Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Besowo

1. An der Landstraße

Wir kamen von Petersburg – Pihlquist und ich. Er war mein Reisekamerad. Niemals habe ich ihn seitdem in mein Abendgebet eingeschlossen, aber damals war ich doch sehr froh über ihn. Wär' er nicht dabei gewesen, nie – glaube ich – wäre ich lebend nach Besowo gekommen ... Kein Geld in der Tasche und stumm wie ein Fisch ... Ich konnte nur mit den Kiemen schnappen und mit den Flossen schlagen; so hätte ich besser in eine Zeit gepaßt, wo es nicht so sehr auf einen Vorrat an Worten ankam.

Nun muß ich sagen, daß Pihlquist nicht aus purer Liebe zu mir an dem Tage, von dem ich hier erzählen will, da auf der Waldstation Bjelaja im alten Ingermanland stand.

Nein, das soll man nicht von ihm denken. Hätte er einige Rubel in der Tasche gehabt, oder einen einzigen Menschen in Petersburg gekannt, den er hätte anpumpen können, so hätte er ein paar Mal verschmitzt genickt und mit den Hinterpfoten ausgeschlagen wie ein angeschossener Hase. Ich hätte ihm dann nachblicken können.

Nun war er gezwungen, mit mir zu gehen, mitten ins Herz von Ingermanland hinein, um dann allein seinen Weg fortzusetzen, quer durchs Land nach der anderen Seite zur Küste. Da sollte er nämlich hin. Und tief im Herzen träumte er einen wahnwitzigen Traum: er wolle sich eine größere Summe bei meinem Landsmann Elv leihen, dessen Gut mein erstes Reiseziel in Rußland war.

Na zum Teufel! – hatte er in Petersburg gesagt – dieser Elv wohnt doch nicht alle Welt weit von der Station. Irgendeiner da draußen in Bjelaja wird ihn doch kennen. Wir fragen bloß nach Herrn Elv zu Besowo, dann werden sie uns schon hinbringen, du sollst sehn. Und bezahlen können wir ja, wenn wir da sind. 's Gepäck senden wir per Eilgut, dann sind wir die Fracht für jetzt los. Von Besowo schicken wir dann einen Wagen nach der Station.

So standen wir denn auf der Station Bjelaja in der Dämmerung, und der Oktoberregen rieselte auf uns herab.

Wir hatten in den letzten 48 Stunden nichts zu essen bekommen, das der Rede wert gewesen wäre. Jedenfalls waren mir solche Eindrücke so gut wie neu. Ausgenommen einen Schnaps und einen Pirosjok in Gatschino, kam es mir vor, als hätte ich mich hauptsächlich von dem stinkigen Fettgeruch genährt, den unsere russischen Mitreisenden dritter Klasse ausströmten.

Da gab's für jeden Geschmack etwas. Schaffell und geteerte Stiefel, auch Machorkatabak. Aber vor allem hatte ich reichlich Gelegenheit, mich mit der russischen Bauernküche vertraut zu machen.

»Steck den Finger in die Erde und rieche, wo du bist,« sagte ein guter Lehrer zu mir in meiner Jugend. Er war weder dümmer noch klüger, als Leute der Art gewöhnlich sind. Er hatte nur eine Nase, und auf die verließ er sich.

Aber jetzt, am zweiten Tage, hatte ich doch Sehnsucht bekommen, diese Luftspiegelungen los zu werden und selbst etwas Festes zwischen die Zähne zu kriegen. Daher lauschte ich gespannt auf Pihlquists Fragen nach Elv und seinem Gut.

Er fragte unermüdlich. Nicht einen gab's unter den fünf, sechs Leuten, die auf dem Bahnsteig standen, der mit heiler Haut davongekommen wäre.

Aber es gab auch niemanden, der etwas von Elv oder seinem Besitz gehört hätte.

»Aber wo liegt denn die Poststation Markowo?«

»Ach Markowo, ja das liegt an der Poststraße, so 150 Werst von hier. Es ist die vierte Station.«

Der Sprecher streckte den Arm aus, wies nach Norden und fragte, ob wir Postpferde haben wollten, aber Pihlquist schüttelte mit dem Kopfe, und große Tränen traten ihm in die Augen.

»Was sollen wir tun, du,« sagte er händeringend, »das ist nicht das alte Schweden, wo wir jetzt sind.«

Und es wäre auch Sünde gewesen, uns um unsere Lage zu beneiden. Wir standen in einem wildfremden Lande auf einer kleinen Waldstation mit vier, fünf Häusern und hatten 50 Kopeken in der Tasche. Zwei Tage schon waren wir auf schmale Kost gesetzt.

Und – nun standen wir hier, zwanzig Meilen zwischen uns und dem nächsten Ort, wo wir Menschen treffen konnten, die uns kannten.

Pihlquist suchte Geld aus unserm Gepäck zu schlagen, das wir ja nicht ausgeliefert bekamen, ohne die Fracht vorerst bezahlt zu haben, aber das war natürlich ein hoffnungsloses Beginnen. Ein Jude, der ein kleines Geschäft besaß, bekam gerade keine schmeichelhafte Vorstellung von unserer Gewandtheit in kaufmännischen Dingen, als ihm Pihlquist den Vorschlag machte, unser noch nicht ausgelöstes Gepäck als Pfand zu nehmen. Ein russischer Schankwirt konnte uns auch nicht helfen, aber wir bekamen doch Obdach und Nachtlogis bei ihm unter günstigen Bedingungen, und das war schon immer etwas. Sein Krug war ja nicht groß, aber er hatte doch oben ein Zimmer mit einem schmierigen Bett, einem Tisch und einigen Stühlen. Tee und saures Schwarzbrot bekamen wir auch, und beim Summen der Teemaschine versanken wir in sorgenvolle Betrachtungen über unser Geschick, ohne aber zu einem Resultat zu kommen, was wir nun vornehmen sollten.

So legten wir uns denn angekleidet Seite an Seite auf das schmale, schmutzige Bett und fielen in einen unruhigen, fieberwilden Schlaf, voll von fremden, schrecklichen Erscheinungen, zu denen das Fluchen und Brüllen der trunkenen Bauern in der Schenkstube unter uns das Leitmotiv abgaben. Mir war, als wäre das Moos zwischen den Balken in der rauhen Bretterwand, an der ich lag, voller Löcher, aus denen allerhand giftiges Ungeziefer auf mich herabkroch und stach und biß und mir das Blut aussaugte. Jeder Biß hinterließ eine große Brandblase. Mein ganzer Körper brannte wie Feuer, und wenn ich mit Anstrengung aller Kraft nach dem Gewürm griff, so schlüpfte es in die Löcher im Moos, steckte den Kopf heraus, guckte mich wütend an und rieb die langen Stacheln mit den braunen Scheren, um sie zu neuen Stichen zu schärfen, wenn ich wieder in meinen matten und hoffnungslosen Schlaf verfallen sein würde.

Früh am Morgen erwachte ich und schüttelte mit einem kräftigen Entschluß dies Bett und seine Träume von mir.

Nun galt es, vorwärtszukommen zum Peipussee, ohne eine Minute zu verlieren. Denn bekamen wir jetzt nur dünnen Tee und saures, grobes Brot für unsere paar Kupferstücke, so würden wir höchstens Abfall und Träber erhalten, wenn wir gezwungen würden, zu betteln.

Lieber hinaus in den Wald, als demütig von Tür zu Tür zu wandern.

Ich brachte durch Rütteln Leben in meinen Reisegefährten. Er richtete sich im Bett auf und starrte leer und verständnislos vor sich hin, während er sich vom Kopf bis zu den Zehen kratzte:

»Das verfluchte Wanzenzeug,« stöhnte er. »Am ganzen Körper habe ich Blasen.«

»Ja, ich bin auch ein bißchen gebissen worden,« antwortete ich – »aber nun die Stiefeln an und vorwärts durch die Wälder von Ingermanland, wenn du nicht hungern und betteln willst. In drei Tagen können wir bei Elv sein. Sieben Meilen pro Tag können wir leisten.«

»Ja, wenn nun aber dieser Elv und sein Besowo gar nicht existiert oder an einem ganz anderen Ende der Welt liegt, was dann? ... Vielleicht hast du eine falsche Adresse.«

»Nu, hoffen wir darauf, daß er wirklich 150 Werst von hier existiert,« antwortete ich. »Wir haben keinen anderen Ausweg, als in dieser Hoffnung die Strecke Wegs zurückzulegen.«

»Und in solchen Stiefeln,« fügte Pihlquist hinzu, indem er mit bitterer und verächtlicher Bewegung mir einen seiner dünnsohligen Zugstiefel entgegenhielt – »du hast gar keinen Begriff von russischen Wegen im Oktober.«

»Ja meine sind nicht besser. Aber heute gibt's Sonnenschein, siehst du. Und laß uns bloß erst aus diesem Loch heraus!«

Wir tranken den kalten Tee vom Abend vorher, aßen die Brotreste und brachen auf, als die Sonne rot über dem Horizont im Osten leuchtete.

Nie vergesse ich diesen Spätherbstmorgen mit seinem flimmernden Glanz der grauenden Frühe, dieser frischen Luft, die kühl geworden war in der Nacht auf dem regenkalten Moose im Walde und nun mit keckem Hauche um die Zweige der Tannen und Birken spielte. Es duftete nach Harz, nach buntem Herbstlaub und nach Birkenstämmen, die wie mit Silber eingelegt erschienen.

Die kahlen, braunen Kiefern hoben sich mit ihren düstern Kronen wie seltsam geformte, grübelnde Schatten vom morgendlichen, blutroten Himmelsfächer ab.

Der Wind eilte mit fernem, gedämpften Sausen durch die Kronen, beugte ihre seltsam geformten Linien in schwerem und fremdklingendem Rhythmus. Mir war, als sähe ich einen einzigen Augenblick die Zeit vor der Menschheit Reich.

Unter uns am Fuß des Höhenzuges lag die kleine Waldstation mit ihren paar Blockhäusern, aber vor uns war Sonne und Wald und Äcker und der sandige Weg ins Unbekannte.

Tief atmete die Brust und frei. Das war einer von den Tagen, wo das Vergangene verblaßt und etwas Neues rot und heiß das Licht der Welt erblickt.

Wir schritten tüchtig zu auf dem weichen, nadelbestreuten Steig längs der Fahrstraße.

Zahllose Spuren waren in dem gelben Sande.

Jedermann fährt da, wo ihm der Weg am besten erscheint, und weicht von der alten Spur ab, wenn sie zu tief und ausgefahren ist. Wie er von Vieh und Menschen seit langer Zeit ausgetreten war, so schlängelte sich der Weg hin und her.

Da wo der Boden feucht und sumpfig ist, werden dünne Baumstämme nebeneinandergelegt, quer über den Weg, und Tannenreisig und Erde darauf. Das trägt dann eine Weile.

Föhren- und Birkenwald wechselte. Hier und da öffnete er sich, und dann konnte man weit über Äcker und Dörfer schauen. Einzelne Häuser gibt es in dieser Gegend nicht, mit Ausnahme der alten Herrensitze. Die russischen Bauern wohnen in Dörfern, und düster und ärmlich sehen diese ungestrichenen Blockhütten mit ihren dünnen Strohdächern aus. Keine geputzte Mauer, kein angestrichenes Gehöft leuchtet auf aus den gelben Stoppelfeldern und aus dem grünen Roggen.

Nur in den größeren Orten wird die Eintönigkeit gebrochen von einer Kirche weißen Mauern, ihren grünen Türmen oder Kuppeln.

Die Blockhütten haben die erdgraue Farbe, die das Holz annimmt, wenn Regen, Schnee und Sonne das Weiß der neugehobelten Stämme erweicht und bleicht.

Die ganze Wirtschaft befindet sich in ein und demselben Gebäude. Oben unterm Dach ist der Heuboden, zu dem man auf einer schrägen Holzbrücke fährt. Darunter wohnt der Bauer und seine Familie in der einen Hälfte des Hauses, in der andern läuft das Vieh frei herum.

Wir kamen durch Dörfer, deren Häuser mit den Giebeln nach der Straße sahen. Hier waren die Gebäude größer. Nicht der Acker war es, der Wachstum und Wohlstand gab, sondern die Landstraße, aus deren Verkehr Geschlecht nach Geschlecht Nebenverdienst geschlagen hatte.

Der Schmutz war so tief, daß wir mit unseren niedrigen Stiefeln keinen Grund finden konnten. Wir sprangen von der Wegkante in die Häuser und wieder zurück und erwarben schließlich eine große Fertigkeit in dieser Gangart.

Die Hunde sprangen uns bellend nach, und einer von ihnen biß sich in meinem Regenmantel fest. Nun ist ja solch ein weiter Mantel mit fliegendem Kragen wohl geeignet, unter den Hunden eines russischen Dorfes Aufsehen zu erregen, aber nichtsdestoweniger langte ich einem Hunde eins mit meinem Knüttel, so daß er heulend von dem Loche abließ, das er gebissen hatte.

Aber es waren nicht nur die Hunde, die uns seltsam und ungebührlich fanden. Barfüßige Kinder in Hemd und Hose schrien und warfen Steine nach uns. Frauen in roten, hemdartigen Kleidern, die den Hals frei ließen, guckten mißbilligend durch die kleinen, viergeteilten Fenster, und die Männer schimpften und schnitten spöttische Gesichter.

»Dürften wir vielleicht um Unterkunft und ein wenig zu essen bitten.«

Ei, ihr verfluchtes, schäbiges, deutsches Landstreicherpack! schallte es hinter uns her.

Pihlquist schüttelte sich und senkte den Kopf, und ich verstand nichts, bis er außerhalb des Dorfes mein Feingefühl durch die Übersetzung verletzte.

Dazu kann man nichts sagen. In 99 von 100 Fällen hatten sie recht. Kein Mensch geht in Rußland spazieren, ausgestattet wie wir, in niedrigen Stiefeln und ohne Gummischuhe, zu Fuß durch den Schmutz, ohne ein Fremder oder ein Landstreicher zu sein. Unsere Kleidung verlangte Pferd und Wagen, wenn sie nicht die Illusion zerstören sollte. Hätten wir eine runde, russische Mütze gehabt, faltige Transtiefel und einen wollenen, roten Quastengurt um einen verschossenen Ösenrock, hätten uns nicht einmal die Hunde angebellt.

Wir waren wohl so vier Meilen gegangen, als wir zu einem kleinen Krug oder Kabak, wie es hier heißt, kamen, der ganz allein am Wege lag und so bescheiden aussah, daß wir nichts zu riskieren glaubten, wenn wir hineingingen. Einen größeren, an dem wir schon im Dorfe vorbeigekommen waren, wo die Postreisenden seit Bjelaja zum ersten Male die Pferde wechseln, ließen wir stillschweigend und bewundernd liegen.

Die Wirtsleute, ein Paar alte, lederne Wesen, kamen uns freundlich entgegen und fragten uns über unsere ganze Vergangenheit und Zukunft aus.

Dies erweckte in Pihlquist die Lust zu dichten, von unserer rührenden Jugend und allen goldenen Möglichkeiten unseres Mannesmutes zu fabeln, und das machte einen guten Eindruck auf die Wirtsleute, so daß sie für uns nach bestem Können auftrugen.

Wir halfen unserer Schlappheit mit einem kräftigen Schluck Branntwein auf die Beine und füllten unsere leeren Magen mit Tee und großäugigem, klitschigem Graubrot.

Der ganze Kabak hatte nur zwei kleine, niedrige Räume. In der Schenkstube, wo wir um den einzigen groben Brettertisch saßen, standen an der Wand ein paar niedrige Holzpritschen für Gäste, die übernachten wollten, und in einer Ecke war ein Lattenverschlag für Waren. Hinter der Schenkstube lag eine kleine Küche mit einem großen, russischen Ofen aus Backsteinen, der das ganze Haus heizte, und auf dem die Wirtsleute nach russischer Sitte und Brauch der Wärme wegen schliefen.

Lange konnte ich es aber in der verqualmten Stube nicht aushalten, ich setzte mich vor die Tür und schaute über dies Land, das wir im Westen so wenig kennen.

Es liegt über einer nordrussischen Landschaft mit ihren Wäldern, magern Äckern und armen Dörfern etwas Verlassenes und tief Wehmütiges, etwas, das zum Herzen redet von jahrhundertelanger Knechtschaft und Entbehrung; es ist ein Stück Sage, ein Stück Mystik Asiens, das einem Westländer zugleich verwandt und fremd erscheint; fremd, weil die russische Volksseele auf anderen Bahnen gelitten und gestritten hat, als die des Westens, und verwandt, weil das Seltsame, in eines Volkes Seele wie in der Welt, uns allen nahesteht.

Pihlquist hatte sich nach dem Weg erkundigt, und wir setzten uns in Bewegung, um am Abend noch einen anderen Kabak zu erreichen, wo wir für die Nacht Unterkommen finden konnten. Die Müdigkeit fühlten wir nicht. Man gewöhnt sich an sie wie an die ununterbrochene Bewegung, wenn man weiß, daß es nicht anders sein kann.

Selbst an Hunger kann man sich gewöhnen. Das sind nur die ersten Tage schmaler Kost, wo man sich quält, darüber hinwegzukommen, hernach knurren die Eingeweide nicht mehr; sie hören auf, sich zusammenzuziehen und nutzlos zu arbeiten.

Zähe und beständig strebten wir vorwärts. Nur auf den Holzbrücken über den schmalen Wasserläufen, die den Weg kreuzten, machten wir halt und rauchten eine der elenden und bitteren Zigaretten, mit denen wir uns bei der letzten Rast versehen hatten. Wir spuckten ins Wasser hinab, um uns doch mit irgend etwas zu unterhalten, und gingen dann wieder weiter mit einem trockenen und scharfen Geschmack im Munde.

Regenschauer machten den Weg noch scheußlicher als bisher, und Pihlquist klagte darüber, daß Wasser in seinen Stiefel sickerte, dessen Sohle sich zu lösen begann.

Der ganze Himmel überzog sich, und die Dunkelheit überraschte uns früher, als wir uns ausgerechnet hatten.

Es mochte wohl noch eine Meile weit sein bis zum nächsten Kabak, als Pihlquist plötzlich stillestand und sich weigerte, weiterzugehen: Nicht einen Schritt weiter! Wir können ja weder hören noch sehen! ... Und auch ich fühlte einen fast unwiderstehlichen Drang, mich niederzuwerfen auf den Weg und mehrere Tage in einem Zuge zu schlafen. Wenn man wirklich müde ist und das letzte bißchen Nervenkraft auf dem Spiele steht, ist's gefährlich, stehenzubleiben und an Schlaf zu denken.

