwärts gebogene Oberlippe!

Die anderen tuschelten: »Die glaubt alles. Sie ist man bloß von Dörpen.«

Marie glaubte, was sie in Händen hielt, sonst nichts. Dagegen blieb ihr unklar, daß die anderen sie beneideten und sie aufziehen wollten. Sie hielt das meiste im täglichen Leben noch für Unterhaltung und Spiel, obwohl es doch schon einige Male in ihrem Dasein äußerst schwer und schreckensvoll zugegangen war. Aber trotz allem gewöhnte sie sich bisher nicht völlig an den Ernst. Sonst hätte sie auch nicht so gern und so leicht gearbeitet, wenn sie schon bedacht hätte: ›Das soll immer sein, und davon sollst du dich, und wer weiß wen noch, deine ganze Erdenzeit ernähren!‹ Das bedachte sie nicht, sondern war froh, daß Fräulein Raspe ihr so gutes Essen gab, mehrmals die Woche Grünkohl und sogar Scholle!

Sie brauchte auch noch fast gar kein Geld. Von Fräulein Raspe bekam sie keins und war auf die kleinen Trinkgelder angewiesen, wenn sie in Privathäuser kam. Aber ihre Kleider durfte sie sich schneidern; sie hatte schon mehrere, die fehlerhaft waren, wie man ihr klargemacht hatte, aber sich selbst blendete sie gradezu, wenn sie eins anzog. Sie brauchte wahrhaftig kein Kino. Täglich geschahen packende Dinge, mochte scheinbar nichts verändert sein. Sie trat nur vor den Probierspiegel, was erlebte sie da! Marie, das Tagelöhnerkind, verwandelte sich und wurde eine schöne Dame! Das war allerdings nur der Augenblick der Anprobe, wo sie überdies auf die Fehler des Kleides aufpassen mußte. Gleich nachher saß sie wieder in dem geflickten wollenen.

Diesen ganzen Winter hegte sie eine geheime Hoffnung, die allein genügte, ihn spannend und glücklich zu machen. Mingo sollte sie besuchen … Er versprach es mehrmals auf Postkarten – jedesmal mit einem anderen Hafen darauf. Diesen Winter zuerst wurde Mingo von seinem Vater Merten oder seinem großen Bruder Klaas auf Fahrten mitgenommen und erlernte die Fischerei. Auch er war in der Lehre. Marie dachte, daß er manchmal auch in Gefahr sein müsse, anders war es gar nicht möglich bei den Winterstürmen. Er aber erwähnte es nicht, und auch sie schwieg darüber, wenn sie ihm antwortete. Sie schrieben einander nie etwas Wichtiges, nichts von ihren Gefahren, Überraschungen, Freuden – nur Grüße, und was für Wetter war. Aber die wenigen Male, daß Fräulein Raspe rief: »Marie! Für dich«, klopfte das Herz Maries so heftig, daß sie nicht gleich vom Stuhl aufkam; und sie wußte genau, auch Mingo erschrak vor Freude über ihren Brief.

Im Mai wurde sie nach Hause geschickt, weil Fräulein Raspe jetzt weniger Aufträge hatte. An Stelle eines Hauses fand sie einen leeren Stall vor, darin erlaubte der Bauer, bei dem Mutter Lehning arbeitete, ihnen allen zu wohnen. Es waren zwei Stunden zu Fuß bis Warmsdorf. Marie zog das gelungenste ihrer selbstgemachten Kleider an, um hinzugehen. Der Strand war noch spärlich belebt, aber Mingo war da, und er sah aus wie ein Badegast – städtischer Anzug, seidenes Hemd, feine Schuhe! Beide lachten sie und sagten:

»Dir geht's gut! Das sieht man!«

Er erklärte ihr, daß er den Sommer hier noch mitmache; dann aber wollte er etwas Neues unternehmen, unbestimmt, was. Er war nur entschlossen, nicht wieder einen Winter lang auf der Bank eines Fischerbootes mit dem Hintern anzufrieren und dafür ein Taschengeld zu beziehen. Von seiner Mutter bekam er dasselbe Geld ohne so viele Umstände, und auch der Vater ließ mit sich reden. Streng war sein großer Bruder. Der wollte ihm befehlen. Der sah ihn schon als seinen Angestellten an, denn die ganze Fischerei mit den kleinen Dampfern und den Knechten erbte doch einmal Klaas.

»Ich bin nicht so verrückt, daß ich mein Leben lang bei ihm im Dienst bleibe!«

Marie sagte ernst: »Sicher ist sicher.«

Er fragte: »Na und du? In der Stadt lebt es sich schöner.«

»Ich bin bloß so allein. Hier in Warmsdorf kann ich als Hausschneiderin gehen.«

»Fein. Jetzt bleiben wir beide hier. Zum Winter ziehst du wieder in die Stadt, und ich auch. Den ganzen Sonntag sind wir zusammen, Marie.«

So dachte er es sich. Sie hatte dasselbe gehofft; aber es wurde nicht wahrscheinlicher, als er es aussprach. Es wurde traumhafter.

»Das machen wir«, sagte er ruhig, und ohne sie erst zu fragen, nahm er sie nach Hause mit. Sie wunderte sich, warum sie ohne Bedenken das Haus betrat, zum erstenmal im Leben. Es war noch immer weiß, langgestreckt, hatte Fenster in weiß lackierten Rahmen, und über die vordere Tür hing wilder Wein. Grade gegenüber, am anderen Ende des Flures, stand die hintere Tür offen; man sah durch das ganze Haus in den grünen Garten. Es roch im Flur nach kühler Milch. Mingo öffnete eine Tür. ›In Gottes Namen‹, dachte Marie. ›Ich habe mein gutes Kleid an.‹

Er rief laut »Mama!« und seine Mutter kam aus der Vorratskammer herüber in das Wohnzimmer. »Hol dir nur deine Scholle!« sagte sie vor allem. Da sie inzwischen mit Marie allein blieb, betrachtete sie das Mädchen aufmerksam. Sie sprach auch dabei, aber das war Nebensache.

»Arbeiten will er ja nicht viel. Er war nur schwächlich, wie er klein war. Ich sage immer zu seinem Vater: ist doch genug, wenn einer von den beiden was tut.«

Hier war Mingo zurück. Außer den Fischen brachte er Landbrot und Butter. Er stellte alles hin und lud Marie ein. »Essen Sie!« verlangte auch Frau Merten.

Sie war merkwürdigerweise dunkel mit schwarzen Augen. Sie hatte nicht die Hautfarbe einer Dorfbewohnerin. Marie bemerkte in ihrem Gesicht, wie sie sich entschloß, etwas Freundliches zu sagen.

»Im Winter hat er immer nach Ihnen gefragt. Jedesmal, wenn er an Land kam: ›Mama, ist Marie Lehning im Dorf?‹ Das sind doch Sie. Eigentlich bist du aus dem Tagelöhnerkaten.« Sie sagte du und glitt mit dem Blick über das seidene Kleid.

»Wie der Katen noch nicht weggeschwemmt war«, entgegnete Marie. »Jetzt will ich wieder gehn. Danke auch schön, Frau Merten.«

»Du brauchst nicht fortzulaufen. Geh mit ihm in den Garten!«

»Mama, sie kann schneidern. Sieh mal an, was sie sich selbst gemacht hat! Dein Gutes ist auch nicht mehr neu. Was meinst du, wenn du sie gleich hierbehältst!«

»Lieber erst mal mit Änderungen anfangen. Hier sitzen kann sie dabei auch.«

Die Frau sah beim Sprechen ihren großen Jungen bewundernd an. Marie dachte: ›Die tut, was er will. Er kann es sich aussuchen.‹ Den beiden gegenüber stand Marie auf einer anderen Seite, wo die Notwendigkeit herrschte.

Sie sagte: »Das wird wohl nicht gehen. Ich wohne zwei Stunden fort, und meine Mutter braucht mich.«

Im Garten fragte Mingo: »Willst du wirklich deiner Mutter bei ihrer Arbeit helfen?«

»Warum nicht?« Aber sie errötete und bekannte: »Nein. Ich will alles sein, was ich muß – nur nicht Landarbeiterin, das nicht!«

»Siehst du, und hier könntest du so schön sitzen.«

»Aber nicht lange; und in den anderen Häusern sind Badegäste.«

»Marie!« mahnte er. »Es ist doch mal so, daß wir uns heiraten wollen.«

»Weiß deine Mutter es?«

»Sie glaubt es bloß noch nicht. Aber du kannst es mir glauben! Du kennst mich doch!«

Solange sie seine ruhige Stimme hörte und sein Gesicht über ihres geneigt sah, widersprach in ihr nichts. Sie fühlte einzig: seine dunklen Wimpern nähern sich! Seine Lippen sind warm, sie sind feucht. Dieser Kuß eröffnete ihr, daß er zu seinen blonden Haaren dunkle Wimpern hatte, und daß sein Mund so weich wie der ihre war. Sie blieben wortlos noch beieinander, unvermittelt aber stieß Marie die hintere Gartenpforte auf und verschwand zwischen den Büschen. Sie lief, indes er rief und suchte. Als es still wurde, kehrte sie enttäuscht um und sah aus der Deckung eines Busches, was er machte. Er riß etwas Kraut ab und legte es in einen Korb. Seine Mutter brauchte es für das Vieh. Wenige Handgriffe, dann schien es ihm genug, er hob den Korb auf. Grade kam vom Hause her sein Vater, der gedrungene Fischer mit dem grauen Vollbart und dem Gang des Seemannes.

