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Tops

Tops war nur ein Hund, schlecht und recht ein kurzhaariger, weißbunter Pointer, aber gebe Gott, wir hätten alle soviel Verstand wie er. Sein Schädel war breiter als lang und wölbte sich genial nach beiden Seiten. Die Maße waren in Ordnung, und was das anbetraf, hätte er als typisches Exemplar eines »Kurzschädlers« gelten können, wenn jemand Lust gehabt hätte, darüber nachzugrübeln. Aber niemand tat es; wir hatten auf ganz andere Dinge achtzugeben.

Obwohl ich von ihm gehört hatte, ehe ich ihn erhielt, kam ich seiner Jugend doch nie auf den Grund. So viel wußte ich aber, daß sein Vater für 1000 Rubel aus England gekommen war, daß dieser viele Frauen und Kinder gehabt hatte, und daß Tops ihm aufs Haar gleichen sollte.

Übrigens hatte er seine Jugend damit zugebracht, sich in Nordrußlands Wäldern herumzutreiben und über grüne Wiesen und hügelige Moore zu galoppieren. Im Winter hatte er daheim gelegen und sich der höheren Bildung gewidmet. Er war im Besitz aller menschlichen Tugenden. Er konnte sich eine ganze Nacht und einen Tag trocken halten, fiel es ihm aber schließlich auf die Nerven, so konnte er ein wildes und herzzerreißendes Geheul erheben, das gehört und verstanden werden mußte. Er war eben, zum Teufel, eingerichtet wie alle anderen! ... Einmal, als er allein daheim war, hatte er schließlich in der Verzweiflung sein Halsband gesprengt und war durch eine Fensterscheibe hinaus und wieder auf seinen Platz gesprungen, und da lag er ganz ruhig und blutete und leckte sich, bis alles entdeckt wurde.

Er war sehr bescheiden und rührte weder eines anderen, noch sein eigenes Futter an, bis man sagte: Faß! Und es fiel ihm nicht ein, unaufgefordert mit auszugehen. Ja, er beherrschte sich so, daß er nicht einmal seine Lust dazu zeigte, sondern nach einer anderen Seite sah und tat, als geschähe nichts.

Blieb er allein zu Haus, war es nicht notwendig, ihn anzubinden, wenn es nicht der Ordnung wegen geschah. Er ging beileibe nicht aus dem Haus. Die Türen konnten weit offen stehen; Er behielt sie wohl im Auge. Hin und her lief er von der Haupt- zur Küchentreppe, setzte sich einmal inzwischen und lauschte oder schnupperte in der Luft. Wehe dem, der den Versuch machte, einen der Eingänge zu forcieren. Er sagte nicht einen Mucks und machte alles in Stille ab, aber tüchtig und gründlich. Er riß einem das Zeug ab, biß einen Schenkel durch und durch oder sprang hoch und rang mit einem. Einmal zerrte er einen Bauern rücklings vom Schlitten, als er durch den Hof seines Jugendheims fuhr und nach ihm mit der Peitsche schlug. Er war betrunken und wurde im letzten Augenblick gerettet. Seit dieser Zeit schlug er nie mehr nach ihm.

Außer alledem besaß er noch andere Fertigkeiten, zu deren Ausübung große Überwindung gehörte, z. B.: das Apportieren von brennenden Zigarren oder Eiern. Aber das entwickelte Vorsicht und Urteil; und was hat wohl für uns alle mehr Wert, wie diese?

Als ich ihn zum ersten Male sah, war er 9 Jahre alt. Ich bekam ihn von einem Freund, der für 20 Jahre von der, Kaiserlich russischen Regierung auf seinem Waldgute interniert war. Seine übrigen Kameraden hatten den Hals unter dem Galgen gestreckt oder sich hingelegt, um in den Steinlöchern des Staatsgefängnisses lebend zu verfaulen. Aber er hatte Glück gehabt, und 20 Jahre können angenehm dahingehen, wenn man bei schönem Wetter auf die Jagd geht und in der übrigen Zeit Kästchen aus Birkenholz drechselt.

Er war ein Freund von Fremden, und eines Tages kam er zu mir herein. Wir wurden gleich Freunde und sind es noch.

Ich stand damals ganz allein in der Welt da – meine Welt war ein Winkel oben an der Grenze der russischen Tundra –, und die Einsamkeit plagte mich zuzeiten reichlich.

Das konnte so weit gehen, daß ich alle meine Messer und Schießprügel von der Wand nahm, sie vor mir auf einen Tisch legte und mich in eine Ecke placierte, von wo aus ich alle drei Zimmer meines Blockhauses beschießen konnte.

So etwas reibt auf die Dauer die gute Stimmung auf, und als mein Freund mich eines Tages in solcher Stellung fand, versprach er, mir einen Kameraden ins Haus zu bringen.

Als er das nächste Mal kam, hatte er Tops mit.

Es war ein dunkler und feuchter Oktoberabend. Der Regen rieselte durch die entlaubten Birken da draußen, klatschte gegen die kleinen Fenster und floß wie eine dicke, undurchsichtige Masse an ihnen herab.

Als er aber in die Stube trat, dampfend von Wetter und Feuchtigkeit, wurde der Oktoberabend gleich weniger trostlos und einsam. Überdies hatte er auch Tops mit. Er hielt sich die ganze Zeit hinter ihm, trippelte mit den Vorderbeinen und erschnüffelte sich eine Vorstellung vom Hause. Mich würdigte, er keines Blickes.

»Sieh, hier ist der Kamerad, alter Freund,« sagte der Waldmensch. »Laß ihn sich nur selbst einrichten, außen und innen. Er wird auf ein Haar das tun, was in jedem vorkommenden Fall erforderlich ist. Laß ihn nur gehen, wie er selber will. Er ist ein Genie. Ein reines Genie! Ich kann das behaupten. Wir haben uns jetzt kennen gelernt in neun Jahren. Nun leb' wohl, alter Junge! ... Leb' wohl ... leb' wohl ...«

Er küßte Tops auf die Schnauze, und dieser sprang zu ihm auf, leckte ihm ins Gesicht und hob die Oberlippe, so daß man seine langen Eckzähne sehen konnte.

Ich reichte meinem Freund die Hand zum Dank. Gibt es größere Gaben auf dieser armen Erde als ein Weib, ein Pferd oder einen Hund!

Und Tops war ein Hund! ... Du gütiger Gott, was für ein Hund! Alles was sich gehört für einen Pointer, besaß er: die Luft in der breiten, tiefen Brust, die Stärke in dem gespannten, elastischen Rücken, die Unverwüstlichkeit in den dürren, zähen Beinen, des strammen Bauches Farben- und Linienreinheit, der Lippen Treue, die Allwissenheit der feuchten Nase und das ewige Feuer in den bernsteingelben, blutgesprenkelten Augen ... Ich hätte in eine Ecke gehen können und weinen über seine Schönheit ..., weinen aus Liebe zu einem Hund ...

Aber ich hatte gar keine Zeit dazu. Denn im selben Augenblick band der Waldmensch ihn an ein Bein meines Bettes, drinnen im anderen Zimmer. Er sah sich nach einem Teppich um, stand mutlos und mißvergnügt da und sprang resolut aufs Bett, drehte sich ein paar Mal herum und fiel hin, mit der Schnauze zwischen den Hinterpfoten.

Wir ließen ihn liegen, ja, vergaßen ihn ganz, während wir pokulierten, und die Stunden schritten dahin im Lichte grüner Weingläser, die rote und goldschimmernde Getränke durchbrausten.

Es war spät in der Nacht, als wir uns erhoben, voll von Becherklang und Erzählungen von der Jagd auf Menschen und andere Tiere ...

»Tops!« sagte ich freundlich, als ich zurückkam, nachdem ich meinen Gast zur Tür begleitet hatte.

»Tops!« sagte ich und ging gerade auf ihn zu. Im selben Augenblick sprang er auf, soweit die Leine reichte. Er machte mitten im Himmelsraum halt und schlug einen Luftsprung, daß das Bett von der Wand gerückt wurde. Er fiel auf die Beine und stürzte auf mich los, das Bettende hinter sich schleppend. Ich taumelte zurück, versuchte ihn zur Vernunft zu bringen, überschüttete ihn mit den schlechtesten und besten Worten der Hundesprache, aber er verstand nichts, bellte und hechelte aus seinem offenen, heißen Rachen und war wie besessen nach meinem Fleisch. Die Augen schimmerten mattgrün im Halbdunkel, und unter ihnen war nur ein offener Mund voller Zähne mit einer glühheißen Zunge mitten darin.

So faßte er mein Bein. Es tat einen Augenblick weh, aber im nächsten Moment war es nur das Zeug, was zerrissen wurde. Es war mein eines Hosenbein ...

Es stieg etwas auf in mir. Große Schweißtropfen traten mir auf die Stirn, und das Herz schnürte sich zusammen; in zwei Sprüngen hatte ich meine Nagaika ergriffen und zu schlagen begonnen.

Es dauerte lange, aber als er sich endlich ergab, war es keine Verstellung. Er war unter das Bett retiriert, und als ich ihn rief, kroch er langsam und besiegt auf allen Vieren hervor zu mir.

Wir liebten uns über alles in der Welt und entzweiten uns nie seit dieser Nacht – nicht einmal als er starb – starb von meiner eigenen Hand ...

Tops und ich gingen den nächsten Tag aus, um einen Spaziergang in der Stadt zu machen. Der Sicherheit wegen hatte ich ihn an einer Leine, und es zeigte sich, daß wir und andere gut dabei fuhren. Er war ganz verwirrt von der Menge Häuser, Hunde und Menschen, an denen wir vorüberkamen. Zumeist hielt er sich hinter mir oder an meiner Seite, und ich hörte nur an seinem schnellen und erstaunten Schritt, wie es um ihn stand. Seine langen, stumpfen Klauen klapperten im Takt seiner Bewegungen gegen die Bohlen des schmalen Holztrottoirs. Ab und zu machte er einen Ansatz vorzuspringen, aber überlegte es sich sofort und entlud seine Spannung durch ein nervöses Zittern aller Muskeln.

Begegneten wir jemandem, mußte ich ihn eng an mich halten, da er sehr aufgebracht darüber war, daß andere auf dem Trottoir gingen. Ich mußte aufpassen wie ein Hechelmacher, um einen Zusammenstoß zu vermeiden.

Gerade vor uns ging ein Mann. Er hatte einen schweren Stock in der Hand, den er bald schwang, bald hart auf die Bretter niederstieß. Plötzlich fuhr Tops auf ihn los und riß an der Leine, daß ich beinahe die Balance verloren hätte. Aber ich bekam ihn doch wieder in meine Gewalt, ehe es zu spät war; der Mann vor uns wich mit einem derben Fluch zur Seite auf den schmutzigen Damm, während wir vorbeigingen.

Tops schielte zu mir herauf und wedelte mit seinem dünnen, schnurgeraden Schwanz – ganz schnurgerade war er übrigens nicht. Er hatte damals einen Knick in der Mitte bekommen, als Tops im Walde eine Schnepfe überrumpelte, die da saß und an nichts dachte. Sie wurde gar nicht aus ihren Gedanken gebracht, denn Tops zog sich so schnell rückwärts zurück, als wäre sie eine glimmende Bombe gewesen, aber der Schwanz geriet im Gebüsch in die Klemme, und seit dieser Zeit war ein Knick darin ... Es tat mir leid um Tops, als ich ihm das nächste Mal, da wir spazierengingen, einen Maulkorb anlegte, aber ich sah ein, daß es fruchtlos war, ihn von der Existenzberechtigung der Menschen auf der Erdoberfläche zu überzeugen. Er war von diesem Schmuck gar nicht so sehr eingenommen, gewöhnte sich aber doch schnell daran, ja, brachte den Maulkorb schließlich selbst, wenn wir fortwollten.

Und so ging der Winter hin im gewöhnlichen Einerlei. Ich saß im Kontor und ging in Geschäften in die Stadt, und Tops versetzte sich in diese Seite meiner Existenz und legte auch hier einen seltenen Tiefsinn an den Tag. Er konnte mir mit nie fehlender Sicherheit sagen, wo etwas zu machen war. Eine merkwürdige Nase für Fettwaren hatte er. Hätte ich mich ausschließlich auf die Jagd nach solchen Sachen gelegt, hätten wir sicher ein Vermögen verdienen können. Durch den Gebrauch der Büchse verdient man kein Vermögen – will sagen –, wenn man sie nur nach Jagdrecht gebraucht; aber auf die Dauer bleibt das doch das Angenehmste und Beständigste. Das fanden Tops und ich in jedem Fall. Als ich anfing, auf andere Dinge zu schießen, war Tops leider nicht mit, aber ich zweifle nicht daran, daß ihm das auch ungeheuern Spaß gemacht hätte!

Eines schönen Tages kam der Waldmensch auf Besuch zu uns, und Tops war außer sich vor Freude über seinen alten Herrn; aber er machte nicht den geringsten Versuch, ihm zu folgen, als er wieder ging: Hatte er ihn fortgeben können, sollte es dabei bleiben.

Im ganzen und großen floß uns die Zeit recht angenehm dahin. Tops war recht tugendhaft, obwohl ich späterhin Wind davon bekam, daß er nachts durchs Feuer zum Moloch ging, aber er störte niemanden dabei und ließ mir meine Neigungen, ohne darüber zu knurren, selbst wenn sie nicht mit den seinigen übereinstimmten. Wir haben ja alle verschiedene Anlagen, die eigentlich respektiert werden sollten. Wir erwiesen uns gegenseitig Respekt, und Tops ließ die schwarzäugige, hochbusige Paula ungehindert bei mir ein und aus gehen. Doch glaube ich, daß er mich im stillen deswegen verachtete ... Na schön! Ich suchte es mit Ruhe zu tragen und blieb dabei ...

Die Sonne, begann, sich langsam nach ihrem Verfall wieder zu erheben. Funkelnde, feuerspeiende Tage schritten über die Schneefelder dahin. Sie loderten auf in weißglühenden Flammen, sanken zusammen wie Haufen siedender Brillanten, durchschnitten himmelschreiend Luft und Wolken. Die Augen taten einem weh, und man mußte niesen, wenn man in die Sonne sah, die wie ein brennendes Schloß den Himmel entlang glitt.

Die Wege durchs weiße Land schmolzen und versanken. Nach und nach kamen die Pferdeäpfel zum Vorschein. Wie goldene Saat lagen sie in der braunen Schneekruste, wanden sich wie Goldfäden durch blendendweiße Weiten und tannendunkle Wälder.