Wir sprachen auch nicht mehr davon, aber wandten uns, ohne ein Wort zu reden, zum Walde, um dort einen Lagerplatz zu suchen.

Pihlquist setzte sich sogleich nieder, lehnte sich mit dem Rücken gegen eine große Fichte und schlief auf der Stelle ein; das Haupt hing ihm zur Seite und der Unterkiefer schlapp herab.

Aber es regnete, und so zwang ich mich, dem bohrenden Schlafbedürfnis, das mein Gehirn bedrückte, mit Gewalt entgegenzutreten. Ich machte mich daran, mich nach einem Dickicht umzusehen.

Dabei kam ich an einen Windbruch und wollte schon wieder umkehren, als ich die Wurzeln einer großen Tanne bemerkte, die in ihrer ganzen Länge aus der gegenüberliegenden Baumwand herausgestürzt war.

Der Wald hat uns ein Haus gebaut, dachte ich und fühlte mich mit einem Male heimisch und freudig erregt über diese große Einsamkeit.

Es kostete mir reichlich Mühe, Leben in Pihlquist zu bekommen. Er war ganz zusammengesunken und bekam einen Tobsuchtsanfall, als er im Wald und in der Finsternis erwachte. Nach und nach wurde er seiner Sinne wieder mächtig, und wir richteten uns flink einen Lagerplatz unter den Tannenwurzeln her, die sich wie ein schräges Rasendach gegen des Dickichts Laubwand erhoben.

Wir sammelten Tannenreiser und Moos, um uns darauf zu legen und machten ein Feuer aus dürren Zweigen.

Hätten wir nur etwas zu kochen oder zu braten gehabt auf dem roten, knisternden Feuer, aber wir mußten uns damit begnügen, uns dies vorzustellen, und um unseren Durst zu stillen, saugten wir das Regenwasser von den jungen Tannenzweigen.

Das schmeckte kühl nach Tau und Nadelholz, aber wir dachten damals an nichts anderes, als daß es frisch und kühl war, und äußerten uns auch nicht darüber, daß wir einen ganzen Nadelwald hätten abtrinken können, wenn es nicht so lange gedauert hätte und wir nicht so totmüde gewesen wären.

Wenn man ganz sich selbst, dem Wald und der Einsamkeit überlassen ist, fallen alle Gesprächsstoffe des täglichen Menschenlebens fort.

Das platte Grinsen über sich selbst und andere gerät in Vergessenheit. Eine stille und ernste Stimmung legt sich auf die Sinne wie Nacht und Regen und der Traum von einem neu emporsteigenden Tage auf alles Erdengewürm.

Pihlquist verließ als erster unser Trinkgelage und ich sah im Feuerschein des Holzstoßes wie er schwankte, wenn er ging. Dürre Zweige, auf die er trat, knackten mit sonderbarem, unbekanntem Geräusch, als ob er ein Waldmensch wäre, der auf seine langen Hängearme gestützt, geblendet und neugierig quer über den Windbruch auf das erste, brennende Feuer zuwankte.

Als ich zu ihm kam, schlief er mit offenem Munde, auf dem Rücken liegend und alle Glieder weit von sich gestreckt, als wenn er sein Leben lang unter Tannenwurzeln im Walde geschlafen hätte.

Ich legte einen Haufen Zweige auf den Holzstoß und sah einen kurzen Augenblick, wie das Feuer einen flackernden Flammenschein zwischen die Stämme des Dickichts warf und wie sich der Rauch graugelb und wollig zwischen den schwermütig herabhängenden Fichtenzweigen hindurchwand und sich warm und würzig in die Nacht und das Dunkel über dem Windbruch hinein ausbreitete.

Wie ich mich so neben das Feuer hinstreckte und in meinen Mantel wickelte, fühlte ich halb unbewußt, wie der Regen da draußen schwer und feucht auf die Erde herunterrieselte wie ein trostloses Weinen.

So sank ich in den tiefsten Schlaf, den je ich schlief.

Wahrscheinlich lag auch ich da mit ausgestreckten Gliedmaßen und hängendem Unterkiefer wie ein toter Waldmensch, der sich zum letzten Male mit einem Seufzer zum großen Schlummer hingestreckt hat.

Vor Frost zitternd, erwachte ich bei Tagesgrauen und puffte meinen Schlafkameraden in die Seite, der immer noch in derselben Stellung dalag und nicht einmal eine große Spinne dabei gestört hatte, ihr Netz gerade über ihm zwischen den zarten Baumwurzeln zu spinnen.

Auch er war steifgefroren, und wir kratzten den ausgebrannten Holzstoß auseinander und wärmten uns die Hände an der Asche, die noch heiß war.

»Anheimelnd ist es gerade nicht in dem alten Schweden, wo wir jetzt sind,« sagte er, und die Worte hopsten ruckweis zwischen seinen Zähnen hervor.

»Ich glaube nicht, daß ich es aushalten kann, den ganzen Tag bis zu diesem »Elv« zu Fuß zu machen; hätte ich mir das alles denken können, hätte ich nicht mitgemacht.«

»Wir müssen zusehen, daß wir's ertragen,« antwortete ich. – »Ich könnte ganz gut noch einige Zeit in unserer Hütte hier bleiben, wenn wir etwas zu essen schaffen könnten. Auch das ist Pech, daß meine Büchse im Koffer liegt ... sieh mal! ...«

Ein Schwarm Birkhühner saß auf der anderen Seite und wiegte sich auf den dünnen Baumspitzen. In dem gelben, unsicheren Tageslicht sahen sie aus wie große, schwarze Früchte.

Hui! – brüllte ich und trat zugleich auf den Windbruch hinaus; das Öffnen meines Mundes und der Anblick der wilden Vögel, die im Fluge hochstiegen, füllte meinen Rachen mit großen, heißen Wassertropfen und meine Augen mit trockener Hitze.

Der Himmel war klar, und weißer Reif lag auf dem gelblichen Waldgras und den welken Blumen.

Das herbstbunte Birkenlaub raschelte wie dünne, glühende Metallplatten an den zarten Hängezweigen und schlang sich wie kostbare, goldfarbige Spitze um den dunkelgrünen Nadelwald.

Die frische Herbstluft und die Sonne, die sich in ihrem eigenen roten Blute badete, erzeugte Sehnsucht in uns, weiter zu wandern zu einem neuen Lagerfeuer.

Wir lutschten den Reif von Gräsern und Blumen, und ich fand einige braune Pilze, die besser schmeckten, als alles, was ich bisher gegessen hatte.

In dem Kabak, den wir glücklicherweise nicht am Abend erreicht hatten, tranken wir wieder ein Glas Branntwein und Tee, schlugen uns den Magen mit klitschigem Brot voll und machten uns dann auf den Weg gen Norden, bis die Sonne wiederum sich dem westlichen Himmelsrande zuneigte.

Es war zur fixen Idee geworden, uns mit dem Gedanken zu plagen, daß unser Landsmann gar nicht auf dieser Erdenseite wohnte.

Namentlich Pihlquist, an dessen einem Stiefel die losgerissene Sohle bei jedem Schritt auf und nieder klappte, schien unter diesem Gedanken zu leiden. Und allzu erfreulich war ja das Bewußtsein auch nicht, daß wir nach einem weiteren Tagesmarsch es nicht mehr aushalten konnten, und daß uns, falls Elv wirklich nicht existierte, nichts übrigblieb, als uns an die Landespolizei zu wenden, um von Gefängnis zu Gefängnis nach Petersburg zurückgeschleppt zu werden.

»Was zum Deibel ist denn das für ein Gutsbesitzer, den keiner kennt! Überall frage ich. Du sollst sehen, man hat dir eine verkehrte Adresse gegeben!« räsonnierte Pihlquist.

So verkommen und heimatlos, wie wir uns da draußen auf der Landstraße fühlten bei diesem ununterbrochenen, stumpfsinnigen Vorwärtsschreiten, konnten wir uns gar nicht die Möglichkeit vorstellen, Menschen zu treffen, die fähig wären, sich in unsere Lage zu versetzen, oder bei denen wir im schlimmsten Fall ein Obdach finden konnten und Essen – ja, namentlich Essen.

Ich ging und dachte an allerhand Speisen, bis ich geradezu Eßhalluzinationen bekam und mir so war, als röche ich Bratenduft und Grützendampf. Aber so bekam ich wieder Wasser in den Mund, Schmerzen in Kehle und Augen, und ich fing an, an einem Grashalm zu kauen, um auf andere Gedanken zu kommen.

In der Dämmerung kamen wir zu einem kleinen Dorfe und machten an einem langen, niedrigen Holzhause halt, das gar nicht den russischen Bauernhäusern glich.

Pihlquist meinte, es sei ein estnischer Ansiedlerhof, und da er etwas estnisch sprach, ließ er sich mit den Leuten, die davor standen, in ein Gespräch ein.

»Komm, wir wollen hineingehen,« sagte er. »Vielleicht können wir hier Obdach für die Nacht kriegen, wenn wir den Esten gute Worte geben. Im Walde ist's so niederträchtig kalt.«

Wir gingen hinein und kamen so durch drei, vier Zimmer, voll von Männern, Frauen und Kindern, bis man uns bat, in der Staatsstube Platz zu nehmen, die sich jedoch von den anderen nur durch eine etwas reichlichere Ausstattung mit Holzstühlen und einem breiten Bett nebst rotbaumwollenem Vorhang unterschied,

Pihlquist bat um etwas zu essen, aber der Mann sagte, außer Milch und Brot hätten sie nichts anzubieten.

Das war keine schlechte Kost für uns, und während wir ganz langsam, um unseren Hunger nicht allzusehr zu offenbaren, die fette Milch, die nach Waldgras und würzigen Kräutern schmeckte, über die Zunge gleiten ließen und geradezu kauten, fing Pihlquist an, über ein Unterkommen zu unterhandeln.

Der Este erklärte, er habe keinen Platz, sonst hätten wir gut bei ihm schlafen können, aber oben auf dem Gut sei Platz genug. Er wolle mal da oben fragen. Das seien biedere Leute und noch dazu Deutsche.

Pihlquist machte ein bedenkliches Gesicht und machte sich etwas unsicher daran, in der Tasche nach einer Visitenkarte zu suchen. Er hatte keine, aber ich fand eine vergessene, braungeschwitzte in einer Falte meiner Tasche.

Pihlquist biß krankhaft in seinen Bleistift und schrieb deutsch auf die Rückseite:

»Zwei junge Leute, die sich in einer peinlichen Situation befinden, bitten um Unterkommen für die Nacht und um Entschuldigung für die Mühe.«

Der Este nahm die Karte und ging.

Es war uns in den 10 Minuten, die wir warten mußten, unbehaglich zumute, bis ein hoher älterer Mann mit mächtigem Schnurrbart in hohen Stiefeln und mit einem silberbeschlagenen Riemen um den Mantel eintrat, begleitet von einer ganzen Koppel Hunde.

»Guten Tag! meine Herren!« sagte er, indem er uns prüfend musterte, womit kann ich dienen?

Pihlquist erklärte in einer langen Rede und nicht ohne Rührung die Verlegenheit, in die wir geraten waren, und wie er so erzählte, lachte der Jägersmann lauter und lauter und blickte von einem von uns zum anderen. Er schien sich schnell darüber klarzuwerden, daß wir nicht zu den Straßenräubern gefährlichsten Schlages gehörten, verlegen und mitgenommen, wie wir waren.

»Tod und Teufel, wie mich das an meine eigene Jugend erinnert,« lachte er herzlich. Ich bin auch ein- oder zweimal so daran gewesen, in einer ähnlichen Geschichte ...

Ja, wir bauen gerade und sind mitten im Roden, aber wenn Sie vorlieb nehmen wollen ...«

Er führte uns hinauf zu einem kleinen, hölzernen Gebäude im gewöhnlichen, russischen Herrenhausstil mit einem Stockwerk, den Giebel nach der Front und Holzsäulen an der Fassade.

Als wir eintraten, schlug uns das Licht aus den anheimelnden Stuben entgegen. Mir war, als wären viele Jahre verflossen, seit ich ein Haus gesehen, das wie bei uns daheim eingerichtet war, und ich hatte in meiner Verlegenheit darüber, daß ich mir fremd und verkommen in gewohnter Umgebung vorkam, mehr Lust, an der Tür zu bleiben, indem ich flüchtig in Gedanken den Reichtum fühlte, den ich durch mein Eigentumsrecht an dem Holzstoß und dem Wurzeldach draußen im Walde hatte.

Aber dies Gefühl verzog sich bald; denn der alte Flint und seine Schwester und Nichte nahmen sich unserer an, als wären wir ihre eigenen Kinder gewesen.

Auch das nahm uns eine schwere Last von den Schultern, daß sie Elv kannten, wenn sie auch erzählten, daß er sonderbar und menschenscheu sei.

Bald darauf saßen wir an einem Tisch, der sich unter den köstlichsten Speisen bog.

Da lag ein ganzer Schinken, eine ganze Schüssel gebratene Birkhühner und viele andere Herrlichkeiten.

Ich verschlang ein Birkhuhn und, ich glaube, noch ein paar Pfund Schinken mit einem entsprechenden Ungeheuern Quantum Brot und Kartoffeln.

Und die Prachtmenschen nötigten uns noch mehr hinein und saßen dabei und staunten uns an, als ob sie noch nie hungrige und müde Jungen gesehen hätten.

Am nächsten Morgen erwachte ich in meinem weichen Bett, als jemand die Türe öffnete und leise auf Strümpfen eintrat. Es war der alte Flint. Ich tat, als ob ich schlief, sah aber durch die Wimpern, wie er unsere Stiefel nahm, einen Augenblick stehen blieb und uns ansah. Dann schüttelte er den Kopf, lachte leise und schlich hinaus.

Ich war inzwischen wieder eingeschlafen, als ich ihn mit unseren Stiefeln zurückkommen und ebenso sein Gehen hörte.

Was wollte er nur mit den Stiefeln? dachte ich. Das ist doch etwas zuviel!

Aber als wir aufstanden und Pihlquist seine schadhaften Stiefel anzog, entdeckte er, daß die Sohle festgenäht worden war, während er schlief. Also Pihlquists bittere Klagen hierüber am vergangenen Abend, als wir unsere Reiseabenteuer erzählten, hatten den Alten an den Leisten getrieben.

Man bat uns, zu bleiben, aber wir beschlossen doch, die Gastfreundschaft mit Maßen auszunutzen und unser Ziel vor Abend zu erreichen, was sich machen ließ, da unsere Wirtsleute uns den halben Weg fahren wollten.

Wir fühlten uns mächtig obenauf, als wir mit unsern beiden flinken Pferden an den zweirädrigen Einspännerkästen der Bauern vorbeijagten, zu denen wir am Tage vorher aufgesehen hatten wie zu eines Triumphators Wagen. Wir hatten in unserer sozialen Stellung einen ungeheuern Schritt vorwärts getan, und es ist eigentlich wunderbar, wie leicht man imstande ist, eine minder glanzvolle Vergangenheit zu vergessen. Ich habe Leute kennen gelernt, die sie einfach aus ihrer Erinnerung gestrichen hatten.

Auf der Poststation Markowo nahmen wir einen Bauern an, der uns weiterfahren sollte, da man Elv dort gut kannte.

Wir bogen von der großen Landstraße ab, mit ihren schwarzweiß gestrichenen Werstpfählen, von denen wir nun fast anderthalb Hundert Stück gezählt hatten, seitdem wir die Eisenbahn verlassen hatten. Der schmale Weg, über dessen Löcher unseres Kutschers magerer Pony und der steife Holzwagen auf und ab stolperten, führte uns durch Dickichte mit ehemals bewaldeten, abgebrannten Flecken, wo schwarze Stumpfe ellenhoch den dunkeln, versengten Waldboden überragten. Hier und da lag ein einsamer Hof eines Estekolonisten. Wir näherten uns augenscheinlich einem Grenzgebiet, wo die fleißigen und strebsamen Pioniere begonnen hatten, vorzudringen, um der wüsten, russischen Heide ein hartes, schwarzes Brot abzuringen.

Oben auf der anderen Seite des Peipussees ist ihre Heimat, der deutschen Ritter ehemalige Domäne und das Dorado der baltischen Barone.

Dort hört die russische Sprache auf, und hohe Spitzen protestantischer Kirchen schützen die Dreieinigkeit gegen die bunte Menge der griechischen Heiligen.

Der Boden wurde unebener. Zwischen niedrigen Höhenzügen lagen sumpfige Strecken, über die wir auf dünnen Fichtenstämmen fuhren, die lose Seite an Seite in den Sumpf gelegt waren. Das war ein russischer Pfahlweg.

Es war ganz finster geworden, und der Bauer, der uns ein übers andere Mal versichert hatte, wir wären gleich in Besowo, erklärte auf einmal mit großer Bestimmtheit, nun seien wir da.

Wir waren gerade über einen beängstigend schmalen Pfahlweg gefahren und hatten uns durch einen Hohlweg hinaufgeschleppt, durch den der Wagen gerade, ohne hängen zu bleiben, hindurchkriechen konnte, als auch Pihlquist erklärte, daß hier ein Gut sein müsse; er könne das an den Feldern sehen.

Es war Besowo!

Wir hielten an, um in der rohbehauenen Pallisadenmauer, die den Hof umgab, eine Durchfahrt zu suchen.

Das war also Besowo, das ich mir in meiner Phantasie ausgemalt hatte wie einen altrussischen Herrensitz mit hohen Blockhäusern und Schnitzwerk an den Fenstern, mit schnaubendem Dreigespann und bellenden Hunden.

Ich fühlte eine tiefe Beschämung über mich selbst und die Illusionen des Lebens, da ich Ausschau hielt auf diese elende Wirklichkeit.

Eine alte Brandstätte in einem kahlen, ehemaligen Garten. Ein paar kleine Wirtschaftsgebäude ohne Stroh auf den nackten Dächern, auf denen die bloßen Latten wie die Knochen eines Gerippes grinsten, und zwei Holzhütten, das war Besowo, das Feenschloß.

Pihlquist bekreuzte sich, und ich fühlte mich sehr, sehr arm.

Wir fanden ein Tor und fuhren hindurch, an einer Holzhütte entlang. Es war Licht in den kleinen Fenstern und wir sahen darinnen eine ganze Estefamilie durcheinander wimmeln.

Hier konnte es nicht sein; es mußte oben in der anderen Hütte sein.

Auf den roten, baumwollenen Ziehgardinen hinter den nur ellenhohen Fenstern sah man den Schatten eines Kopfes.

