Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölfhundert erfrorene Männer

Er stand in einer der Eingangstüren zu dem kleinen Foyer des hölzernen Stadttheaters.

Mehr einem alten Pferdestall mit Schnitzwerk am Giebel glich es, als einem Schauspielhaus in der Hauptstadt des Gouvernements.

In zwei einander entgegenfließenden Strömen quetschten und stießen sich die jüngsten Jahrgänge der Bürgerschaft in dem schmalen Gang.

Enginnige Vereinigung der Paare und ein schwüler, simpler Dunst von schal gewordenen Essenzen und verbranntem Zigarettenpapier lag über ihnen.

Ich erkannte ihn sofort, wie er dastand und auf die Häupter der Menge starrte, fremd und doch wiedererkennend.

Solch starren Blickes steht man da, wenn man nach langer Zeit zu einem Ort zurückkehrt, an dem man früher jeden kannte. Man versucht gleichsam Fuß zu fassen für sein eigenes Ich auf den Handflächen, die einem grüßend entgegengestreckt werden.

Ja, lange, lange war er fort – eine ganze Ewigkeit, soviel hatte sich da ereignet.

Es hatte ihn ziemlich angegriffen, das konnte man sehen. Sein Herz lag nicht mehr in soviel Fett, seine Nerven waren nicht mehr so dick. »Damendoktor«, »Schokoladenjunge«, nannten wir ihn, ehe er fortging.

Er war damals so hübsch rund und freute sich des Lebens und seiner Frau, die ihm keine Kinder schenkte. Auch seiner selbst war er gar nicht überdrüssig.

Stets machte es ihm Freude, zu erzählen, wie seine weiblichen Patienten inwendig aussahen. Er kannte alle Nuancen in dem Genre. – Und irren? – bei neunzig Prozent? – Nein! – Er ließ sich ja nicht einmal aus der Fassung bringen, wenn er die neunzig Prozent überschritt und eine ganze Familie von sechs Köpfen in den schwarzen Topf steckte, der Mann sich erschoß, und ein bekannter Professor erklärte, er hätte nur einen Flohbiß und leichtes Jucken gehabt, das etwas Talkum wohl beseitigt hätte.

»Guten Tag!« sagte ich und reichte ihm die Hand. »Sie sind wieder da?« »Ja, ich bin wieder da,« gab er unsicher zurück und blinzelte mit den Augen. »Aber,« fuhr ich fort, denn indem ich auf seine Uniform sah, kam mir der Gedanke an eine Abrechnung, die wir einmal zusammen hatten, »aber wie kommen Sie zu diesem Anzug? Ist das nicht eine Polizeiuniform?«

»Eines Militärarztes,« war seine Antwort, indem er mit seiner Stimme einen Anlauf nahm und sich in die Brust warf, so daß mir das Stanislauskreuz, welches sie zierte, in die Augen fiel.

»Wie sind Sie denn dazu gekommen?«

»Ich war der Assistent des Divisionsarztes,« stieß er abgerissen und hart zwischen den Zähnen hervor.

Klatschsucht bei Mannsleuten habe ich nie leiden können, und nun stand ich da und dachte nach darüber; er aber hatte augenscheinlich diesen Vorfall vergessen ... Es war ganz klar, er hatte ihn vergessen, wund wie er war bis zur Haut unter seiner Stirnschale.

»Ja, das ist ja wahr, Sie mußten ja doch mit da hinauf, die Praxis wechseln, wenn ich so sagen darf. Wo stießen Sie zu ihnen?«

»Nach der Schlacht bei Laojan.«

»So waren Sie also auch mit auf der Flucht von Mukden?«

Er zog die Mundwinkel abwärts, und seine Augen sahen aus, als wären sie aus Glas gemacht.

»Wie kam denn das?« fragte ich und vergaß im selben Augenblick, daß ich den »Schokoladenjungen« gar nicht leiden mochte, bevor er wider Willen in den Krieg geriet und dabeigewesen war bei Mukden.

Er aber machte nur eine heftige, abwehrende Handbewegung und sagte nichts. Es sah aus, als suchte er nach einem Wort und fände keins.