Der Rauch stieg aus den Schornsteinen kerzengerade in die Luft, stand wie tausend Säulen in den Himmel hinein, wuchs in der Luft wie ein Wald mit weißen Stämmen und blauen Kronen weit in der Unendlichkeit Tiefe hinein.

Das war das Frühjahr – eine Luftspiegelung der Sonnenwende!

Bald kommen graue und feuchte Tage mit dunkeln Flecken auf den bleichen Äckern. Bald zeigt des Herbstes welkes Gras seinen Tod und sein Elend in den Lichtungen des Waldes. In Sumpf und Bach steht das Wasser auf dem gelben Eis. Der Tannen und Föhren Zweige schwanken in dem naßkalten Windeshauche von West und Süd, und eines frühen Morgens oder Abends kommt die Schnepfe seufzend durch die Luft ... Still! Was war das? Ist sie es schon?

Nein! ... Aber wo sind Patronen, Pulver und Blei? Heraus mit ihnen, Tops! Die Schnepfe ist unterwegs gen Norden! – – –

 

Ehe die Schnepfe kam, war ich draußen im Wald, um den Auerhahn balzen zu hören, und ihn fallen zu sehen mit meinem Schuß in der Brust. Doch das war nichts für Tops, und deswegen gehört es nicht zu dieser Geschichte. Das ist auch eine Jagd, die das Leben eines Menschen kosten kann, geschweige denn die Nase eines Hundes. Die Wälder sind voll von Schneematsch. Sowie der Gesang des Auerhahns anhebt, springt man im Sturmlauf vor bis zum Leib im Schneewasser. Da mußte Tops zu Hause bleiben.

Als aber der Schnee geschmolzen war auf Wegen und Wiesen und nur wie bleiche Leichentücher unter des Dickichts, dunkelm Zweiggewölbe lag, zogen wir aus der Stadt.

Das Tauwetter war wie eine Lawine über das große Festland gekommen. Der Schnee schmolz als kochte er. Man konnte geradezu die weißen Kristalle Strich für Strich zusammensinken sehen, wie sie ihre Form änderten, wie sie hinflossen in regenbogenfarbenen Tropfen, Rinnen in die Erde gruben, niederstürzten in schäumenden Wasserläufen und den Fluß füllten, so daß er seinen grauen Eisrücken hob und sich durchs Land dahinwälzte, unter brechenden Brücken und stürzenden Stämmen.

Schwermütige Nächte und Tage kamen, trübes Wetter mit verweinten Wolken und Tageslicht wie verschleierte Blicke. Die Bäume hingen voll Nebel und fließender Tränen. Die Erde wurde erlöst von Kälte und Frost, saugte sich unersättlich voll von sickerndem Wasser, trank sich wiederum nüchtern zu eines neuen Sommers Großtat ...

An einem solchen Tag fuhren wir hinaus aufs Land mit meinem Freund, dem Bauer Iwan Petrowitsch Sisow. Er hatte ein Fleckchen Land und ein Haus, etwas Vieh und ein Paar Pferde, so etwa drei Meilen von der Stadt, und war alles in allem ein biederer Mann.

Er bestellte fleißig sein Feld, fuhr in der Zwischenzeit mit Waren von oder zur Stadt, tauschte Pferde, trank sich auch mal voll und schlug die Leute zuschanden mehr als einmal; aber Jäger war er nicht. Das paßte gut, denn ich habe mit wenig Ausnahmen immer am meisten davon gehalten, selbst zu schießen.

Sisow war zeitig am Morgen mit zwei Dritteln auf jedem Schlitten hereingekommen, und wir fuhren mit ihm gegen 9 Uhr zurück. Aber er hatte doch Zeit gehabt, Pferde zu tauschen und das Geschäft mit zwei Biergläsern Branntwein zu besiegeln. Er war brillanter Laune und brüllte aus vollem Halse. Er selbst saß auf dem vordersten Schlitten mit einigen Schachteln Tee und ein paar Zuckerhüten; Tops und ich kamen hinterher.

Es fuhr sich leichter, als wir auf den aufgeweichten Weg außerhalb der Stadt kamen. Es ging glatter da als drinnen auf dem Steinpflaster, denn wir fuhren ja Schlitten. Die Wege waren zu anderer Beförderung nicht geschaffen. Aber es war nicht des Winters Jauchzen zu galoppierenden Hufen, nicht des Dreigespanns Fauchen aus bereiften Nüstern und nicht der eisenbeschlagenen Kufen Pfeifen in dem gefrorenen Schnee! Nein! ... Das war ein Vorwärtswaten Schritt für Schritt, eine Segelfahrt auf zwei breiten Schlittenkufen, mitten in der schwankenden Erdkruste. Wir staken tief darin, nahmen See über und legten uns, daß der Moder uns über die Stiefel ging. Wäre die Masse, in der wir schwammen, wärmer gewesen, ich hätte keinen Augenblick gezweifelt, daß wir weit zurück zu einer Zeit gefahren wären, wo die Erdkruste noch flüssig war.

Jeder von uns saß auf seinem Bund Heu und nickte nach vorn und nach hinten, nach vorn und nach hinten im Takt mit jedem Schritt, den die Pferde machten. Sisow hätte sich die Lunge aus dem Halse gebrüllt, und sein Kopf hing im Schlafe zwischen seinen Knien. Wunderbar, daß er nicht kopfüber nach vorn fiel und in der Erde verschwand. Tops hatte sich in sein Bund Heu tief eingebohrt und war vor dem Moder durch einen Sack geschützt, den ich über ihn geworfen hatte. Die Büchse und das Schießzeug hatten es auch trocken und gut in ihren Hüllen; aber Sisow und ich sahen gefährlich aus. Wir waren derartig beschmutzt, daß meine Mutter mich wohl nicht wiedererkannt hätte. Wäre ich plötzlich dazugekommen, in einen Spiegel zu sehen, hätte es auch für mich selbst Schwierigkeiten haben können, die Identität festzustellen.

Na, wir waren für dies Wetter angezogen, dem Zeug schadete es nichts.

Nach vierstündiger Fahrt in der Erdkruste machten wir bei einem kleinen Krug halt, um auszuruhen. Sisows neue Pferde konnten nicht mehr. Sie ließen die Köpfe hangen, und ihre Augen waren so ausdruckslos, daß sie nicht einmal beim Peitschenknall blinkten. Die Haare an Bauch und Beinen klebten fest an dem mageren Körper. Sie sahen aus wie große, ungehörnte Hirsche der Vorzeit, die auf dem Marsche überwältigt worden waren.

Wir sorgten für sie, so gut wir konnten, und tranken selbst jeder sein Bierglas Branntwein zu einer gesalzenen Gurke. Die Kost richtet sich auf der ganzen Welt nach dem Klima, und man handelt unklug, wenn, man diese Erfahrung übersieht.

Tops bekam eine Schale Hafergrütze, während Sisow und ich jeder sein halbes Dutzend Gläser kochendheißen Tees tranken. Wir kamen in Schweiß, und das gab den steifgefahrenen Gliedern Linderung.

Sisow rollte sich eine Düte aus Zeitungspapier und füllte sie mit Machorka. Er kümmerte sich nicht um feinere Tabake, aber sättigte dafür in langen Zügen seine Lungen mit diesem fürchterlichen russischen Tabak, der unter anderem unfehlbar Läuse und Krätzemilben tötet. Er hielt die Luft an, so lange er konnte, und wenn er endlich nicht mehr konnte, blies er sie von sich, daß aus allen seinen Öffnungen der Rauch hervordrang. Ein alter Wolf hätte sich zu Tode gehustet, wenn er einen solchen Mundvoll Tabak hätte atmen sollen, aber Sisow streckte die Beine behaglich von sich und spuckte in weitem Bogen auf den schmutzigen Bretterfußboden ...

Ich dachte plötzlich an das erste Mal, wo ich Machorka roch. Damals hatte ich mich auch während des Marsches in einem kleinen Krug ausruhen wollen, aber ich besaß nicht einen Pfennig und konnte den Machorka nicht vertragen auf den nüchternen Magen. Es half nichts, daß ich mich sträubte, ich mußte hinaus in die frische Luft ...

Das war damals! Nun ging es besser. Und ich verfiel in Träumereien von großen Wäldern und reißenden Strömen, folgte des Wildes pfadlosen Wegen in der Öde und atmete des Lebens herben Duft.

»Nun wollen wir weiterfahren!« hörte ich endlich Sisow aus der Ferne sagen. Und im selben Augenblick sah ich die rußige Decke der Gaststube und ihr rauh zugehauenes Mobiliar.

So fuhren wir denn weiter, vorbei an den grauen und niederen Hütten der Dörfer, vorbei an grünen Roggenäckern und welken Stoppelfeldern, wo die Wassertropfen an jedem Strohhalm perlten. Wald und Gebüsch wich zurück und kam wieder. Die Föhrenzweige bogen sich zur Erde nieder wie Schatten über Gräbern, und in der Ferne lagen dunkle Höhenzüge und neblige Täler wie Sehnsucht und Entbehrung in einer Seele, die verlassen ...

Ach, was war das für ein Name! Wie lautete er doch! Wohin entschwand er, da ich ihn gerade aussprechen wollte, ihn heraufholen aus meiner Seele wie einen klingenden Ton! Warum ist er fern und unfaßbar wie dunkle Höhenzüge und neblige Täler ...

Da erscholl vorn ein Fluch. Sisow war vom Schlitten gefallen und schimpfte, während er sich wieder aufraffte, auf alle seine Altvorderen mütterlicher- und väterlicherseits. Er war ungeheuer in seinem Zorn, und wäre ein Gewitter in der Luft gewesen, so hätte ihn der Blitz erschlagen, da ihn die Erde nicht haben wollte. Aber lieblich sah er gerade nicht aus, als er wieder auf den Sitz kam, und ich mußte hin, um ihn zu trösten.

Es ärgerte ihn am meisten, daß das gerade so nah bei seinem Haus und Heim passiert war und ohne einen Rausch. Nun wurde er ihm doch aufgeredet.

Seine Dorfgenossen steckten auch die Köpfe zusammen und knipsten sich vielsagend an den Hals, als wir die lange Straße in Sisows Dorf hinauffuhren, und ich glaube, daß seine Frau ihm böse Worte sagte, als Tops und ich mit der Büchse zu den Schnepfen abzogen. Das taten wir nämlich gleich. Wozu die kostbare Zeit für unsere Bequemlichkeit verschwenden, wenn Sisows Jungen sagten, es flögen des Abends große, große Vögel hinunter in den Wald! Wir mußten sie sehen, sie herunterholen aus der Luft, um uns die Hände in ihrem Blut zu wärmen und ihr Federkleid zu rauben, um selbst hinaufzufliegen zu den Wiesen und Liebesabenteuern an dem großen Fluß. – Da wollen wir mit dem langen Schnabel nach leckerem Gewürm graben und mit dem braungesprenkelten Körper dicht zusammenliegen, indes das Gras meilenweit und mannshoch seine wispernden Gesänge ertönen läßt, Gesänge von weißen Nächten und roten Tagen, so lang, so kurz wie Sommer und Liebe an dem großen Fluß im Norden ...

Tops und ich waren drin im Wald und draußen auf der Wiese. Die Erde trug wieder. Da gab's Moos und Wurzeln und Torf unter dem Wasser auf den Wiesen, worauf, man mit den Füßen treten konnte. Noch nie hatte einer von uns darauf getreten. Doch – die weiße, nach Harz duftende Wunde an dem Föhrenstumpf war von Menschenhand geschlagen. So waren sie doch hier gewesen! Es hatten die Äxte gesungen in dem klingenden Frost, gesungen mit bebendem Widerhall an den anderen Stämmen des Waldes, während die Späne zum Gesang der Axt in den weißen Schnee sprangen.

Sie waren also vorher hier gewesen! ... Ob es wohl andere Tiere im Walde gibt? Sollte es hier etwas geben, das sich hinschlich über das Moos oder behutsam und sanft durch die Luft strich? Ah! laß mich nach meiner Büchse sehen: Laß mich deine rauchfreie Seele an meiner Seite fühlen!

Tops! kannst du das gelblichmatte Licht dort sehen, wo der graue Tag sich neigt! Das ist die Sonne! Sie liegt wie eine Welt von Feuer hinter der diesigen Luft. Sie fliegt da draußen im Raum wie eine goldene Staubflocke. Klein und unendlich groß sieht sie gnädig auf uns, die wir aus ihrer heißen Hüfte sprangen. Bald wird es Nacht. Sieh, wie der Nebel flimmert, wie die matten Farben sich im Wechsel brechen, wie der Atem auf einer blanken Messingtür ... Die Zeit ist da! Wir müssen uns aufstellen und in das Licht sehen. Da muß etwas herauskommen! – –

Ich wollte mich an einer Stelle am Waldrande aufstellen, aber Tops war dagegen. Er ging mit hohen Schritten und erhobenem Kopfe weiter. Ich mußte ihm nach auf einem Stamm, der quer über einen Bach gefallen war, ihm nach, einen Abhang hinauf in den Schatten des Waldes. Es war keine Zeit zu Streitigkeiten. – Laß ihn nur gehen, wie er will – dachte ich –, 's nächste Mal bin ich dran.

Er setzte sich neben einen Stamm am Waldrande und sah mich an. Ich sah ihn wieder an und blieb zu seiner Seite stehen.

Vor uns lag ein hügeliger Wiesenzug. Wir hatten Licht und Platz, uns zu rühren, und ein wenig Zeit zu vergeben, falls etwas schnell über die Wiese kommen sollte.

Wir standen mit dem Gesicht nach Süden. Des westlichen Himmels Licht glitt wie ein mattfarbener Strom an uns vorbei durch die Lichtung im Wald. Ich fühlte den leichten Druck seines sanften Hingleitens, wenn er stieg und fiel und meine Wange in seinem hellen Wasser badete. Er zog die Augen auf sich wie ein goldener Leib, in weiße Schleier gehüllt.

Alles war Stille, die ungeheure Stille, die man hören kann, wenn man mit der Erde Auge in Auge steht. Der Südwind schlängelte sich durch den Wald, flüsterte leise zu den Föhren und huschte wie ein Lächeln im Schlaf über der Birken bebende Wehmut.

Wir hörten unseren eigenen Atem, fühlten unseres eigenen Wesens Sein.