»Lat mal seihn!« befahl er und entrüstete sich. »Wat? Dat schall allens sin?«

»Vadder, mehr kann ick man nich börn«, behauptete der große Junge. Schnell duckte er sich, denn der Vater hob die Hand, schlug aber vorbei.

»Wotau sleist du een Loch in de Luft, Vadder?« fragte Mingo auch noch. Der alte Merten mußte lachen, und Arm in Arm gingen sie zum Mittagessen.

Auf ihrem Weg über die Wiesen hielt Marie den Kopf gesenkt. Jemand begegnete ihr, sagte guten Tag, aber sie sah nicht auf. Erst auf der Dorfstraße fuhr sie aus ihren Gedanken – und erschrak. Boldts Haus! Der Laden und darin die Frau, die Boldt geheiratet hatte anstatt Friedas!

Marie eilte weiter. So ist er nicht! versicherte sie heftig in ihrem Herzen. Nein, so nicht! Er ist nur unvernünftig, weil er verwöhnt ist. Warum wird er nicht einfach Fischer, wenn sie es bei ihm doch alle sind.

Ohne Übergang dachte sie: ›Ich will alles sein, nur nicht Landarbeiterin!‹ Denn ihr war schon wieder das Bild ihrer Mutter erschienen. Sie wurde es kaum mehr los, seit sie aus der Stadt zurück war und ihre Mutter zum erstenmal richtig erkannt hatte und wußte, wie es wirklich um sie stand. Jetzt begriff Marie: Ihre Mutter hatte schon steife Knochen, schon Knoten an den Händen und das stumme, harte Gesicht der fast bis zu Ende abgenutzten Arbeiterin. Sechzehn Stunden täglicher Arbeit, wie Männer sie tun. Fast bis zu Ende abgenutzt, obwohl nicht älter, als die Mutter Mingos in ihrer schönen Vorratskammer!

Von weitem sah sie Frau Lehning tief gebückt auf dem Felde. Im Stall hockte ihr Bruder Kasper bei einem großen Haufen hölzerner Pantinen, die er selbst gemacht hatte.

»Jetzt sind es genug«, erklärte er. »Jetzt kann ich damit auf die Dörfer gehn und handeln.« Ohne seine Schwester anzusehen, brachte er vor, was er sich zurechtgelegt hatte.

»Wenn du mitkämst, Marie! Den Sommer über ist es schön, umherzuziehen. Die Bauern lassen uns im Heu schlafen, zu essen geben sie uns auch, und was wir verkaufen, ist verdient. Du kriegst die Hälfte vom Geld, – aber ich trage die Pantinen allein«, setzte er hinzu. Er entschloß sich, sie anzublicken. Er hatte eine hohe Schulter von der Haltung beim Schnitzen, das er immer schon trieb. Seine Arme waren zu lang, und sein Gesicht erinnerte an einen Raben.

»Die Leute kaufen leichter, wenn sie eine nette Deern sehn«, gestand er.

Sie lachte. »Das muß ich mir erst beschlafen.« Hierauf wurde sie sehr ernst. Er wartete.

»Es wird wohl seine Richtigkeit haben. Wir wollen zusammen auf die Dörfer gehn, Kasper.«

Die Geschwister machten sich unverzüglich auf den Weg. In den nächsten Dörfern, wo man sie noch kannte, setzten sie auch schon Ware ab. Später sollte es anders kommen, aber das sahen sie nicht voraus und freuten sich. Sie aßen mit guten Freunden, und da sie nicht müde waren, trabten sie trotz einbrechender Nacht immer weiter. Ein Gendarm hielt sie an; sie hatten keine Papiere, da nahm er sie beide mit und schloß sie in seine Wachtstube ein. Am Morgen ließ er sie ziehen, ohne sonst etwas zu verlangen. Sie vergewisserten sich, daß niemand sie sah, und machten, daß sie fortkamen.

Sie meinten, daß dies die Gefahren der Wanderschaft seien, und nach einer Weile lachten sie darüber. Sie waren guter Laune, schlenderten von Hof zu Hof und boten Pantinen an, als ob es etwas Komisches wäre. Damit zerstreuten sie manches Mißtrauen, trotzdem ließ der Absatz nach, hier, wo sie fremd waren. Die Bäuerinnen und die Mägde kauften niemals; Kasper war ein häßlicher Junge, und nach Marie sahen sie ihre Männer schielen. Diese zeigten sich zugänglicher, aber man mußte sie aufsuchen, wo sie unter sich waren, im Wirtshaus. Die Schwierigkeit war, wie Marie die Bewerbungen der Kerle ablehnte und dennoch an sie etwas los wurde. Sie schlug ihrem Bruder vor:

»Wir müssen sagen, daß wir verheiratet sind. Dann lassen sie mich in Ruhe.«

»Dann können wir aber auch gleich nach Hause gehen«, antwortete er. Dahinter suchte sie noch nichts.

Aber an einem heißen Junitage schlich ein Landarbeiter ihr zwischen dem hohen Getreide nach. Sie machte noch Kasper auf ihn aufmerksam. Als ihr Bruder schwieg, suchte sie ihn, er war fort. Sie setzte ihre Last ab; denn auf die Dauer hatte sie mittragen müssen; und sie erwartete ihren Verfolger. Er hatte ein stummes, verwildertes Gesicht. Marie sah, daß mit guten Worten nichts mehr zu machen war. Sie stieß ihm sofort die Faust unter das Kinn. Er fiel hin, umfaßte aber ihre Fußknöchel und riß auch sie mit. Sie wälzten einander lange über den Boden. Als er sie endlich hielt, suchte seine andere Hand nach etwas in der Tasche; inzwischen drückte sie ihm noch schnell ihr Knie in den Magen, so daß er aufschrie. Es war das Ende des Kampfes. Erschöpft saßen sie nebeneinander unter den hohen Ähren. Durch das weißgefleckte Himmelsblau strichen die Schwalben, wie vorher. Der Mensch beugte sich stöhnend über seinen Magen, dann erbrach er. Sie hatte inzwischen bemerkt, daß er ein verhungertes Gesicht hatte. Seine Gier war nicht größer als seine Schwäche, sonst hätte sie ihn nicht besiegt.

Sie nahm aus ihrem Bündel ein Stück Wurst. »Schneide dir selbst ab!« Da suchte er, wie vorher, in der Tasche und holte das Messer, schon aufgeklappt, hervor. Einen Augenblick wollte Marie aufspringen und flüchten. Dann blieb sie sitzen, ob aus Vorsicht oder aus Mitleid. Während er kaute und schlang, erzählte sie ihm, daß auch ihre Mutter eine Landarbeiterin sei, und wie ihr Vater damals vom Hochwasser geholt worden sei. Endlich aß er langsamer, und auf einmal berichtete er selbst, es hörte sich ähnlich und verwandt an. Er brach mitten im Wort ab, weil er sich bewußt wurde, was er grade tat: Er klappte das Messer zusammen. Sie erkannte seine Bestürzung, wollte aber nichts gesehen haben; sie erhob sich einfach. Er half ihr, die Last aufzunehmen. Als sie ihre Richtung einschlug, hatte er sich nach der entgegengesetzten Seite gewendet und beide bewegten sich fort, ohne einander gegrüßt zu haben. Sie hatten die Begegnung hinter sich.

Ihren Bruder Kasper fand sie erst an der Landstraße wieder, und sie sagte ihm nichts. Er fragte auch nicht. Viel später, als es dunkel wurde, versuchte er, zu erklären, wie er sie verloren habe. Im Reden gestand der Junge, er hätte das Gefühl gehabt, daß der Bauer – der Bauer selbst ihnen nachschlich. »Ich kann nicht immer aufpassen. Seit acht Tagen haben wir kein Paar verkauft.«

Marie sagte »Ja«, und so wanderten sie durch die duftende Nacht, ein Gewässer entlang, worin der Mond glänzte. Zwischen zwei Büschen, die vorn noch silbern schimmerten, schloß sich jäh die Dunkelheit, wie vor einer anderen Welt. Marie gedachte der Nächte im Tagelöhnerkaten, wenn sie einst als Kind davon geträumt hatte, so davonzulaufen von der See fort in das tiefe Land hinein. Hier war es nun, mitsamt Menschen und was sie zu bieten hatten, – aber sie fühlte wohl, das meiste war immer noch geheim. Plötzlich sagte sie:

»Märchen, wie in der Schule, kann jeder machen. Wenn nun diese Pantine ein Auto wird, und wir setzen uns hinein und fahren über den Bach, die Brücke baut sich von selbst –«

Sie brach ab, denn ihr Bruder weinte, wenigstens glaubte sie es im Dunkeln seiner Haltung anzusehn; die Töne verschluckte er. Er weinte hoffentlich nicht, weil er ein schlechtes Gewissen hatte, sondern nur aus Entmutigung und Müdigkeit.