»Erzählen Sie mir eine Episode aus diesem Todeslauf.« Wieder wehrte er heftig mit der Hand ab:

»Da gibt es nichts zu erzählen. Da gibts auch keine Episoden, Das steht da in der Erinnerung wie eine einzige, rote, flimmernde Tatsache. – – Die Weißen liefen vor den Gelben! Fertig! Nichts mehr! Jeder kann phantasieren, soviel er will, über dieses Thema; Stoff ist genug für das erste Jahrtausend.«

»Nun, es mangelte wohl in der Erinnerung an einzelnen Momenten nicht, wenn man im Laufe nicht wie an eine abgeschlossene historische Begebenheit gedacht hätte.«

»Waren Sie etwa verwundet?«

»Nein, nicht ein Haar, obwohl ich mich die ganze Zeit über in den ersten Reihen befand, oder auch in den letzten, wenn Sie wollen.«

»Gewöhnten Sie sich denn nicht bald daran?«

»O, doch, sobald man eingeschossen ist, denkt man darüber nicht mehr nach.«

»Nicht doch, ich meine, ob Sie sich nicht bald an die Wunden und das ganze amputierte Dasein da gewöhnten?«

Er zuckte unwillkürlich zusammen.

»Nach und nach bekamen wir alle Wunden, auch an unsern Nerven. Verstehen Sie? Viele haben das selbst gar nicht beachtet, aber Freunde und Verwandte sehen es ihnen schon bei der Heimkehr an.«

»Ja,« flüsterte er mir zu, »ob unsere Zeit das nicht gemerkt hat? Ich hatte starke Nerven,« er schnitt eine Grimasse über das ganze Gesicht, »aber jetzt reise ich ins Ausland und lasse mich behandeln.«

»Sie bekommen gar keine Erlaubnis zum Reisen. Wir haben Ärztemangel, auch im Krieg gegen den ›inneren Feind‹!«

»Ich nicht! Nie mehr! Ich hab genug!«

Er fuchtelte mit der Hand in, der Luft und lächelte merkwürdig still und hilflos über das ganze Gesicht. Es lag gleichzeitig etwas Entsetzliches und Ergreifendes in diesem Lächeln, etwas Starres und Wahnsinniges, was in Wollust zerschmolz.

»Sie lachen!?« sagte ich und sah ihn an. Er räusperte sich mit Anstrengung und suchte sich zu sammeln. »Jetzt reise ich ins Ausland,« antwortete er halblaut und entschuldigend. In diesem Augenblick hörte man die Glocke von der Bühne her: Der sogenannte Violinvirtuose sollte anfangen, den letzten Teil seines Programms herunterzukratzen. Ich ging hinein auf meinen Platz und saß da in Gedanken an wohlwollende und freundlichgesinnte Menschen, die Entschuldigungen haben für Krieg und die ihn Führenden, die den Krieg der vielen Einzelnen ums tägliche Brot in einen Topf werfen mit dem eines Einzelnen, der nur Siegessäulen gewinnen will als Stützen seines Thrones.

Gleich entsetzlich sind sie. Aber der eine scheint unvermeidlich und der andere ist veraltet, denn er gilt nur dem Einzelnen und seinem Wappen und nicht der Masse, die alle dasselbe Wappen tragen, tief unter dem Hemd, da wo die Verdauung beginnt.

Ein Etwas entschwundener Tage ergriff mich und wiegte mich ein in mondhelles Säuseln einsamer Föhrenwipfel.

Es war Tschaikowskys schwermütige Serenade.

Es säuselt und singt wie Zweige, vom Winde geschwungen, gleichwie wogende Ketten von Jungfrauen, tanzend im Leichengewand.

Es hebt und senkt sich Sehnsucht und Schmerz, Schreie wie von Lippen, in blaukaltem Grauen erstarrt.

Es klagt in Tönen, die sich in gebrochenem Totengesang sammeln um etwas, das war und nie wird – nie. Ich fühlte, daß jemand von seinem Platze aufstand, wußte nicht, wer es war, und als ich selbst, ergriffen von diesem: nie – nie –, mich erhob, um hinauszukommen, sah ich, daß es der Doktor war.

Er ging direkt in die Restauration und leerte ein großes Glas Kognak in einem Zug. Darauf setzte er sich an einen der kleinen Tische mit den rot und blau gesprenkelten Teeservietten:

»Ein Glas Bier!« sagte er fröstelnd.

Ich setzte mich neben ihn.