Was dachte wohl am Morgen der Zeit damals der erste Mensch, der zuerst von allen seinen eigenen Atem wahrnahm, seines eigenen Wesens Sein ... Er stand genau wie wir vor einer offenen Fläche im Walde, als er plötzlich sich selbst atmen hörte und sich selbst allein erblickte – mitten in der Welt. Vielleicht stand er hier auf demselben Fleck wie wir! ... Tops! geh ein bißchen weiter! Laß uns ein paar Schritte nach der Seite machen! So ...

Ja, er stand da, zwei Schritt von uns, und als er sich selbst entdeckt hatte, warf er sich vornüber auf sein Angesicht und erhob sich erst wieder am Morgen. Ich sehe die qualvolle Veränderung auf seinem Steinalterantlitz ... oder war es gar vor dem Steinalter? Die Beine zittern unter ihm, als er sich wendet, um das ungeheure Wissen von sich selbst zu den anderen zu tragen, die in den Wäldern verblieben ...

Ich fühlte einen bitteren Schmerz hinter den Augen: Was für Entdeckungen sollen wir noch bei uns machen? Wo wird uns die äußerste Grenze gesetzt für unseren Flug im Raum? dachte ich und wollte auch wie er, der einst zwei Schritt von uns entfernt stand, die Hände zum Haupt erheben, aber im selben Augenblick glaubte ich etwas zu hören ... oder war es nur Tops, der etwas hörte?

Er war aufgestanden und witterte, den Hals in seiner ganzen Länge ausgestreckt und den Kopf schief. Ich war mir nicht gleich klar darüber, aber ich war froh, daß ich ihn mithatte:

Niemandem sollte es gestattet sein, über die Lichtung zu kommen, niemandem, nicht einmal jenem fliegenden Vieh, mit dem Namen, der nie nachts genannt wird, nicht einmal diesem, wenn es seine versteinerten Glieder aus dem Flußbett erheben würde, wo es niedergewirbelt wurde in jener Nacht in der permischen Periode.

Ah! Was war das? Nun hörte ich es auch! Ein Pfeifen in der Luft war es! ... Still! ... Wieder, und noch einmal! Eins, zwei! Eins, zwei! ... Da ist ein Punkt oben in der Luft. Ich glaube, er wird größer! War er es, der pfiff? Jetzt gurrt und seufzt er langgezogen ... Aber der kommt ja mit rasender Geschwindigkeit heran, als ob er wüchse! Er hält gerade auf uns zu, daß es in der Luft pfeift! Er steuert zu uns! Paß auf! Paß auf! Er ist bemannt! Sieh da in der Öffnung der Schwingen und auf der Brust! Wie viele sind es? Es blitzt! War das nicht ein Blitz? Ah, Tod und Teufel, laß mich heran, Tod und Teufel, laß mich auf ihn schießen, eh' er über das Land kommt! ...

Mein Schuß explodierte hinter ihm. Er manövrierte mit einem siedenden Sprung darüber. Halt voraus, voraus! Der hat getroffen. Ach, wie das traf! Er stoppte ab, hob sich geradehoch in die Luft, mit dem Steuer nach unten. Sie springen über Bord mit Fallschirmen. Sieh, wie sie wirbeln! Wie Federn eines zu Tode getroffenen Vogels! Wirbelt zur Hölle hin, ihr Flöhe und Läuse, wenn nur das fliegende Tier zur Erde nieder kommt! Nun kommt es schwer herab, gerade auf die Wiese, mit gelben Streiflichtern über den gebrochenen Schwingen ...

Mit einem Krachen fiel er nieder vor uns und blieb wie eine große, unförmige Masse im Schatten des Waldes liegen.

Tops kümmerte sich nicht um ihn. Hatte er Zeit, an einen gefallenen Feind zu denken, solange die Luft noch voll war von ihnen? ... Es war eine ganze Flotte. Sie kamen einer nach dem anderen im Kielwasser, zuzeiten zwei und zwei. Ich konnte sie nicht paarweis beseitigen. Ich schoß auch ein paar Mal vorbei, und das wird mich noch in meiner letzten Stunde quälen, aber ich konnte nichts dagegen tun, und die Hauptmasse bekam ich ja herunter. Vielleicht kann ich die zerstreuten Überreste ein ander Mal aufsuchen ...

Es wurde still in der Luft, und die Nacht kam über uns wie ein vermummtes Weib, das eine Ruhestatt sucht und findet und selbst gefunden wird.

Tops hatte mich verlassen: ... Tops! Er tauchte aus dem Dunkel auf mit etwas Großem und Schwerem im Maule. Dann verschwand er wieder, kam zurück, und dies wiederholte sich.

Er sammelte sie alle auf einen Haufen.

Ah, sei vorsichtig mit toten Feinden. Sie können wieder aufleben wie eine tote Liebe, ja, wie eine tote Liebe, wie ein ferner und unfaßbarer Name, der vergessen wurde und verloren ging ...

Auch ich beuge mich wie Tops über die toten Vögel. Ein warmer und lieblicher Duft steigt von ihnen, auf, warm und lieblich ... Ach, nun gedenke ich deiner: Ach, Lorine! Lorine! Nun denk' ich wieder dein, Lorine!! ...

Da sind sie mit den Vögeln! riefen Sisows Jungen, als Tops und ich an das zweistöckige Holzhaus im Dorfe klopften.

Die ganze Familie war unten in der niedrigen Ofenstube versammelt. Sisow lag auf der ehelichen Schlafpritsche oben unter der Zimmerdecke und schnarchte und schwitzte in der Hitze. Seine Frau stand da mit aufgestreiften Ärmeln und bloßer Brust und beförderte feuerfeste Kochtöpfe hinein und heraus aus dem glühenden Ofenrachen. Einer der Jungen wiegte den kleinsten in einem Spankorbe, der an einem Tauende von einem biegsamen Birkenaste an der Decke herabhing. Jedesmal, wenn der Junge die Wiegenschnur herunterzog, bog sich der Birkenast in einem Bogen, so daß das Kind im Korbe ganz zu uns anderen Erdbewohnern herunterkam, um wieder wie eine Luftspiegelung zu verschwinden, wenn die Schnur losgelassen wurde.

Ich beneidete dieses Wickelkind von einem Luftschiffer, das so von Kindesbeinen an den Raum befuhr, da ich an die Eisengitterwiege denken mußte, mit dem grünen Barchentvorhang, in der ich meine erste Jugend hingeschleppt hatte.

»Guten Abend euch allen!« sagten wir, als wir in die Stube gekommen waren und Tops sich umgesehen hatte, und »Behüt euch Gott! ... Gott lohn's euch!« antwortete die Frau. »Ich glaubte schon, Sie wollten da draußen bleiben.«

»Mascha!« rief sie einem jungen Mädel, mit dicken Waden unter dem aufgeschürzten Hemde, zu, »Mascha, hilf dem Herrn die Stiefel ausziehen! ...«

Mascha sah vom Teigtrog auf, über den sie gebeugt stand und faßte fest meinen Stiefel an. Er saß fest von all der Feuchtigkeit, in der er gesteckt hatte.

»Sapperlot, wie der sitzt!« kicherte sie, als sie daran zog und ihren bloßen Fuß gegen meinen anderen Stiefel stemmte. Ich war nah daran, von der Bank zu gleiten, aber im selben Augenblick gab der Stiefel mit einem Ruck nach, so daß Mascha einen Schritt zurücktaumelte, und ihre runden, starken Brüste unter dem losen Hemde wackelten.

Dann faßte sie fest den anderen an und kicherte wieder, denn diesmal mußten wir die bloßen Füße gegeneinanderstemmen. Ihre waren ganz braun und weich, wenn man darauftrat, wie Laub im Walde, und die Zehen geschmeidig wie Eidechsen. Als sie sich vorbog zu mir, stieg mir der süßliche Duft ihres Körpers in die Nase. Sie roch wie die Erde selbst, wie gedörrtes Heu, wie ein strotzendes, fettiges Schafeuter an einem regennaßen Abend ...

Sisow reckte sich und gähnte so, daß man die Luft in ihm hören konnte.

»'N Abend,« sagte er und richtete sich auf. »Wo sind die Vögel?«

»Sie liegen draußen im Vorraum,« versetzte ich mit einer Kopfbewegung nach hinten. »Nun müssen wir uns wohl daranmachen, sie zu rupfen und sie aufs Feuer zu bringen.«

»Solch Dreck!« sagte die Frau verächtlich. »Da ist auch gerade was zu rupfen und den ganzen Abend danach zu gehen, anstatt lieber zu Hause zu sitzen und meine Schtschi zu essen. Da ist ja nichts dran!«

»Aber das bißchen, was dran ist, ist gut,« antwortete Sisow und hängte seine Beine aus der Pritsche. »Wir werden sie schon rupfen. Ja, wir wollen, mein Täubchen,« fuhr er fort, indem er sich, auf beide Arme gestützt, mit gebeugtem Rücken auf den Fußboden gleiten ließ, daß man seine sehnigen Beine und seine breite, behaarte Brust zur Seite des im Korbe fliegenden Nachkommen schweben sehen konnte.

»Wie du willst, Iwan Petrowitsch,« sagte seine Frau verbissen und drehte mit festem Griff eine andere Seite des Sauerkohltopfes zum Feuer, »aber sonst ...«

»Ja, ich will Ihre paar Schtschi, die Sie da haben, ganz allein essen,« beruhigte ich sie. »Das dampft ja, daß einem das Wasser im Munde und in den Augen zusammenläuft. Kein Mensch auf der Welt kann solche Schtschi kochen! Kein Mensch! ...«

Sie sah mich dankbar an.

»Na – da hörst du's,« brummte Sisow und kratzte sich die Brust ...

Die Jungen brachten die Jagdtasche angeschleppt. Sisow suchte einige der schönsten Schnepfen aus, und alle Mann machten sich ans rupfen, während ich Tops fütterte und mich und meine Büchse reinmachte. Wir hatten es wohl nötig.

Dann begann ich zu braten. Das wollte ich selber übernehmen. Es kann schon schwer genug sein, einen Vogel in einer modern eingerichteten Küche zu braten, aber Schnepfen zu braten in einem Topf im Feuer eines russischen Backofens, dazu gehört Liebe und Geschick. Ja, das gehört dazu! ...

Aber es ging. Sisow und Familie standen im Halbkreise herum und ermunterten mich mit vielen spaßigen Bemerkungen.

»Kriech nicht ganz in den Ofen,« sagte Sisow.

»Er bratet sie mit Dreck und Därmen,« verhöhnte mich seine Frau.

»Ja, wem das nun mal Vergnügen macht,« stichelte Sisow.

Mascha und die Burschen flüsterten und lachten mal dazwischen. Aber es ging trotzdem ganz gut, und so beruhigten sich die Zuschauer. Da war kein Ulk mehr zu erwarten!

Die Jungen krochen auf ihre Pritschen und wurden still. Das »Täubchen« und Mascha rumorten oben in der Gaststube, und Sisow zog die feinen Harmonikastiefel an und verschwand, nachdem er sich geräuspert und mit den Fingern an seinen Hals geknipst hatte. Den Flaschen galt sein Gang ...

Tops und ich blieben allein vor der Feuerstätte. Wir gaben noch einmal auf die Schnepfen acht, ehe sie für immer unseren Sinnen in dem großen Kreislauf entzogen wurden. Ihre »Seele« stieg wie chemische Formeln von dem gebratenen Fleisch empor und breitete sich über die Welt aus. Möglich, daß ein paar Teilchen von uns sich wieder einmal treffen in dem brausenden Kielwasser hinter der Welt und stehenbleiben in der ungeheuern Tiefe, bis eine neue Sonne mit ihren Trabanten vorrückt durch die Ätheröde.

»Tops, wir wollen sie vom Feuer nehmen, ehe sie ganz »entseelt« sind! Wir wollen uns das duftende, braune Fleisch nehmen und die Seelenstöberer, unwissend in der Chemie, auf dem Besenstiele durch den Schornstein nach der Schnepfenseele reiten lassen.«

Ich zog den Bratentopf fort von dem glühenden Höllenbrand und heraus zu den dampfenden Schtschi in das Ofenmaul. Da stand er und behielt die Wärme ganz von selbst, bis Sisow und ich uns oben in der Gaststube niederließen.

Es war nachgerade auch Zeit geworden, zu Tische zu gehen. Ich hatte in 12 Stunden nichts Ordentliches zu essen bekommen. Nun sollte nach Jägerweise gegessen und getrunken werden! ...

Ein grobes, hausleinenes Tuch hatten sie auf den rotangestrichenen Tisch gelegt, und Sisow hatte durch verschiedene Arten tüchtiger Getränke für Schmuck gesorgt. Schnapsgläser und Fayencetassen waren aus dem Föhrenholzschrank mit den blasigen Scheiben geholt; zwei Messer und Gabeln sahen fremd und vornehm aus. Die wurden nur bei besonderen Gelegenheiten hervorgeholt, sonst gebrauchte man Holzlöffel und die Finger. Die Stämme knisterten im Ofen wie ein Waldbrand und warfen einen roten Feuerschein auf mein Bett, das auf der gelbgestrichenen Ruhebank an der Wand hergerichtet war. Es war angenehm, sein Lager so nah zur Hand zu haben ...

»In Gottes Namen denn!« sagte Sisow und bekreuzte sich mit tiefer Verbeugung vor dem Heiligenbild oben in der Ecke.

Ich sah zu. Ich wußte ja, daß er das nur aus Gewohnheit tat, ohne jede Spur eines frommen Gedankens dabei. Wenn er einige Schnäpse intus hatte, würde er auf ganz andere Weise beten.

Die Hausfrau lief hinunter, und Mascha rührte unermüdlich im Feuer, während wir uns setzten, und Sisow Schnaps einschenkte:

»Auf Ihr Wohl,« trank er mir zu.

»Gleichfalls! ...«

»Der ist aus der kaiserlichen Brennerei,« nickte Sisow und leerte mit geschlossenen Augen den Becher. Ich tat desgleichen. Der Monopolschnaps schmeckte nach nichts anderem als Alkohol. Es war kein Gewürz oder Zucker darin, um den Sprit zu verdecken. Es war, was es sein sollte, ganz einfach nur Branntwein.

Wir räusperten uns nach der Spülung und beseitigten das innerliche Brennen mit einem großen Mundvoll Zwiebel und Hering, und das taten wir einige Male, bis die Frau mit der Sauerkohlsuppe kam.