Beide hielten richtig bis zum Ende des Sommers aus, wie sie es sich vorgenommen hatten. Das Geschäft war uneinträglich gewesen, weil man von dem Vorrat an Ware zu zweien die ganze Zeit knapp leben konnte. Wären sie nach vier Wochen umgekehrt, hätten sie Geld mitgebracht, aber sie wollten sich nicht auslachen lassen. In Warmsdorf erfuhr Marie, daß Fräulein Raspe sie schon erwartete.

Ihre Arbeit in Lübeck begann wie voriges Jahr, nur daß sie diesmal auch zuschneiden durfte. Sie hatte ungewöhnliche Begabung gezeigt, wie das Fräulein zugab, – Eifer und Fleiß tun es aber auf die Dauer gleichfalls, so erklärte sie den anderen Mädchen. Marie lächelte vor sich hin, nicht wegen der Belehrungen des Fräuleins, sondern weil sie am Sonntag wieder mit Mingo ausgehen sollte.

Er erlernte in Lübeck die Tischlerei, sie sahen einander jeden Sonntag. Vater Merten zahlte dem Besitzer der Werkstatt noch Lehrgeld, anstatt daß der Junge Lohn bezogen hätte, dafür durfte er kommen und gehen, wie er wollte. »Ich bin nicht verrückt, daß ich ihnen umsonst alle Arbeit mache. Papa richtet mir sowieso zu Hause das Geschäft ein, und Aufträge für Tischler gibt es auf dem Lande immer.«

Er drängte, daß sie sogar in der Woche einen freien Tag nähme. Dazu bewegte er sie nicht, aber am ersten Sonntag, der eine helle Herbstsonne brachte, mietete er einen Wagen und führte ihn selbst, denn das konnte Mingo. Er trug einen Raglan und ein zartes blaues Seidenhemd. Er war besorgt, ob Marie lieber ein gelbes an ihm gesehen hätte. Sie aber sah, daß er schön war – das blonde Haar, blonder als ihres, fest um den Kopf gelegt, vorspringender Hinterkopf, wie bei ihr, das Gesicht länglich, wie sie selbst es hatte. Seine Augen standen etwas schräg, das war bei ihr anders, und die Brauen berührten fast einander; er brauchte sie nur wenig zusammenzuziehen, und dann erschien er ihr männlich. Außerdem und vor allem: er war Mingo.

»Du weißt, daß ich dich liebe«, sagte sie einfach.

Ebenso selbstverständlich hielt er in dem nächsten größeren Ort vor dem Gasthaus an und nahm ein Zimmer.

»Warst du hier schon mal?« fragte er, während sie hinaufgingen. Er wollte in seiner Erregung nur etwas sagen.

»Ja, natürlich«, antwortete sie. Es war nicht wahr, aber wenigstens hiermit verteidigte sich ihre Scham – dann keinen Augenblick mehr.

Nachher mußte sie ihn trösten, nicht er sie. Er weinte, statt ihrer. Seine Liebesbeteuerungen schwammen in Tränen, während sie verstummt und glücklich war.

»Ich bin doch treu wie Gold«, versicherte er. Sie aber hielt sein Gesicht in ihren Händen und dachte: ›Wenn es nicht wahr ist, soll es nichts machen. Er soll nicht Schuld haben!‹ Sie führte sein Gesicht ganz langsam dem ihren zu. Jetzt unterschied sie noch die dunklen Wimpern, die gesenkt waren, und jetzt nicht mehr, da schloß auch sie die Augen.

Eine Stunde lang glaubten beide, daß sie das Zimmer nie wieder verlassen würden, oder wenigstens hofften sie es und teilten es einander mit. Wenn es erlaubt gewesen wäre, immer so glücklich zu bleiben! Er schwor: ja, und erdrückte sie in seinen Armen, die heute wunderbar stark geworden schienen. Trotzdem war er der erste, der vom Essen sprach. Sofort gestand Marie, daß auch sie Hunger habe.

Im Gastzimmer hielten sie einander umgefaßt, sobald sie grade nicht Nahrung zum Mund führten. Immerfort suchten die Lippen den anderen, seinen Hals, seine Schläfenhaare, sein einziges Gesicht, das nie auf Erden noch einmal vorkam! Die anderen Gäste achteten auf sie nicht viel, so außerordentlich Marie und Mingo sich fühlten. Sie waren für die älteren Leute wieder ein paar dieser zu jungen Liebesleute, höchstens sechzehn und achtzehn Jahre, wie früher keine geduldet worden waren in voller Öffentlichkeit. Jetzt nahm das alles seinen Gang.

Er zahlte, und sie gingen mit Würde hinaus wie die Großen. Er öffnete ihr den Schlag, stieg selbst von der anderen Seite ein und wußte, während er abfuhr, daß es sich gut ausnahm, und daß keine Bewegung sonst so glatt und leicht herauskam. Inzwischen dachte Marie an die Ermahnungen und Ratschläge, die sie schon längst hätte aussprechen wollen. Heute waren sie nur berechtigter und dringender geworden. Er solle vorsichtig mit dem Geld sein, solle mehr arbeiten und endlich bei der Stange bleiben! Sie meinte aber, das sei zu vernünftig, im Grunde vernünftiger als sie selbst, sie dürfe es vielleicht nicht sagen. Jedenfalls verschob sie es auf den Abend. Da saßen sie indes im Kino und nachher in der Bar. Marie fühlte sich die ganze Zeit heimlich beklommen von ihrem verhaltenen Ernst; aber sie und Mingo versäumten keinen Tanz, und beim Tanzen erinnerten sie einander flüsternd an die Augenblicke dieses Tages. Hinter der Tür des Hauses, in dem Fräulein Raspe wohnte, war es dunkel, und aus den Liebkosungen heraus fragte er plötzlich: »Bleibst du mir treu?«

Sie sah sein Gesicht nicht, sonst hätte er dies auch nicht gefragt; nur in seiner Stimme verrieten sich Sorge und Angst. Sie küßte ihn viermal, das hieß: ›Ich bleibe dir treu‹; und er verstand es. Beim Hinaufgehen, als sie allein war, dachte sie: ›Aber du mir nicht!‹

In ihrem Zimmer machte sie nicht Licht, entkleidete sich und blieb noch auf dem Bett sitzen, obwohl es kalt war. Sie dachte: ›Jetzt bin ich jung, jetzt ist es schön.‹ Denn sie ahnte, daß das Glück und das Unglück von ihr selbst abhingen. Endlich legte sie sich hin und seufzte tief auf vor Glauben und Zuversicht. Sie wußte gar nicht, wie sehr sie auf Mingo vertraute.

Er blieb auch weiter der beste Junge, er liebte, sah hübsch aus und verschwendete nicht, außer für seine Kleidung. Sie nahm keine teuren Geschenke an, obwohl er sich in Briefen an seine Mutter eigens Geld erbettelte. Aber das war ihre einzige, stumme Ermahnung, zu sparen für die gemeinsame Zukunft. Auch erreichte er niemals, daß sie in der Woche das Geschäft versäumte. Sie war eine gute und zuverlässige Arbeiterin, Fräulein Raspe bestätigte es, obwohl Marie jetzt am Sonnabend und Sonntag den Jungen habe. So näherte sich der Frühling, und wie viele herrliche Pläne für die wärmere Zeit hatten Mingo und Marie! Da kam ein Schreiben des Gemeindevorstehers in Warmsdorf, daß Frau Elisabeth Lehning einen Schlaganfall erlitten habe und im dortigen Krankenhaus liege. Marie als Tochter, die Arbeit habe, werde angehalten, für ihre kleinen Geschwister zu sorgen. Angesichts der allgemeinen Lage müsse die Gemeinde dies ablehnen.

Marie besprach sich mit Fräulein Raspe, die gutwillig war. Aber grade zum Sommer konnte sie unmöglich anfangen, Marie zu bezahlen wie eine erste Kraft, obwohl sie gern bestätigte, dies sei Marie. Sie möge doch lieber auf dem Lande zusehen und im Herbst wiederkommen. Marie wußte: ›Es gibt mehr erste Kräfte, es gibt so furchtbar viele Kräfte, und hier war ich gut, solange ich fast nichts bekam!‹ Mingo brachte sie zum Bahnhof. Er fragte nicht viel, was sie zu tun gedenke. Er versprach: »Nächsten Monat komm ich auch!« Das schien ihm für alles zu genügen.

Marie auf ihrer Fahrt zwischen den Leuten der dritten Klasse wußte genau, wie es kommen mußte. Die drei Kleinen, die noch auf dem Bauernhof saßen, sollten dort bleiben, dort war es am billigsten und nahrhaftesten. Das ging nur, wenn auch Marie beim Bauern wohnte. Sie hatte für die Verpflegung ihrer Geschwister aufzukommen, und das konnte sie nicht mit Schneiderei. Was gab es während des Sommers in Warmsdorf zu tun, und dort nähten schon mehrere! Nein, sie mußte für ihre Mutter einspringen und dieselbe Arbeit verrichten, mit der ihre Mutter die Kinder ernährt hatte. Es gab keinen Ausweg, sie mußte.