»Gibts bald Bier, du Adonis, wie? – Noch ein Glas.«

»Sie trinken doch ein Glas mit, nicht wahr? Oder wollen wir erst einen Kognak nehmen?«

»Nein, danke, ich mache mir nichts aus Kognak.«

»Wie Sie wollen.«

Er erhob sich und trank noch ein ordentliches Glas am Schenktisch.

Als er sich umwandte, sah man das Weiße in seinen Augen.

»Eine Teufelsmanier, die Leute zu unterhalten! Er kann ja nichts Ordentliches spielen! Er spielt ja auf unsern Nerven, der Bengel. Wer kann auf die Dauer alle diese Andanten und Elegien, und wie es alles heißt, aushalten.«

Der Doktor schwieg und schenkte Bier ein. Wir nickten und tranken einander zu.

»Es ist nicht deswegen,« fuhr der Doktor fort, »ich mag ganz gern Musik. Ein wenig flotte Musik ist ganz erquickend. Zum Beispiel die alte Komarinskaja, überhaupt Spring- und Schleiftänze, wie dieser Cake-Walk.«

Er begann einen abgedankten Cake-Walk zu pfeifen und warf sich wiegend und gestikulierend auf dem Stuhl hin und her.

»Welch eine Stimmung! Das nenne ich Musik! Nichts mit Tränen und tausend Unglücken.«

»In der Mandschurei wurde viel Musik getrieben,« warf ich ein.

»Musik, sagen Sie! Ja, das können Sie glauben. Gleich als wir dahinaufkamen, begannen wir mit dem Rührenden und mit ›Unser Mädchen‹ und ›Altes Mütterchen‹; doch das war bald vorbei.«

»Sie gingen zu lustigeren Sachen über?«

»Ja, wer konnte auf die Dauer all dies Rührungsgeleier aushalten. Die Neuen, die zu uns hinaufkamen, noch nicht trocken hinter den Ohren, sangen auch zitternde Lieder wie kleine Zikaden, früh und spät, aber die hörten bald von selbst auf. Der eine, oder andere von ihnen brachte es ziemlich, weit, auch auf den Instrumenten der mehr primitiven Völker.«

Ich sah ihn nur fragend an. Er behandelte ein Thema, das mitteilsam macht. Ein paar Jahrtausende hatte er mit zwei Glas Kognak hinuntergespült. Die Instrumente primitiver Völker rasten in seinen Ohren.

»Ja, sie stürzten sich auf alles, was nur Klang von sich geben konnte. Alle Arten Blech- und Messinggefäße, die sich zum Musikmachen eigneten, stahlen wir. Eine gewaltige Nachfrage herrschte nach Korken und Champagnerflaschen mit hohem Ton. – Denn unter denen, die entzweigeschlagen wurden, wenn wir tranken, waren auch viele mit hohem Ton. Ein Bursche aus dem Norden hatte vollauf zu tun, neue Tuthörner zu machen; Sie wissen, die, mit denen die Hirtenknaben die Kühe locken. Selbst die, die gar keine Fähigkeiten von Geburt dazu hatten, wollten auch Musik machen. Wir hatten schließlich keine Schlüssel zu unsern Koffern und Kisten mehr. Es klang einzig, wenn wir ein Konzert gaben. Die beiden Meistersänger waren unvergleichlich. – –

Gott sei ihrer Seele gnädig!«

Der Doktor bekreuzte sich schnell ein paar Mal in der Richtung auf das Heiligenbild in der Ecke.

Unvergleichlich, wenn sie zur Orchestermusik sangen. Der eine sang durch die Nase, der andere trillerte und röchelte tief im Kehlkopf, auf den er mit beiden Händen drückte. Sie hatten es auf der Wanderschaft als Topographen unten in Asien und Abessinien gelernt. Babylon und die Pyramiden stiegen taufeucht aus ihrem Näseln und Gurgeln auf. Wenn wir glücklich eine ganze Trommel hatten, trat einer von den vielseitigsten Musikanten den Takt mit dem Fuße in sie hinein, während ein anderer mit dem Bauche auf ihr lag und die Fäuste in eine Teemaschine, die er vor sich hatte, vergrub.

Der einzige Unverbesserliche war ein Finnländer. Er blieb sich selbst gleich. Er hatte keine Tiefe. Sie hätten ihn Violine spielen hören sollen! Übrigens schenkten wir ihm keine besondere Aufmerksamkeit. Er war stets für sich, allein, aber ausnahmsweise erhielt er Erlaubnis, im Orchester mitzuspielen: Die Violine klang so dünn darin, daß niemand dadurch Schaden nehmen konnte.