Er erhob sich. Ein Fenster wurde geöffnet.

»Wer da?«

»Wohnt hier Elv?« antwortete Pihlquist.

»Ja, das bin ich.«

»Guten Tag, Herr Elv«, sagte ich ... »Ja, ich bin's, Sie wissen doch«.

»Hm, jawohl! Aber Sie sind ja auf der falschen Seite. Hier können Sie nicht hinein. Guten Tag, wollte, ich sagen! ...«

Elv sah aus wie ein Mann, den man überrascht hatte. Es war nichts Unfreundliches in seinem Tonfall bei der Begrüßung, aber er schien so wunderbar beschäftigt und tat einige unbestimmte Schritte, erst nach der einen, dann nach der anderen Stubenseite, als ob er mitten in seines Einsiedlerlebens Unbeweglichkeit von etwas Neuem, von dem er noch nicht wußte, wie er es anpacken sollte, überrumpelt worden war.

Aber er überwand es doch, und es dauerte nicht lange, so ließen wir uns in seiner Blockhütte auf dem Gut Besowo nieder. – – –

Eine ganze Woche verging, bis Pihlquist sich von der Tour erholte, und als er mit seinen Sachen, die inzwischen von der Station geholt worden waren, abzog, war sein Traum von einer kleinen Anleihe in Erfüllung gegangen; keiner von uns hörte je wieder etwas von ihm.

Haben wir graues Haar bekommen, geschah das auf keinen Fall aus diesem Grunde.

Was mich, angeht, so blieb ich auf Besowo, solange ich meiner Sehnsucht nach neuen Wanderungen ins Ungewisse steuern konnte.

Aber das hat glücklicherweise nie lange gedauert.

2. Wald und Moor

Ab und zu kamen Bauern zu uns mit Birk- und Schneehühnern, die sie in Schlingen gefangen hatten, und als ich mich mit Pulver und Blei versehen hatte, fing ich an, mich mit meiner Büchse herumzutreiben, um die wilden Vögel aufzusuchen.

Da ich keinen Hund hatte und die jungen Vögel zu so später Jahreszeit schon groß geworden waren, hielt es schwer, zum Schuß zu kommen, wenn sie zerstreut im Dickicht umherstreiften.

Es konnte vorkommen, wenn ich am Waldesrande bei einer der Lichtungen stand, daß einige Stücke auf mich zugeflogen kamen, aber bei der geringsten Bewegung strichen sie auf ihren breiten Schwingen ab und verschwanden, ohne mir Gelegenheit zum Schuß zu geben. Und wenn ich sie mitten im Dickicht suchte, wo es so still war, daß ich nur das Klopfen meines Herzens und das gedämpfte, ernste Rauschen der Fichtenwipfel hörte, wenn ich lauschte, entdeckte mich der scheue Vogel und stieg, mit den Flügeln schlagend, auf, ehe ich ihn zu Gesicht bekommen hatte.

Mit der Zeit fand ich doch die Lieblingsplätze der Birkhühner, wo sie nach vollbrachtem Tagewerk gegen Abend sich zur Ruhe setzten, und nun konnte ich stundenlang sitzen und auf sie warten. In solchen Stunden war es mir oft, als ob ich ganz in der großen Waldesstille aufging, als ob ich mit einstimmte in dies stille, aber ewig arbeitende Leben. Die welken Nadeln fielen lautlos zur Erde, und die großen Waldameisen schleppten sie davon in den letzten, sonnenlichten Tagen, um ihren Bau zu bereiten für den langen Winter.

Das Birkenlaub wirbelte herab. Es war ganz hell und gelb geworden wie tausendjährige Goldschuppen auf dem Grunde eines Flusses, und mir war, als tönte ein Klingen, wenn die goldenen Blätter auf das graue Renntiermoos fielen.

Ich konnte plötzlich bei einem ohrenbetäubenden Krachen zusammenfahren, wie wenn ein hundertjähriger Stamm zusammenstürzte. Aber es war nur ein trockener Zweig, der das tiefe Schweigen brach und zur Erde fiel.

Oder ich konnte nach meiner Büchse greifen, wenn eine Meise schwirrend mir zu Häupten flog und dort oben hängen blieb zwischen den schwankenden Zweigen, als ob sie ganz gut wüßte, daß sie nicht einen Schuß Pulver wert war.

Da standen halbverfaulte und eingeschrumpfte Pilze, die die Bauernjungen und die Frauen auf ihrer Schwammjagd vergessen hatten. Da jauchzte und lachte es durch den Wald. Ein kleines Mädchen kam mit einem großen, roten Fliegenpilz gelaufen. Sie war so froh über den herrlichen, feuerroten Schwamm mit den weißen Flecken. Der sah aus wie des Kaisers Mantel auf dem Bilde daheim.

»Ach, was ich für einen schönen Pilz gefunden habe!«

»Wirf ihn fort, der ist giftig und unrein!« sagten die Großen, wie sie immer zu den Kleinen sagen; die Kleine warf den Schwamm beschämt fort und weinte bitterlich, daß sie den herrlichsten Pilz, den sie je gesehen, fortwerfen sollte, und einer von den Großen, der hinter ihr ging, gab ihm einen Fußtritt, daß er übers Moos rollte, den Stengel verlor und in scharfkantige Stücke brach mit grünschimmerndem Bruch.

Was war das!

Ein großer, schwarzer Vogel kam herbeigeflogen und setzte sich in einen der Fichtenwipfel. Ich lauschte atemlos, die Büchse an der Wange, und fühlte, daß mir das Blut in das Weiße der Augen drang. Ich sah deutlich den Vogel: er stand auf gestreckten Beinen und sah sich um.

Da fiel ein Schuß. Es war, als ob ich es gar nicht gewesen wäre, der geschossen hatte, aber der Vogel stürzte schwer von seinem Ast und im Fallen breitete er die schwarzen, weißgebänderten Schwingen weit aus.

Ich schob eine neue Patrone in die Büchse, während ich zu ihm lief. Es war ein Birkhahn. Seine schwarze, metallisch glänzende Brust und der leierförmige Schwanz lagen auf dem grünen Moos und die rotgeränderten, gebrochenen Augen färbten sich wie matte, in Korallen gefaßte Steine.

Es konnten noch mehr kommen, aber ich schoß nie mehr, als wir verzehren konnten, und einen, dem ich meine Beute hätte schenken können, gab es nicht. Die Bauern machten sich nichts aus dem Wilde.

Aber wenn ich den Waldessaum entlang ging, ohne an Schießen zu denken, kamen sie oft angeflogen, einer dicht hinter dem anderen, und eines Tages riß ich die Büchse von der Schulter und jagte einen weiten Schuß mit schwerem Schrot aus dem engen Lauf.

Ein brauner Vogel war's, eine Henne, die, sich überschlagend, in weitem Bogen zur Erde fiel. Der eine Flügel war durchschossen. Ich lief was ich konnte, um sie wieder zum Schuß zu bekommen, ehe sie sich auf ihren starken Beinen davongemacht hatte – schoß gerade, als sie zwischen die Baumstümpfe fiel und strauchelte selbst über einen Stamm, sah aber noch im Fallen, wie die Federn flogen.

Und doch mußte ich lange suchen, bis ich sie fand. Sie trug dieselbe Tracht wie die braungekleidete Erde.

Ich ging auch hinaus auf das Moor, den großen Sumpf, der sich von Besowo weit ins Land hinein erstreckte. Gehen konnte man da draußen, aber der Versuch zu reiten, den ich eines Tages auf dem alten Pfahlweg unternahm, welcher quer hinüber zur anderen Seite führte, hätte beinahe Polo das Leben gekostet. Polo war der einzige von Elvs drei Ponies, der den Namen Pferd verdiente. Es war ein starker und kluger Pony. Er war, wie man sagt, gerade so klug wie ein Mensch, nur daß er nicht sprechen konnte.

Ich wollte zur anderen Seite hinüber, zu einem Zigeunerlager, von dem wir den blauen Rauch der Lagerfeuer aufsteigen sahen, und ich »lieh« mir Polo eines Tages, als Elv im Walde war.

Als ich auf das Moor hinausritt, merkte ich, daß Polo sich mit den Beinen gleichsam vorwärtsfühlte, ehe er auf die dünnen, halbverfaulten Stämme trat. Das ging ein Stück gut, aber plötzlich sank er tief mit den Vorderbeinen ein. Ich sprang mit einem Satze ab und verschwand bis zu den Knien. Wie Polo, war ich auf eine Stelle geraten, wo die Stämme auseinandergewichen und in die sumpfige Tiefe gesunken waren. Im nächsten Augenblick war ich, wie auch Polo, auf festerem Grund, doch Polo sank mit einem seiner Hinterbeine so weit ein, daß er nahe daran war, stecken zu bleiben, und auf die Seite zu fallen. Aber er zog mit behendem Ruck das Bein heraus, so daß der schwarze, algenbewachsene Schlamm des Weges schwappte, und sprang weiter. Bald sank er mit den Vorderbeinen ein, bald mit den Hinterbeinen, und ich folgte allen seinen Bewegungen, als gälte es mein eigen Leben.

Endlich kamen wir auf die andere Seite hinüber. Ich sah, wie er sich schüttelte und sich drei-, viermal auf Elvs altem Sattel herumwälzte, und dachte, während ich selber über die grundlosen Stellen des Weges sprang, daß er im nächsten Augenblick mit den Hinterbeinen nach allen vier Winden ausschlagen und zwischen den Birken verschwinden würde.

Ich sprang deshalb doppelt schnell, und sah nur auf die Stämme, auf die ich treten mußte, während ich die Zähne zusammenbiß bei dem Gedanken, daß ich vielleicht hinter ihm her laufen müßte wie ein geschlagener Mann.

Aber als ich endlich atemlos und schmutzig drüben war, stand Polo da, sah mich an und schwänzelte gemütlich mit seinem langen Schweif. Es hatte ihn augenscheinlich interessiert, zu beobachten, wie ich mit dem alten Pfahlweg über den Sumpf von Besowo fertig wurde.

Das rührte mich tief, und ich hatte Grund, eine hohe Meinung von Polos Klugheit zu hegen.

So trabte ich denn weiter durch das niedere Birkenholz und den Wald und kam auf einen freien Platz, wo ein paar Zigeunerfamilien ihr Lager aufgeschlagen hatten. Ihre kleinen Pferde gingen mit gekoppelten Vorderbeinen umher und fraßen vom goldgelben Waldgras, und Jungen im bloßen Hemd liefen zwischen ihnen herum, mit Ruten in den braunen Händen.

Da kam Bewegung in die Bewohner der beiden offenen Zelte, als ich mich zeigte. Sie meinten wahrscheinlich, ich sei eine gute Beute für sie.

Ein paar Männer kamen heraus. Sie gingen gerade und elastisch; man konnte sehen, daß sie nicht gewöhnt waren, die Fäuste in die Hosentaschen zu versenken oder sich, an eine Wand oder eine Tür gelehnt, mit den Handflächen daran festzusaugen. Jede Bewegung war so vollkommen sicher und schön, als ob dies braunschwarze Volk in seinen dunkelblauen Sammetpluderhosen und schwarzen Jacken bei den großen Meistern des Altertums Plastik studiert hätte.

Ich konnte ihnen nicht mehr auf russisch sagen, als daß ich »Gut Freund« war, und sie lachten zurückhaltend und höflich, schauten dabei auf Polo und fragten durch Zeichen, ob wir nicht Pferde tauschen wollten.

Da ich gar nicht so darauf brannte, Elvs Polo fortzutauschen und wir nicht recht klug daraus werden konnten, was wir eigentlich von einander wollten, winkte einer der Zigeuner einer braunen Schönheit. Sie sprach eine Art schlechtes Deutsch, aber wir verstanden uns gegenseitig vorzüglich. Und als sie den Männern erzählte, ich hätte mein Pferd von einem Freunde »geliehen«, und daß ich so einigermaßen verpflichtet wäre, es zurückzubringen, wenn auch nur deswegen, um mich nicht schämen zu müssen, zu Fuß nach Haus zu kommen, zeigten sie mir lachend ihre weißen Zähne, und auf ihren Gesichtern las ich, daß sie mich verstanden und auch mitunter ein Pferd bei einem Freunde »liehen«.

»Aber komm doch und setz dich an unser Feuer!« sagte diese Frau des wandernden Volkes und wandte sich um, daß die großen Silbermünzen an ihrem bloßen Hals aneinanderrasselten.

»Komm, dann wahrsagen wir dir!« Vor den Zelten, die nach drei Seiten geschlossen und nur auf der vom Wind geschützten offen waren, brannten trockene Fichtenstämme mit gelber, tagheller Flamme, und hier setzten wir uns auf einen verschossenen, roten Teppich. Der ganze Stamm lief zusammen, um mich anzustarren. Da waren an zwanzig Menschen, große und kleine, Männer und Weiber durcheinander.

So häßlich die alten, pfeiferauchenden Weiber sind, so blendend schön können die jungen Mädchen sein in ihrer kurzen Blütezeit. Sie sind wie des Südens heiße Sonne, die einen feuervollen Tag lang brennt und untergeht, in die Nacht hinein versinkt ohne eine schonende Dämmerung.

Eine solche feurige Wüstensonne war Marfa, die meine Zukunft aus den Linien meiner Hand las. Sie versprach viel, wie das Weib immer dem Versprechungen macht, dem es etwas rauben will:

»Die Lebenslinie ist lang, aber Todessprünge prägen sie«, übersetzte meine ältere Gönnerin, »doch die Gesundheitslinie stößt dazu, da unten bei dem großen Sprung. Das ist gut. Sie werden uralt werden, ohne sich selbst alt vorzukommen ...«

Ich räusperte mich leicht, und beide sahen mich vorwurfsvoll und überzeugend an.

»Die Verstandeslinie ist gerade und deutlich. Sie beginnt höher als die Lebenslinie. Sie stammen von Leuten, denen Sie nacheifern sollten; sie steht gerade aufrecht auf der Gesundheitslinie und geht nicht weiter. Passen Sie auf, daß beide immer zusammen bleiben.«

»Nein, sieh doch diese Linie!« Sie zeigte die Hand. »Das ist ja eine ganze Kette, und die endet oben in einer Lyra. Sie haben ein reiches und mitleidiges Herz, ein großes Herz ... Nehmen Sie sich in acht; Ihre Gesundheitslinie macht den Versuch, ganz zu ihr hinaufzulaufen, aber kommt nicht so weit; passen Sie auf!« lachte sie, mit dem Finger drohend, und alle lachten zusammen laut und klar, daß die Silbermünzen klangen und die schwarzen Bärte zitterten.

»Sie werden reich; viel Gold ist in Ihrer Hand, Sie bekommen auch eine reiche Frau.«

Ich sah auf die Silberringe in Marfas Ohren, sah in ihre schwarzen, brennenden Augen, und es kam mir vor, als flöge ein Schwarm schwarzer, funkelnder Steine durch die Luft.

»Aber es ist gut, daß gerade der reich ist, der freigebig ist,« fuhr sie fort, und ihre Augenlider senkten sich wie dunkle, schwermütige Schatten demütig und bittend zur Erde. »Sie haben einen großen ›Tisch‹ in Ihrer Hand. Daran ist Platz für viele,« sagte sie leise, während sie langsam die Augen öffnete und, mich wie eine Fürstin ansah, die als Bettlerin verkleidet auf der Schwelle eines Festsaales steht.

Alle blickten bewundernd zu ihr hinauf und folgten meinen Bewegungen mit stummer Spannung, als ich die Büchse auf den Rücken warf und anfing, meine Taschen umzukehren.

Ich tat das ganz langsam und kramte alles bis auf den letzten, alten Taschenstaub aus. Aus einer fiel ein Sackband heraus, in der nächsten war ein großes Loch. Da konnten sie nicht mehr an sich halten. Sie brachen in ein Gelächter aus und hopsten auf dem roten Teppich, während sie mit feuchten Augen auf das starrten, was nun zum Vorschein kam: eine Schachtel Streichhölzer, ein Häufchen loser Zigaretten, die ich gleich herumreichte; und wie wir sie ansteckten, betrachteten wir uns wie Leute, die sich viel angenehmes von ihrer Bekanntschaft versprachen.

Dann fand ich einen alten Uhrschlüssel, eine Haarnadel hing an einem Faden in einer anderen Tasche. Ich hatte sie selbst nicht bemerkt, sie aber zeigten alle mit einem Male darauf hin und lachten unbändig, ohne Maßen, wie Kinder, die nicht aufhören können, wenn sie erst einmal begonnen haben. Der Häuptling hielt sich den Bauch. Marfa klatschte in die Hände und wiegte sich hin und her in ihrer geschmeidigen Taille, daß die schwarzen Flechten und die tiefroten Seidenschleifen auf und nieder, flogen.

Ich dagegen bewahrte meine Würde, trotz all den umgekehrten, strotzenden Taschen, und blieb dabei, meine ehrlichen und redlichen Absichten zu beweisen.

In der letzten Westentasche – und das wußte ich sehr wohl – fand, ich eine kleine Handvoll Silbermünzen, und im selben Nu richteten sich alle auf und sahen mit ernsten, erwartungsvollen Mienen auf mich.

Ich blickte herum und zählte mit dem Finger die Seelen des Stammes, wie sie um das Lagerfeuer lagen und standen, jedem einzelnen zunickend. Zuletzt zählte ich mich selbst mit. Im ganzen waren es zweiundzwanzig. Dann zählte ich das Geld. Es waren 2 Rubel 35 Kopeken. Es kamen also 10. Kopeken auf jeden, dann blieben 15 Kopeken übrig. Ich trat die 2 Rubel 10 Kopeken zur Verteilung unter den Stammesmitgliedern ab, steckte meine eigenen 10 Kopeken in die Tasche und hielt dem Häuptling die übriggebliebenen 15 hin, indem ich fragte: Kopf oder Wappen? Er antwortete: Wappen, und die Münze fiel mit dem Wappen nach oben.

Da sahen mich alle zufrieden an, und der Häuptling reichte mir die Hand: »Sie teilen wie ein Häuptling. Aber wo sind Sie mit Ihrem Pferd gewesen?« sagte er und zeigte auf meine schmutzigen Stiefel und bespritzten Kleider.

»Ich komme von da drüben her,« gab ich zur Antwort und wies auf das Moor hinaus. »Ich bin mit dem Pferd beinahe im Sumpf stecken geblieben.«

Da richteten sie sich alle auf und sahen Polo an, der dastand und sich von einem der fremden Pferde den Hals mit dem Maule liebkosen ließ.

»Wollen wir nicht doch Pferde tauschen?« sagte der Häuptling gleichgültig nach einer kleinen Pause.