Sie dachte beschwörend: ›Damit bin ich noch nicht, was Mama war! Das hat nur seine Zeit, und höchstens sechs Monate, dann kommt es auch mal anders!‹ Dabei strich sie mit der Hand über ihr seidenes Kleid. In dem seidenen Kleid besuchte sie auch noch ihre Mutter, die gelähmt dalag und sie nur ansah mit stummen, harten Augen. Statt ihrer sagte der Arzt:

»Das ist die Quittung für ein arbeitsreiches Leben.«

Er machte mit der Hand eine Bewegung – weiter als er wußte und wollte, sie reichte über die Krankenbetten hinweg, sie führte hinaus und von abgenutzten Frauen zu denen, die vielleicht besser abschlössen. Die hatten begriffen, daß das weibliche Geschlecht sich bezahlt machen kann und allenfalls das Leben sichert, ohne daß die Frau sich verunstaltet durch Arbeit, sich abstumpft durch immerwährende Ermüdungen, bis sie ganz vergessen hat, was sie einst war, und endlich stillsteht wie eine zersprungene Maschine, – als hätte sie nie geliebt, nie Kinder geboren –, kein Menschenrest ist übrig, nur die dauernd unbrauchbaren Trümmer eines Dinges.

Die Tochter setzte an, um den Doktor zu fragen, ob ihre Mutter noch mal aufkommen werde. Aber sie ließ es. ›Die arbeitet nicht wieder‹, dachte sie und ging hin, um auf dieselbe Art das Essen zu verdienen – den Sommer über, länger nicht! Mehr ließ sie sich bestimmt nicht gefallen! Dafür bin ich nicht auf der Welt. Das ist schon zu lange her, daß ich wie die Leute hier war. Mit den Pantinen über die Dörfer, war schließlich ein Spaß. Diesen Sommer vertreibe ich mir mit Kartoffelpflanzen!

Denn damit fing es an – und war gar nicht schwer, so antwortete Marie den Arbeitern und Tagelöhnerinnen, die nur darauf warteten, sie auszulachen. Nein, lieber lachte sie selbst. Löcher in die Erde machen sollte eine Arbeit sein? Das konnte jeder. »In der Stadt lernt man Sachen, die sind schwerer!« Am Abend aber hatte sie sich viele hundert Male gebückt und kam kaum noch hoch. Gleichviel, sie zeigte es nicht.

Im Mai, während der Heumahd, meldete sich jemand aus Warmsdorf mit Grüßen von Mingo. Er war zu Hause und erwartete sie am Sonntag zum Tanz. Nach so langer Zeit zog sie sich wieder an und legte Teint auf, sie hatte schon bald eine Farbe wie die wirklichen Landarbeiterinnen! Das Lastauto, das sie mitgenommen hätte, fuhr am Sonntag nicht, sie mußte gehen. Es war warm nach dem Mittagessen, Marie wunderte sich, welche Mühe ihr der Weg machte. Erst nach einer Stunde fiel ihr ein, es könnte von der Arbeit aller dieser Wochen sein. Das wollte sie nicht! Sie schlief doch jede Ermüdung aus und war wie vorher! Sie war doch jung!

Um so mehr tanzte sie, und wirklich, das spürte man gar nicht. Sie lag im Arme Mingos, wie es früher war, und während er sie langsam umherdrehte, flüsterten sie dasselbe wie immer. Nichts war dazwischen gekommen – immer gleicher Blick in dies Gesicht, immer gleiches Gefühl an dieser Brust. »Du bist wieder noch hübscher geworden.« – »Du aber auch.«

»Ich war dir auch treu«, sagte der Junge. Sie rühmte sich ihrer Treue nicht erst, und er sah keinen Grund, zu fragen. Dagegen meldete er:

»Meine Mutter glaubt mir jetzt auch, daß wir verlobt sind.«

»Was sagt sie dazu?«

»Gar nichts. Die hilft mir schon.«

Fliederduft und Sterne, und ihr Mingo begleitete Marie zurück über die Felder. Sie bewegten sich, die Schläfen gegeneinander geneigt, die Hüften wie zusammengewachsen, und immer langsamer. Bald fielen sie ins Heu. Marie erwachte, als der Morgen graute, sie fand sich noch immer an derselben Stelle, wohin sie mit Mingo gefallen war, – aber allein. Sie schämte sich ihrer übergroßen Ermüdung, unter seinen Küssen war sie eingeschlafen! Als er sie nicht aufrütteln konnte, hatte er sich natürlich nach seinem Bett gesehnt und war gegangen. ›Meine Schuld, aber es soll nicht wieder vorkommen.‹

Den nächsten Sonntag blieb sie lieber auf dem Hof und beschäftigte sich mit ihren kleinen Geschwistern. Bis Mittag hielt sie dies für das Vernünftigste, und bis drei Uhr versuchte sie immer noch zu glauben, daß Mingo gar nicht erst das Tanzlokal betreten werde, weil sie nicht da war. Um halb vier überlegte sie, was gefährlicher sei, ihn allein zu lassen oder noch ermüdeter als das erste Mal hinzulaufen durch den Staub. Um vier wußte sie, daß sie das Falsche gewählt hatte. Sie fand weder Ruhe noch Entschluß, wollte sich umkleiden, ohne sicher zu wissen, ob sie aufbrechen werde, – da fuhr ein Mietsauto in den Hof und Mingo schwang sich vom Führersitz.

Er bemerkte nicht einmal, daß sie Arbeitskleidung trug; er zog sie sofort bis hinter den Stall. »Ich war wie verrückt«, sagte er. »Ich hab überall nur deine Augen gesehn!«

Sie seufzte: »Was ist an ihnen Besonderes!« Aber sie sah ihn an und kannte ihre Macht.

Er blieb bei ihr bis in den späten Abend. Sie vermied es, den Leuten zu begegnen, er war zu gut angezogen. Sooft sie sich hinsetzten, legte er seinen Trenchcoat unter, der durfte Flecken bekommen. Obwohl ein Gewitter heraufzog, fuhr sie ein Stück mit ihm, damit das Zusammensein auch noch diese Minuten dauerte. Beim Abschied versprach er: »Nächstes Mal hole ich dich mit dem Wagen ab.«

Darauf wartete sie am folgenden Sonntag vergebens. Sie hatte sich schön gemacht und saß jetzt auf ihrem Bett, in dem Winkel des ehemaligen Stalles, hinter dem baumwollenen Tuch, das sie als Vorhang aufgespannt hatte. Draußen spielten und schrien die Kinder. Die Leute lärmten im Wirtshaus, auch das war zu hören über die weite Stille der Felder hinweg. Mingo segelte vielleicht mit Badegästen. Den Verdienst durfte er nicht verlieren. Nein! Geld bekam er leichter von seiner Mutter. Wenn aber sein großer Bruder ihn zwang? Nein! Mingo ließ sich nichts gefallen. Er tat nur, was ihm grade paßte, und darum vergaß er heute Marie, so sehr sie einander lieb hatten. Er war flüchtig, sollte es immer bleiben, und auf ihn zu bauen für alle Zukunft, wäre unvernünftig.

Am Montag aber kam sein Brief; er hatte wirklich gesegelt und sich beim Abspringen vom Boot den Fuß verstaucht. Sie möge ihn doch bald, bald besuchen. Das tat sie schon am Mittwoch, sie hielt es nicht länger aus, heimlich lief sie von der Arbeit weg. Sie dachte ihn zu Hause zu finden, er bewegte sich aber schon wieder am Strande, wenn er auch leicht hinkte. Er kannte mehrere Jungen, die Badegäste waren, aber weniger danach aussahen als er. Marie erinnerte sich erst jetzt, daß sie in ihrem alten Kleid herbeigeeilt war, ihm dagegen machte es nichts aus. »Das ist meine Braut«, sagte er zu den anderen Herren. Die geplante Kartenpartie im Strandpavillon wurde darum nicht aufgegeben.

Marie saß dabei, sie wurde immer müder, bis sogar Mingo es bemerkte.

»Komm nach Hause, Marie! Mama gibt dir ein Zimmer.«

»Ja, das wohl.«

»Aber?«

Sie dachte: ›Dann ist seine Mutter sich darüber klar, daß wir niemals heiraten werden.‹

Daher machte sie auch noch den Rückweg zu Fuß, und er ließ sie gehen, ihr Widerstand hatte ihn verstimmt.

Natürlich versöhnten sie sich, er holte sie mit dem Wagen ab, sie aber zeigte ihm, daß sie die Nacht durchtanzen konnte und dennoch am Morgen zur Arbeit zurückkehrte, als hätte sie ausgeschlafen. Immer ging es zwar nicht, und wie Marie sich sträuben mochte, sie fühlte Abstand entstehen, je mehr der Sommer vorrückte, zwischen ihr, die Essen beschaffte, und ihm, der am Strand lungerte. »Bist du eigentlich nur noch Badegast?« fragte sie einmal. Darauf hielt er eine ganze Rede.