Eines Nachts nach einer Soiree auf unserer Freiwacht holte man ihn nach den Baracken: Ein Verband in seiner Abteilung sollte gewechselt werden. Wir lagen alle und schliefen zwischen den Instrumenten und den geleerten Flaschen. Als der Feldscher ihn wach gerüttelt hatte, dämmerte es ihm. Es war wohl der Dampf, der die Verwundeten umgab, dieser Dampf von Auflösung und Ausscheidung mit seinem brutalen Geruch nach frischgeschlachtetem Fleisch. Vielleicht drangen das Geschrei und das endlose Gejammer, für das die Gewohnheit die wachen Nerven taub macht, unerwartet in seine Leere.

Jedenfalls richtete er sich mit einem Ruck auf, nahm lauernd die Violine an sich und schlug, indem er aufsprang, den Feldscher damit über den Kopf.

Die Violine hatte ausgespielt!

Seit dieser Zeit spielte er Harmonika. Er wurde Virtuose auf dem Ungeheuer von Harmonika, die er in einem der wandernden Tingeltangel aufgestöbert hatte, und sie paßte kolossal in das Ensemble.

Im Fortissimo schrie sie wie eine gesprungene Orgelpfeife.

Wenn er sie auszog, soweit seine Arme reichten, und sie wieder flach zusammendrückte, daß das Blut ihm in die Augen drang, lag geradezu etwas Feierliches in unserm Zusammenspiel.

Er spielte sich ganz verrückt.

Wenn ihn seine alte Mutter in dieser Situation gesehen hätte! Du guter Gott! Aber sie bekam ihn ja nicht mehr zu sehen.

Er spielte sich inwendig zum Krüppel, als die 1200 Verwundeten uns unter den Händen erfroren, nach der Affäre von Sandepo. Und es war wahrlich das Beste, was er tun konnte.«

Ich sah unruhig den Doktor an. Aber keine Spur von Ironie oder Anekdote war auf seinen Zügen zu lesen.

Er stieß nur sein Bierglas gegen meines und ließ sich eine neue Flasche geben.

»Man konnte es nicht aushalten, das zu hören und zu sehen, sage ich Ihnen,« flüsterte der Doktor geheimnisvoll. »Vielen ging es ebenso, aber wer kümmert sich darum.

Es fiel mehr auf, als der Kommandant der Ambulanzabteilung, der die Verwundeten wegschaffen sollte, Solnzew hieß er, sich erschoß. Es war am Tage, nachdem Fedorow, Oberst der Garde, Bericht über das Geschehene erstattet hatte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zu erschießen. Er konnte das auch nicht aushalten, so dickfellig er auch war.

Ehre und Gewissen, verstehen Sie! So wurde die Sache unterdrückt.«

Man war, im ganzen genommen, nicht zart gegen die Soldaten da oben!

In keinem einzigen Kriege hat man jemals das Kanonenfutter, das aus der Front gerissen wurde, mit solchem Zynismus behandelt. Es gab erstaunlich wenig Ambulanzen. Sie hätten die Ernte der Verwundeten nach den blutigen Schlachten sehen sollen. Man warf sie in Haufen, ließ. Eisenbahnwagen mit ihnen vollpfropfen, als wären es Holzkloben. Da lagen sie 24 Stunden lang.«

Der Doktor legte die Hand an den Mund und beugte sich dicht zu mir herüber, mit einem Ausdruck, der so fürchterlich war, daß sich auch mein Gesicht verzerrte.

»Bei Schache fraßen chinesische Hunde die zurückgelassenen Verwundeten!«

Er ergriff meinen Arm, und ich sah, daß seine Stirn feucht war:

»Heilige Mutter Gottes! da fraßen die räudigen Hunde der Chinesen unsere Verwundeten, und hier erfroren sie mitten unter uns!

Das war ein fürchterlicher Tag!

Die Unserigen hatten ein befestigtes Dorf nach dem andern gestürmt. Jeder einzelne Zoll mußte mit dem Bajonett genommen werden. Die Japaner saßen fest wie Wanzen. Wir mußten sie geradezu hintenüber wälzen. Es galt den Schlüssel zur Stellung des Feindes. Am Nachmittag hatten wir ihn, aber das Oberkommando gab Ordre ihn wieder auszuliefern.