»Können Sie das schöne Tier dahinten am Waldrand sehen? das biete ich zum Tausch.«

»Nein,« antwortete ich, »lieber würde ich Ihnen das Pferd umsonst geben, wenn es mein wäre, und selbst mit Ihnen gen Süden ziehen«.

»Aber Sie haben ja keine reiche Frau für mich, wie Marfa mir versprach,« fügte ich lachend hinzu und blickte auf all den Silberstaat, der auf ihrem dunkeln, offenen Kleide blitzerte.

»Bei uns gehört nicht viel dazu, reich zu sein,« sagte der Häuptling und wies mit einer großen, runden Geste über Wald und Land.

»Und wenn man solch ein Pferd zu vergeben hat,« sagte die Dolmetscherin, »so ...«

»So bekommen Sie auch bei uns eine reiche Frau,« unterbrach sie Marfa mit Augen, die leuchteten wie nächtliche Fackeln. »Bei uns ist die Schönste die Reichste,« fügte sie hinzu, indem sie sich erhob und langsam zögernden Schrittes zurücktrat.

Auch ich erhob mich, erhob mich arm wie der ärmste Mann auf Erden, aber gleichzeitig fiel mir ein, daß ich einen alten Dolch mit Silberscheide in einem Stiefelschaft hatte. Und ich bückte mich schnell und reichte Marfa das einzige, was ich besaß.

»Wenn ihr wiederkommt, nächstes Jahr, bringe ich das Pferd, und jetzt reite ich, sonst gebe ich dir ein Pferd, das nicht einmal mein ist,« sagte ich zu Marfa, die mit dem Messer in der Luft herumspielte, daß die blanke, wirbelnde Klinge in ihren kleinen, braunen Händen funkelte, so oft sie nach dem Schafte griff.

Alle lachten, als ich Abschied nahm.

»Dann wären Sie ein richtiger Zigeuner geworden,« blinzelte der Häuptling mir mit einem Auge zu.

»Ja, nur meine Hautfarbe ist zu licht,« antwortete ich bitter.

»Ja, das vergaß ich Ihnen zu sagen,« sang Marfas helle Stimme, »wenn Sie dunkler werden, werden Sie auch ganz Zigeuner,« und sie drohte mir neckend mit meinem eigenen Messer.

Ich wandte mich zu Polo.

Der Häuptling hielt mich zurück: »Hören Sie, Sie haben wirklich ein gutes Pferd – aber Sie sollten trotzdem nicht denselben Weg zurückreiten. Wir sind hier schon oft vorbeigekommen und unsere Altvorderen vor uns, aber keiner von uns ist je diesen Weg geritten, den Sie gekommen sind. Er ist grundlos geworden. Da ist mal eine ganze Troika in die Tiefe gezogen worden. Der neue Weg führt da oben, wo Sie die hohe Kiefer sehen, fünf Werst von hier. Da trägt das Moor.«

Ich ritt fort und winkte mit dem Hut diesem freien Volk am Lagerfeuer im Walde, und als ich mich umwandte, war mir's, als sähe ich Marfa mitten im Feuer tanzen, mit ihren glänzenden, sonnenverbrannten Beinen, und ihr Schleier war der blaue Rauch, der wiegend und lockend sie umwogte.

Seit diesem Tag ging ich oft aufs Moor und nach der anderen Seite hinüber, wo die Asche vom Lagerfeuer und die schwarze Holzkohle wie zwei tiefe, ausgebrannte Augen im braunen Grase lagen.

Es war schon vollständig Herbst geworden und fror schon in der Nacht. Die letzten gelben Blätter saßen steif und ledern an den kahlen Birkenbäumchen draußen im Morast, und nur die Zwergtanne stand da wie das ewiggrüne Symbol der Unvergänglichkeit des Lebens trotz Sommer und Winter und fallenden Blättern.

Die Schneehühner, die sich dort draußen umhertrieben, fingen an, weiß zu werden, damit der Schnee sie nicht unvorbereitet fände und verriete, wenn er plötzlich eines Nachts seine weiße Daunendecke über das hohe, gelbgraue Sumpfmoos breitete.

Das wird eine harte Zeit für sie, wenn sie die roten Preiselbeeren und die braunschwarzen Trauben der Krähenbeere nicht mehr haben, und der Schnee sich so hoch auf das Moor legt, daß sie sich nicht mehr durchscharren können mit den kleinen, zottigen Füßen.

Sie waren nicht so scheu wie die Birkhühner; zuzeiten konnte ich herankommen und zwei von ihnen schießen, wenn sie von den Hügelchen aufflogen und nicht schnell genug auseinanderkamen.

Am Rande des Moors saßen die Hasen und versteckten sich am Tage. Denn sie liebten nicht, zu weit in das Moor vorzudringen, wo sie dann keine freie Bahn hatten, wenn ein Fuchs oder Wolf sich an ihr Lager heranschlich und plötzlich hineinsprang.

Im Sommer stellten ihnen die Wölfe doch nicht so schlimm nach. Sie nahmen lieber ein Kalb oder Schaf, das sich ein wenig von der Herde in den Wald verloren hatte, und sie verschmähten auch nicht ihre Vettern, die Hunde, wenn diese auf eigene Faust jagten oder Besuche bei den Nachbarn machten.

Da, wo die Zwergtannen am dichtesten standen und die Menschen nie hinkamen, wohnten sie im Sommer mit ihren Jungen, und von dort schlichen sich die Alten weit durch das Dickicht fort, um Beute zu machen; denn sie sind so klug, daß sie niemals in der Nähe ihres Wohnplatzes rauben, um ihn nicht zu verraten oder auch nur den Verdacht auf sich zu lenken. Auf einen Angriff auf den Menschen lassen sie sich heutzutage in dieser Gegend selbst im harten Winter nicht mehr ein. Ich habe nur gehört, daß einmal ein Jäger von einem herumstreifenden, tollen Wolf gebissen wurde. Er warf sich draußen auf der Landstraße auf ihn und biß ihn in den Schenkel, ehe der Jäger die Büchse von der Schulter reißen und ihm eine Ladung Schrot quer durch den Balg schießen konnte.

Ein alter Landmesser wars, ders erzählte; er hatte selbst den ganzen Hergang gesehen ...

Ich hatte von einem Bauern einen schwarzen Spitz bekommen, und man behauptete, er sei wie der Teufel hinter den Hasen her.

Es zeigte sich indessen, daß »Woi« – wie er hieß – höllische Angst vor dem Schießen hatte und keine Büchse sehen konnte, ohne mit eingekniffenem Schwanz und zu Berge stehenden Haaren zu verschwinden.

Obwohl ich das verstehen konnte, da er schon früher auf Jagd gewesen und übel angekommen war, indem er ein paar unvorsichtige Schrotkörner in den Pelz bekommen hatte, gab ich ihn nicht auf und schleppte ihn trotz allem Sträuben an einer Leine mit.

Ich ließ ihn auch immer fasten, ehe wir auf Jagd zogen.

Es war an einem Tage, als der erste Schnee weiß und weich auf die Heide gefallen war; da ging ich mit Woi aus und stöberte einen Hasen am Rande des Moores auf. Beim Vorgehen spannte ich alle Nerven an, um nicht vorbeizuschießen, und ich hoffte, der Hase würde nicht eher aufspringen, als bis ich auf Schußweite heran war. Dazu neigen diese Tiere, und eben deswegen hatte ich für Woi Verwendung.

Ich ging vorwärts und konnte nicht recht klug daraus werden, ob der Hase auf dem Felde in einer Furche oder in dem Birken- und Erlengestrüpp an dem Abhang saß. Aber plötzlich zerrte Woi an der Leine, daß ich mich beinahe auf mein Hinterteil gesetzt hätte. Er stemmte sich mit allen Vieren dagegen und schielte aufs Moor hin, daß man das Gelbe seiner Augen sah. Man hätte ihn würgen können, er hätte sich doch zur Wehr gesetzt, mit den Krallen in der Erde, und hätte mit den Augen nach dem, was er jetzt sah, geschielt: es war der Hase, der langsam unten im Moor herumsprang.

In derselben Sekunde schoß ich. Ich sah ihn durch den Rauch. Tot oder lebendig, einerlei! Den anderen Lauf bekam er gleich hinterher. Das erste Mal ist für den Hund entscheidend, dachte ich, und der Hase lag auch, die Läufe von sich streckend, auf dem Platze.

Ich schleppte Woi mit hinunter. Er schüttelte mit dem Kopfe und machte Bocksprünge hoch in die Luft, fauchte und hustete heiser, und als wir ganz an den grauen Hasen herangekommen waren, biß er in die Leine, um loszukommen, aber das half alles nichts. Ich redete ihm gut zu, schnitt den Hasen auf und nahm die Eingeweide heraus. Dem Hunde zitterten die Schnurrhaare beim Geruch der warmen Mahlzeit, aber er war nicht näher heranzubringen. Da nahm ich den Hasen, trug ihn ein Stück fort und ging wieder mit Woi zurück zu dem warmen Mahle.

Er fühlte sich augenscheinlich sehr erleichtert, daß er das gefährliche Tier los war, und als er bei den rauchenden Gedärmen stand, schielte er ein letztes Mal zu mir empor und zum Hasen hinüber, stürzte sich dann auf die Eingeweide und schlang sie gierig hinein.

Dasselbe wiederholte sich noch einige Male, und nach und nach wurde Woi ruhiger, wenn er sich auch noch passiv verhielt, bis ich die geschossenen Hasen aufgerissen hatte.

Aber eines Tages, als wir wieder einen Hasen aufgestöbert hatten, sprang Woi, anstatt sich zu sträuben, mit einem Ruck vor, daß die Leine riß und ich nicht zum Schuß kam; aber das vergaß er ganz, und davon flog er hinter dem Hasen her anschlagend und bellend, daß es in der Öde widerschallte.

Das war ein ganz anderer Laut, der da aus der Kehle kam, und es zeigte sich, daß Woi wirklich ein Teufelshund für Hasen war.

Nun galt es aufzupassen und zur Stelle zu sein, wo der Hase vorbeikam.

Er läuft nie gerade aus, sondern hält sich in seinem Bezirk, wo er geboren ist, und beschreibt, wenn er getrieben wird, einen großen Kreis innerhalb seines Reviers.

Er verließ sogleich das Moor und suchte den Wald auf. Ich konnte es an Woi hören, der dort oben auf der Spur anschlug.

Sie machten einen großen Bogen um Besowo herum, durch das Unterholz der Niederung hindurch. Ich lief was ich konnte, um zur Zeit an die Kreislinie zu kommen, denn Woi ging rasend drauf los.

Ich stellte mich am Waldrande vor einer niedrigen, keilförmigen Lichtung auf Posten.

Hier mußte er vorbeikommen. Hinunter in den Hochwald wird er sich wohl kaum wagen. Er wird sich vielleicht eine oder zwei Sekunden lang besinnen, wenn er im vollen Sprung an die Lichtung kommt, aber entschlossen hinübersetzen, statt abzubiegen und den Rand entlang zu laufen.

Aber was war das! – – Woi war still. Er ist getäuscht worden und hat die Spur verloren, als der Hase einen großen Seitensprung gemacht hat.

Das war schrecklich! ... Ich lauschte hinaus in die plötzliche Stille, als ob Wois Bellen der einzige und letzte Laut in einer ausgestorbenen Welt gewesen wäre.

Sekunden kamen mir wie Stunden und Tage vor. Es war, als würde die Luft, die ich atmete, dünner und dünner; so preßte sich mir das Blut in die Schläfe, und ich stieß einen heiseren Seufzer aus, um die Brust zu erleichtern, aber in demselben Augenblick traf mich ein gewaltiger Schlag in die Herzgrube. Es war eine Schallwelle, die sich an meinen Trommelfellen brach und mich mit Lärmen und Tosen erfüllte, als wäre ein Ungeheuer von einem heulenden Höllenhund im Walde losgelassen; aber es war Woi, der wieder auf der Fährte war und losging, daß Schnee und Zweige um ihn flogen. Er bellte nicht. Es war ein einziges, heiseres, langgezogenes, wahnsinniges Heulen, das er ausstieß über seine rote, hängende Zunge hinweg. Er war in einem Zustand, wo er weder Wasser, noch Feuer, noch Schüsse fürchtete, und er würde, wenn es sein müßte, nicht aufhören, auf dieser Spur zu toben, bis er Schnauze und Vorderbeine von sich streckend hinstürzte, um nie wieder aufzustehen. Ich habe nie einen Hasenhund gesehen, der so rasend drauf ging wie Woi dies erste Mal, als er sich selbst und seine Angst vor Hasen und Schüssen, die mit der Spürarbeit verbunden sind, überwand.

Sie holten zu einem größeren Kreise aus; das konnte ich hören und lief deshalb die offene Keilöffnung im Walde entlang, während sich Woi mehr und mehr näherte. Es konnte kein großer Zwischenraum mehr zwischen ihm und dem Hasen sein, und sie mußten fast gleichzeitig zum Vorschein kommen, wenn sie nur da herauskamen, wo ich stand.

Näher und näher erscholl Wois Bellen, das jetzt nur noch ein heiseres Blaffen war. Wenn der Hase nicht gerade am Waldrande abbog, mußte er sich jeden Augenblick zeigen. Aber er mußte mit mächtigen Sätzen über den offenen Platz kommen. – Wenn ich jetzt nur nicht vorbeischieße! ...

Da sprang ein graues Tier aus dem Waldrand auf der anderen Seite heraus und kam in einem spitzen Winkel gerade an mir vorüber, in so schnellem Laufe, daß die Augen knapp folgen konnten, während ich mit der Büchse zielte.

Ich hielt ein Stück vor ihn und schoß, daß er ein paar Purzelbäume vornüber schlug und auf der Seite liegenblieb, alle vier Läufe von sich streckend.

Während ich schoß, waren alle Sinne, außer dem Gesicht, ausgeschaltet gewesen, aber nun hörte ich Woi wieder. Er kam schon heran auf den Hasen zu und sah genau so aus, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, als er vor zehn Minuten die verlorene Fährte wieder fand.

Es war keine Spur von Vernunft mehr in ihm. Er warf sich gerade auf den Hasen, indem er abwechselnd ihn anbellte und mit weit heraushängender Zunge nach Luft schnappte, als platze er dabei.

Ich ließ ihn ein wenig mit sich und seinem Glück allein und ging dann zu ihm hin.

Er bemerkte zunächst meine Anwesenheit gar nicht und hatte sicher nichts vom Schuß gehört; aber als er seinen Anteil an der Beute verschlungen hatte, fing er langsam an, den Zusammenhang der Dinge zu begreifen.

Das war ein stolzer Tag, und seitdem ging stets alles glatt zwischen Woi und mir.

Allmählich kam etwas mehr System in die Jagd, und Woi ging langsamer vor, da er begriff, daß es nicht auf die Eile ankam. Aber schoß ich vorbei oder kam mir der Hase nicht beim ersten Kreis zu Schuß, konnte wieder der alte Teufel in Woi fahren. Er wurde nie müde. Er hatte seine Lebensmission gefunden und opferte sich ihr ganz ohne materielle Hintergedanken, und es tat seiner Jagdfreude keinen Abbruch, daß er die warmen Gedärme nicht mehr zu fressen bekam. Er sah das als einen rohen und primitiven Genuß an, der für ihn einem überwundenen Stadium angehörte.

Drinnen im Unterholz, wo die Hasen sich versteckt hielten, waren sie nicht zu Schuß zu bekommen, wenn man selbst hineinging und sie im Schnee aufstöberte. Man konnte da nicht weiter sehen als ein paar Schritt vor sich, und wenn man an das Lager kam, war es leer. Darinnen arbeitete Woi, während ich auf Posten stand, wenn er die Hasen auf die Läufe gebracht hatte und sie bellend vor sich hertrieb.

Der Schnee war frisch gefallen und tief. Er hing wie loser, feiner Puder auf den dunkeln Zweigen der Tannen und Föhren. Die Luft war grau und kalt. Von Schnee und Frost vieler kurzer Wintertage konnte man in ihr lesen.

Und an einem dieser Tage, als das grauweiße Licht auf der schneebedeckten Heide sich schon um zwei Uhr zu verdichten begann und Schatten auf die Erde warf, stand ich auf einem freien Höhenzug und folgte Wois Bellen dort unten in der schneebehangenen Zweigwildnis der Niederung.

Er hatte einige Zeit da unten getrieben, und es ging langsam in dem tiefen, losen Schnee durchs dichte Unterholz. Ich hörte jedesmal, wenn er vorwärtssprang, seinen lauten, abgemessenen Anschlag, nur abgebrochen, wenn er einen Augenblick mit dem Bauch auf einem umgestürzten Baumstamm hängenblieb.

Ich sah in Gedanken, wie er dort unten herumsprang, die schwarze Schnauze gerade auf der Fährte und die klugen Augen im Schatten unter dem Zweigdach leuchtend, als ich plötzlich starr meinen Mund öffnete bei einem langgezogenen, schrecklich jammervollen Heulen. Ein kurzer, halberstickter Schrei schnitt mir kalt ins Herz, und alles wurde still, totenstill ...

Ich dachte nicht, verstand nichts, aber lief mit der Büchse in der Hand im tiefen Schnee vom Höhenzug hinunter in die Niederung.

Alles war still und dunkel, auch in meinem Innern, und trotz dem schnellen Laufen fühlte ich nur Kälte, nichts mehr, nur Stille und Kälte.

Ich brach durch das Unterholz hindurch, kam auf die Spur und drängte mich vorwärts durch die Wildnis, ohne zu merken, wie die Zweige mein Gesicht zerkratzten und mein Zeug zerfetzten, ohne zu merken, daß ich über Stämme fiel, auf allen Vieren kroch und drohte und heulte und fluchte.

Ich sah nur die Spur, Wois Spur, und meine Augen leuchteten, wahrscheinlich gelb wie die seinigen im Schatten des Zweigdaches.

Aber auf einmal wurde die Spur so groß und so mannigfach, als sähe ich doppelt mit meinen trockenen, aufgerissenen Augen.

Ich fühlte etwas wie einen kalten Stich, wie wenn etwas in mir erstickt wurde und sich in wahnsinnigem Schreck zusammenkrampfte.

Und als ich nun endlich an die Stelle kam, wo diese, große, fürchterliche Fährte in einen runden Labyrinth blutbefleckter Spuren auslief, mit einem Pfuhl geronnenen Blutes in der Mitte, da warf ich mich nieder und weinte über diesen Stücken Knochen und Schwanz und zerfetztem Körper, den die Wölfe von meinem Woi übriggelassen hatten ...