»Nun sagst du das auch schon! Damit liegen sie mir doch zu Hause genug in den Ohren! Warum ich nichts tue! Ich tue nichts, weil mein Meister mich den Sommer über fortgeschickt hat. Es gibt keine Arbeit. Jawohl, ich bin arbeitslos. Abgebaut bin ich, grade wie du!«

Marie dachte: ›Ich arbeite doch!‹ Aber da es ihm nicht einfiel, schwieg auch sie darüber. Mingo entrüstete sich.

»Immer wollen meine Leute, daß ich mit ihnen zum Fischen fahre. Und meine Hände? Ich hab nun doch mal ein Handwerk gelernt, Feinarbeit in der Tischlerei, – soll ich mir mit dem Fischen die Hände verderben? Das wollen sie nicht einsehen, nur Mama, die hält zu mir. Sie meinen nicht mal das Geld, das ich verdienen soll, mein großer Bruder kann bloß nicht leiden, daß jemand in der Woche seidene Hemden trägt. Was will er, von ihm verlang ich doch nichts. Ich bin sogar auf das Arbeitsamt gegangen nach Travemünde und hab mich arbeitslos gemeldet!«

»Ach! Haben sie dir etwas gegeben?«

»Bis jetzt noch nicht. Erst haben sie mich gefragt, wo ich wohne. Bei meinen Eltern. Was mein Vater verdient. Ich sage: eine Menge, mit der Fischerei, den Dampfern und so! Wieviel Taschengeld ich kriege. Ich sage: Es geht. Ob wir auch ein Auto haben. Nein. Dann werden wir Ihnen eins verschaffen, sagt der Mann. Hat er mich nun verkohlen wollen? Ich bin doch bloß der Ordnung wegen hingegangen!«

So war Mingo. Er schloß seine Rede mit voller Überzeugung. »Ich freue mich gradezu, daß ich jetzt bald wieder in die Stadt komme und arbeiten kann. Dann muß ich die guten Lehren nicht mehr hören. Dann kommt meine süße Marie auch wieder mit, und dann ist es so schön, wie es war!«

Er hielt den Arm um sie, er war groß und breit, seine langsame Stimme klang ernst und zuverlässig, ja, eine Träne der Rührung lief über sein Jungengesicht.

»Ich komme auch mit!« wiederholte Marie, ohne die Träne, aber entschlossen.

Der Sommer war noch kaum zu Ende, da packte sie schon ihre guten Kleider ein, bat den Bauern, die Kleinen dort zu behalten, sie werde für sie zahlen, und fuhr nach Lübeck. Fräulein Raspe empfing sie mit sonderbaren Blicken.

»Ich dachte, du heiratest jetzt endlich, Marie.«

»Ja«, sagte Marie. »Aber bis er seine Tischlerei hat, muß ich meine drei Geschwister ernähren.«

»Das auch noch? So viele können von meinem Geschäft nicht leben, Marie, die Zeiten werden immer schlechter. Wenn du allein wärst und nur wenig Bargeld brauchtest –«. Fräulein Raspe unterbrach sich. »Was hast denn du für Hände?«

In ihrer Verwirrung hatte Marie ihre weißen Zwirnhandschuhe abgezogen, und die waren eigens bestimmt gewesen, ihre zerarbeiteten Hände zu verdecken. Man mußte sie doch nicht gleich beim Antritt zeigen! Als Fräulein Raspe sie aber bemerkt hatte, bekam ihr Gesicht etwas Verschlossenes; Marie sah sofort, daß es jetzt für das Fräulein nichts mehr zu überlegen gab. Hier war es aus.

Beim Abschied sagte die Schneiderin:

»Von mir gehst du natürlich zu den anderen. Behalte nur überall deine Handschuhe an! Es kommt immer noch früh genug heraus, daß deine Hände schwer geworden sind. Außerdem haben die anderen auch nicht genug Geld für euch vier. Warum willst du nicht auf dem Lande bleiben? Die Arbeit ist doch gesünder. Ich konnte mir dieses Jahr keine Sommerfrische leisten!«

Marie versuchte es weiter, aber die anderen Schneiderinnen standen meistens noch schlechter und boten ihr noch weniger. Den Bauern hätte sie davon nicht bezahlen können, sie hätte für alle vier ein Zimmer in der Stadt nehmen müssen. Wie sollte sie dann aber ihre Geschwister pflegen und beaufsichtigen. In der Mittagspause, die je nach der Arbeit kürzer, länger oder nur grade ausreichend zum Essen war? Sie kämpfte darum, hier zu bleiben, bis ihr Geld grade noch für die Karte nach Warmsdorf reichte. Sie kaufte aber noch keine, sondern gab die Schlafstelle auf, die eine arme Frau ihr vermietet hatte, hungerte den ganzen Tag und verbrachte die Nacht in den Anlagen.

Während der wenigen Augenblicke, die sie einnickte, hoffte sie auf Mingo. Er begegnete ihr in einer Straße; die Vorübergehenden hatten weiße Bärte, traurige Gesichter, Mingo aber lachte unbesorgt, reichte ihr die Hand, und sie waren angelangt. Erwacht, dachte Marie nach, wo sie wohl angelangt gewesen waren? Mingo wußte gar nicht, wo sie umherging, und was ihr hier zustieß. Er war keiner, der danach fragte – oder der sie suchte und fand, sogar an dieser dunklen Stelle der öffentlichen Anlagen, des Nachts. Auf ihn hoffte Marie nur im Traum.

Sie ging in den Bahnhof, um sich zu waschen. Durch das Fenster konnte sie einen Zug ankommen sehen, und was ihr auffiel, ein Mädchen lief ihm entgegen. Es winkte nicht, auch von den Leuten, die in den Fenstern lehnten, grüßte keiner von weitem. Es sah einzig der Lokomotive entgegen, lief mit unsicheren Füßen auf der äußersten Kante des Bahnsteiges, und ihr Gesicht war voll schmerzlichen Mißtrauens, als fände sie die heranbrausende Lokomotive noch nicht schnell genug. Schon hatte aber die große Maschine das Mädchen überholt, enttäuscht blieb es stehen, sein Kleid flog auf von dem Wind, den der fahrende Zug machte.

Marie begriff, was jenes Mädchen gewollt hatte. ›Das hat sie nötig? Das wäre doch ein Verbrechen gewesen! Wegen der Arbeit, des Essens tut sie das? Oder wegen eines Jungen, oder weil sie noch eine Zeitlang Geduld haben muß? Nein!‹ entschied Marie, ›jetzt steig ich in diesen selben Zug. Wir werden schon sehen. Ich komme wieder!‹

Der Bauer empfing sie: wäre sie noch länger fortgeblieben, hätte er die Kinder der Gemeinde geschickt. »Ich tue sowieso nur meine Menschenpflicht, wenn ich euch alle den Winter durchfüttere. Außerdem geh mal nach Brodten. Aus dem Krankenhaus haben sie deine Mutter entlassen, weil sie wieder ein bißchen kriechen kann. Jetzt ist sie in Brodten im Armenhaus.«

Am nächsten Sonntag besuchte Marie ihre Mutter. Statt des harten Gesichtes, das sie kannte, fand sie ein geängstigtes. Auch sprach Frau Lehning mehr als früher, obwohl sie darin behindert und nicht mehr ganz zu verstehen war. Aber sie mußte sich über die Kost beklagen. Nur darauf kam sie unaufhörlich zurück, sie fürchtete zu verhungern! Die Tochter sah sie essen und wunderte sich; es war mehr, als Elisabeth Lehning in ihrem ganzen Leben gehabt hatte. Einst hatte sie alle Nahrung, die aufzufinden war, ihren vielen Kindern überlassen. Auch was sie unter der Schürze mitbrachte bei ihrer Heimkehr von der Feldarbeit, mußte sie sogleich verteilen an alle die Hungrigen, die in dem Katen große Augen machten.

Jetzt erst, da sie alt war und nicht mehr arbeitete, erinnerte sie sich ihres eigenen Hungers und wollte zum Schluß alles nachessen, was sie sich vorher entzogen hatte. Kein anderer Gedanke beschäftigte ihren geschwächten Kopf, davon sah sie geängstigt aus. Sie hielt die Tochter am Kleid fest und jammerte nach Essen. Marie versprach, es ihr zu bringen, und sie ging, von Schrecken gepackt.

Auf ihrem nächsten Weg nach Brodten hatte sie die Manteltaschen voll von Eiern und Butter. Den Schinken, den sie zum Frühstücksbrot hätte essen dürfen, sparte sie auf und nahm ihn mit, Eier und Butter waren unerlaubt, aber sie kamen ihr von selbst unter die Hand, denn Marie kochte jetzt auch. Die andere Arbeit reichte im Winter nicht aus. Der Bauer vertraute ihr seine Vorräte an; schon nach zwei Wochen ließ sie eine ganze Mettwurst mitgehn, Frau Lehning hatte danach geweint wie ein Kind. Es dauerte auch nicht lange, bis an ihrer rechten Hand, die sie zuerst noch unter dem Mantel versteckte, eine Gans hing. Etwas mehr Zeit brauchte sie, um sich daran zu gewöhnen, daß alle, die ihr begegneten, die Gans oder die Speckseite offen neben ihr schaukeln sahen.