»Mein Täubchen ... mein Täubchen,« sagte Sisow einige Male wie in Gedanken, als seine Frau den glühheißen Topf mitten zwischen uns stellte. Dann nahm er seinen Holzlöffel und leckte ihn nachdenklich ab, damit ich als Gast zuerst zum Löffeln kam. So fingen wir langsam an zu löffeln, jeder an seiner Ecke.

Niemand sprach ein Wort. Der Dampf stieg aus der Schüssel wie aus einem heißen und offenen Rachen. Es roch stechend säuerlich, wie jeder gute Kohl, der im Faß gestanden und gegoren hat. Die Löffel zogen einen kleinen Dampfstreifen hinter sich her, jedesmal wenn wir sie zum Munde führten und den Inhalt in uns hineinschlürften. Mascha lag auf den Knien vor der Teemaschine und blies hinein, und die Frau stand mit den Armen über dem Bauche und sah zu, wie wir auf ihre Schtschi loslöffelten.

Endlich legte Sisow den Löffel weg und sah mich betrübt an. Ich verstand ihn sofort, legte auch meinen Löffel fort und schob mein Glas zu ihm hinüber. Er füllte die Gläser, wir leerten sie, stellten sie wieder zusammen auf den Tisch, leerten sie, wiederholten das ein paar Mal, bis Sisow plötzlich das Glas heftig nach der Seite setzte und ein brodelndes Gemisch von Branntwein und Speichel ausspie. Er konnte für den Augenblick nicht mehr.

»Ein angenehmer Höllensuff!« sagte er und räusperte sich angestrengt. »Aber der alte Smirnowka war doch besser.«

Dann suppten wir den Rest der Schtschi aus und machten es uns bequem, jeder mit seinem Krug dickflüssigen, selbstgebrauten Biers in der Hand. Das linderte, und Sisow zog eine andere Flasche auf mit einem langen Strohhalm durch den Pfropfen. Das war das wundertätige und wohlriechende Kraut Subrowka, das in die Flasche gesteckt wurde als eine Erinnerung an die Kräfte, die den weißen Branntwein in flüssiges Gold verwandelt hatten. Außen darauf kämpften zwei Büffel mit gesenkter Stirn auf einer subrowkabewachsenen Prärie.

»Ha ha ha hah!« stimmte Sisow ein und stieß mit seiner Stierstirn. »Ha ha ha hah!«

Im selben Augenblick kam seine Frau mit den Schnepfen. Sie trug sie, als wären es abgeschlagene Häupter auf einer goldenen Schüssel, ein verworrenes Knäuel verheimlichten Lebens.

»Ach, du bist schön, du Baalspriesterin, du Teufelstochter! Dein Leib ist dick und geschwollen von namenlosen Sünden! ...«

»Ha ha ha hah!« brüllte Sisow und zog sie an sich. »Setz dich und bleib. Komm zu mir! ...«

»Laß sein! Iwan Petrowitsch! ...«

»Nee, der Teufel fahr in deine alte Mutter, ich will nicht!« schlug Sisow auf den Tisch, während seine Frau sich loswand und sich ganz in die Tür zurückzog.

»Immer Schwierigkeiten mit den alten Weibern!« brummte Sisow und steckte die Faust in den Bratentopf nach einer Schnepfe.

»Ho ho ho!« lachte er und schwang sie in der Luft.

»Tops! Wo bist du! Komm nur vor, du alter Scheinheiliger. Spiel nicht den Entrüsteten! Wir kennen dich besser!«

Tops kam sehr entrüstet unter einer Bank hervor und nahm bedächtig eine Schnepfe aus meiner Hand. Er hielt nichts von Trinkgelagen und tat so, als höre und sähe er nichts, aber wir kannten ihn ja besser, wie gesagt. Er hatte seine Passionen, wenn er auch stille war.

Sisow aß die Brust seiner Schnepfe, und pellte das Fleisch von den Beinen.

»Ja, wir wollen mit den Fingern essen! Wir wollen die Jakobsleiter hinabsteigen, tief hinunter in die Finsternis, daß wir den Abstand merken. Wollen wir uns nicht auf den Fußboden legen und nagen, daß es kracht. Gib mir einen Ochsen, ein wildes Pferd zum Zerfleischen, einen Tapir, ein Mammut! Wollen wir die Schulterblätter abreißen und uns sättigen mit den roten Muskeln und nachher aufstehen und uns mit den blutigen Knochen auf den Kopf schlagen?«

»Soll ich dir mit einem Schulterblatt auf den Kopf hauen, Sisow?«

Schwankend erhob sich Sisow und sang zur Antwort ein Lied vom Handwerk auf der Landstraße:

Ei – da! Wir spannten schwarze Pferde vor
Und fuhren auf der Straß'.
Wir waren zähe Wandersleut.
Die Axt stak uns im roten Gürtel.
Ei – da! Ho – ho!

Ei – da! Wir ließen unsrer Troika Spur
Tief in dem Weg zurück.
Wie Stämme in dem Birkenhain
Vorbei die Meilensteine flogen.
Ei – da! Ho – ho!

Ei – da! Wir hatten gute Augen mit,
Die schauten durch die Nacht.
Ein Kaufmann lenkte sein Gespann
Mit Waren und mit vollen Taschen.
Ei – da! Ho – ho!

Ei – da! Wir hielten seine Mähre fest.
Man zog ihm aus den Pelz.
Wir ließen auch sein Geld ihm nicht
Und voll wir unsern Wagen packten.
Ei – da! Ho – ho!

Ei – da! Zum Teufel! Heul' nicht so, du Hund!
Nun ist dein Leben aus!
Wir schlugen ihm den Schädel ein
Und ließen ihn zum Teufel fahren.
Ei – da! Ho – ho!

Ei – da! Und dann schlug unsrer Pferde Huf
Die Steine auf der Straß'.
Wir jagten in die Stadt hinein,
Das Blut noch an den blanken Äxten.
Ei – da! Ho – ho!

Ei – da! Das runde Geld vertranken wir
Und kauften Weiber uns.
Dann zogen aus wir auf die Jagd.
Die Axt stak uns im roten Gürtel.
Ei – da! Ho – ho!

»Ei – da! Ei – da!!« brüllte Sisow. Er sprang auf den Fußboden und schlug mit den Beinen, ehe er anfing eine Kamarinskaja zu tanzen, daß die Dielen schwankten.

»Tju!!«

»Iwan Petrowitsch,« sagte seine Frau einschmeichelnd vom Gange draußen.

»Wa! Ist sie wieder da! Ich werde ... Ich werde ...« Er nahm eine der Tassen und schmetterte sie in den Schrank, daß die Scheiben zersplitterten, »sie lehren! ...«

Dann sank er auf einen Stuhl und stöhnte.

Mascha kam, deckte ab und setzte die Teemaschine auf den Tisch, während Sisow sich wieder zusammenraffte und Vogelbeerbranntwein in die Gläser schenkte. Er war hellrot wie junges Blut ...

Sind es deine Lippen Mascha, die dem Branntwein die Farbe gaben! Oder ist es etwas anderes? Ich will der Flasche auf den Grund gehen und danach suchen, bis ich keine Luft mehr bekommen kann unter dem erstickenden Druck des blutroten Feuerwassers! ...

»Prost, Sisow! Prost, ihr alle über und unter der Erde! ...«

Nein, Mascha, du bist in dem reinen Feuerwasser mit blutenden Füßen gewatet, hast darin gelegen und lüsternen Blutschweiß geschwitzt! Du hast dein Herz ausgerissen und es wie einen quellenden Regen über den weißen Wassern geschwungen.

Ich will dein Herz sehen. Liegt es gebleicht dort unten in der Tiefe! Gab es sein Blut her, um die weißen Wasser blutigrot zu färben! Bist du davon so bleich! Willst du dafür mein Herz haben! Komm, Mascha, soll ich ein Wunder an dir vollbringen!

»Ha – ha – hah!« donnerte Sisow und hieb los auf den Tisch und die Gläser.

»Hah – hah – hah!« sagte er, als er sich vornüber auf den Tisch und mit diesem auf die Erde wälzte.

»Iwan Petrowitsch!« ertönte eine schluchzende Stimme draußen vom Gang. »Iwan Petrowitsch, nicht doch! ...«

Er stand wieder aufrecht wie ein Bär ... ›Das Täubchen‹ flüchtete die Treppe hinunter. Er rollte hinterher, und ein langer, saftiger Fluch füllte die Luft.

»Laß mich los!« rief jemand, und dann wurde alles still.

Mascha schlich sich heran, um die Ofenklappe einzusetzen.

»Mascha!! ...«

Sie war mit einem Sprung draußen. Ich strauchelte, fiel über die Ruhebank, und Finsternis umhüllte mich ...

Ich weiß nicht, wie lange ich gelegen hatte, aber plötzlich war mir, als sei jemand dabei, Erde über mich zu schaufeln, mich lebendig zu begraben. Ich konnte mich nicht rühren und fühlte, daß mich die Erde mehr und mehr bedeckte. Ich quälte mich unter einer ungeheuern Last. In demselben Augenblick wachte ich auf und sah gerade in zwei grüne Augen, die über mir funkelten. Ich versuchte die Hand auszustrecken, konnte aber nicht. Dann war es etwas Kaltes, Klammes, das mir im Gesicht herumschnupperte, und etwas Heißes, das meine Nasenlöcher beleckte. Wieder dasselbe Schrapen, und ein Hund bellte lang.

»Tops, bist du es? Ja, ja, Tops, ich bin gleich da! Ich kann mich nicht rühren ...«

Plötzlich roch ich etwas ... Was ist das? Ach, du lebendig Begrabener! Wir sind mit Kohlendunst vergiftet, gerade dabei, umzukommen! Wo sind wir? Ach, nun fällt's mir ein. Die Teufels-Mascha hat den Ofen zu früh zugemacht ...

Ich machte eine verzweifelte Bewegung und erhob mich, indem ich mich mit dem einen Ellbogen auf das Fußende der Ruhebank stützte. Ich hatte fast kein Gefühl mehr, und der Kopf schwer und leer, fast nicht zu tragen.

»Höher den Kopf, Tops! Stütz dich gegen die Wand. Kommen wir auf den Fußboden, sind wir des Todes. Wir können nicht auf den Beinen stehen und kriegen die Sonne nie mehr zu sehen. Wir wollen die Beine zu heben versuchen. Wo ist die Tür?«

Ich schob mich mit dem Rücken an der Wand Zoll für Zoll zur Tür. Mehrere Male war ich nahe daran, zusammenzubrechen.

Tops sprang zuerst hinunter und kratzte an der Tür, auf den Hinterbeinen stehend. Er nieste und pfiff. Dann faßte ich die Haspe und warf mich von der Ruhebank auf die Türschwelle nieder und kroch, solange ich konnte. Ein frischer, kühler Heuduft schlug mir entgegen, aber alles drehte sich. Die Erde schwang sich um ihre Achse, und ich war mit im Schwung ...

Nach und nach ging das langsamer, und ich fand mich zusammen mit Tops draußen auf dem Heuboden. Aber da war kein Heu, wo ich lag, und ich machte mich daran, über den Boden zu kriechen. Die Dielen waren kalt und glatt.

Tops knurrte.

»Sei stille, Tops! Was soll das? ...« Ich kam an einen Heuhaufen, und meine Hände berührten im Dunkel etwas Festes, wie gegerbtes Leder. Darunter war warme Wolle und etwas Weiches und Warmes, das sich bewegte. Es kicherte leise.

»Bist du es, Mascha?«

Es lachte wieder, als ich unter den Pelz kroch und eine süßliche Atmosphäre einsog, einen Duft von gedörrtem Heu, etwas heißes Leben wie ein strotzendes, fettiges Schafeuter in einer regennassen Nacht – – –

– – – Die Erde war trocken und fest geworden.

Das Gras nähte blanke Seidenstiche darauf. Weiße und gelbe Blumen sproßten auf der grünen Stickerei. Die Knospen schwollen geschwängert an. Der Wald atmete leise und heimlich, lag braun und erwartungsvoll unter dem Himmelsrand wie ein sonnengebräuntes, nacktes Weib.

Ein grüngoldener Schimmer legte sich auf der Birken rauschende Zweige: Also schlagen sie doch aus, füllen und beruhigen sich, diese nackten Nervenfasern, die da im Wind und ewigen Winter stöhnten!

Und sie brachen hervor wie junge Liebe unter streichelnden Händen. Die Blätter grünten mit Beben, standen aufrecht im Strom der Wärme, legten sich wieder nieder und boten ihren jungen Leib der Sonne dar.

Die Vogelkirsche, der Mandelbaum des Nordens, hing voll Blütentrauben. Die weißen Blätter fielen wie zerrissenes Linnen und legten sich im Wirbelgestöber auf Gras und Blumen, als käme der Winter in kalten, hellen Mainächten wieder.

»Wenn die Vogelkirsche blüht, die Kälte wieder einzieht,« sagt man im Norden. Und das ist wahr ... Ein Frostschauer zieht hernieder von den Weißen und nördlichen Meeren, wo des Polarkreises und der großen Flüsse ausgespieene Eismassen unter der Sonne der zunehmenden Tage dampfen. Die Gletscher geben den Geist auf, wechseln das Gewand und machen sich unsichtbar, um mit dem Winde nach Süden zu treiben, wie kalte Gespenster, die den jungen Sommer erschrecken und lähmen. Wo die Vogelkirsche blüht, flechten sie weiße Kränze um die kalten Stirnen und lassen sich bei Tagesgrauen als Reif auf der Nordhalde eines Hügels nieder.

Bleich und matt liegen des Eismeers Schatten, bis der lange Tag sie in die Erde mahnt und des Roggens und des Hafers Wurzel durch ihre Auflösung feuchtet.

»Wenn die Vogelkirsche blüht, die Kälte wieder einzieht,« sagt man da oben. Doch wer sieht im Reif, an einem Maimorgen auf einer Halde, das Spiegelbild des Weißen Meeres! ...

Der Vogelkirschbaum hat seine Blüten verloren. Sie fegten dahin wie des Sommers Schnee, tauten fort in schnellen Sonnenstunden, wurden zu Erde wie alles, das welkt.