Auf Jagd ging ich nicht mehr.

Am Tage grub ich ein großes, viereckiges Loch in die Schneehaufen vor jedem Guckloch in Elvs Hütte.

In der Nacht wurden sie wieder zugefegt, und ich begann am nächsten Tag von vorn.

Der Schnee hatte sich ellenhoch über das Land gelegt. Der Wald stand im Schnee bis hoch an die Stämme hinan, und die Zweige beugten sich zur Erde nieder unter der Last des winterlichen, weißen Nadellaubes.

Viele Tage konnte es stöbern, daß Himmel und Erde eins wurde, so grau und dick und undurchsichtig war die Luft, und haushohe Schneewehen lagen an den Wegen und Waldrändern.

Das war der russische Winter.

Kalten Hauches drängte er sich durch die Ritzen der Fenster und Balken, und selbst drinnen war es schwer, die Wärme zu halten.

Aber auch Frost konnte plötzlich über Nacht kommen und den Wind ersticken mit seiner Stärke von 20 bis 30 Graden, und dann legte sich eine frostklare und steifgefrorene Regungslosigkeit über die Schneeöde.

Der Rauch ragte wie eine reifbedeckte Säule in den vor Kälte bebenden Winterhimmel hinein.

Die Sonne zog ihre kurze, funkelnde Tagesbahn hin über dies schreiende Weiß und flüchtete vor einer blauschwarzen Nacht mit ihren Myriaden schimmernder Himmelszeichen rings um den flimmernden Polarstern.

Es gab mir jedesmal einen Ruck, wenn ich im Schlafe hörte, wie sich die Balken vor Kälte zusammenzogen, mit einem Knall, daß die Hütte bebte, und morgens waren die Ecken weiß von Reif, der von außen durchgeschlagen war.

Es war ein eisiger Winter, und an manchen Tagen durfte man nicht vergessen, seine Nase zu reiben, wenn sich ihre Spitze zu strammen begann. Wenn wir zusammen waren, sahen wir uns ab und zu an.

Ich hatte mir Filzstiefel und einen Schafpelz verschafft, von der Art, wie ihn die Bauern brauchen, ohne Stoff auf der rohen, äußeren Lederseite.

Der war warm, und den Kopf steckte ich in eine Mütze aus Kalbfell mit langen, hängenden Ohrenklappen. Sie hatte im Gegensatz zum Pelz die Haare nach außen.

Auch einen Köter hatte ich mir besorgt und ein Ferkel.

Wenn es nicht allzu kalt war, steckte ich das Ferkel in einen Sack und schleppte es zusammen mit dem Hund in die Niederung hinunter, wo ich einen offenen Platz, mit vier Schußgängen zurechtgemacht hatte. Es war an der Stelle, wo ich Woi fand, und wo ich seine Überreste begraben hatte.

In einer knorrigen Kiefer, an die ich den Hund band, hatte ich mir einen Sitz bereitet, von dem ich sehen konnte, was ringsherum vorging.

Und ich saß oft da unten und wartete, daß ein oder das andere geschehen sollte, und wenn ich nicht unten saß, dachte ich doch fast immer an den offenen Platz mit dem Hund und dem Ferkel und mit dem Sitz in der knorrigen Kiefer.

Ich hatte schon manche Stunde da unten gesessen, seit der neue Mond wieder die Nacht zu erhellen begann.

Ich saß auf einem dicken Ast, die Füße auf einen anderen gestützt, und hielt die Büchse auf den Knien.

Wenn Schnee in der Luft lag, flossen alle Linien und Schatten in eins mit dem gedämpften Mondlicht zusammen. Ein Zweig konnte sich bei einem Windhauch schwach bewegen, so daß der feine Schnee leise herunterrieselte und den mitnahm, der weiter unten auf den Zweigen hing; aber sonst war da nichts anderes zu hören als der Hund, der heulte und winselte vor Kälte und Angst, und das Ferkel, das in seinem Sack quietschte. Ja, da war auch ab und zu ein anderer Hund, der bellte und heulte, und es kam mir manchmal der Gedanke, ob das auch ein Hund wäre, oder ob das nicht etwas anderes sein könnte.

Wenn ich in klaren Frostnächten zur Niederung hinunterging, knirschte der Schnee scharf und spröde, als träte ich mit bloßen Füßen auf eine nasse Glasplatte, und des Mondes blauweißer Schimmer machte die Nacht hell und noch geheimnisvoller. Die Schatten des Waldes lagen auf des Schnees bleichem Leichentuch wie eine verzerrte Spukerscheinung herabgefallener Zweige.

Fernes Nordlicht flammte auf, als würde von Riesenhand eine Fackel blitzschnell über den eisstarrenden Polarkreis geschwungen, und Tausende weißer Sterne kreuzten mit leuchtender Spur am hochgeschwungenen Himmelsgewölbe.

Orion beugte sich in der Hüfte, als griffe er zum Schwert.

Wie, wenn er es nun zöge und zerhiebe das flimmernde Gewebe des Gesetzes der Schwere?

Alle würden sie stürzen, Löwe und Steinbock und Skorpion ...

Der große Wagen käme ins Rollen und würde den Recken Orion zermalmen.

Und alle sänken zusammen in einem mächtigen Himmelsbrand, der sein Licht in die dunkelsten Rätsel des Raumes werfen und mich und meinen Kiefernstamm samt Wois Überresten schmelzen würde, um uns dann doch wieder in dieselben Formen zu gießen.

Die Stunden rannen dahin, ohne daß irgend etwas geschah, und ich watete wieder heim, steifgefroren und ärgerlich, mit dem heulenden Hund und meinem halbtoten Ferkel ...

Bald war's mit dem Mond wieder vorbei.

Schwere Schneewolken überzogen den Himmel, und der Wind jagte den losen Schnee pfeifend über die öde Fläche hin.

Hunger und Kälte und Tod war die Parole für die Tiere der Einöde.

Ich ging wie gewöhnlich quer durch die Niederung bis weit auf die andere Seite, meine Fußspuren mit dem Ferkel hinter mir wieder zuwischend, und kehrte wieder zu meiner Kiefer auf derselben Fährte zurück.

Übrigens verwehte die Spur fast augenblicklich von selbst.

So saß ich nun da oben auf meinem Ast, ohne mich zu bewegen, und das einzige Leben, das sich rührte, war der Hund und das Ferkel, und das war kein Leben, sondern ein Fluch.

Ich konnte es verstehen, wenn sie da unten Stunde um Stunde angstvoll bittend stöhnten.

Wenn dann in der Ferne im Walde ein seltsam heulendes Bellen erscholl, war es kaum mehr zum Aushalten weder für mich, noch den Hund. Wir zitterten alle beide. Wir zitterten nur und dachten nichts anderes, als daß die Zeit sich entsetzlich dehnte.

Aber auf einmal richtete der Hund seinen Körper in die Höhe, so hoch er konnte, krümmte sich auf seinen steifen Beinen ganz zusammen und starrte in das Gestrüpp.

Hätte ich Borsten auf dem Rücken gehabt, sie hätten sich gesträubt. Aber ich fühlte, daß ich sie einmal vor langer, langer Zeit hatte, als ich von anderer Gestalt war, und daß sie sich auch in die Höhe gesträubt hatten von einem mageren Rückgrat.

Der Hund krümmte sich fast ganz zusammen, als ein großes, graues Tier mit gelben, stechenden Augen im spitzmauligen Kopfe aus dem Unterholz trat.

Ich wußte, daß es herauskommen würde, und gerade an dieser Stelle. Das hatte ich am Hunde gesehen, und ich schoß im selben Nu.

Ein rasendes Schmerzgeheul scholl durch die Nacht. Es raschelte etwas im Gestrüpp. Das war der Schnee, der drinnen von den Zweigen fiel; aber der, auf den ich geschossen hatte, blieb da, wo er war. Ich hatte sein Hinterteil getroffen, und er schleppte sich nun heulend und um sich beißend ins Dickicht hinein.

Ich sprang gerade vom Ast in den Schnee und stürzte ihm nach.

Als er mich sah, machte er halt und hieb rasend nach mir. Er fletschte die Zähne und versuchte, auf sein durchschossenes Hinterteil zu springen. Ein heiseres, verzweifeltes, haßerfülltes Knurren stieß er aus seinem verrenkten Rachen hervor.

Ich bin im allgemeinen nicht grausam von Natur, aber ich blickte mit tiefer Genugtuung in diese heißen, leuchtenden Raubtieraugen, und ich glaube, allzubald jagte ich ihm den zweiten Schuß gerade in sein dampfendes Maul.

Ich löste den unglücklichen Hund und hörte ihn auf seiner halsbrecherischen Flucht nach Haus heulen, während ich seinen Strick um den Hals des Wolfes schlang und ihn an der Kiefer aufhing, auf daß Woi Ruhe fände in seinem Grabe darunter.

Morgen – dachte ich – ist das graue Ungetüm steifgefroren, und wenn der Wind durch das Dickicht weht, faßt er den eckigen, gefrorenen Wolfsbalg und schwingt ihn hin und her, daß er klappernd wie trockenes Holz gegen den Kiefernstamm schlägt, die verzerrte, zähnefletschende Fratze grinst und der gelbgraue, buschige Schwanz durch die Luft fegt.

Aber wenn das Frühjahr dann kommt, wird es in ihm von bleichen, hungrigen Maden wimmeln, bis er wieder ganz lebendig wird und große, glänzende Schmeißfliegen und kupferfarbige Käfer aus seinem verfaulten Balg hervorfliegen und im Sonnenschein mit ihren geäderten Flügeln schwirren, bis ein neuer Schneewinter dahinfegt über das klappernde Wolfskelett.

Das war das letzte Mal, daß ich in diesem Winter auf Jagd war, aber ich hörte auch Woi nicht mehr bellen draußen in der Öde.

3. Der letzte Tschernjaew

An den langen Abenden erzählte mir Elv von dem letzten Eigentümer Besowos vor Aufhebung der Leibeigenschaft. Das war Tschernjaew, auch der letzte seines Geschlechts. Die Geschichte von ihm ist wahr. Alte Bauern hatten sie selbst Elv berichtet, und sie lautet also:

Bogdan Tschernjaew war hoch in den Dreißigern, als er heimkehrte von seinen Reisen. Aber er hatte sich gut gehalten und sah jugendlich aus, trotz den grauen Strähnen im Haar an den Schläfen. Die kamen von der Wärme, da wo er gewesen war, sagte man.

Aber er war wohl bloß des Umherschweifens auf der Erde müde und satt geworden. Das war das Ganze, was ihm im Wege war.

Auf dem Gut der Familie, Besowo, wußte man nicht, wie der junge Herr war. Er war fast nie als Halberwachsener daheim gewesen, als er noch in Petersburg zur Schule ging. Mit den Eltern stand er auf gespanntem Fuße, deshalb reiste er seinerzeit fort und kam erst zurück, als beide tot waren. Alte Leute konnten sich indes erinnern, daß er als Junge wild und dickfellig gewesen war. Es machte ihm Spaß, die anderen Kinder auf dem Hofe mit einer Kosakennagaika zu prügeln, und einmal hatte er den Lämmern die Augen ausgestochen; da hatte aber der alte Herr ihn mit in die Kammer genommen und dem Wanka-Lakaien befohlen, ihm eine tüchtige Tracht Prügel zu verabreichen.

Aber jetzt in der ersten Zeit nach seiner Heimkehr schien er gutmütig, konnte mit den Mädchen scherzen und mit den Bauern plaudern. Doch zuzeiten war er still und finster und ging einher, ohne etwas zu reden.

Streng war er und ließ weder den Vogt noch die Leute bei der Arbeit schlafen, von Aufgang der Sonne, bis sie unterging. Und wenn jemand etwas versehen oder der Vogt sich über jemanden geärgert und sich beklagt hatte, setzte es sofort Prügel. Er gab etwas darauf, bei solchen Gelegenheiten selbst zur Stelle zu sein. Das freute ihn, ja tat ihm geradezu gut, wenn die Schläge recht schnell und behende fielen und der Delinquent jedesmal brüllte, wenn er die lange, geschmeidige Birkenrute in der Luft sausen hörte und sich Blutstriemen auf dem nackten Rücken zeigten.

Aber sonst hatte er nichts Böses an sich, was der Rede wert gewesen wäre. Die Prügel waren ja nur der Ordnung wegen da, und er lachte und freute sich hernach über die, die in seiner Gegenwart eine Tracht erhalten hatten. Das war ebenso schnell wieder vergessen.

Das Gut reichte hinauf bis an die große Landstraße. Über tausend Seelen in mehreren Dörfern gehörten zu ihm, und es wurde gerade soviel Land bebaut, wie die Herren auf Besowo brauchten. Sie hatten allzeit auf Ordnung gesehen und sparten nicht mit der Leibeigenen Schweiß. Die Arbeit kostete ja nichts. Es kam nur darauf an, das faule Gesindel anzutreiben, dann kamen die Einnahmen von selbst, wenn die Kornhändler das gedroschene Getreide in klingender Münze bezahlten.

An Gebäuden fehlte es nicht. Da gab's Scheunen, Magazine, Leutehäuser, Pferdeställe und Hundehöfe. Es mußte ja Platz dasein für all den Reichtum, den die Leibeigenen schafften und ins Haus brachten.

Dienerschaft und Leute auf dem Hof nahmen gar kein Ende. Dem Herrn gehörten seine Friseure mit Haut und Haar, und er konnte sie für etwas Besseres verkaufen, wenn er Lust dazu hatte. Das konnte er übrigens auch mit allen anderen tun, Kammerdienern und Dienstmädchen, Köchen und Nähterinnen, Kutschern und Waschfrauen. Alle waren sie als Kinder in Petersburg in der Lehre gewesen. Daher verstanden die Schreiner und Sattelmacher so schöne Sachen zu machen.

Schwere Möbel aus gelbem und rotem Holz standen in den Stuben herum, drinnen im großen Herrenhaus, das aus ellendicken Kiefernstämmen erbaut war. Da gab's manches Sofa mit hoher Rückenlehne und Ledersitzen, so breit, daß zwei Recken gemächlich nebeneinander ausgestreckt liegen konnten.

Da gab's runde, polierte Bohlentische mit geschnitzten Füßen und schwere Armstühle mit gebogener Lehne, in denen man fest und gut saß. An den Wänden standen Schränke und Schatullen; einige waren ausgeschweift, offen in der Mitte, andere massiv; spitz zulaufend wie eine Pyramide. Über all diesen Dingen lag etwas Finsteres und Drückendes, etwas, das aus diesen schweren Linien und dunkeln Planken redete von wilder, unbändiger Phantasie, von einem Hang zum Gewaltsamen und doch Unvergänglichen.

An den Wänden hingen Bilder von Leuten die längst vergessen waren, und um die sich niemand kümmerte. Da waren Männer in roten Uniformen aus der Zeit Katharinas und tief dekollettierte Frauen mit kleinem Mund und hoher Haarfrisur. Soldaten mit Backenbärten und Haarbüscheln auf dem Kopf blickten barsch aus der steifen Halsbinde, schöne Mädchen mit Rosen in den bleichen Händen lachten sie an.

Bogdan Tschernjaews eigenes Bild hing zwischen den Fenstern über dem großen Schreibtisch. Es war gerade in Petersburg gemalt worden. Er hatte wohl das Recht dazu, sich selbst zwischen all die anderen seines Geschlechts zu hängen.

Er stand da in einem schwarzen, enganliegenden Leibrock mit breiten Aufschlägen. Darunter sah man die blutrote Sammetweste mit schwarzen Steinknöpfen. In der hohen Halskrause saß ein dicker, unbeugsamer Hals, der für Strick und Block geschaffen schien und keinen beruhigenden Eindruck machte durch das starke Kinn und die dicken, von Verachtung strotzenden Lippen. Er versteckte sie nicht, diese Lippen, unter keinem Bart, und sie gaben seinem ganzen Gesicht den Ausdruck unersättlicher, gärender Leidenschaft. Die breite, wollüstige Nase war gerade und lang. Es sah aus, als hätte sie etwas unter der Nasenwurzel sich plötzlich krümmen wollen, wie ein Adlerschnabel, es sich dann aber überlegt, um scharf abfallend wieder geradeaus zu laufen.

Wäre die Stirn unter diesem dunkeln, stark gekrausten Haar höher gewesen und der Kopf in den Schläfen breiter, dann hätte Seele in diesem ungewöhnlichen Angesicht gelegen. Aber nun sprach es, wie die stahlgrauen, mattschimmernden Augen, von etwas Verstecktem und Verschlossenem, was weder er selbst noch andere raten konnten.

In seinen jüngeren Jahren war er immer auf Reisen in fremden Ländern gewesen. Niemand gab es, der sicher gewußt hätte, wo er gewesen war, aber später konnte er sich beim Trinkgelage herbeilassen, kurz und stoßweis unzusammenhängende Dinge von roten und schwarzen Völkern zu erzählen. Er konnte Feuer und Blut sehen und schreien hören, dann aber öffnete er plötzlich weit die Augen und alles in seinem Gesicht erstarrte, während er dabei ein Messer in die Tischplatte stieß und heiser lachte.

Wenn aber die Zechbrüder in schallendes Gelächter ausbrachen, weil er Gesichte hatte, und fragten, wovon er faselte, zog er mit einem Male die schnurgeraden Brauen zusammen, daß sich eine dunkle Falte mitten auf der Stirn bildete, und starrte sie stier an. Dann fragte keiner mehr, und einer oder der andere von ihnen konnte ängstlich sich abwenden, wie um nachzusehen, ob jemand hinter ihm stände.

Zu Neujahr machte er bei den umwohnenden Gutsherren Visite, falls sie nicht den Winter über in Petersburg lebten, und die Herren kamen auch zu ihm. Er lud sie auch einmal zu Mittag ein und richtete alles an, wie es in fremden Ländern Brauch ist.

Er war ein Frostkerl, und so war immer eine glühende Hitze in den Stuben, daß selbst seine Gäste, die doch an ordentliche Ofenwärme gewöhnt waren, pusteten. Deshalb befahl er, man solle gleich zur Suppe Weißwein einschenken und Eis anbieten. Als aber das Eis gebracht wurde, legte der erste einen Eisklumpen in die Suppe, und als der zweite dies sah, machte er es ebenso. Auch Bogdan Tschernjaew selbst legte, ohne mit den Wimpern zu zucken, einen großen Eisklumpen in seine Suppe.