Endlich hatte sie vergessen, daß es auffallen konnte und daß es verboten war. Sie behielt, als der Winter halb vergangen war, nichts mehr übrig von der Menschenfurcht, die man in der Stadt erlernte, und von dem Gesetz, nicht zu essen, wenn man nichts besaß. Ein grader Weg führte von der Vorratskammer des Bauern zu dem Armenhaus in Brodten, das war die richtige Bahn für Marie, denn es war die natürliche. Sie hatte eine Mutter, eine alte Landarbeiterin, die nach ihren lebenslangen Entbehrungen um eine Wurst weinte wie ein Kind. Die mußte essen, und auch die drei Kleinen im Stall mußten essen, – sonst hätte Marie lieber in der Stadt ein sitzendes Leben geführt, ihre Finger, die um die Hälfte schmäler wären, strichen über weiche Stoffe, und schon am Sonnabend nach Geschäftsschluß ginge sie selbst in Seide!

Sie bekam wieder ein einfaches Gesicht, ohne Erwartung, ohne Eile. Im vorigen Jahr hatte sie sich immer auf etwas gefreut, vor etwas gefürchtet – die Wege zu den Kundinnen, die Kleider, die sie sich selbst machte, und alles, alles was auf sie eindrang mit Mingo. Sie dachte daran wenig und unbestimmt, weil ihre gröberen Sorgen, die so nahe lagen, jenen Abend in der Tanzbar und diese von Küssen erstickte Stunde weit zurückdrängten. Sie las einen Brief von Mingo, ja, dann bekam das andere Leben wieder Blut, sie glaubte nochmals daran und lächelte für Augenblicke mit einem hier unbekannten Gesicht.

Mingo fragte, was sie so lange dort mache, er verstehe sie nicht mehr. Er war ihr treu, wie er schrieb. Jedenfalls hatte er nichts vergessen, das bewies die Mühe, die er sich mit dem Brief gab; und keine andere ersetzte Marie, das begriff sie. Gern hätte sie es ihm gesagt, aber schon die Finger, mit denen sie schreiben wollte, verboten ihr, in Worten seine Stirn und seinen Körper zu liebkosen; denn die Finger selbst waren dafür verdorben. Statt dessen schickte sie ihm Karten – nicht mit der Gegend oder dem Hof, sondern mit einer Rose, einem schönen Mädchen.

Nur zweimal schrieb er im ganzen, aber dann verlor sie für Wochen ihre gedankenlose Ruhe. Ihr fiel ein, daß sie einst hergekommen war – schon gleich ein Jahr, und damals hatte sie sich beinahe als Gast angesehen. Sie wußte, es gab Werkstudentinnen, die vorübergehend auf den Feldern halfen. Alles andere, nur nicht Landarbeiterin! Das war ihr fester Vorsatz gewesen. Genau so wollte aber früher ihre Mutter, die doch alle Härten der Armut und selbst ihre Schrecken gekannt hatte, – eins wollte sie nicht, gegen eins kämpfte sie an: das Armenhaus in Brodten, und grade dort mußte sie landen. Marie dachte eine Woche lang: ›Es hat nichts geholfen. Ich bin nun doch Landarbeiterin!‹ Dann erstarb langsam der Schrecken. Marie bekam wieder ganz und gar das Gesicht, das sie nur hier hatte, es ging bis zur Einfalt, und das langsame Sprechen bis zum Dösen.

Der Bauer sah sie einige Male merkwürdig an. Anfangs fürchtete sie: wegen der Gänse und des Specks. Später bemerkte sie, daß es zusammenfiel mit den Briefen von Mingo. Das erste Mal bemerkte der Bauer nur, daß sie nachher anders wurde. Beim zweiten rief er sie schon in ungehaltenem Ton, um ihr den Brief zu geben. Er ließ die Wirkung vorübergehen, dann wollte er ihr etwas mitteilen, sie waren im Haus grade allein; er verschob es aber. Der Bauer war grau und knochig, ein fünfzigjähriger Witwer ohne Kinder, der nie die Zähne auseinander- und die Pfeife selten herausnahm. Als er Marie das zweite Mal so nachdrücklich beobachtete, wußte sie, was er sich überlegte.

Eines Abends, die wenigen Leute hatten die Stube schon verlassen, räumte Marie langsamer auf als gewöhnlich. Der Bauer begann endlich:

»De Stall is upp de Läng man keen Hüsung.«

Sie meinte, es müsse dabei bleiben. Im Hause war nur die eine Schlafstube. »Ja«, erwiderte er nach einer Weile, »und dann das Zimmer mit den Schränken.« Darin war das Leinen, und auch noch die Sachen der Frau lagen dort. »Die könnten heraus«, erklärte er, »und die Betten der drei Kinder könnten hinein.« Auf die Art erfuhr sie, wo ihr eigenes stehen sollte: neben seinem.

Ihre Antwort blieb aus, endlich fragte er nach ihrem Bruder Kasper. Nein, gestand sie, von Kasper hörte sie nichts. Sie wußte ebensowenig, wo ihre Schwester Antje hingekommen war, und wer von den Ihren noch lebte. Sie mußte allein für die Hiergebliebenen aufkommen, die Gemeinde verlangte es, und wenn sie fortgehen wollte, wohin dann? Sie sagte es gelassen, er konnte weder einen Wunsch noch eine Zusage heraushören. Er horchte und gab sich Mühe, genau zu verstehen. Er war schwerhörig, sie mußte laut sprechen. Trotzdem gab er ihr die Hand, als wäre die Sache in Ordnung, und sie nahm sie auch. Gleich darauf wurde sie blaß und trat von ihm weg. Was sie jetzt sagte, kam viel schneller, sie sprach auch leiser, ohne an sein Gebrechen zu denken. Er verstand sie nicht, aber sein Gesicht wurde ungehalten, wie bei der Ankunft des zweiten Briefes von Mingo. Darauf sahen sie einander nicht mehr an, bis Marie die Stube verließ. Bevor sie die Tür schloß, rief der Bauer ihr nach:

»Du kannst es dir überlegen, Marie!«

Es wurde April, das Düngen und Graben hatte begonnen. An einem Sonntag gegen Abend kehrte sie von Brodten zurück, da sprang hinter einem Knick ein Mann hervor. Sie blieb stehen und hielt ihre Fäuste bereit, er kam aber munter auf sie zu und zog den Hut. Marie bemerkte, daß alle seine Bewegungen schnell waren, den Sprung aus dem Busch hatte er auch nur auf seine natürliche Art gemacht. Dazu stimmte, daß er zwar abgerissen, aber städtisch gekleidet war. Die Lackschuhe glänzten sogar noch, obwohl Erde daran klebte.

Wo hatte Marie dieses überhebliche Lächeln schon einmal gesehen? Es mußte sehr lange her sein. Überheblich, hinterhältig, und doch nur ein blasser, armseliger Junge, der bettelte.

»Hätten Sie nicht zufällig irgend etwas zu essen bei sich, Fräulein?« fragte er leichthin, als wäre es Nebensache. Als sie aber nichts hatte, verzerrte sich sein Mund.

»Das sagen mir nun die vollgefressenen Landbewohner seit vier Wochen. Dabei soll man bestehen!«

Sie wollte weitergehen, erstarrte aber, denn er hatte gesagt, oder wenigstens hatte sie gehört:

»Sie sind doch Marie Lehning.«

Sie wartete, ob er es wirklich gewesen war, und richtig wiederholte er:

»Natürlich bist du Marie!«

»Dann bist du Kurt«, stellte sie fest.

»Noch immer Kurt Meier«, gab er zu und griff nach ihrer Hand, die er schüttelte. »Zehn Jahre, und jetzt sehen wir uns doch noch wieder! Du mußt mittlerweile achtzehn sein, denn wir sind siebzehn, ich meine uns Zwillinge, meine Schwester und mich. Wir waren ein Jahr hinter dir, Marie. Nun sprich auch mal ein paar passende Worte!«

Sie ließ ihn wohl allein reden, aber vieles bewegte sie. Beim Anblick des wiedergefundenen Kurt stand sie auf einmal unter dem schönsten Sommerhimmel ihrer Kindheit, sie lief im weichen Seewind über den Strand mit einem Jungen, einem Mädchen, und zu ihr stieß Mingo, ihr Freund. Jetzt? Jetzt hatte Mingo sie verlassen, so sah sie plötzlich, dieser aber war wieder da. Ihr Vater war inzwischen von der See geholt, Frieda von der Bosheit der Menschen, und wo blieben Antje, Kasper und die anderen? In Brodten saß ihre Mutter, und einsam über die dunkelnden Felder ging Marie, heute wie immer, und nie kam einer ihr entgegen. Da sprang Kurt aus dem Knick und war wieder da. Dies bewegte sie, und als sie es ganz begriffen hatte, erwiderte sie sein Händeschütteln. Er bemerkte:

»Na, das hat ein Weilchen gedauert. Dafür ist es goldecht, wie, Marie? Ich freue mich aber auch ehrlich, glaube es mir!« Hierbei verlor er den letzten Rest seiner Überheblichkeit. Er lächelte nicht mehr, als machte er sich einen Witz mit seinem eigenen traurigen Zustand ebenso wie mit Marie. In dem Augenblick erkannte sie ihn kaum wieder, daher wurde sie befangen.