Es hatte 14 000 Tote und Verwundete von den 40 000, die ins Feuer geschickt worden waren, gekostet. Die Generale waren neidisch aufeinander! Sie erinnern sich der Geschichte. Vierzehntausend Tote und Verwundete!

Wir arbeiteten wie verrückt, sie beiseitezuschaffen. Es lag eine Elle Schnee, und es waren 15 Grad Kälte. Die Züge gingen voll von steifgefrorenen, sterbenden Männern nach Norden, aber es waren nicht genug Wagen da für solche Schlächterei.

Die Verwundeten wurden zur Bahnlinie geschleppt und mußten dann auf Beförderung warten, und lange warten. Denn es wurde ja von der Seite eingeerntet, die der Hauptstellung am nächsten war.

Ich war damals zusammen mit dem Finnen bei einer der fliegenden Ambulanzen, draußen in der Feuerlinie, und wir blieben bei Sandepo und trugen die Verwundeten zur Bahn.

Einzelne hatten einen Notverband erhalten, als sie getroffen waren; aber alle die leichter Verwundeten mußten sich selbst helfen, wie sie am besten konnten. Einige hatten den Toten Mäntel und Pelze ausgezogen. Die konnten sie ja nicht gebrauchen. Andere lagen unbeweglich und warteten auf uns in derselben Stellung, wie sie gefallen waren. Es waren viele, die so lange nicht warten konnten.

Wenn wir einen Augenblick stille standen, um die Glieder zu recken, guckte das Schneefeld plötzlich aus der grauen Dämmerung heraus. Es blickte trübe und ohne Verständnis wie eines toten Mannes Gesicht, wenn man unerwartet hineinblickt und Fliegen darauf kriechen sieht.

Doch das Schneefeld schwieg nicht wie ein Toter. Es schrie und stöhnte und lebte, als stünden tausend Wochenbetten auf ihm.

Als der Mond hervorbrach, hatten wir so 1200 Mann an der Bahn zusammengeschleppt. Sie wurden reihenweis in den Schnee gelegt, und wir deckten sie zu mit allem, was die Toten entbehren konnten.

Aber sie wollten nicht in Reihen liegenbleiben. Einige von den beweglichsten richteten sich zuerst auf und stolperten umher. Andere krochen auf den Armen und einem Knie, das andere Bein hinterherschleppend. Selbst viele von denen, die einen Schuß im Rücken oder Unterleib hatten, fanden merkwürdige Arten, sich vorwärtszuschieben und zu rutschen.

Viele schoben sich auf dem Bauche liegend rückwärts, da der Schnee von den anderen fest zusammengedrückt war, und Blut und Entleerungen froren zu einem glatten, rotgelben Schorf darauf.

Und diejenigen, die sich nicht von der Stelle rühren konnten, aber doch lebten und bei Bewußtsein waren, bewegten den Kopf oder die Nase und schoben die Lippen vor und zurück, damit vom Reif des Atems nicht ihr Gesicht zufröre.

Wenn einer oder der andere von ihnen müde wurde, bewegte er nur die Augen, bis er auch das nicht mehr konnte.

Die Leute der Ambulanzen waren so erschöpft, daß sie sich ganz in harte Gefühllosigkeit eingehüllt hatten.

Auf diesem entsetzlichen Lagerplatz ging der Tod ungestört um und musterte seine Leute. Nach und nach, wie er ihnen seinen Eisstempel aufgedrückt hatte, lagen sie still, aber die anderen fuhren fort, sich im Kreise und in gebrochenen Linien um sie herumzubewegen. – – Sie krochen und krochen wie blutende Schnecken in die ewigen Eisgefilde hinein. – – Es war ein Ausruhen für das Auge, auf die unbeweglichen Punkte in dieser kriechenden Masse zu sehen.

Auf der Seite, die der Wind bestrich, legte sich ein süßlicher, roher Geruch wie eine geronnene Haut auf das Bewußtsein.

Als es schließlich nicht mehr zum Aushalten war, sandte ich einen Mann nach einem Ambulanzzug für uns. Ich sandte jede halbe Stunde einen Boten, glaube ich, aber alle blieben fort.