Hernach merkten sie ja, daß das verkehrt war, aber der Wirt tat, als sei nichts geschehen, und das stimmte die Gäste so gut gegen ihn, daß alle ihn küßten und vor Rührung weinten, ohne etwas von dem Eis zu sagen, als sie nachher Kaffee und dazu rote und grüne Schnäpse tranken.

Sie waren so froh über ihren neuen Bruder und Genossen, daß sie nicht wußten, was sie ihm Gutes sagen sollten, und je trunkener sie wurden, desto mehr amüsierte er sich über sie. Aber plötzlich kam die düstere Stimmung über ihn, und einer von ihnen sah ihn erschrocken und verstohlen an und sandte einen Boten nach seiner Troika. Die andern taten desgleichen.

Am häufigsten ging er zu seinem Nachbar Lukin.

In der Butterwoche fuhr er mit seinem besten Dreigespann hinüber, um mit anderen Nachbarn zusammen Feste zu halten oder Schlitten zu fahren. Es war Sitte und Brauch, daß alle sich eines Tages im Karneval bei Lukin versammelten, der oben an der Landstraße wohnte, wo die Dreigespanne Platz genug hatten, und Bogdan Tschernjaew war selbstverständlich dabei.

Lukins waren ältere Leute, die nur eine einzige Tochter hatten, Natalia.

Es war ein kleines, blondes Fräulein, so zart und schlank an Gliedern, daß sie eher wie ein Kind aussah, als wie ein erwachsenes Mädchen.

Sie war eine reiche Erbin und Freier gab's genug, aber die Eltern hatten noch keinen ausgewählt für sie. Sie sollte eine gute und passende Partie machen. Sie brauchten den ersten besten nicht zu nehmen; und vernünftige Leute können sich doch nicht darum kümmern, was ein Kind sich in den Kopf setzt.

Im Sommer war ein armer Verwandter auf Besuch dagewesen, ein junger, fixer Mann, der bei einem Dragonerregiment stand, und die jungen Leute hatten Gefallen aneinander gefunden. Aber sobald die Alten das merkten, wurde er augenblicklich fortgeschickt, und Natalia erhielt den Befehl, in ihrer Kammer zu bleiben, bis sie auf den Knien schwor, sie habe ihn vergessen. So standen die Dinge, als Bogdan Tschernjaew zurückkehrte und bei Lukins zu verkehren begann – nicht so sehr der Alten wegen, als um Natalias willen; ihnen gefiel er gut, und die Tochter fragte niemand. Sie erhielt nur Anweisung, gegen Bogdan entgegenkommend und anmutig zu sein.

Vormittags fuhren Lukins und alle Gäste, in einer langen Reihe hintereinander, aus. Sie hatten die besten Pferde vorgespannt, und die Eigentümer standen selbst vorn im Schlitten und lenkten das Gespann. Bunte Seidenbänder hatte man den Pferden in die Mähnen und die langen, ausgekämmten Schwänze geflochten.

Hinten unter Bärenfellen saßen die Herren und Damen, paarweis, in Pelzen von sibirischem Fuchs, Marder und Biber. Bogdan Tschernjaew fuhr selbst Natalia und ihre Mutter. Er fuhr als erster in der Reihe, und als er draußen auf dem Wege war, trieb er die Pferde an und nahm die Zügel fest, daß sein schwarzes Gespann vorwärtsraste, als sollten Geschirr und Schlitten in Splitter gehen. Die Silberschellen am Halse zitterten und klangen, die Glocke unter dem Krummholz des mittleren Pferdes klingelte mit hohlem, rundem Ton, und der Schnee stob von den Hufen der wild galoppierenden Seitenpferde wie eine Wolke über den ganzen Schlitten und hüllte die Fahrenden in eine weiße Decke.

Als er hinauf zur Kirche gekommen war, fuhr er auf den runden Platz und ließ die Pferde Schritt gehen, damit die anderen Zeit hätten, heranzukommen. Er hätte sie alle kurz und klein gefahren, so weit waren sie zurückgeblieben, und sie drohten ihm lachend, als sie endlich vorüberkamen. Doch da erhob sich Bogdan wieder und schwang den Arm. Die Seitenpferde sprangen zum Galopp an, den Kopf nach außen gebogen, der Traber in der Schere legte sich ins Gebiß, und vorwärts ging's, wie der Wind.

So fuhren sie hin und zurück bis zur Mittagszeit, und es konnte wohl vorkommen, daß ein oder das andere Pferd nicht mehr sicher in den Knien war nach solcher Tour.

Zu Mittag aßen sie dicke, fette Pfannenkuchen um die Wette. Einer war da, der brachte es auf sechsunddreißig, aber dann konnte er auch nicht mehr. Sie aßen sie mit sauerer Sahne, mit Lachs und Kaviar und zerlassener Butter und tranken sich satt dazu. Alle Arten Wein und Schnaps, gut und abgelagert, standen auf dem großen Tisch. Nach den Pfannenkuchen kam Fisch und große Kuchen mit eingebackenem Fisch und Mohn. Das ganze Faschingsessen schwamm in Butter, aber man sollte doch etwas im Bauch haben, um dem langen Fasten, das bis Ostern dauerte, Widerstand leisten zu können.

Bogdan war kein solcher Esser, und er ließ sich leicht mit Pfannenkuchen distanzieren, aber man konnte zum Ausgleich nicht über Verachtung von Getränken bei ihm klagen, obwohl ihm nichts anzumerken war.

Er saß und unterhielt sich mit Natalia, erzählte ihr alle möglichen Geschichten von seinen Reisen und erdichtete poetische, sentimentale. Stimmungen. Sie aber saß bleich und still da wie eine kleine, weiße Maus und antwortete einsilbig, während sie ängstlich zu ihm aufblickte.

Es war allen klar, daß die alten Lukins sie Bogdan geben würden, wenn er nur ein Wort sagte.

Am Samstag, dem letzten Tage der Butterwoche, kam der alte Lukin nach Besowo herübergefahren und blieb zum Frühstück. Er schmatzte und schmunzelte über Bogdans gute Küche, die nicht dem russischen, fetten Fraß gliche, von dem man nur Brennen im Halse und Durst bekam.

»He, mein Freund,« sagte er, indem er mit der Zunge schnalzte, »sage mal, wo hast du den Koch her? Herr, mein Schöpfer, was für ein Essen macht der Kerl!«

»Es freut mich, daß es Euch schmeckt. Darf ich Euch noch ein Stück von dem Eierkuchen anbieten?« antwortete Bogdan mit verbindlichem Lächeln. »Den Koch, ja, den kaufte ich in Petersburg in dem französischen Hotel.«

»Danke, danke, meinetwegen! ... Ach, das wird immer schlechter mit dem Magen auf die alten Tage ... Höre, Bogdan Ippolitowitsch, ich gebe dir gerne meine zwei Jagdpferde vom Don und die persischen Windhunde für den Mann ... Gott weiß, ich tu's und sage noch danke schön.«

Bogdan verbeugte sich leicht.

»Hm, hm! Ja–a ...«

»Ach, ja, Bogdan Ippolitowitsch. Das würde geradezu mein Leben verlängern, hm ..., oder wir wollen sagen, versüßen, was mir noch davon zugemessen ist. Wir wohnen ja auch so nah, so ... ja, und wir halten ja so große, Stücke auf dich, mein Freund, daß wir dich vielleicht öfter zu uns laden könnten, wenn wir wüßten, wie du es gewohnt bist.«

»Ich bin von Eurer Freundschaft tief gerührt,« sagte Bogdan und legte die Hand aufs Herz, »und ich kann Euch versichern, daß ich das unendlich hochschätze.«

»Ach ja, es ist das reine Elend, alt zu werden ... Zu Weihnachten, da litt ich an einer Verstopfung und nichts half, bis ich dem verwünschten Koch ein paar Mal den Buckel schmierte ... Und wegen der Pferde und Hunde,« flüsterte der Alte »indem er das Auge zukniff und mit dem Zeigefinger Bogdans Arm berührte, »so will ich dir im Vertrauen sagen, mein Freund, daß sie nicht ihresgleichen haben auf dieser Seite des Don – – ja, die Sättel gebe ich dir mit ..., auch den Damensattel ... Ich will dir ja alles geben, um was du bittest ...«

Da huschte plötzlich ein Gedanke über Bogdans Gesicht, als er sagte:

»Ja, wenn ich Euch damit einen Dienst erweise, und das wirklich Euer Ernst ist mit ... dem Koch ..., ich glaubte ja nur, daß Euer Lob eine ausgesuchte, unverdiente Höflichkeit sei, die ich gar nicht annehmen dürfte.«

Der Alte rieb sich die Hände und nahm den Koch mit, als er fuhr.

»Ich schicke also die Pferde und die Hunde!« rief Lukin, als sein Gespann anzog.

Bogdan verbeugte sich tief, und als er sich umwandte, lag ein höhnisches Lachen auf seinen Lippen, aber da kam ihm der Gedanke von vorhin plötzlich wieder. Er hob sich auf den Zehenspitzen, streckte den Körper und die Fäuste, daß es knackte, und biß die breiten Zähne zusammen.

In der Fastenzeit blieb er meist daheim. Das Haus wurde instand gesetzt von einem Ende zum anderen. Er ließ purpurrote und tabakfarbene Tapeten aus Petersburg kommen, und alle Zimmer wurden in Ordnung gebracht. Man sah deutlich, daß er daran dachte, sich zu verheiraten.

Am Schluß der Fastenzeit kam ein Arzt aus Petersburg auf Besuch, obwohl Bogdan sichtlich nichts fehlte, und der Arzt reiste auch vor Ostern wieder zurück.

Bogdan war die ganze Zeit hindurch in glänzender Stimmung. Er konnte herumgehen und vor sich hin trällern, und es amüsierte ihn nicht mehr, zu sehen, wie einer Prügel bekam. Er hatte ganz andere Dinge im Kopf. Das Fasten hielt er nicht, sondern aß und trank wie immer. Der Arzt hatte es ihm geraten, und übrigens glaubte er nicht mehr so recht an die Popen; aber er bezahlte reichlich Kirchensteuer, und so glaubten sie, er bete aus purer Gottesfurcht und Bescheidenheit in seinem Kämmerlein zu Gott.

Samstag abend vor Ostersonntag fuhr er zu Lukins hinüber. Er war zur Ostermesse in ihrer Kirche gebeten, um nach dem Gottesdienst Fastens Ende und die ersten Stunden des Osterfestes in der Familie zu feiern, anstatt allein bei sich zu Haus zu sitzen.

Als die Uhr 12 schlug, gingen die Herrschaften und die ganze Gemeinde barhäuptig mit den Popen im vollen Ornat voran, rund um die erleuchtete Kirche. Die brennenden Lichter, die alle in den Händen hielten, warfen einen flackernden Schein auf die festlichen Angesichter in der langen Prozession, und das Glockenspiel oben im Turm läutete hinaus in die dunkle Osternacht.

Und als sie nach und nach in die Kirche traten, begannen sie zu singen: »Christ ist erstanden«, und alle küßten einander und wiederholten dreimal dasselbe.

Es sagte Bogdan bei der ganzen Feierlichkeit am meisten zu, daß er Natalia gegen ihren Willen küssen konnte, und er tat es so, daß sie unglücklich und beschämt war, da sie fühlte, daß er an etwas ganz anderes dachte, als an des Heilandes Auferstehung. Doch das bestärkte seine Gefühle für sie noch mehr, und er entschloß sich, die Sache mit ihren Eltern zu ordnen, wenn nicht heute, so doch morgen. Die Zeit war besonders günstig dazu, da er der einzige Gast war. Er verstand wohl, daß die Alten alles für ihn geordnet hatten. Er brauchte nur den Mund zu öffnen.

Als sie Lukins hohes, zweistöckiges Holzhaus betraten, das vom Licht der schweren Armleuchter strahlte und nach Braten und Backwerk duftete, wünschten sie noch einmal einander: »Glückliche Ostern«. Bogdan ging auf Frau Lukin zu und reichte ihr ein großes Osterei von roter Seide mit gestickten Engelköpfen darauf:

»Christ ist erstanden,« sagte er.

»Wahrlich, er ist erstanden,« antwortete sie, indem sie das Osterei entgegennahm, das mit Konfekt gefüllt war, und küßte ihn dreimal.

Darauf wandte sich Bogdan zu Natalia, die in ihrem weißseidenen Kleid wie ein kleiner, verwirrter Engel mit goldenen Locken und bleicher, durchsichtiger Haut aussah. Sie senkte die Augen zu den schmalen Füßchen nieder, als er ihr einen mattroten Stein mit weißen Adern reichte, der in Form eines Eies geschliffen war und mit schwerem, innerlichem Glanz in seiner behaarten Hand leuchtete.

»Christ ist erstanden,« sagte er, als sie mit ihrer zarten, zitternden Hand den Stein ergriff, und auch sein Antlitz leuchtete mit schwerem, innerlichem Glanz.

Natalia reichte ihm die Hand.

»Wahrlich, er ist erstanden,« sagte sie halblaut.

»Was, wollt Ihr mich nicht küssen?« neckte er.

»Ja, was sind das für Kunststückchen,« lachte der alte Lukin. »Das fehlte gerade noch am lichten Auferstehungstag!«

»Sie ist noch ein dummes, kleines Mädel,« fügte Frau Lukin ärgerlich hinzu.

Natalia blieb stehen. Sie zitterte am ganzen Körper und ließ sich widerstandslos von Bogdan küssen; ihre Augen, die wie die eines verwundeten Tieres baten, lockten zwei große, rote Flecke auf seinen Wangen hervor.

Natalia sagte, sie könnte nichts essen. Sie wäre nicht wohl. Und einen Augenblick später lief sie fort, hinauf auf ihr Zimmer.

Das paßte übrigens gut, so störte sie nicht.

Man schenkte die Becher und die alten Silberhumpen voll.

»Nun wollen wir das Fasten brechen,« sagte Lukin laut und rieb sich die Hände.

»Vergnügtes Fest! ... Und Dank, daß du kamst, Bogdan Ippolitowitsch!«

Sie setzten sich zu Tisch, der mit großen Braten, Schinken, Eiern und Kuchen besetzt war, und nachdem sie gut getrunken und gegessen hatten, schritt Bogdan zu seiner Werbung.

Es war ja die natürlichste Sache von der Welt. Kein Mensch fand, daß es anders sein könnte. Sie küßten einander, zu Tränen gerührt, und niemand dachte daran, Natalia zu fragen. Es war nicht Sitte und Brauch unter patriarchalischen Verhältnissen, an die Ansicht eines solchen Kindes zu denken.

Man bestimmte, daß Verwandte und Bekannte zum Schluß der Woche geladen werden sollten, um die Verlobung bekanntzumachen und den feierlichen Ringwechsel mit Gebet und Messe vorzunehmen.

»Wann wollen wir also Hochzeit halten, Bogdan?« sagte Lukin, indem er den Schwiegersohn auf die Schulter schlug und die Augen zukniff.

»Meinetwegen lieber heut als morgen. Ich wüßte nichts, worauf ich warten sollte!«

»Recht so, mein Freund,« lachte Lukin. »Mit solchen Dingen soll man nicht warten. ›Während das Gras wächst, stirbt die Kuh.‹ He, he, was? Ach es ist entsetzlich, alt zu werden. Man muß die Zeit nützen, solange sie da ist.«

»Sieh, sieh, nein, so geht das nun nicht!« schmunzelte Frau Lukin. »Wir müssen doch etwas Zeit haben, die Aussteuer ganz fertigzumachen. Wir geben unsere Tochter nicht halbnackt von uns.«

Es wurde bestimmt, daß die Hochzeit im Juni stattfinden sollte. Es sollte eine Hochzeit mit Blumen und Heuduft werden, mit Sommer im Blut.

Darauf zog sich jeder zurück, um auszuschlafen, ehe die Nachbarn am Tage auf Visite kamen, um »fröhliche Ostern« zu wünschen.

Am Vormittag noch fuhr Bogdan heim. Er hatte ja bei anderen Nachbarn Visite zu machen.

Er saß im Wagen und biß sich in die Lippe, während er an Natalias kleine, zarte Erscheinung und ihren flehenden Ausdruck dachte. Er räusperte sich heiser, stemmte die Füße fest gegen den Boden des Wagens und starrte abwesend über die kahlen Äcker, wo der Schnee noch in nassen, grauen Streifen an den Lattenzäunen und Waldkanten lag.

Als das Frühjahr kam, ließ Bogdan eine große Glasveranda auf der Südseite des Hauses bauen, und aus Petersburg kamen alle möglichen seltenen Pflanzen, Kakteen und Palmen, bis ein ganzer Tropenwald darin entstand. Mitten in der Veranda stellte er ein großes Glasbassin mit fließendem Wasser auf, das er mit Hechten, Aalmuttern und anderem giftigen Getier bevölkerte, und es amüsierte ihn köstlich, wie sie die kleinen Fischchen jagten und fraßen, die er für sie fangen ließ.

Vor dem Hause wurde ein englischer Garten angelegt. Außerhalb liefen lange Birkenalleen hinunter durch grüne Wiesen mit dunkeln Tannengruppen. In den Wald wurden Lichtungen geschlagen, so daß man von der Veranda weit hinausschauen konnte.

Somit war Bogdan zur Heirat bereit. Er war nachgerade auch satt geworden, zu warten, und sich nutzlos, zu plagen.

Er war schlechter Laune und schlief nicht gut. Man konnte ihn ab und zu in seinem Zimmer auf und nieder gehen hören, oder draußen in der Veranda, wo er gerne weilte, wenn er nicht schlafen konnte. Bis zum Gürtel entkleidet, konnte er in schlaflosen Nächten da draußen stehen und mit den nackten, behaarten Armen in das Bassin langen, um das glatte, kalte Getier dort unten anzufühlen.

Eines Tages, Ende Juni, brachte man eine ganze Fuhre Möbel und Kisten von Lukins herüber. Natalias Amme war mit, um alle Sachen auszupacken und Ordnung zu bringen in diese Menge Leinen und Kleider und allerhand Weiberputz, der in den Kisten verpackt war. Auch eine Kiste Silberzeug war dabei und eine mit chinesischem Porzellan. Alles, was zu einem reichen Heim gehört, wurde von den Schwiegereltern gesandt, obwohl es eigentlich, bei Bogdan an nichts fehlte. Aber sie wollten es doch nicht haben, daß er sie für kleinlich hielte. Er bekam ja doch einmal von ihnen alles.

Es war auch die Verabredung getroffen, daß er 25 000 Rubel Mitgift und zwei Dörfer, die oberhalb Besowo lagen, erhalten sollte. Das rundete das Areal gut ab, und 200 Seelen waren nicht zu verachten.