»Ihnen geht es wohl schlecht?« fragte sie.

»Ihnen?« wiederholte er. »Du kannst ruhig du sagen. Erstens bin ich der altbewährte Kurt Meier, und Geld? Geld scheinen wir beide nicht zu haben.«

»Wie ist das bei dir gekommen?«

»Wollen wir uns hinsetzen?« Er suchte nach einer möglichst sauberen Stelle. »Ich habe nur den einen Anzug mit«, erklärte er.

»Du wanderst schon vier Wochen?«

»Nein, wieso?«

Er hatte seine eigene Angabe vergessen. »Ich habe mich herumgetrieben, allerdings, es war nötig.«

Seinem Gesicht sah sie an, daß bei ihm wirklich alles in schlimmster Unordnung war – nichts einfach und gleich zu erzählen, weder die Sachen, aus denen er kam, noch was ihm bevorstand. Sie legte die Hand auf seine Schulter, um ihn zu beruhigen. Langsam sagte sie:

»Du kannst Arbeit bekommen, Kurt. Noch hat der Bauer die Leute nicht alle aufgenommen.«

»Mich wird er behalten?« fragte er ungläubig.

»Wenn ich ihm zurede.«

»Ach, dann!« Er betrachtete sie von oben bis unten, sie wurde rot dabei. Sie wäre aufgestanden und hätte ihn dagelassen, aber war er nicht hilflos? Sie stellte nur fest, daß er schon wieder ein unverschämtes Lächeln zeigte.

»So warst du schon mit neun Jahren«, sagte sie.

»Und ich habe noch dazugelernt«, meinte er. »Obwohl du es mir längst ansehen könntest, daß ich dich die ganze Zeit bewundere, Marie, jetzt mußt du es erfahren. Du hast dich über Erwarten entwickelt.«

»Dummer Junge! Bei den Lehningschen Mädchen ist das immer so.«

»Was dieser Typ überhaupt nur liefern kann –«

Er betrachtete sie nochmals, es bedeutete: das hast du. »Was macht Mingo?« fragte er und schlug sich vor die Stirn. Sie wich aus.

»Und die Berliner Mädchen sind anders? Du kommst doch aus Berlin?«

»Ja, ja.« Er stand auf und nahm sofort den schnellsten Schritt an, Marie hatte Mühe ihn einzuhalten, gesprochen wurde nicht. Vor dem Hof blieben sie stehen, beide gleichzeitig.

»Ich möchte nicht stören«, sagte Kurt.

»Warte mal solange hier draußen!« Marie trat ein.

»Da ist ein Arbeiter«, berichtete sie dem Bauern.

»Hat er Papiere?«

»Ich kenne ihn auch so. Schon sehr lange, da waren wir beide klein. Die Leute waren einmal Badegäste.«

»Ach so. Das kann ich dann wohl nicht brauchen.«

»Der ist ein fixer Junge. Er arbeitet, ich passe auf ihn auf. Sie dürfen es ruhig versuchen.«

Der Bauer kratzte sich den Kopf, er wurde mißtrauischer, je mehr Marie sprach.

»Soll er hereinkommen?« fragte sie. Er antwortete nicht, er ging selbst hinaus. Beim Anblick Kurts bemerkte er:

»Na ja.« Er ließ sich Zeit mit der Abschätzung der blassen, windigen Gestalt, schließlich verweilte er bei den Lackschuhen.

»So was will jetzt auch arbeiten! Du machst doch nach zwei Stunden schlapp!«

Kurt entgegnete mit seinem frechsten Gesicht:

»Ihr Urteil ist abwegig, mein Herr. Wie Sie mich hier sehen, habe ich mal einen Jungen aus dieser Gegend verprügelt, das hätten Sie auch nicht geglaubt. Marie kann es bezeugen. Mingo hieß er, wie, Marie?«

Hierauf blickten Marie und der Bauer einander ratlos an. Zuletzt kam der Bauer zu einem vorläufigen Entschluß: »Laß ihn bei den Knechten in der Scheune schlafen!« Damit begnügte Marie sich. Kurt sagte sogar: »Heißen Dank!« Alles, was sie ihm zu essen brachte, verschlang er, und er schlief schon längst, als die Knechte ins Heu krochen.

Der Bauer tat am Morgen, als hätte er den Vorfall vergessen. Mittags aber fand Marie auf dem Tisch eine offene Karte von Mingo, er zeigte an, daß er bald aus der Stadt zurückkehre. Er habe ausgelernt, »jetzt kommt die Überraschung«. Hierauf folgte nichts mehr, sooft Marie auch die Karte umwendete. Unvermutet sah sie auf und ertappte den Bauern: der hatte schon vorher gelesen, was Mingo ihr schrieb! So wütend sah er aus!

Beim Essen sprach er kein Wort; erst als sie hinausging, knurrte er:

»Dein Freund ist wohl nur fürs Fressen hier. Auf dem Feld hab ich ihn noch nicht gesehn.«

Marie holte sofort Kurt.

»Du bist eingestellt.«

Sie ließ ihn einen Kartoffelacker umgraben. Nach zwei Stunden sah der Bauer nach, was der Neue gemacht hatte. Natürlich merkte er, daß dies nicht die Arbeit des Jungen war. Marie hatte für zwei gegraben. Merkwürdig, der Bauer sagte nichts. Die andern Tagelöhner und die Frauen kamen neugierig näher, aber ihnen erklärte Kurt, was sie sich einbildeten, wirkliche Arbeit sei das bißchen Buddeln noch lange nicht. Er suchte sich den Schwerfälligsten aus und stellte ihm ein Bein, das konnte er so gut wie als kleiner Junge. Als der Lulatsch lag, hatte Kurt für den Augenblick bei allen gewonnen. Der Kerl wollte ihm dann zwar zu Leibe, aber der behende Kurt war nicht zu fassen.

»So hilft man sich, wo es eigentlich für nichts langt«, gestand Kurt; er war mit Marie wieder allein. Sie fragte:

»Darum erzählst du wohl auch, daß du damals Mingo verprügelt hast?«

»Hab ich das nicht?« Genau wußte er nicht mehr, daß er log. Marie aber dachte: ›Geholfen hat es ihm. Der Bauer behält ihn nur wegen Mingo!‹

Sie duldete nicht, daß er Pausen machte; trotzdem konnte er auch während der körperlichen Anstrengung nicht schweigen.

»Du kennst ihn doch immer noch? Wo ist er?«

»Wer?« fragte sie, und er lachte. Unvermittelt begann er von sich selbst. Sie würde staunen, wenn er ihr anvertraute, was er schon alles mitgemacht habe! Sie meinte, ärger als im Kino könne es auch nicht sein, – und grade die Bemerkung brachte ihn erst auf manches, das zu sagen war.

»Vor allem bin ich gar nicht so arm, wie ich dir jetzt vorkomme. Meine Schwester ist sogar glänzend verheiratet.«

»Das ist nur gut.« Der Ton Maries war trocken. Je länger ihr Wiedersehen mit Kurt dauerte, um so deutlicher erinnerte sie sich, daß seine Zwillingsschwester Vicki ein ausgesprochen boshaftes Kind gewesen war.

»Wie ist es überhaupt gekommen, daß ihr verarmt seid?« fragte sie. »Haben eure Eltern kein Auto mehr?«

Er lachte stumm, dabei erkannte sie seinen sonderbar verkrümmten Mund wieder.

»Vielleicht doch«, – er richtete sich von der Erde auf, die er umgrub. »Vielleicht haben sie sogar zwei – jeder eines für sich, und keiner sagt es dem andern. Sie sind nämlich beide ausgerückt, – der alte Herr hat zuerst den Laden zugemacht, die alte Dame bog sich einen Freund bei.«

Er stand da, blaß, in nachlässiger Haltung, mit seinem verrenkten Mund, und arbeitete nicht. Aber Marie berief ihn nicht. Sie dachte: ›Das sind die glücklichen, reichen Kinder gewesen, die Badegäste indem schönen Sommer! Was ist nun besser, Mama in Brodten, oder Eltern wie seine?‹

Kurt beantwortete, was sie nicht fragte. »Unser Reichtum damals, das war die Inflation, da war es kein Kunststück. Ich bewundere meinen Alten eher dafür, daß er sich nachher noch fünf oder sechs Jahre gehalten hat. Die ganze Scheinkonjunktur hat er noch mitgenommen, dann war allerdings endlich Schluß, und er verschwand. Mama war so nett, uns ihrer Schwester zu empfehlen, bevor sie sich umstellte. Tante ist auch wirklich mit Vicki auf den Presseball gegangen.«

Jetzt erwärmte Kurt sich; vor Begeisterung schleuderte er die Hand in die Luft. Den Spaten, den sie hielt, hatte er vergessen, der fiel um.