Doch der Sommer tanzt sich heiß. Er schwingt des Waldrands grüngekleidete Nymphe, daß der Blütenstaub gelb und weiß in den malenden Sonnenstrahlen schwebt. Er tanzt dahin über das Land, daß die Luft flimmert wie von tausend sich wiegenden, brünstigen Paaren. Die Sonne hat ihre Vollkommenheit erreicht. Sie steht über uns und brennt mit 40° R. Es ist Hochsommer in dem großen Festland. Die Nächte sind mollig wie Vogelnester und der Liebe voll. Die Vagabunden liegen mit Flasche und Weib unter freiem Himmel. Sie sehen durch die Flasche zu den stillen und unerreichbaren Sternen und wenden sich herum zur Erde, um noch mehr in Entzücken zu geraten durch zwei vielsagende Augen und einen Raum, der meßbar ist.

Es liegen viele beieinander unter freiem, wie bedecktem Himmel ...

Geflüstert wird süß, schmerzvoll umarmt, und Jungfrauen werden so rot ...

Grübelnd zieht der Fluß gen Norden. Das Kielwasser eines Bootes gleitet dahin auf dem fließenden Strom und zerreißt wie ein Schleier.

Die Ruder schlagen ihren hölzernen Takt. Die Harmonika betet und bittet: O du! ... O du! ..., bis eine Stimme das ganze sagt, daß es hineintönt in die lauschende Nacht: O du Schöne! Du Einzige! Nun bist du ganz mein! ...

Halbnackte Entenkücken kommen auf den Markt. Für ein paar Kopeken füllen sich die Töpfe in der Stadt mit jungem Wild. Die Jagd ist eröffnet am Tag des heiligen Peter und Iwan. Genug zum Jagen gibt es in dem großen Land.

Meist geht es über das Wild her, das am leichtesten zu bekommen ist. Ein Schwarm junger Enten mit blauen und weichen Federposen werden niedergeknallt wie nichts. Entwischen sie ins Gras, so jagen sie Köter zweifelhafter Herkunft zu Tode ...

Tops und ich gingen über den Markt und wandten unsere Nasen fort von den Kinderleichen. Sollten wir mit denen zu tun haben, so würde es in einer unüberlegten Stunde sein, nach einem Schläfchen am Flußufer, draußen auf der großen Wiese, wenn niemand es sieht, nicht einmal wir selbst. Aber hier! nein, danke schön! dürfen wir noch um Ausgewachsenes bitten! ... Oder sollte ich mir einen Halbhund anschaffen, ein einfaches und primitives Vieh für die Entenjagd? ... Hm ... Ich will's mir doch überlegen ...

Im »Goldenen Stiefel« standen Bekassinen auf dem Menu. Ah, du Satan, wo hast du Bekassinen her? So, du hast auch junge Birkhühner! Ja, das sieht dir ähnlich, Nikolaj, du alter Schnapsgeist! Aber ich will mich nicht herabwürdigen zu deinen Birkhühnern. Glaubst du, ich sähe sie nicht wie bunte Lumpen über die graugrünen Wacholderbüsche flattern! Glaubst du, wir wüßten nicht, wie lose, wie unschuldig und unversucht ihr Fleisch ist? Nein, gib uns lieber ein paar Bekassinen und eine Flasche blauer Trauben aus Livadia. Und dann glaube ich, Tops, wir werden uns das nächste Paar selbst holen ...

Ich hatte auf dem Fluß ein Boot, das hieß: Tschaika. Es war wie ein Schlachtschiff bemalt. Es hätte gut lebendig und der Anpassung unendlicher Generationen ausgesetzt sein können, so gut stimmte seine Farbe mit der Umgebung.

Übrigens hatte es vor gar nicht langer Zeit gelebt, denn es war aus einem dicken Pappelstamm gemacht, der mürbe gekocht und zu einem Kanu geformt worden war. Unten am Fluß trieben sie dieses Handwerk mit großer Kunst, und man konnte für fünf Rubel Schiffseigner werden, wenn man sich etwas daraus machte. Am Orte war das so allgemein, daß jeder, der danach trachtete, seinen Wunsch erfüllt sehen konnte.

Wenn ich nicht auf dem Fluß ruderte, saß ich oft unten an der Fährstelle, wo ›Tschaika‹ vertaut lag, und sah aufs Wasser und auf die gelben und roten Mädchen, die mit ihren Eimern und dem Trageholze über einer Schulter herbeikamen, als täten sie das schon seit Iwan des Schrecklichen Zeit.

Übrigens paßte ich auf, ob das Boot Wasser zog. Denn es war ja sein Zweck, uns längere Zeit zu tragen, wenn es soweit kam.

Ich hatte auch einen jungen Burschen ins Brot bekommen. Petruscha hieß er. Er war eines schönen Tages aus einem Dorf im Walde zu mir gekommen, und ich behielt ihn gleich. Wir gewöhnten uns bald aneinander. Er sprach nicht viel, aber wenn er etwas sagte, waren es stets Beobachtungen aus erster Hand, und er tat alles, was ich ihm sagte, und sagte ich nichts, so tat er es auch. Ein junger Gorilla oder ein Bär, der gerade aus dem Wald in die Stadt kommt, konnte nicht unberührter sein als Petruscha. Er war von brauner Farbe, geschmeidig in den Gliedern und ging weich in seinen dunkeln Filzstiefeln wie ein halbausgewachsener Sohlengänger und konnte, wenn er die Einer in einen Holzpflock schnitt, ziemlich weit zählen. Er war ein sehr brauchbares Individuum, und ich sehne mich oft danach, daß sein Gegenstück meine Schwelle auch überschritte. Auch Tops hatte sich an ihn gewöhnt. Er rechnete ihn nicht zu den Menschen und konnte ja denken, was er wollte ...

Es war in einer Julinacht mit Mondschein, als Tops, Petruscha und ich vom Blockhaus zum Fluß hinuntergingen. Petruscha trug die Küche, die Ruder, zwei Flaschen Branntwein, etwas Tee und ein großes Schwarzbrot in einem Beutel. Hinten im Gürtel stak die kurzschaftige Axt, seiner Väter Waffe. Ich hatte die Büchse und Munition und Tops sein hartes Herz.

›Tschaika‹ lag und trieb in dem schläfrigen Strom und zerrte träge an der Kette.

Nun wollen wir dich losmachen, du graugrüner Flußvogel!

»Kipp nicht, wenn du nach vorn gehst, Petruscha, die ›Möve‹ hat eine runde Brust.«

»Tops, du mußt in die Mitte.«

Ich nahm das breitblätterige Steuerruder und setzte ab. »Rudere zu, Petruscha, mit langen, ruhigen Schlägen, und sage, wenn du nicht mehr kannst.«

Petruscha ruderte zu. Wir fuhren nach Norden mit dem Strom. In zwei Wochen oder drei können wir draußen im Weißen Meer sein ... ›Tschaika‹ glitt auf dem Wasserspiegel dahin wie ein Blatt, das segelte. Achteraus gurgelte es. Wir waren in Bewegung, fuhren der Erde Rundung nach, nahmen die Welt in Besitz.

Zwei Flußdampfer schliefen mit erloschenen Herzen an der Pfahlbrücke. Große, überbaute Prahme lagen in einer Reihe, wie Häuser an der fließenden Straße. Einige von ihnen standen mit dem flachen Boden auf dem Ufer. Das Wasser war langsam gefallen, wie es der heiße Sommer nach und nach ausgetrunken hatte. Beim Tauwetter hatte es bis in die halbe Stadt hinein gestanden und sich meilenweit über die großen Wiesen gelegt – »Seen« hießen sie deswegen, und da wollten wir hin –, aber jetzt ging der Strom faul und matt und gleichgültig, als schwitzte er an seiner Quelle. Er hatte eine grüne und giftige Farbe von seinem langsamen Gang durch die Stadt bekommen. Aber er legt das Menschliche ab, wenn er Tiefe und Gefälle bekommt, unten in der Öde. Große Seen strecken ihre Münder vor und füllen ihn mit rieselnder Feuchtigkeit, bis er wie ein berauschtes, langgestrecktes Meer durch des Nordens schweigendes Sagenland gleitet.

Hinter uns verschwand die Stadt im nächtlichen Schein der Türme und Dächer. Sie standen im Mondeslicht wie Traumgedanken, perlenmatt und zitternd wie ein Gespenstertanz. Oben auf dem hohen Abhang lag »Peters Haus« im Birkenhain.

Da saß ein schwarzer Vogel auf dem Kreuz der Kirche.

Er schwamm auf dem goldenen Kreuz durch das Halbdunkel der Nacht und hatte ein Herz, das klopfte genau wie das meine. Ob er lauschte, wie der Mondschein durch das Birkenlaub rieselte, oder mit unklaren Gedanken über das dumpfe Geräusch im Raum nachgrübelte ...

Steht da nicht ein Schatten auf der Aussichtshöhe bei dem monderhellten Hausgiebel! Ist das dein großer Schatten, du einziger, großer Romanow? Bist du es, der da steht in der Nacht und träumt von Wasserwegen, zum Meere und den Wiesen bei Cholmogory? Oder hast du dich erhoben von den Toten, um deine Krone von des Zwergen schwachem Haupte zu nehmen, sie fortzutragen durch die Nacht ... sie dem Volke zu geben, wenn es erwacht im Morgengrauen? ... Plötzlich schweigt und verlischt alles in der Welt. Es saust in den Ohren ... War das mein Herz, das einen Augenblick stillstand. Nun fühle ich das Leben wieder ... Da stehen drei Bockmühlen in einer Reihe, drei Riesen, die sich zur Ruhe aufgestellt haben, mit der Keule über die Schulter. Sie sind quer über eines Dorfes winzig kleine Holzhäuser geschritten und haben sich auf dem bloßen Felde aufgestellt.

Hinter ihnen rundet sich der Himmel in rätselhafter Tiefe, wo die Sterne wirbeln wie Atome in einem Glaskolben. Nichts ist ewig! Es gibt keinen Gott! O nein, ihr weisen Sterne! Nehmt euch in acht! Ich führe meinen Glaskolben durch den Raum, fülle ihn mit Sternen und Göttern und sehe sie kochen und tanzen im Wechsel über meines Hirnes Feuer. Alles ändert Form und Wesen in der Allheit gewaltigem Malstrom ... Nun höre auch ich das dumpfe Geräusch im Raum ... Ist das der Fluß, der sich sein Erdenlager schleifend bereitet, oder sind es die Mückenschwärme, die Luft schlucken. Es kocht zart und spitz und beständig unter ihren Flügeln, und der Fluß dampft schwer und feucht vor Anstrengung.

Zottige Nachtschwärmer und blanke Käfer kreuzen durch die Nacht. Da fiel einer in den Fluß. Will er mit ins Meer und in den Polarkreis? Das gibt ein Aufstoßen in der Wasserfläche, ein weicher Schlag folgt, dann nichts mehr. Aber der Käfer ist fort, und runde Ringe breiten sich aus wie ein klingender Ton, wo der Käfer in einem Fischmaul unterging.

Also wohnt auch etwas unter dem Wasser. Das hatte ich ganz vergessen. Habe ich meine Angeln nicht mit? Doch – doch! Wir wollen sehen, ob wir den Fisch fassen können, der den Käfer schluckte. Das würde die Seelenwanderung fördern. Vielleicht beißt nicht derselbe Fisch, aber es gibt ja auch einen anderen, der auch einen Käfer verschluckt hat oder seinen eigenen Verwandten, was noch besser wäre.

Ich werfe meinen Blänker aus, und Tops, der einen Augenblick den Kopf hob, schnappt nach den Mücken und rollt sich wieder zusammen. Er verachtet Fisch.

Der Blänker zittert schwach, das kann ich fühlen. Es ist ihm lieber, im starken Strom zu liegen, um Druck genug zu haben, den vollen Blänkergesang für die Tiere da unten anzustimmen.

Aber er singt auch den Fluß hinunter, so gut er kann. Es ist vielleicht ein schlaftrunkener Bursch, der aus Versehen auf ihn losgeht.

Und so fühle ich das Leben bloß durch die zwei Finger meiner linken Hand, die die Schnur umfassen. Es ist, als hätte ich einen langen Nervenstrang in den Strom gesenkt. Ich rede mit den vielen, gleitenden Tons Wasser, sehe ihre nassen Rücken da unten im Gespann gehen und Furchen in dem großen Flußtal ziehen. Ich bade meine Hände in dem kalten Schweiß an ihrer Stirne, und mich berührt ihrer Flanken starker Schlag. Ein schweres und einstimmiges Schnauben steigt aus den nassen Mäulern und löst sich in großen, platzenden Blasen ...

Da gibt es in mir einen Ruck ... Das war einer von denen, der die Angel schluckte!

»Halt! Petruscha! Das Boot steht ja mit dem Steven in die Wolken hinein! Ah! wie es mit dem Kopfe schüttelt da unten in der Tiefe! Nun gilt es nachzugeben und zu lavieren, um den »Ton« auf das Trockene herauszubekommen. Das Boot liegt still, während die Schnur nach der Seite schießt und stramm wird. In demselben Augenblick wird sie schlapp, als wäre sie in der Mitte zerrissen. »Hol ein! Nein, nun ist wieder etwas an dem anderen Ende.«

Ein weißer Blitz auf der Wasserfläche, ein Plätschern, und die Schnur weist gerade auf den Grund. Schön! Sieh dich dort unten noch einmal um! Es ist das letzte Mal! ... Dann kommt die Schnur langsam ins Boot. Bedächtig hebt sich, was das andere Ende hält, im Strom empor. Wir nähern uns einander. Ein letzter Schlag ins Wasser, ich beuge mich hinaus, greife etwas Lebendigem in die Kiemen und habe einen Kopf und einen glänzenden Hechtleib im Boot. Na – also das war's! ... Kalt und rücksichtslos sieht er mich an, als ich den Haken aus seinem Hals drehe. Einen Augenblick blitzt es in seinen grünen Augen, aber es ist auch sogleich vorbei. Der geborene Pirat ergibt sich nicht lebendig. Er schnappt mit dem Maul und schlägt mit dem Schwanz auf den Boden des Bootes und macht schiefe Seitensprünge, gegen die Reeling.

Tops zieht sich verbittert zurück, und Petruscha glänzt die Lust aus den Augen.

Ja, nun mußt du's mir nicht übelnehmen, wenn ich dir mit meinem Messer über das Hinterteil und das Rückenmark streiche. Um deines Lebens willen werde ich Tops nicht kränken. Außerdem hatte ich darauf gewartet, zu sehen, wie eines der feuchten Zugtiere heraufkäme aus dem Fluß wie ein Wasserberg mit einem Wirbelauge im strotzenden Stirnbüschel ...