Natalia sah er ab und zu drüben bei Lukins, aber sonst kannten sie sich so gut wie gar nicht, und er hatte in dieser Angelegenheit nichts mit ihr zu besprechen.

Sie war ja ein reines Kind, ein liebes, kleines Kind, mit dem man ja nicht ernst reden konnte. Aber das hatte ja auch gar keinen Zweck, mit ihr oder mit einer Frau überhaupt zu reden.

Der Hochzeitstag kam heran, und Bogdan stand zeitig auf und ließ sich baden und waschen. Die ganze Dienerschaft lief verwirrt hin und her. Sie konnten ihm nichts recht machen. Er war ganz außer sich und konnte ohne Grund so fuchswild auf die Dienerschaft werden, daß er fluchend in der großen Badewanne herumsprang und nach ihnen schlug, daß das Wasser spritzte.

Aber als sie ihn angekleidet hatten, und er in die Morgensonne hinaustrat, wurde es gleich besser mit ihm. Er blickte auf die kurzgeschorenen, lichtgrünen Grasflächen, die noch feucht vom Tau waren, und es durchrieselte ihn ein kühler und lebensdurstiger Schauer, wie wenn klare Tautropfen von seinem Rücken herunterliefen. Und als er sich zu der rotgefleckten Marmorvase wandte, mitten auf der Wiese, und auf die grüne Metallschlange sah, die um den Marmor kroch, hinauf zu dem großen Kaktus, dessen rote Blüten blutigen Schnittwunden glichen, da fühlte er, wie etwas rot und scharf ihn durchzuckte.

Er atmete tief und etwas wie ein Schatten, wie der Schatten eines Lächelns, glitt über sein Angesicht.

Früh am Tage kamen die Hochzeitsmarschälle angefahren. Sie waren etwas ärgerlich, daß er sie nicht am Abend vorher eingeladen hatte, um nach Sitte und Brauch bei einem anständigen Essen Abschied vom Junggesellenleben zu nehmen, aber da er nun einmal ein Sonderling war, so mußten sie sich dareinfinden.

In langem Zuge fuhren sie zu Lukins hinüber, wo das ganze Haus voll von Gästen war. Aber sie fuhren gleich vorüber zur Kirche, und Bogdan ging allein mit seinem Trauzeugen hinein.

Kurz nach ihm kamen all die anderen, die verheirateten Damen, die Herren, und zuletzt Natalia mit allen ihren Brautjungfern. Sie war bleich wie der weißeste Blütenkelch, der sich im Sonnenschein entfaltet und sich zur Nacht schließt. Sie hatte geweint, geweint wie eine Jungfrau, die, rein und ohne Fehl, kaltblütig von ihrem Volk des Lebens Minotaurus geopfert wird.

Am Abend hatten sie und ihre Freundinnen sich für den Opfertag in der großen Badestube bereitet, und am Morgen hatte man sie mit Kranz und Schleier geschmückt, während bittere Tränen von ihren Augen fielen wie teure Perlen, die blinde Füße zertreten. Und niemand verstand sie, als sie alle zum Abschied um den großen Tisch in ihrem Kinderheim im Kreise saßen. Ihre Freundinnen hatten sie geküßt und die Eltern sie gesegnet, als sei sie eine zum Tode Verurteilte, die, von allen verlassen, des letzten, schweren Ganges entsetzlicher Einsamkeit überantwortet wird.

Bogdan reckte sich, daß er merkte, wie alle Muskeln stramm wurden, als er diese Jungfrau mit dem verschleierten, gebeugten Haupt an seiner Seite erblickte, ihr Herz klopfen und sich angstvoll zusammenziehen fühlte, wie bei einem wehrlosen Opfer, das man vor ein gefräßiges Ungeheuer geworfen hat.

Er hörte nichts anderes, als ihres Herzens Klopfen, fühlte nur das Bewußtsein eines Ungeheuern, unmenschlichen Rechtes auf Gewalt, das ausgesprochen und bestätigt wird von den Gesandten des Volkes. Er merkte nicht, daß all die jungen Mädchen die Kirche verließen, ehe das Gebet für Mann und Frau gesprochen wurde, das etwas enthält, was die Mädchen, nicht hören und wissen dürfen.

Und als Bogdan und Natalia von der Kirche fortfuhren mit den brennenden Wachslichtern in den Händen, war ihm, als leuchteten sie in dunkeln Gewölben, wo er umhertappend ihren Schleier suchte, um ihn zu packen und zu zerreißen.

Bei dem großen Gastmahl, das nun folgte, war Bogdan gänzlich Herr seiner selbst. Er scherzte und lachte nach allen Seiten und spielte mit Natalia wie die Katze mit einer halbtoten Maus.

Nach jedem Gang riefen die Gäste: »Gorko! Gorko! Das ist bitter!« bis das Brautpaar sich erhob und küßte. Auch die alten Lukins mußten aufstehen und sich küssen, und manch grober Witz fiel unter diesen essenden und trinkenden Leuten, die mit breiten Füßen vorwärts durchs Leben stampften, durch seine rauhen Stoppelfelder, gedüngte Brachen und weinende Blumenbeete ohne Unterschied.

Bogdan hatte dem alten Lukin auf eine feine Art zu verstehen gegeben, daß er keinen Wert darauf legte, daß die übernachtenden Gäste am nächsten Vormittag zu ihm hinüberkämen, um »das junge Paar zu wecken«.

Er fand das überflüssig.

Natalia umarmte ihre Eltern, und ohne daß es jemand bemerkte, führte Bogdan sie hinaus und fort, wie man eine Mondsüchtige bei der willenlosen Hand nimmt.

Er sprach den ganzen Weg mit ihr, sprach mild und beruhigend, wie man mit einem verschämten Kinde spricht, aber sie hörte nur den Flügelschlag des Habichts in seinen Worten, wie ihn die Taube hört, wenn der Habicht die Schwingen zusammenklappt, um sich auf sie niederzustürzen mit vorgestrecktem Schnabel und Klauen.

Und was dachte sie ... Ja, frage den Wind, wenn er wispernd durch das Gras streicht und mit den blauen Glockenblumen läutet, wenn er wirbelnd mit weißen Blütenblättern spielt, die sich sterbend in der hellen Sommernacht krümmen ...

… Bogdan fühlte sich den ganzen Sommer hindurch recht wohl. Es konnte zuzeiten geradezu ein Ausdruck unbändiger Freude über sein Gesicht kommen, obwohl es Sünde gewesen wäre, zu sagen, daß Natalia fröhlich aussah. Sie hatte ihm gegenüber dasselbe Gefühl wie damals, als er sie zum ersten Male in der Osternacht in der Kirche küßte, aber jetzt war etwas Hilfloses und rettungslos Gebrochenes in ihrem Wesen, als verblutete sie langsam unter einem unbarmherzigen und durstigen Messer.

Gegen den Herbst konnte man sehen, daß das Geschlecht Tschernjaew nicht aussterben sollte, und das bereitete den alten Lukins große Freude und gab Anlaß zu vielen Sorgen.

Aber gleichzeitig begann die schlechte Laune Bogdan und namentlich seine Umgebung wieder zu plagen. Selbst gegen Natalia konnte er mit groben und heftigen Worten auffahren, obwohl sie nie etwas gegen ihn sagte oder gar Anlaß zur Unzufriedenheit gab. Auch die Leute bekamen es zu fühlen. Es setzte wieder Prügel, fast jeden Tag; Es amüsierte ihn eigentlich nicht mehr wie früher, aber er sah immer mit zusammengekniffenen Lippen und scharfen Runzeln in den Augenwinkeln zu.

Ab und zu ging er zur Jagd und blieb die Nacht über in den Dörfern, wo er in den besten Häusern Jagdpavillons einrichten ließ.

Die Pferde vom Don und die Windspiele kamen auch auf die Beine, und er ritt unbarmherzig, als ob er mit Absicht das Leben ihnen ausreiten wollte, obwohl sie so gut liefen, wie Pferde nur laufen konnten. Aber trotz alledem konnte er sie nicht zum Niederbrechen bringen. Sie hielten jeden Lauf aus, ohne in den Beinen zu zittern, und es ging augenscheinlich Bogdan eher an die Nerven als ihnen. Der alte Lukin hatte recht, daß auf dieser Seite des Don sie nicht ihresgleichen hatten.

Namentlich das eine war ein harter Hund, und von der rücksichtslosen Behandlung war es in seinem Tempo so ungestüm geworden, daß Bogdan seine Not hatte, im Sattel zu bleiben, wenn es auf ein Hindernis losstürmte und es nahm, daß die Funken von den Hufen flogen. Es war geradezu ein Kampf zwischen Roß und Reiter, wer der Stärkere sein sollte.

Wenn Bogdan auf es zuging, um in den Sattel zu steigen, konnte er ganz rasend werden, wenn er sah, wie es mit gespannten Nerven und Muskeln dastand.

Die langen, edeln Ohren ragten gerade und spitz in die Luft. Die Augen leuchteten und das rotgoldene Fell funkelte. Es zitterte leicht, wenn er sich in den Sattel schwang. Es war als sägte es: Sitz fest, Bogdan Ippolitowitsch! Sitz fest, und laß nicht die Knie zittern!

Eines Tages hatten sie einen Wolf gehoben, einen zähen, alten Kerl, der nicht die Absicht hatte, sich leichten Kaufes zu geben. Bogdan war außer sich. Er wollte ihn haben und sollte er den Hals brechen, und sein Pferd gab auch nicht nach. Es war ein wilder und halsbrechender Ritt, sinnlos und unbändig, wie Bogdan selbst.

Als der Wolf sah, daß er auf dieser Seite des Moores nicht entwischen konnte, ging er, so ungern er auch wollte, hinüber, mit den Hunden hinterdrein. Weder Bogdan noch das Pferd zauderten. Der Fuchs vom Don schien den weichen Grund gar nicht zu berühren, doch plötzlich stürzte er nach einem gewaltigen Sprung über ein großes Loch und landete mit gebrochenem Vorderfuß an einem alten Tannenstumpf.

Bogdan kam gut davon. Er sah aus, als hätte er den Sturz nicht gemerkt und machte sich daran, selbst den Hunden wie rasend nachzulaufen.

Doch plötzlich blieb er stehen und fletschte die Zähne, und indem er mit geballten Fäusten hinter dem fliehenden Wolf her drohte, wandte er sich zum Pferde zurück, das stöhnend sich erheben wollte, trotz seinem gebrochenen Bein. Da legte sich ein tierischer Zug um Bogdans Mundwinkel, als er sein Messer zog und, sich unter entsetzlichen Flüchen anschickte, auf das gefallene Tier loszuschlachten. Er bedeckte es mit Messerstichen, bis es wie eine blutige Masse aussah, und er selbst mit roten Blutspritzern besudelt war.

Man konnte schon auf große Entfernung Bogdan fluchen und rufen hören, als er hinauf nach Besowo kam, und er wurde erst ruhiger, als der Stallknecht 50 Schläge erhalten hatte, daß sein Rücken eine blutende Wunde war. Und doch war es ihm schwer, sich zu beherrschen und nicht Unheil anzurichten, und als Natalia zum Abendessen hereintrat, stierte er sie so wild und drohend an, daß sie das vergrämte Gesicht mit den Händen bedeckte und wieder hinauslief.

Er sprang auf mit geballten Fäusten, als wollte er ihr nachstürzen; aber statt dessen riß er plötzlich der alten, runzligen Fliegenfängerin Matrona die Fliegenklappe aus der Hand und klatschte ihr ein paar Mal damit oben auf ihren weißhaarigen Kopf. Sie stieß einen langgezogenen Schrei aus, guckte sich mit den matten, eingefallenen Augen verdutzt um und lief zur Stube hinaus.

Bogdan lachte rauh und unnatürlich laut, als er sie laufen sah, die mit Krampfadern bedeckten Füße über den Boden schleppend und mit den gichtbrüchigen, unförmigen Hüften wackelnd, und er warf ihr die Fliegenklappe nach, daß der Stiel sie in den Rücken traf – abwehrend schlug sie mit den welken Händen in die Luft.

Als alles am Abend im Hause still geworden war, schlich die alte Matrona sich ins Zimmer, mit einem Talglicht in der einen Hand und der Fliegenklappe in der anderen. Sanft und vorsichtig schlug sie eine Fliege nach der anderen an der Wand tot. Das war das einzige auf der Welt, das für sie Bedeutung hatte, und all ihr Denken, der Rest von ihrem bißchen Dasein, hatte sich um diesen einen Punkt gesammelt. Gott sei Dank, daß sie Kost und Kleidung dafür bekam, daß sie dem Herrn die schlimmen Fliegen vom Leibe hielt. Hatte er sie am Tage hinausgejagt, war es natürlich seine Absicht, daß sie die Fliegen nachts klatschen sollte. Das war nicht umsonst, daß sie nur »Fliegenklatscherin« gerufen wurde, denn sie hatte keinen anderen Zweck noch Berechtigung auf dieser Welt.

Als sie da in der dunkeln Stube mit dem blakenden Licht in der Hand herumschlich, sah sie aus wie der Schatten einer alten Hexe, die ewig verdammt war, ohne Rast und Ruh in langen Nächten Getier und Ungeziefer zu jagen; sie war wie ein Besessener, dessen Seele und Auge nur ein einziges Bild abspiegelt, entsetzlich in seiner Unveränderlichkeit und trotz seiner Kleinheit ungeheuer in seiner Beständigkeit.

Und wie sie nun in dem finsteren, leeren Zimmer, leise herumging, wo sonderbare Schatten sich um des Talglichts gelbbleiche Flamme krümmten und streckten, wo das Leben ein brummender Fliegenflügel war und der Tod ein Klatschen mit einem Lederlappen an einem Stock, blieb sie plötzlich stehen und sperrte den zahnlosen Mund und die halberloschenen Augen idiotisch weit und angstvoll auf. Es war ihr, als sähe sie die tausend erschlagenen Fliegenseelen sich auf sie werfen wie eine tiefschwarze, krabbelnde Decke, als hörte sie sie summen und surren, während sie ihr in Ohren, Augen und Nase krochen.

»Du willst nicht ... was!«

»Du willst nicht ... was!« tönte es hinaus in die Nacht, und jedesmal, wenn eine rauhe, brutale Stimme »was« rief, fiel ein Peitschenschlag, erscholl ein Schrei aus einer zusammengeschnürten, wie zum Tode verurteilten Weibeskehle. Plötzlich war es, als würde ein Fenster zerschmettert, ein Schrei folgte ... ein rasender Fluch ... und alles versank in drückende Stille.

Die alte Matrona stieß einen gurgelnden Laut aus und lief vornübergebeugt, das qualmende Licht in dem krampfartig ausgestreckten Arm, mit steifen, lahmen Bewegungen davon, als ob ihre angeschwollenen Füße bei jedem Schritt an den Fußboden festwüchsen, während sie mit dem Kopfe wackelte und mit der Fliegenklappe um sich schlug.

»Ei ... ei ... ei ...!« rief sie.

»Ei ... ei ... ei ...! Der Herr schlägt die Frau. Ei ... ei ... ei ...! Die Frau ist aus dem Fenster gesprungen! Ei ... ei ... ei ...!«

Die Leute kamen auf die Beine, liefen herbei und sahen um die Ecke.

Im Halbdunkel der Herbstnacht lief Natalia durch eine der Birkenalleen. Sie lief mit ihren kleinen, bloßen Füßen über die verwelkten, raschelnden Blätter hin, und ihr weißes Nachthemd wogte wie ein Nebelschleier, wie ein Leichentuch um eine lebendig Begrabene, die ihren Sarg aufgebrochen hat und von der Toten zu der Lebenden Totenacker flüchtet.

Hinter ihr lief Bogdan Tschernjaew, halb bekleidet, in weiten Sprüngen, wie ein entsetzlicher Totengräber, der seine Beute sich nicht entgehen lassen will, die ihm tot oder lebendig einmal überantwortet worden ist.

Er holte sie ein und schlug sie mit einem Schlag zu Boden, daß sie mit ihrem verwundeten, blutenden Gesicht in dem nassen Laub liegen blieb, und als er sie emporriß, durchdrang ein schwerer und bebender Seufzer die Nacht und das Dunkel. Er klang wie eine Klage über ungeborene Töne einer, reißenden Saite, wie eine Klage über ungeborenes Leben eines brechenden Herzens ... Natalia schwieg für immer. Nicht ein Wort kam mehr über ihre Lippen, und drei Tage später hauchte sie ihre kleine, zerquälte Kinderseele aus, trotz der Kunst des Arztes und den Bitten und Tränen der alten Lukins.

Da fielen harte Worte unter vier Augen zwischen Bogdan Tschernjaew und dem alten Lukin. Die beiden Dörfer wollte Bogdan behalten, aber die 25 000 Rubel warf er dem Alten ins Gesicht, stieß eine fürchterliche Drohung aus und wies ihm die Tür.

Damit war die Geschichte aus der Welt, und Lukin durfte später nie mehr davon sprechen, ja kaum daran denken, so teuflisch hatte Bogdan Tschernjaew das letzte Mal ausgesehen, als sie miteinander sprachen.

Doch im Volksmunde verbreitete sich Gerücht über Gerücht von jener Nacht auf Besowo.

Die alte Matrona erzählte seltsame Dinge. Sie war vor Schreck ganz verwirrt im Kopf geworden und konnte aufkreischen und durch die Zähne summen und surren und mit den Armen um sich Schlägen, als ob sie sich gegen etwas in der Luft wehrte. Aber die Leute hatten ja mit eigenen Augen gesehen, daß der Herr dem Teufel selber glich, als er den Birkenweg hinablief.

… Bogdan Tschernjaew wurde noch finsterer und verschlossener und kam fast gar nicht mehr über Besowos Grenzen hinaus.

Die Nachbarn brachen den Verkehr mit ihm ab, oder es war mehr eine gegenseitige stillschweigende Übereinkunft zwischen ihnen und Tschernjaew, einander nicht mehr zu sehen.

Zwei verwegene Burschen blieben aber doch dabei, zu Besowo zu halten. Es war der kleine, dicke Krjakow und der schwarzhaarige, gelbbleiche Woronin, dessen Güter drüben auf der anderen Seite, des Moores lagen.

Die kümmerten sich den Teufel darum, was die Leute sagten, und verkehrten in dem Hause, wo sie Lust hatten. Das Leben war nicht dazu da, sich zu Tode zu langweilen, und auf Besowo ging es wild her. Da war Küche und Weinkeller vorhanden, und die schönsten Mädchen aus Bogdans Dörfern sangen und tanzten zu Speise und Trank.