»Vicki war die Schönste! Acht Tage lang war sie die Frau, von der man spricht, und in dieser Woche ist denn auch ein großer Syndikus auf sie hereingefallen – Bäuerlein, Rechtsanwalt Ignaz Bäuerlein, katholisch. Den Namen kennst du aus der Zeitung, kennt ihn jeder. Vor vier Wochen hat er sie geheiratet – genau an dem Tage, als ich unaufschiebbar verreisen mußte. So was ärgert einen«, knurrte er, hob sein Gerät auf und ging von selbst wieder ans Graben.

»Verirren sich hierher manchmal Fremde?« fragte er plötzlich. Marie dachte nach – nicht nur über seine Frage, sondern darüber, daß er nicht gesehen werden wollte, nachdem er gegen seinen Willen Berlin verlassen hatte. Sie suchte übrigens vergeblich den Zusammenhang zu ergründen. Sie fühlte nur, daß einer bestehen mußte; ihr sagte es das Mißtrauen, das Kurt ihr plötzlich einflößte. Als ob er es wüßte, verlegte er sich auf einen ganz leichten Ton.

»Meine eigenen Abenteuer sind nicht wichtig. Als Junge von heute ist man sowieso auf manches gefaßt. Ich mußte natürlich vom Pennal fort, Verkaufmich werden und so. Wer was erleben will und kein Geld hat, lernt auch mal Unterwelt kennen, nicht so schlimm.«

Bei dem allem beobachtete er Marie – erstens, wieviel sie verstand, und dann, was er ihrer Leichtgläubigkeit zumuten konnte.

»Unterwelt – das hat sich hier auch schon herumgesprochen?«

»Ja. Im Kino.«

»Kino ist gar nichts«, behauptete er. »Mich haben die Jungens vergasen wollen. Jawohl, das gibt es. Ich wußte was von ihnen, und den einen hatte ich großartig verprügelt. Eines Abends komme ich nichtsahnend nach Hause, schon durch die Tür riecht es komisch –«

»Streng dich mal etwas mehr an, ja? Ich muß nachher alles noch einmal machen!« Jetzt wußte sie wenigstens, daß er log, denn er wollte schon wieder einen anderen verprügelt haben.

Er bestand nicht darauf, weiter zu reden. »Wenn du es nicht hören willst, es sind auch Sachen, die nicht mal mehr die Polizei interessieren, so gewöhnlich sind sie.«

Marie dachte: ›Polizei? Und plötzlich verreisen mußte er am Hochzeitstag seiner Schwester?

Ach was, der Prahlhans! Der dumme Junge!‹

An diesem ersten Abend in der Gesindestube freuten alle sich darauf, daß der Berliner nach der ungewohnten Arbeit sich nicht mehr werde auf den Füßen halten können. Er kam auch nicht auf den Füßen herein – auf den Händen kam er! Das hatte der Junge sich ausgedacht, um die Landbewohner gleich in der ersten Runde zu schlagen. Keiner konnte es ihm nachmachen. Dafür wollten sie nach dem Essen sofort in das Heu klettern. Der Junge rief hell:

»Geschieht das auf Wunsch der Damen? Oder hat es noch ein Weilchen Zeit, meine Damen?« Dabei zog er auch schon ein Spiel Karten hervor und begann, Kunststücke zu zeigen. Sie vergaßen beinahe ihre Müdigkeit. Hierauf versuchte er ihnen ein Spiel zu erklären. Als keiner begriff, sagte er: »Leicht ist es nicht, aber der Aufgeweckteste von euch hat es schon heraus, ich sehe es ihm an.« Er winkte dem armen plumpen Kerl, dem er heute ein Bein gestellt hatte. Es half nichts, der mußte mit ihm spielen, und Kurt brachte es fertig, daß der Knecht gewann.

»Wenn Hannes das kann«, raunten die andern. Kurt erklärte sich bereit, auch mit ihnen zu spielen, nur Geld habe er keins. Von seinem ersten Lohn zahle er alles. Wirklich schuldete er zuletzt jedem etwas. Dies blieb nicht ganz so. An den folgenden Abenden verlor auch einmal einer seiner Partner, aber nie lange, und Kurt ließ sich den Gewinn von einem anderen wieder abnehmen, – bis er am Abend, als der Bauer die Löhne gezahlt hatte, allen ohne Unterschied einen Teil ihrer Habe entzog. Er ging darin nicht zu weit; Marie, die anfing, ihn zu kennen, bewunderte besonders dies. Sie erzählte es dem Bauern, sie rühmte den Jungen in jeder Hinsicht, seine Überlegenheit wie seine Vorsicht.

Der Bauer verfinsterte sich, aber so war es ihr recht. Er hatte noch immer »Grappen im Kopf«, das merkte Marie, grade wenn er sich unbemerkt glaubte; und die wollte sie ihm austreiben. Mingo oder nicht Mingo, – seit der Rückkehr ihres Spielgefährten Kurt wußte sie wieder, wie jung sie war, und daß auch ihre verlorenen Hoffnungen noch nicht weit sein konnten, die fanden unfehlbar zu ihr zurück! Einen alten Mann heiraten? Sie lachte, während der Bauer dabeistand!

Er ließ sich den Berliner hereinkommen und klopfte selbst mit ihm Karten. Es mußte beide befriedigen, denn sie wiederholten es. Durch die Tür hörte Marie, daß sie sich laut unterhielten. Bei ihrem Eintritt schwiegen sie.

Aber Kurt sprach zum erstenmal mit Marie von Mingo.

»Warum sagst du mir denn nicht, daß du mit ihm verlobt bist?«

»Weil es nicht wahr ist!« Sie wunderte sich gleich darauf selbst. »Oder wenn wir es wären, geht es keinen etwas an. Wir können auch jeder tun, was wir wollen.«

»Das ist vernünftig, Marie. Du denkst dir natürlich, daß er davon Gebrauch macht. Solange wie der Junge fortbleibt! Es wird bald sogar warm in Warmsdorf. Ein Muster von Zuverlässigkeit soll er auch sonst nicht sein – erst Fischer, dann Tischler, und was kommt jetzt?«

»Was kommt bei dir? Laß ihn mal erst hier sein, dann kannst du ihn wieder verprügeln!«

Sie ging in den Stall, wo noch immer ihr Bett stand. Es war Sonntag, aber sie hatte ihre kleinen Geschwister mit den Nahrungsmitteln nach Brodten geschickt. Die Leute saßen im Wirtshaus, Marie war weit und breit allein. Plötzlich riß eine Hand den Vorhang weg, Kurt sagte zitternd und bebend, aber mit seinem wilden Gesicht:

»Na, Marie?«

»Was willst du?«

»Was denn wohl? Wir sind immer zusammen, das übrige ergibt sich doch von selbst.«

Er hatte sich schon über sie geworfen, er küßte und biß.

Sie war im Grunde vorbereitet, sonst wäre sie mit ihm nicht fertig geworden – weniger als einst mit dem Landarbeiter, der verhungert war, und dem sie Wurst für Liebe geben konnte. Kurt wollte im Ernst, was er wollte. Er hatte seinen verkrümmten Mund, und in seinen schmalen, langen Augenspalten funkelte es böse; sie kannte es vom Strande her, als der Neunjährige sie umstieß. Erst allmählich merkte sie, daß sie auch den letzten Rest ihrer Kraft aufbieten mußte gegen diesen tollgewordenen Wurm. Zuletzt stemmte sie ihn, auf dem Bett liegend, mit beiden gestreckten Armen empor, er schwebte, zappelte, konnte nichts machen. Aber in diesem Zustand der Ohnmacht erreichte sein über ihr hängendes Gesicht, das vollkommen weiß war, einen Ausdruck von Haß – ihr verschlug es den Atem. Vor Schrecken öffnete sie die zusammengebissenen Zähne, schon spuckte der Junge ihr in den Mund.

Sie schleuderte ihn fort, in diesem Augenblick vermochte sie es. Er fiel hart zu Boden, sprang sofort wieder auf und nahm nochmals einen Anlauf. Da hatte sie aber vom Nagel ein Seil gerissen und schlug ihm ins Gesicht, bis er nichts mehr sah. Mit Schlägen trieb sie ihn hinaus.

Nachdem ihr Keuchen sich gelegt hatte, horchte sie, was er machte. Er schluchzte. Sie sah ihn durch den Türspalt, er war nicht weit gekommen, hatte sich lang auf die Erde geworfen und weinte in seine Hände mit Tönen, als wäre es um ihn geschehn.

Marie ertrug dies nicht; sie lief fort in die Felder hinein, und weinte selbst.

Am Abend flüsterte er ihr zu: »Ewige Braut!« Sie sah sich um, ob jemand es gehört hatte. Er flüsterte noch schärfer: »Nett war es heute doch!« Höhnisch, bös, aber wie ein krankes Kind. ›Und jetzt haben wir Heimlichkeiten!‹ dachte Marie.


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