Es fängt an, kalt zu werden. Ist da nicht ein Leuchten im äußersten Osten ... Dort hinter der hohen Landzunge, die fest sich dem Fluß entgegenstellt, legen wir an im Weidengebüsch.

»Für heute mag's genug sein, Petruscha!« Ich setzte das Boot ans Land, und wir zogen es hinauf in das dichte Gebüsch, das uns verschlang, als wären wir nie gewesen.

Petruscha räumte einen kleinen Platz, spaltete einen angeschwemmten Baumstumpf, während ich den Hecht ausweidete und ihn im Flusse wusch. Käfer und Verwandte waren in ihm, und ich ließ sie gen Norden segeln, indes der Hecht krumm in dem brodelnden Kessel über unserem Lagerfeuer schwamm. Er ist ein schlechter Speisefisch in jener Gegend. Es gibt viel feinerschmeckende Tiere im Fluß, aber da er sich angeboten hatte, fing und behielt ich ihn.

Tops ging ins Land hinauf, um sich umzusehen, und kam beruhigt wieder. Wir waren, wo wir sein sollten. Und dann aßen wir, was wir konnten, vom Hecht und der Suppe. Ich mußte Tops mehrmals auffordern, nicht mäklig zu sein und die Kost zu verachten. Wir hatten einen langen Tag vor uns.

Wir rollten uns in unsere Mäntel und schliefen ein am glimmenden Feuer.

Ich erwachte davon, daß das Weidengebüsch sich wie unter einem steifen und eintönigen Sturm bog, aber als ich richtig zusah, war es eine stramme Trosse, die darüber hinfegte. Und als ich den Kopf heraussteckte, sah ich fünf rotgekleidete Weiber vornüber in ihren Treidelgurten hängen und einen Prahm stromaufwärts schleppen.

Sie gingen wie stumme Zugtiere im Morgen und erkämpften sich jeden Fußbreit neuen Landes.

Unten auf dem Fluß glitt der Prahm säumig vorwärts, geführt von einem halbnackten Mann, der sich gegen den Birkenstamm im Steuerruder lehnte.

Guten Weg! wünschte ich ihnen in meinem stillen Innern. Guten Weg unter Sonne und Regen, ihr stummen Zugtiere! Auch guten Tod eines Tages oder eines Nachts, wenn der Weg zurückgelegt ist und der Kampf mit dem Strome ein Ende hat.

»Petruscha! Hallo, wach auf, Petruscha! Bleib hier, bis wir wiederkommen, und laß keinen das Boot stehlen. Du kannst dir ja die Fischsuppe wärmen.«

Dann gingen Tops und ich hinaus in den funkelnden Morgen. Die großen Wiesen lagen vor uns. Wir waren an den »Seen«. Das Wasser war fort, und nur das Gras floß wie ein grüner Quell in ihnen. Hier wollen wir mit den Nasen angeln, fischen mit Pulver und Blei, so daß es versengt in der Jungfräulichkeit riecht, und Schreie und gebrochene Töne gellen.

Der Tau ist schon fort ... Schon vom frühen Morgen an begann er wieder, der unersättliche, der Erde durstiger Buhle! ...

Ein Duft von Jugend liegt auf den grünen Halmen. Sie sind so durchsichtig und rein, es rührt mich, ihre kleinen, feinen Knie zu sehen.

Weithin ziehen die Wälder ihre dunkeln Linien: Mir ist, als könne ich hören, wie das Birkenlaub sich wendet und die Föhrennadeln wachsen. Dorthin und wieder zurück wollen wir in einem großen Bogen wandern und sehen, was uns begegnet in eines Tages Lauf. Wir gehen durch den grünen See in zwei Zügen, während uns die leichte Brise in die Nase streicht.

Ein Pfiff, die Büchse unterm Arm, und wir fangen an.

Tops sieht zu mir auf und geht in einem großen Bogen vor. Sein Tempo und die Art sich aufzuführen ist anbetungswürdig. Tops! Ich liebe es, deinen gefleckten Körper steigen und fallen zu sehen wie ein stimmungsvolles Lied am grünen Tag.

Du bist, wenn du auf Raub ausgehst, wie der tiefe und sausende Ton in meinem begehrlichen Herzen. Sing, sing hinaus, weit über die Wiesen! ...

Tops verlangsamt die Fahrt, geht in falschem Galopp, mit den Hinterbeinen abwechselnd hoch in der Luft, als hätte er sich auf beiden gestrichen. Dann wendet er und zieht einen neuen Bogen in entgegengesetzter Richtung. Dasselbe noch einmal, aber jedesmal bemächtigt er sich einer Strecke von 100 Ellen wildleerer Wiese. Da ist nichts, wo er war.

Plötzlich stoppt er die Fahrt und wirft sich von seiner Bahn gerade vorwärts ins Terrain. Es kommt eine wunderbare. Geschäftigkeit über ihn, so unstät ist er. Sein steifer Schwanz vibriert fanatisch, als bäte er damit. Plötzlich retiriert er, läuft geradezu rückwärts, übersteht so seinen Schreck, schlägt ein paar Kreise, enger und enger, und geht sachte und vorsichtig vorwärts. Er dreht den Kopf zaudernd nach mir um und schielt entsetzlich, während er mit der Zunge etwas Speichel vom Unterkiefer leckt. Als er mich kommen sieht, beruhigt er sich. Er steht wie ein weißer Strich in dem grünen Gras, unbeweglich, aber die Hölle in der Brust ... Ich kann an seinen Ohren sehen, wie gespannt er meinen Bewegungen folgt, jedem Schritt. Endlich bin ich da! Er zittert, wie er so vorzieht, aber er avanciert. Es fällt uns auf die Nerven. Es ist ja das erste Mal im Feld auf Suche und am Stand ... Da war etwas, das plötzlich und unerwartet aus dem Gras aufflog. Ich konnte nicht sehen, ob es groß oder klein war, aber während ich auf es anlegte, deckte es den ganzen Himmel und Horizont und nahm der Sonne das Licht. Ganz weich und ohne Hast flog es geradeaus, und ich sah beim Schuß, daß es nur eine Bekassine war, die so plötzlich in der Luft stand und ins Gras fuhr wie ein Stein. Aber im selben Nu war eine andere an ihrer Stelle, und da sie angehalten wurde, und auf dieselbe Weise wie die erste herunterkam, waren weitere zwei in der Luft, und ehe ich zwei neue Patronen in die Büchse gesteckt hatte, waren sie fort, und der Himmel wieder rein und klar.

Tops hatte also gern alle vier haben wollen. Doch sah er anerkennend zu mir auf, rührte sich aber nicht von der Stelle, legte nicht eine Spur von Interesse an den Tag. Das war vorbei! Glaubte ich vielleicht, er wäre ungezogen, ein einfacher Bengel, der sich nicht beherrschen können, der nachprellen und anschlagen würde. Nein! Wenn ich an solchen Verkehr gewöhnt gewesen wäre, hätte ich ihm leid getan. Was ihn betraf, hatte er so viel Wild gesehen, daß er sich weder zu meinem noch seinem Vergnügen zu Intimitäten in bezug auf Apportieren herabließ. Konnte ich nicht finden, was ich selbst geschossen hatte, konnte er mir immer noch helfen. Das war eine Sache für sich.

Ich nahm also selbst die zwei erlegten Vögel aus dem Grase auf. Wie waren sie braun und grau und warm ... Laßt mich in eure gebrochenen Augen sehen, um etwas vom Leben zu erraten! Sagt mir, was ist der innerste und tiefste Unterschied zwischen vorher und jetzt? Aber sie antworten nicht, und ich stecke sie in die Tasche.

Weiter ging die Jagd. Da gab's viel Bekassinen. Sie lagen dicht wie Aussaat auf den Wiesen, und noch keine Sense war über sie dahingegangen. Sie lebten so vertrauensvoll und sicher, so ohne jede bittere Erfahrung von scharfen Nasen und Pulveratem. Tops und ich, wir arbeiteten sicher und ruhig. Der Büchsenlauf roch warm und roh. Wir sättigten uns langsam am erlöschenden Leben.

Fiel ein Vogel ins Gras, so daß ich ihn aus dem Gesicht verlor, oder hatte er nicht genug bekommen, stellte Tops sich gleichgültig über ihn, bis ich kam und ihn aufsammelte. Wir hatten zwei Stiege in der Tasche, als wir gegen Mittag an den Wald kamen.

Die Sonne hatte sich zur vollen Himmelshöhe aufgeschwungen und ließ senkrecht ihr Feuer auf uns fallen. Die Luft war vor Hitze dick. Das Gras duftete würzig und goß berauschende Ströme von Staub und Liebe aus. Die Schmetterlinge lallten mit schweren Schwingen durch den Paarungsrausch der Blumen. Zuzeiten saßen sie zu zweien beisammen und wiegten sich auf einer Kleeblüte. Blanke Fliegen glänzten im Sonnenlicht, und die Hummeln genossen der Kuckucksblumen bereite Jungfräulichkeit.

Oben am Walde lag Gras in Schwaden. Die Heuernte hatte also begonnen. Die Sense singt über den »Seen«. Am Waldesrande liegen die Heuleute und verschlafen die Mittagsglut. Weiber sind dabei. Sie wohnen hier draußen, bis das Heu in Mieten steht. Sie liegen in ihren roten Röcken wie Fliegenpilze auf dem Waldesboden oder wie rote Beeren ... Ja, wie rote Beeren ... Ich bin ganz trocken im Hals. Vielleicht gibt es wirklich einige Beeren im Walde. Ich will mir eine Lichtung suchen, wo die Sonne zärtlich gewesen ist zu den Erdbeerblüten, und sehen, ob Beeren daraus geworden sind.

Es war dunkel im Wald. Die Föhrenstämme schimmerten wie Kupferröhren, und ich hörte es kochen in ihnen, wenn ich das Ohr anlegte.

Es wurde heller, wo die Birken um einen offenen Platz herum im Kreise standen und ihre weißen Lieder sangen, hin über verfaulte Stumpfe und Blumen und Beeren.

Es duftete säuerlich nach Alter und süß nach dem reifen Tag. Das Goldgras hatte seine Düftekammern geöffnet, und das Herzgras stand in blauen Gruppen, die Herzen schwer zur Erde gesenkt.

Da sind rote Beeren! Mein Gaumen schwitzt vor Hitze. Da ist auch ein Weib, rot wie die reifen Beeren, die sie pflückt. Sie blickt auf, als ich auf sie zugehe.

»Guten Tag, Glück auf! ... Sind hier viel Beeren? Ich habe auch daran gedacht, Beeren zu pflücken ... Oder kann ich welche von deinen bekommen? Danke schön! ... Wie heißt du übrigens? ... Ich? Ich bin ein fremder Jäger vom Fluß. So, Katja heißt du. Das ist hübsch: Katja ... Ich habe, mal ein Mädchen gekannt, die hieß auch Katja, aber sie war nicht so schön wie du. Nein! Nicht annähernd so schön! Sie hatte nur blaue Augen und gelbes Haar, ganz gelb wie gebrachter Flachs, sage ich, und dumme, blaue Augen! Als sie von mir ging, bat sie bloß um ein Tuch, ein richtiges, einfaches, rotes Tuch. Das war alles. Sie bat nicht einmal um diesen Ring an meinem Finger – nicht einmal um einen kleinen Ring zur Erinnerung ... Wie dein Hals doch schön ist, Katja, und braun von der Sonne, und deine Brüste rund und fest wie zwei halbe Zitronen, ja, Zitronen, gerade zum Hineintun in den Tee und zum Trinken. Siehst du, ich kann die eine gerade in meiner Hand halten ... Ich hatte auch einmal ein Pferd mit solch zarten Beinen, wie du hast, Katja. Aber ich habe es nicht mehr. Das hatte auch starke und edle Knie, schön wie ein Psalm, wenn es sie hob ... Ich habe nichts mehr wie dich, Katja, gar nichts, nicht ein bißchen ... Komm, setz dich nieder ... Ich bin gegangen und habe den ganzen Tag in Augen gesehen, ohne zu verstehen, an was ich dachte. Laß mich nun auch in deine dunkeln und lebendigen Augen sehen

Tops, geh und such dir etwas Wasser! Ich kann es nicht mehr aushalten, deine trockene Zunge sehen zu müssen. Ich kann keine Vorwürfe vertragen, am wenigsten stillschweigende, und ich will nachher keine Bemerkungen hören. Geh! ...

Ja, Katja, laß mich in deine Augen schauen, so verstehe ich vielleicht den Unterschied zwischen gestern und heut. Nein! Du mußt sie nicht zumachen! Hörst du, Katja: Schließe sie nicht ... schließe sie nicht ... Auch nicht deinen Mund ... deinen Mund ...

Tops, wo bist du? Hallo! So, da! Wir wollen gehen!

Adieu, Katja. Ja, ich wohne im Weidengestrüpp am Fluß, da wo die hohe Landzunge in den Strom ragt. Ich wohne da bis morgen, wenn die Sonne uns grüßt.«

Dann gingen wir allein fort. Drinnen im Föhrenwald setzte ich mich auf einen Baumstamm und lauschte im Schlaf auf des Stoffes rätselvolles Spiel: ... Es war Frühjahr und die letzten, feuchten Schneewehen lagen auf den Feldern. Die Auerhähne kämpften über meinem Kopfe, balzten und kämpften, daß sie paarweis von den Zweigen fielen. Der Bär erhob sich vom Winterlager und steckte die Schnauze hinaus ins Tauwetter. Er mußte an etwas denken, was ihm im letzten Frühjahr geschehen war. Was war es, woran er dachte? ... Es ist doch wohl nicht mein rotes Pferd, das auf der Lichtung geht, mein rotes Pferd mit den zarten Beinen und den Knien, schön wie ein Psalm, wenn es sie hob ... Paß auf! Schließ deine Augen nicht! Deine Augen ... Katja! ...

Damit erwachte ich ...

Als wir auf die Wiesen hinaustraten, tönte der Sensen Lied vom Waldessaum herüber. Nun sollten sie wieder Gras beißen.

Nein, laß nur, Tops. Ich mache, mir nichts daraus, heute mehr zu schießen. Ich will nur gehen mit der sinkenden Sonne und die Zikaden tausendstimmig im Grase spielen hören. Ich will langsam in den Abend hineingehen und an etwas denken, was ich doch nie verstehe ...