Und wenn wir dann in weiter Ferne den Pfiff einer Lokomotive zu hören glaubten, hörten die Verwundeten auf mit Kriechen und Flehen und Betteln um Hilfe. Sie sanken in eine so unbewegliche und spannende Stille, daß die Brust in dieser Leere zu zerspringen drohte, eine solche Leere, daß man förmlich den Mondschein über die Schneeflächen hingleiten und sich mit den Fieberträumen der Bewußtlosen mischen hört.

Sie beteten auch zu Gott und den Menschen und zum leibhaftigen Satan – – fluchten auch.

Unter ihnen war ein langer Soldat, dem das Gesicht zerfetzt und der eine Arm von einer Granate weggerissen worden war. Er ging und lag abwechselnd, betete und fluchte durcheinander. Schließlich legte er sich nieder, und es sah aus, als hätte er Ruhe gefunden.

Aber nach einer der Pausen, wo wir gelauscht hatten, so daß das Blut mehreren von uns aus den Ohren sprang, erhob er sich, als sei er aufs neue getroffen, dort, wo er lag.

Er öffnete und schloß den Mund mehrmals, daß die Zähne ineinanderbissen. Etwas anderes konnte er nicht sagen. Plötzlich aber kam – ihm und uns allen ganz unerwartet – ein Brüllen tief aus der Luftröhre, ein Zwischending zwischen einem Brüllen und einem Knurren war's, das in ein unbändiges Rufen voll von Gotteslästerungen und Teufelsbeschwörungen überging.

Da hub der Finnländer an, auf seiner Harmonika zu spielen.

Er konnte es nicht mehr aushalten. Jedesmal, wenn wir nach dem fernen Pfeifen gelauscht hatten, hatte er das Gleichgewicht mehr und mehr verloren. Er schüttelte den Kopf und griff mit den Händen danach, als wollte er etwas festhalten.

Dann fing er also an, Harmonika zu spielen.

Was konnte das bei solcher Gelegenheit schaden. Im Gegenteil.

Ich glaube, viele wurden verrückt, noch ehe sie erfroren, bloß weil sie ihn zu der »Messe« des langen Soldaten spielen hörten.

Aber selbst hörte und sah er nicht mehr. Er ging ganz auf im Spiel, vertiefte sich konvulsivisch darein mit dem ganzen Rest seines Stückchens Leben.

Ich habe ein gut Teil der verschiedenartigsten Musik gehört, aber nie hörte ich etwas Ähnliches, und sehne mich auch nicht besonders danach.

Nicht etwa, weil er schlecht spielte, nein, er war Virtuose auf der Harmonika. Er spielte »die schwermütige Serenade« im Duett mit dem einarmigen Soldaten, daß selbst das öde Schneefeld. dabei stöhnte.

Er spielte unentwegt und merkte nicht, daß der Soldat umfiel und liegen blieb, um sich nie mehr zu rühren.

Viele Stunden spielte er in der langen Winternacht und hörte nur einen einzigen Augenblick auf, um den Pelz abzuwerfen. Er war ihm zu warm geworden, obwohl im Laufe der Nacht einige zwanzig Grad Kälte waren.

Sodann spielte er in Hemdärmeln weiter und merkte nichts. Er merkte nicht, daß die Harmonika kurz und klein gespielt war und nur heiser fauchte. Er merkte nicht, daß die unbeweglichen Flecke in der kriechenden Masse vor ihm größer und größer wurden, groß und unbeweglich, wie ein großer, gefrorener Fleck im Schnee.

Er merkte auch nicht, daß etwas groß und unbeweglich in seinem Gehirn wurde, bis die Harmonika aus seinen Händen fiel. Er hatte gerade noch Zeit, die Arme zu heben, ehe er vornüber auf das Gesicht stürzte und liegenblieb.

Er war in ein Lauschen nach seltsamen Tönen versunken.

Gegen Morgen kam der Zug – – –«

###

Im selben Augenblick brach das Publikum auf, stürzte wie ein Haufen losgelassener Tiere hinaus aus dem Theater.

Der Doktor sah mich verwirrt und geistesabwesend an.

Er erhob sich schnell, immer mit demselben geistesabwesenden Ausdruck.

»Das ist's ja, was ich sage. Es sind keine Episoden darin,« murmelte er vor sich hin und verschwand in der Menge.


 << zurück weiter >>