Wir konnten den Rauch von Petruschas Feuer sehen, wie er durch das Weidendickicht sickerte. Er ließ es brennen. Holz gab's genug am Flußufer. Und als wir zu ihm hinunterkamen, lag er mit dem Gesicht ganz dicht am Feuer, hatte auch Heuernte gehalten und uns drei weiche Lagerstätten von Gras rund um das Feuer bereitet.

»Petruscha! Wir wollen essen. Das soll ein Schmaus werden, heut abend! Und wenn die Sonne aufsteht, rudern wir heimwärts, den Strom hinauf. Hier sind die Vögel. Leg die, die wir nicht gebrauchen, in nasses Gras!«

Wir tafelten also im Weidengebüsch. Wir schwelgten in braunem Fleisch und Tee und Branntwein, bis es in uns von Sättigung faselte und unsere Stoffnatur in dem großen Zusammenfallen von »Körper und Geist« sich offenbarte.

Die beiden anderen fielen schnell in Schlaf, glaube ich; ich aber lag wach und lauschte auf den Fluß und den Sonnenfall dort hinter der Erde: ... Sterne müssen am Himmel stehen, kleine Verdichtungen in der fließenden Materie, die unter bestimmten Verhältnissen in unsere Sinne scheinen. Wenn sie nun nicht da wären. Was dann? Ja, was dann! Ich könnte Lust bekommen, zu wissen, wie weit die Verdichtung in den Raum dringt – wenn da überhaupt Raum ist, und es nicht der Bauch einer Bazille ist, die in einem Wassertropfen kriecht. Das ist ja auch ganz gleichgültig! ... Der Mond muß gerade heraufkommen. Ich kann seinen bleichen Atem durchs Weidenlaub fühlen ... Ob Tau fällt? Es ist, als erstarrte etwas in der Luft und fiele wie ein spröder, unsichtbarer Wasserfall über die Erde. Ich höre ein ungeheures Alter aus der leisen Erstarrung heraus. Es reicht weit hinaus über Menschengedenken, weit hinaus über das erste Leben auf der Welt, ja, weit hinaus über den Amöben, der doch vor 35½ Jahren – und neun Monaten mein Stammvater in gerader Linie war. Aber das weiß ich nur durch meine Kenntnis vom Wesen der Dinge ... Das erste, auf das ich mich besinnen kann, ist ein Weidenzaun. Ein Weidenzaun, hm! Ich bin noch nicht viel weiter gekommen, ganz umgeben von Weiden, wie ich bin. Das ist ein merkwürdiger Baum, die Weide. Er hat etwas Menschliches an sich. Er riecht nach Haut. Mir ist, als schwängen die graugrünen Blätter so merkwürdig an den Stielen, als wollten sie etwas sagen. Was kann das sein. Alles ist so stille ... Wenn jetzt jemand von weit her über die Wiesen käme, würde es singen in den Grashalmen, und die Weidenblätter würden den Laut aufgreifen und ihn festhalten, hier gerade über meinem Ohr.

Ich denke, ich will noch ein wenig liegen und lauschen ...

Tops! Willst du wohl stille sein! Kusch! Kusch, sage ich! Ich will selbst aufstehen, um zu sehen, ob da jemand ist ...

Es stand eine dunkle Erscheinung auf dem Abhang. – Wer ist das? Sollte jemand mit mir sprechen wollen! Mit mir sprechen! ...

»Ach – du bist es Katja! Was willst du am Fluß in der Nacht? Guten Abend, Katja! ...

Du bist weit her über die Wiesen gekommen. Dein Haar ist feucht von der Nacht, und deine Lippen trocken wie die Asche meines Feuers. Du bist durchs Gras gegangen mit deinen kleinen, nackten Füßen. Dein rotes Kleid ist naß, und der Saum deines rauhen Hemdes hat den Tau getrunken ... Bist du irregegangen in den ›Seen‹. Oder hast du mir etwas zu sagen vergessen? ...«

»Ja, ich wollte dir bloß sagen ... Es war nichts anderes ... Ich wollte dir bloß sagen ... Gib mir auch ein rotes Tuch! ... Ein rotes Tuch,« flüsterte sie, als wir in das taufeuchte und elfenwilde Gras sanken ... – – –

 

Die Erde wurde gelb vor Reife. Wir waren im August. Die Blätter bekamen Flecke, und der Roggen neigte in Geburtswehen die vollen Ähren. Hafer und Gerste standen und sahen zu und bebten verwundert über das herbstliche Wachstum, auch in ihrer Seele. Der Spätsommerwind strich über die Felder und sang in den Haferähren sein warnungsvolles Lied vom Tanz der Spreu auf der Tenne.

Die Nacht war dunkel und in sich gekehrt, und der Tag erhob sich wie eine hohe Stirn über des Jahres gedankenvollem Blick. Ein Wechsel in den Dingen stand bevor, ein Scheintod des ewigen Lebens, das unverändert lebt in Geburt und Tod, verbannt wird zur äußersten Finsternis und von selbst aufs neue aufersteht.

Nachts war es kalt, und Tops und ich krochen zusammen im Heu auf dem Boden des steifen Tarantas, in dem wir den Weg machten wie Erbsen in der Klöterbüchse.

Dem Dreigespann waren die steifen Glieder unter der Peitsche des Jamschtschiks aufgetaut, und es machte seine 15 Werst in der Stunde. Auf ebenem Weg oder bergab tobte es in einer Hölle, die zwischen dem feilenden Gebiß und der fressenden Peitschenschnur lag. Der Tarantas sprang ellenhoch in der hohlen Radspur. Das Geschirr krachte und klapperte. Die Schellen am Hals der Seitenpferde rasselten rauh im Galopp, und die Glocke am Krummholz des Trabers läutete mit dem Klöppelring recht und verkehrt, zog wie ein Unwetter, wie eine läutende Wolke über den Himmel und verschwand, wie die letzte Erinnerung bei einer schweren Betäubung.

Wir schliefen, während wir zum Jagdgelände in den Wäldern fuhren. – Jetzt war die Zeit gekommen, mit den Birkhühnern zu reden! Die jungen Hähne waren schon ausgewachsen und in Schwarz ... Sie und ihre Schwestern werden sehend geboren, im Handumdrehen sind sie groß und laufen geradeswegs aus dem Ei in die Felder. Die Henne gackelt nach ihnen, sie zischeln zurück. Niedrig und schlaff fliegen sie über die Wacholderbüsche, purzeln ins Birkendickicht und drücken sich in die Farnkräuter. Doch nun sind sie groß und wild im Fleisch. Sie fliegen hart und geradeaus auf den gewölbten Schwingen und laufen dem Teufel ein Ohr ab.

Cursores! Cursores!

Ihr durchlauft die ganze Welt von der Schneeregion zu den tropischen Sandebenen, lauft im Wasser, auf der Erde. Ihr bebaut Sibirien und sitzt auf der chinesischen Mauer und blickt auf Peking hinab!

Cursores! Cursores!

Kokokorro! Kokokaru!

Kokk! Kokk! Kokk! Kokk! ...

»Barin! He Barin! Jetzt sind wir da!« Der Kutscher weckte mich. Wir hielten in einem kleinen Dorf, wo ich Freunde hatte. Der Tag graute, und die Bauern schickten sich zum Ernten auf den gelben Feldern an.

»Guten Morgen! Morgen! Guten Morgen Großvater! Guten Morgen kleine Großmutter und guten Morgen Tante und meine kleine, süße Freundin!«

»Ja, gib uns etwas Tee und einen Bissen Brot, ehe wir gehen. Wir haben Eile ... Wo war's doch, wo die Birkhühner sich aufhielten? So, da in der Richtung! Ja, wir werden auch im Hafer nachsehen ...«

Und dann gingen wir.

Die Sonne floß so säumig in den weißen Morgen und schaute auf das tauweiße Land mit einem fernen und kühlen Erröten, als gedächte sie etwas längst Vergangenen. Und dann glitt sie bleich und gefaßt hin über den hohen Himmel und trank mit Wehmut den grauen Tau im Gras und die Feuchte auf den gelben Halmen.

Die Luft war still und durchsichtig. Kein Zittern war mehr darin, keine Hitze und keine Fiebererscheinungen am hellichten Tage. Die Birken standen schweigsam und lauschten, schwangen ihre Zweige, als wiegten sie etwas, und die Tannen und Fichten reckten die schweren und dunkeln Kronen hoch hinein in die verklärte Luft. Es sauste in ihnen. Waren es die Zapfen, die wie das Glockenspiel in einem Turme sangen, wenn der Wind hineinblies? Sangen sie ein Lied für den Samen, der reift und hervorbricht aus dem Zapfenschoße und dahinwirbelt zum Wachstum über die Welt? Ich weiß es nicht, aber ich hörte das Singen ...

Wir waren in den Triften. Hinter uns lagen des Dorfes kleine, krumme Äcker wie bleiche Flecke im Waldlande. Latten- und Reiserzäune hörten hier auf, wo das »Weideland« begann. Die Bäume standen in zerstreuten, durchsichtigen Gruppen, dünn im Holz, verschmäht von der Axt, die schonungslos verheert und die besten in den Reihen gefällt hatte. Gestrüpp und verwelktes Farnkraut bekränzten die Baumstümpfe. Herbstliche, blaue Skabiosen und Glockenblumen nickten in dem gilbenden Gras, und die Wacholderbüsche standen in grünblauem Gewande, still wie die Bäume auf einem Friedhof, und träumten von des Waldes Tod ...

»Tops! Wir wollen uns hier umsehen! Die Jagd ist frei, und wir sind alle einen Tod schuldig, wenn es zum Herbst geht. Du zeigst mit der Nase, ich lege den Finger an den Abzug. Das ist das Ganze. Eines Tages müssen wir selbst herhalten. So wollen wir es uns wenigstens verdienen!

Vorwärts! Paßt auf, alle die ihr in den Wäldern lauft!

Cursores! Cursores! Ihr Grauen, ihr Braunen und Schwarzen, jetzt ist der Tag der Fehde da!«

Tops arbeitet auf der Heide. Ab und zu sehe ich einen Schein von ihm zwischen den Wacholderbüschen, aber meist ist er nicht zu sehen. Wozu sollte er sich in meiner Nähe halten, wenn er besser als ich begreift, um was es sich dreht? Und ich gehe in der Richtung, in der ich ihn vermute. Ich habe Zeit genug, mich umzusehen.

Die Heide steigt und fällt in langen Hügeln und Tälern. Hier und da in der Tiefe ist der Boden sumpfig und dicht bewachsen mit Erlengestrüpp und Spirea. Kleine Bäche rieseln zwischen den Hügelchen, die die Kühe traten, als sie hier im Sommer standen und im Sonnenbrande mit den Schwänzen peitschten.

Oben von den Hügeln blickt man weit hinaus über das Land. Weit hinter den Wäldern liegt eine weiße Kirche und winkt mit der grünen Spitze. Ich stehe hinter einem Wacholderbusch und schaue auf das heilige Haus. Es ist so weit fort und so klein, daß es leicht auf meiner flachen Hand stehen könnte. Alles wird so klein, wenn es nur weit genug fort ist.

Plötzlich höre ich etwas behutsam und vorsichtig springen. Ich sehe mich um. Es ist ein Hase, ein graubrauner Hase, der sich mitten am Tage einen Spaziergang erlaubt, obwohl er jetzt ganz still liegen sollte und schlafen mit offenen Augen. Er hat wohl unruhige Träume gehabt, leidet vielleicht an Schlaflosigkeit. Das kann ja den Besten treffen.

Da steht er vor mir, als hätte er etwas mit mir zu sprechen. Er sitzt auf den Hinterläufen und hält die vorderen zierlich vor der Brust und bewegt die Löffel lauschend.

Aber ich sage nichts. Was sollte ich ihm sagen, wenn er ausgegangen ist, seinem Schicksal zu begegnen. Es soll ihm begegnen! Nicht, weil ich sein Schicksal sein möchte, aber ich konnte nicht anders. Es war mir nicht bewußt, ehe ich ihn gerade im Schusse so verflucht gleichgültig umkugeln sah. Ich hatte ihn also geschossen, das Lebenslicht ihm ausgeblasen ... Wollen wir sehen, wie es ihm nun geht? Augenscheinlich recht gut. Er ist lecker im Rücken, angenehm rund und wohlschmeckend für die Finger anzufühlen. Es ist ein hübsches, kleines, ehemaliges Tier ...

Im selben Augenblick kommt Tops angestiegen. Er kommt schlendernd mit so merkwürdig hängenden Ohren, als glaube er, ich hätte schon ohne seine Mitwirkung nach den Birkhühnern gelangt. Nein, das waren keine Birkhühner, obgleich auch ein Läufer! Hast du schon mal so einen Burschen gesehen? Was Tops? Eine kleine Mißgeburt von Säugetier! Durch einen lächerlichen und unbedeutenden Irrtum vor einer Million von Jahren oder – was weiß ich, wann – schlug er eine verkehrte Richtung ein, und darum mußte er heute als Hase enden, obgleich er ebensogut ein Mammut gewesen sein und oben in der Tundra hätte liegen können ...

Aber Tops sieht verächtlich auf meine Beute und dann vorwurfsvoll auf mich: Wie konnte ich mit der Feuerwaffe so leichtsinnig umgehen.

Hm, ja, ich habe keine rechte Erklärung zur Hand. Ich nehme aber das Tier mit, und so sprechen wir nicht mehr darüber.

Tops war wieder fort, aber endlich bekomme ich ihn zu sehen. Ich konnte dem nicht gut entgehen, da er springend gerade auf mich zukam und im ganzen ein merkwürdiges Benehmen an den Tag legte. Mitten im Lauf hielt er still, sah mich verführerisch an und machte schnell eine halbe Wendung denselben Weg zurück, den er gekommen war.

Er lockte, blinkte mit den Augen und machte einschmeichelnde Bewegungen mit den Kinnbacken. Er war von etwas, zu dem er mich auch mithaben wollte, ganz in Anspruch genommen.

Bald begriff ich das auch und folgte im Laufschritt. Tops ging in gerader Linie hinunter zu einem Erlengestrüpp hinter einem der Hügel. Er beschrieb einen kleinen Halbkreis zwischen den Hügeln, sah sich ein letztes Mal nach mir um und glitt wie eine Schlange hinein durch die gefingerten Blätter der Spirea.

Ich stellte mich auf, so gut ich konnte, um freien Schuß zu haben, aber es kam nichts, und ich mußte Tops folgen. Er wartete auf mich drinnen. Wieder ein kleines Stück vorwärts durch das Erlengebüsch. Plötzlich stieg ein braunes Federbündel gerade vom Erdboden auf, aber mein Schuß warf es vornüber, so daß die Federn flogen. Ich hatte es in der Eile ganz zusammengeschossen. Es war übrigens auch nicht viel Zeit zu vergeben im Dickicht.

Es war eine Schnepfe, ein Überlieger vielleicht ... Mir ist's als kennte ich dich wieder. Ja, gewiß! Ein Stein fällt mir von der Brust. Das bist du, die ich im Frühling verfehlte, als ihr das Land überschwemmtet ...

Das war brav von dir, Tops, daß du dich daran erinnertest ...

Aber wo sind die Birkhühner? Die müssen schon längst vom Hafer zurücksein und liegen nun irgendwo und baden sich in der losen Erde unter den Farnen.

Oben auf dem Hügel bleibt Tops mit einem Male bekümmert stehen. Er macht kleine, unentschlossene Gänge nach den Seiten, zieht aufmerksam an den Farnen und dem Birkendickicht entlang, das wie ein dürrgrüner Gürtel über dem Hügel liegt. Dann geht er vorsichtig hinein, hindurch und kommt auf der anderen Seite wieder heraus, kriecht am Rande entlang, steht und kriecht wieder, erst langsam, dann schneller und schneller.

Sie laufen vor ihm her! Das müssen die alten Hähne sein. Ich bitte dich, Göttin der Jagd, daß er sie fest kriegt, und ich meine Büchse gebrauchen kann. Aber sie halten nicht. Tops zieht vor, und ich folge. Dann bleibt er plötzlich stehen und ändert die Taktik. Er geht wieder auf die andere Seite hinüber. Der Wind steht ja entgegen. Selbstverständlich hat er vom richtigen Ende angefangen. Ich komme ganz nah heran und zittere vor Erregung. Puh! Bald hören die Farne auf, dann müssen sie zu den Flügeln greifen, wenn sie nicht denselben Weg zurücklaufen wollen. Dazu bekommen sie von Tops keine Erlaubnis. Ach, Tops, wie bin ich von Bewunderung erfüllt für dich! Du bist genial wie Cäsar und Napoleon und der rote Fuchs. Nun hast du sie auf die äußerste Spitze des Farnlandes hinausgezwungen. Von da müssen sie mit vollen Schwingen hinaus in den Raum und auf unsere Rede hören. Ich halte die Büchse vor mich wie ein Sprachrohr ...

Kokk! Kokk! Kokk! Kokk! Kokk!

Jawohl! Hörtest du meine laute Rede durch das rechte Stahlrohr, hörtest du auch den gepreßten, eingeklemmten Ruf aus dem linken?

Ja, die hörten sie, alle beide! Schimmernde, schwarze Waldwunder, ihr hörtet, was ich sagte, und flogt mit gebrochenen Augen in meine Arme. Ihr ergabt euch gleich ohne Betteln und Flehen, und ich stöhne vor Freude über eure herrlichen Leichen. Die roten Geschlechtsflecken über den Augen leuchten, daß ich mich einen Augenblick abwenden und meine Gedanken in dem schwarzen Federkleid und dem bläulichen Hals und Bürzel löschen muß ...

Was kümmert mich der dritte, der uns entflog, und nun im Dickicht sitzt und sagt: Kokorro, Kokokaru! Was kümmert mich dein Zorn, mich, der ich dir die Brüder nahm! ...

Wir ruhen uns eine Weile aus. Ich liege und fasse Tops um, während ich auf die beiden Birkhähne zwischen uns sehe. Und als dies vorüber ist, gehen wir wieder durchs Dickicht und die Wacholdersträucher über Hügel und Täler einen anderen Weg zurück.

Auf dem sonnenbeschienenen Abhang stand Tops wie angenagelt. Er war seiner Sache sicher und stand in dem hohen Waldgras steif und unbeweglich, als ob er sich nie mehr rühren sollte. Nicht einmal als ich vorging, bewegte er sich, nicht einmal als acht Paar braune und schwarze Schwingen hart die Luft schlugen, gerade vor seiner Nase, und ich zwei der dunkelsten Junghähne herunterschoß ... Die anderen flogen nicht weit ...

Nun legen wir die Beute vor uns auf einen Haufen und greifen das zerstreute Volk an ...

Es war wie ein Spiel für Tops. Er ging gegen den Wind und säuberte das Land von Birkhühnern. Jedesmal, wenn er stand, schoß ich ein junges Huhn mit dem einen oder beiden Läufen. Wir hatten schon drei. Drei und zwei sind fünf. Da sind wieder drei. Tops steht vor dem sechsten. Es ergibt sich nicht gleich, hält aber schließlich und steigt vor uns auf mit einem mütterlichen Laut, schwellend braun ...

Nein, verzeih Tops! Ich schieße nicht auf die alte Henne. Du mußt mir das nicht übelnehmen, aber ich tue es nicht gern, solange sie mir Töchter und Söhne schafft. Und jetzt gehen wir heim. Mehr kann ich nicht tragen ...

Als wir aus dem Walde kamen und die Haferfelder entlang gingen, fiel mir plötzlich ein, daß ich versprochen hatte, auch in sie einen Blick zu tun. Für ein ander Mal könnte es gut sein, zu wissen, wo die wilden Vögel Mahlzeit halten. Aber es gelang mir nicht, darüber Bescheid zu bekommen. Es war nämlich etwas ganz anderes, was ich zu sehen bekam. Es war ein großer Fleck, wo der Hafer niedergetrampelt war, und die Spitzen abgefressen, waren ... Das sieht eigentlich merkwürdig aus. Ich glaube da sind Spuren! Ja, Hölle und Teufel, das ist die Spur eines großen Tieres mit langen Klauen, ein richtiger Sohlengänger. Man kann richtig seine Tatzen sehen. Es hat eine Furche in den festen Boden geraspelt, von einer guten Elle, mit allen Klauen tief in der Erde ... Da ist noch eine Furche! ... Hm ... Er ist ein bißchen ausgelassen, wenn er nachts auf den Hinterpfoten im Hafer tanzt. Du mußt nicht glauben, daß ich mir etwas einbilde ... nein, aber ich will mir einen Bärenhund verschaffen, einen rauhen und bissigen Teufel, der ein paar Ellen unter dem Schnee wittern kann. Dann kann's ja sein, daß wir uns wiedersehen, wenn ich mir erlauben darf, dich zu stören, wenn du gerade ins Winterlager gegangen bist, mit Fett auf den Schinken und Fülle in der Haut ... Auf Wiedersehen ein ander Mal ...

Im Dorfe rasteten wir, bekamen zu essen und zu trinken bei unseren Freunden ...

Das Dreigespann fuhr vor mit klappernden Schellen und läutenden Glocken.

»Na, also! So muß es denn sein! ...«

»Lebt wohl! Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen Großvater, auf Wiedersehen kleine Großmutter, auf Wiedersehen Tante und meine kleine, süße Freundin! ...«

Dann fuhren wir los mit unserm Dreigespann, das in seiner Hölle zwischen dem feilenden Gebiß und der fressenden Peitsche tobte, und als die Sonne unter die Erde ging, schliefen Tops und ich im Heu auf dem Boden des springenden Tarantas.

Cursores! Cursores!

Kokokorro! Kokokaru!

Kokk! Kokk! Kokk! Kokk! ...

 

Wir gingen auf die Jagd, sobald wir Zeit und Gelegenheit hatten, und die hatten wir oft. Die Birkhuhnvölker lichteten sich rings herum, wo wir hinkamen. Die Bekassinen verfolgten wir, bis sie die »Seen« verließen, und wir gaben uns dann mit der kleinen Bekassine zufrieden, die schreit und im Zickzack fliegt, so daß man vorbeischießt;

Schließlich konnten wir nur noch eine einzige in den feuchten Wiesen aufstöbern. Das war wohl die letzte. Die Jagd war vorbei auf diese Art Wild. Der Nachtfrost faßte zu streng zu. Aber der September ging auch zu Ende.

Die Blätter verblichen, krümmten sich und wurden welk an den Stielen. Leise fielen sie zur Erde und enthüllten die Blöße der Zweige. Die Sonne schien so verlassen auf das fahle Laub und der Felder bleichen Halmtod.

Eine hoffnungslose Wehmut fing an, am Herzen zu nagen, und sah man zum Himmel, stand dort ein fahles Lächeln zu lesen, eine unbegreifliche Sorge und schmerzvolle Hoffnungslosigkeit, die ahnen ließ, daß eine Blütezeit vollendet war.

Ein Blatt im Buch der Jahre will sich wenden. In Stille harren wir, daß es geschehe. Es ist als sollte noch etwas gesagt werden, ehe alles vorbei ist, als sollte eine alte Erinnerung aufflammen zum letzten Lodern und über die Lippen dringen wie rote Worte der Jugend.

Ich liebe dein kurzes, gewaltiges Auflodern, dein fieberheißes Farbenspiel, du später Herbst. Du bist so ganz anders als der Jugend unwandelbare Glut, ja so ganz anders.

Ich liebe deine keusche Allwissenheit, dein krankes Lächeln und die Ringe unter deinen Augenlidern, den Tod um deinen Mund. Ich liebe dein sanftes Wesen und deines Körpers uneigennütziges Sichhingeben, deine Duldermiene, dein rotbleiches Haar und des Sterbenden unnennbare Hoffnung in deinem Blick.

Was soll ich dir mehr sagen, ehe es zu spät ist. Ich habe alles gesagt, was ich weiß. Mehr ist es nicht ...

Dann wandte sich das Blatt im Buch der Jahre. Ein Jahr war dahin, und wir standen wieder im Oktober.

Ein Jahr kannten wir uns, Tops und ich. Ein Jahr! ... Noch ein Jahr ging dahin, und noch eines und mehrere noch. Wir schossen viel Wild. Wir alterten. Aber jedes meiner Jahre zählte für Tops zehn. Er fing an, steif zu werden, und ging langsam auf die Jagd, zu langsam – zu langsam.

Wie entsetzlich!

Zu Haus schlief er meist, wenn er nicht plötzlich auffuhr und raste und ohne Grund biß.

Eines Morgens biß er auch das Milchmädchen, und als ich in seine Augen blickte, sah ich, daß sie trübe und ausfließend waren, erloschen und ohne Verstand. Er war tot, an und für sich tot.

Ich ging ins Haus und las in einem Buch, solange ich konnte, ging hin und her im Zimmer, solange ich konnte, und setzte mich und las wieder.

Am Nachmittag nahm ich einen Spaten und rief Tops. Er war gleich bereit. Wir gingen hinaus auf die nördliche Seite der Stadt, da wo die Sümpfe beginnen, der große Wildsteg nach Norden und der Tundra, der Elche, Renntiere und Wölfe öde Straße.

Wir sahen uns nach einem trockenen Platz zwischen dem Erlen- und Birkengestrüpp um, und als wir einen gefunden hatten, machte ich mich daran, eine Grube zu graben. Ich nahm zuerst das dichte Büschelgras fort, ehe ich in die Tiefe ging.

Tops nieste in der Kälte und machte sich Beschäftigung in der Gegend.

Als ich fertig war, setzte ich mich mit den Beinen ins Grab und faßte Tops um:

»Ich versichere dir,« sagte ich zu ihm, so gut ich konnte, »ich versichere dir, mein alter und bester Freund, daß ich lieber die ganze Erde lebendig begraben möchte, als das tun, wozu ich im Begriff bin. Aber es darf nicht anders sein. Ich habe heute viel darüber nachgedacht und mir Ruhe und Stärke erkämpft, dir diesen Dienst zu erweisen. Tops, ich habe so wenig für dich getan, fühle ich, allzuwenig. Du hast dich ganz für mich geopfert, alles bereitwillig und eifrig gegeben, und ich kann dir nur dadurch danken, daß ich dich vom Leben befreie, jetzt, wo du deinen Verstand verloren hast. Aber wenn ich es wäre, der ihn verloren hätte, so wünschte ich, du bissest mich in die Kehle, und begrübest mich hier unten, auf daß ich nicht lebte, wenn ich tot wäre. Und nun, da ich dich verlieren muß, wünsche ich nur, daß ich einen anderen Freund finden möge, der Mut genug hat, mich vom Leben zu erlösen, wenn es mir einst wie dir gehen sollte.

Tops, du hast mir nichts zu vergeben. Ich hab dich nie mehr geschlagen als das eine Mal, und ich hab dich immer als den Menschen behandelt, der du warst ...«

»Aber nun wollen wir von etwas anderem sprechen: Weißt du noch wieviele Birkhähne du umzingelt und ins Verderben getrieben hast? Weißt du noch von der Jagd in den »Seen« und den Schnepfenzügen im Frühling und den verhungerten Rebhühnern, die du einmal auf einem hartgefrorenen Roggenfeld fandest. Weißt du noch, wie du dastandst und sie bedauertest ...

Aber das sind ja Kleinigkeiten. Weißt du noch, wie ein kleines Kind in deine Kette kam, du stillstandst und es ins Gesicht lecktest aus lauter Verlegenheit über den Zufall. Dann hast du mich auch einmal vom schmählichen Tode durch Kohlendunst gerettet. Ja, du hast mir noch einmal das Leben gerettet, nein, entschuldige, zweimal, aber davon wollen wir nicht weiter reden ... Du hast meinen Schlaf und mein Haus bewacht, und ich werde mich sehr einsam und niedergedrückt fühlen, wenn du nicht mehr bist ...

War noch etwas? ... Ja, ich glaube nicht an das ewige Leben, ja, ich bin geradezu glücklich, daß es kein ewiges Leben in diesem Sinne gibt, aber ich bin doch überzeugt, daß wir uns wieder treffen, auf andere Weise ...

Tops, glaube mir! Das ist die schwerste Stunde in meinem Leben; und nun müssen wir scheiden. Tu, als wäre nichts. Es ist nicht so schlimm, wie viele glauben ...«

Und Tops tat, als wäre nichts, als ich den Revolver zog. Er seufzte nur leicht dabei und sank im selben Augenblick sanft zusammen ...

Ich bin nie wieder seitdem an diesem Orte der Tundra, gewesen, aber ich weiß so genau, wo es ist, daß ich eine Karte davon zeichnen und ein Kreuz dort setzen könnte, wo Tops begraben liegt.

Gibt es irgendeine Seligkeit, so ist Tops selig und jagt der ewigen Jagdgefilde unsterbliches Wild.


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