Bogdan hatte sich in einem der Häuser des Hofes einen Harem eingerichtet, wo die schönsten Mädchen unter seinen Leibeigenen Erlaubnis zu wohnen erhielten. Aber außerdem gab es kein Mädchen in seinen Dörfern, die sich verheiraten durfte, bevor sie nicht ein oder zwei Tage in Bogdans Spinnhaus gewohnt hatte, für den Fall, daß er Lust auf sie bekam. Es war sein Recht, in diesen Angelegenheiten zu tun, was er für gut hielt, und das nutzte er aus. Da war im allgemeinen keiner, der murrte, weder von den Mädchen noch den Knechten, denn ihm konnte ja sonst einfallen, sie zu verkaufen, und das wäre doch noch schlimmer gewesen.

Aber im Spinnhaus behielt er sie nur, wenn es ihm aus einem oder anderem Grund gut erschien, und wenn er ihrer nach und nach überdrüssig wurde, oder ihre Anwesenheit drohte, den Hausstand im Spinnhause zu vermehren, verheiratete er sie.

Er hielt ihnen schöne Kleider, und sie bekamen gut zu essen, aber sie mußten sich auch zum Entgelt aufzuführen verstehen, wenn Bogdan Tschernjaew zufrieden mit ihnen sein sollte. Sie mußten spinnen und Kleider und Leinwand weben, aufzuräumen und ins Haus zum Herrn zu gehen verstehen.

Wenn Krjakow und Woronin zu Besuch kamen, wurden sie heraufgerufen, um zu tanzen und zu singen, und dann scholl das Sprechen, Schreien und Lachen der trunkenen Männer durcheinander in den großen Räumen.

Ab und zu, wenn die Raserei über Tschernjaew kam, konnte er zum Messer oder zur Peitsche greifen, und dann flüchteten sie alle, daß die schweren Stühle umstürzten und die Tische hin und her geschoben wurden.

Wenn er aber laut und unbändig über die Verwirrung und die Furcht vor ihm lachte und die Waffe wegwarf, begannen sie von neuem.

Keinen gab's, der sich in Bogdans Gesellschaft so recht sicher fühlte.

Eines Tages kehrte er von der Gouvernementsstadt mit einer großen Schlange heim, die er von einem wandernden Menageriebesitzer gekauft hatte.

Er war so froh, wie er lange nicht gewesen war, als er sie in das trockene Glasbassin draußen auf der Veranda gebracht hatte.

Es wurden ein Paar Mäuse- und Rattenjäger ernannt, um für sie Nahrung zu schaffen, und er fütterte sie selbst und konnte stundenlang stehen und zusehen, wie das glatte und geschmeidige Biest die Ratten und Mäuse jagte.

Er schloß sich auch mit ihr ein und gewöhnte sie daran, in das große Speisezimmer zu kommen und wieder zurück zum Bassin zu kriechen; aber das durfte nie jemand sehen oder auch nur davon wissen. Man merkte nur, daß es nachher so eigenartig und unangenehm im Speisezimmer roch.

Bogdan war so froh über dies Ungeheuer, daß er plötzlich in ein unzurechnungsfähiges Gelächter ausbrechen konnte, wenn er an es dachte. Ja, er sollte noch genug Vergnügen an ihm haben.

Da war ein neuer Mann in die Gegend gekommen, ein verabschiedeter Hauptmann mit Namen Dulow. Er war ein langer, knochiger Bursche mit einem tiefen Bierbaß und ein gewaltiger Rauf- und Saufbruder. Er konnte sich im Regiment nicht mehr halten, zog sich auf seine Güter zurück und schloß sich sogleich der Gesellschaft auf Besowo an.

Eines Herbsttages waren alle zu einem Schmaus bei Bogdan versammelt. Sie hatten sich zu Mittag satt getrunken und gegessen und saßen, aus ihren Pfeifen paffend, um einen der großen Tische!

Krjakow hatte eine große Meerschaumpfeife, in die ein Neger und eine weibliche Figur geschnitzt war, wollüstig sich umschlungen haltend. Das war so kunstfertig gemacht, daß das Weib stets kreideweiß blieb, während der Neger angeraucht wurde, und er war schon ganz dunkel. Bogdan hatte schon lange ein unbezähmbares Verlangen nach der Pfeife. Das war ganz etwas nach seinem Geschmack, das Weiße und das Schwarze zusammen, aber Krjakow wollte sich natürlich nicht davon trennen, weder für Geld noch gute Worte. Solche Seltenheiten machten ja gerade ihren Mann berühmt. Das war etwas neues und etwas anderes als ein Dreigespann oder eine Koppel Hunde.

Jedesmal, wenn Krjakow den Rauch von sich blies, hob er den Pfeifenkopf in die Höhe und sah ihn sich an, indem er seinen fetten Körper schüttelte und in stiller Verzückung über das herrliche Bild verschmitzt griente.

»He ... hi! ... Das ist 'ne Pfeife, was!« sagte er, über das ganze Gesicht grinsend, und nickte den Kameraden mit seinem Kopfe und dem der Pfeife zu.

»So etwas gibt's nicht noch 'mal in dem ganzen heiligen Rußland.«

»Beim Teufel und seiner Großmutter, das war keine leichte Sache für dich, es zu etwas in der Welt zu bringen, oller, dicker Kloß,« brüllte Dulow ihn an.

»Blödsinniges Geschwätz! Wenn sie wenigstens noch lebendig wären,« murmelte Woronin und strich sich den schwarzen Bart.

»Lebendig! ... Er! ... Lebendig, sagst du,« schnarrte Bogdan. »Was zum Teufel glaubst du, würde er mit ihnen aufstellen!«

Krjakow lachte halb verlegen und entschuldigend.

»Was willst du dafür haben,« fügte Bogdan einschmeichelnd hinzu.

»Ich gebe dir mein Orenburger Scheckengespann und den Kutscher dazu.«

Krjakow hielt die Pfeife mit beiden Händen dicht an sich gedrückt und schüttelte erschreckt und abwehrend den Kopf.

»Tauschen? Er ist doch nicht blödsinnig! Willst du deine Krone vertauschen, alter Negerfürst?«

»Dich geht das gar nichts an,« wandte sich Bogdan gereizt an Dulow. »Er hat ja nicht die Spur von Verständnis für so was.«

»Nein, da kennst du dich besser aus,« antwortete Dulow ärgerlich mit vielsagendem Blick.

Bogdan bohrte bei diesen Worten seine mattglänzenden Augen in die Dulows mit so desperatem Ausdruck, daß Woronin seinen Stuhl ein wenig zurückstieß, und Krjakow sich ängstlich umsah. Aber Dulow lachte höhnisch und trank ein großes Glas in einem Zuge aus.

»Mich machst du nicht bange mit deinen Hundekünsten. Das kannst du dir sparen. Willst du sehen, wie ich Pistole schieße?« sagte er spottend.

Und da er auf andere Weise Bogdans unheimlichen Blick nicht los werden konnte, zog er eine zweiläufige Pistole aus der Tasche.

»Nun werde ich der Biersuppenmamsell da oben 'ne Brille aufsetzen,« fluchte er, indem er auf eines der alten Bilder zielte. Er schoß beide Läufe ab und setzte eine Kugel in jedes Auge von Bogdans Großmutter.

Bogdan hatte schon nach einer Flasche gegriffen, um sie auf Dulows Kopf zu zerschmettern, aber im selben Augenblick bekam er eine Idee und langte ruhig eine ähnliche Pistole wie die Dulows von der Wand.

»Du schießt ganz gut, Dulow,« sagte er, indem er auf die Diele hinausging, »aber rühr dich jetzt nicht, sonst kriegst du den Schuß in den Schädel, statt des trockenen Knochenhaufens da über dir.«

Er drückte zweimal ab, und die Kugeln gingen gerade über Dulows Kopf hinweg und schlugen der herausgeputzten Dame an der Wand zwei Löcher in den Bauch.

»Übrigens war sie auch eine Dulow,« warf Bogdan leicht hin.

»Aber nun wollen wir lustig sein, und das Schießen kannst du andermal lieber lassen, Dulow, damit ich nicht mal fehlschieße ...«

Dulow murmelte einen Fluch und schlug laut vor, daß die Mädchen hereinkommen und ihnen etwas vorsingen möchten.

Sie tranken und amüsierten sich mit den Mädchen, solange es ihnen gefiel, als aber der Abendtisch gedeckt wurde, jagte Bogdan die ganze Bescherung hinaus. Nun wäre es aber genug, und sie wollten ihre Mahlzeit in Ruhe und Frieden ohne all die Possen einnehmen.

Die Kameraden saßen schon bei Tische, als Bogdan eintrat.

Er war draußen gewesen, um ein wenig frische Luft zu schöpfen, sagte er.

Rot und wild vom Trunk und wüstem Geschrei saßen sie nach beendeter Mahlzeit am Tische.

Sie rauchten Pfeife, daß schwere, blaugraue Rauchwolken strichweis in der Luft lagen, und Dulow erzählte eine mächtige Lügengeschichte aus dem Soldatenleben.

Sie wanden sich und brüllten vor Lachen, und große Tränen rannen über Krjakows fette, glänzende Wangen.

»Höre, Dulow,« sagte Bogdan, indem er sich erhob und die Verandatür öffnete, »du mußt doch einräumen, daß du ein wenig aufschneidest ... Puh! Was ist hier für eine Luft. Das stinkt ja wie nach Schwefel, so lügst du.«

»Lügen, sagst du!« donnerte Dulow und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß Gläser und Teller durcheinandersprangen. »Lügen, sagst du! Ich werde wohl wissen, bei des Teufels Großmutter, was ich tue!« und er vertiefte sich in die schlüpfrigen Einzelheiten der Geschichte, daß die Kameraden daran waren, vor Lachen umzukommen.

Bogdan lachte heiser und stoßweis und zischte ab und zu zwischen den Zähnen, wie in bester Sorglosigkeit.

»Aber so solltet ihr mich gesehen haben!« Dulow fuchtelte mit der Hand in der Luft herum; »beim Teufel noch mal ...«

Er brach plötzlich kurz ab, wie er Bogdan sah, als ob ihm die Zunge mit einem Schnitt aus dem Munde geschnitten worden wäre. Auch die Kameraden stierten auf Bogdan, und es entstand plötzlich eine drückende Stille im Zimmer. Bogdan hatte sich im Sitzen ganz steif aufgerichtet und starrte unbeweglich mit weit aufgerissenen Augen und verzerrten Mienen auf die Verandatür. Er sprach nicht ein Wort und bewegte nicht eine einzige Fiber seines Körpers, sondern starrte nur unentwegt dorthin.

So wandte zuerst Dulow und darauf die beiden anderen die Köpfe langsam zur Tür, und im selben Augenblick sanken sie schlaff zusammen, grau im Gesicht, mit herausgequollenen Augäpfeln. Einer von ihnen wollte schreien, doch nur ein gebrochener Laut entwich der Kehle.

In der Verandatür stand die Schlange, mit dem Bauch auf der Schwelle, den Kopf hoch in die Luft erhoben, indem sie hin und her sich wiegte und mit der gespaltenen Zunge dem Lichte in der Stube entgegenspielte.

Dulow machte den Versuch sich zu erheben, aber er schurrte nur hilflos mit den Füßen unter dem Tisch.

»Der erste, der eine Bewegung macht, ist des Todes,« sagte Bogdan langsam durch die Zähne, ohne sich zu rühren oder die Augen von der Schlange zu wenden.

Dulow war grün im Gesicht geworden und zitterte, als lösten sich alle Knochen in ihm.

Plötzlich fing es an, in ihm aufzustoßen, und er erbrach sich über den Tisch und an sich selbst hinunter, indem er Anstrengungen machte, nicht ein Glied zu rühren.

»Dulow, hast du keine Lust zu schießen?« sagte Bogdan mit beißendem Spott ... »Dulow, schieß nur, wenn es dir Vergnügen macht! Du sollst dir nichts versagen! Du bist bange, Dulow! Vergiß nicht, wenn du davon erzählst, daß du dich selbst bespieen, langes Schlottervieh! ... Krjakow! du willst mir ja deine Pfeife geben für das Orenburger Scheckengespann? Nicht wahr? alter Freund? Das soll uns nicht trennen, eine solche Bagatelle! Ich habe es schon für dich anspannen lassen, und den Kutscher kriegst du mit ...«

Krjakow rührte sich nicht vom Fleck. Nicht ein Blutstropfen war in seinem Gesicht, und große, kalte Schweißperlen rollten darüber!

Die Schlange war fast ganz in die Stube gekrochen, indem sie lautlos mit dem Bauche über die Türschwelle geglitten war.

Bogdan langte nach Krjakows Pfeife, die dieser widerstandslos hergab, und steckte sie in die Tasche. Dann riß er von der Wand eine große Bärengabel und einen Armleuchter vom Tische und stürzte mit durchdringendem Geheul auf die Schlange los, die schon ganz nahe am Tischende war.

Sie erhob den Kopf noch höher, dem Licht in Bogdans Arm entgegen, und gleichzeitig packte er sie mit den beiden Zinken der Gabel am Halse und warf sie vorwärtslaufend kopfüber in die Veranda hinaus.

Als er die Türe ins Schloß warf, hörte er, wie die Kameraden Hals über Kopf schreiend und lärmend aus dem Zimmer liefen, und während er sich weinend in Lachkrämpfen auf einem breiten Sofa wand, drang der Lärm der rollenden Wagen und der galoppierenden Pferde hinein zu ihm, daß er die Fäuste in den Bauch bohren mußte, um nicht vor Lachen zu sterben.

Es waren die Genossen, die fortrasten, daß die Funken von den Rädern stoben.

Sie waren gleich in ihre Troikas gesprungen, die Bogdan hatte für sie anspannen und vorfahren lassen.

Krjakow lag auf dem Boden seines Wagens, gezogen von Bogdans Orenburger Gespann, und schluchzte laut.

Als Bogdan nach dem Gelache wieder zu sich gekommen war, ließ er Krjakows Kutscher mit den Pferden heimreiten und sandte einen Gruß mit.

Das war ein wohlgelungener Tag, dachte Bogdan, als er die Schlange wieder ins Glasbassin bekommen hatte und sich in seinem Bett streckte ...

Bei Tagesgrauen wurde Bogdan von seinem Kammerdiener geweckt. Es war ein Unglück geschehen.

Der Kutscher, den man am Abend fortgeschickt hatte, war triefend von Wasser und Moder wiedergekommen.

Als Krjakow sich in der Nacht seinem Heim näherte, hatte ihn eine tiefe, bittere Sorge über den Verlust der Pfeife gepackt. Schließlich konnte er es nicht mehr aushalten. Lieber sterben, als die Pfeife missen: Bogdan gab sie ihm ja wohl wieder.

So fuhren sie, was die Pferde laufen konnten, nach Besowo zurück; als sie aber über das Moor kamen, waren sie in der Finsternis vom Pfahlweg abgeraten. Das eine Pferd zog das andere mit in den Schlamm. Krjakow und der Kutscher sprangen vom Wagen, und der Kutscher zog und zerrte an den Pferden, um sie wieder herauszubekommen; aber sie arbeiteten sich nur tiefer und tiefer in den grundlosen Sumpf. Als es der Kutscher aufgab und sich nach seinem neuen Herrn umsah, lag der mit dem Gesicht nach unten im Schlamm und war darin ertrunken. Er war nach der verkehrten Seite abgesprungen und, betrunken wie er war, konnte er sich mit seinem dicken Wanst nicht wieder erheben.

Bogdan zuckte mit den Achseln, und als er und seine Leute hinaus aufs Moor kamen, waren nur noch die Köpfe der Pferde zu sehen, und Krjakow lag auf dem Bauche im Schmutz und war mausetot.

Sie hoben ihn auf und schnitten Stränge und Deichsel ab, um den Wagen zu retten, damit er nicht mit den Pferden versinken sollte.

Seit diesem Tage blieb Bogdan ganz allein. Weder Dulow noch Woronin kamen zu ihm herüber. Er war ja der Helfershelfer des leibhaftigen Satan ...

Unter den Mädchen in Bogdans Spinnhaus war eine, die Dunka hieß. Sie war die Schönste von allen. Es war ein schwarzes, hochbusiges Mädchen mit reiner, weißer Haut und dreistem Wesen. Jedesmal, wenn Bogdan nach ihr sandte, daß sie zu ihm ins Haus kommen sollte, stellte sie sich krank oder fand andere Ausflüchte. Es half nichts, daß er ihr mit Prügel drohte. Sie bestand auf ihrem Willen.

Einmal hatte er sie mit Gewalt zu sich hinaufbringen lassen, aber sobald er allein mit ihr war, hatte sie ihm eine große blutende Wunde in den Arm gebissen und war wieder hinausgelaufen.

Hätte er sie gleich gefunden, wäre sie zu Tode gepeitscht worden, aber sie hatte sich versteckt, und als sie wieder zum Vorschein kam, schämte er sich, auf diese Weise eine Wunde erhalten zu haben, und tat, als sei nichts geschehen.

Er besaß einen Viehknecht, ein kleines, häßliches Mannsbild ohne Nase, mit dem sich keine verheiraten wollte.

Mit ihm verheiratete Bogdan Dunka. Es passe gut, daß die Kranken einander kriegten, meinte er. Und Dunka fügte sich ruhig darein.

Sie bekam auch eine Tochter von ihrem Mann, und sie blieben auf dem Hofe wohnen.

Bogdan wollte doch sein Vergnügen haben, das Glück des jungen Paares zu sehen. Kam ihm aber das kleine Kind draußen im Hofe vor die Augen, konnte er die entsetzlichsten Schimpfworte und Flüche ausstoßen, daß es schreiend seiner Wege lief ...

Jahre gingen dahin, und Bogdan fing an, alt zu werden. Er bekam tiefe Furchen im Gesicht, und die Lippen hingen schwer herab. Er hatte eine merkwürdige Krankheit bekommen, eine Art Läuse- oder Juckkrankheit, und die Mädchen mußten ihm stundenlang den bloßen Körper kratzen, sonst konnte er es nicht ertragen.

Allmählich gab er auch die große Jagd auf. Er ritt weder den Wölfen nach, noch suchte er die Bären auf. Zuzeiten ließ er nur seine Hunde einen Hasen jagen, weniger um des Hasen willen, als um das Hundegebell im Walde zu hören und sich an des gejagten Tieres Todesangst zu weiden.

Es waren bissige Tiere, seine Hunde, die kaum je einen anderen Menschen zu sehen bekamen als den Hundewärter, der sie mit rohem Pferdefleisch fütterte und mit der Peitsche schlug, wenn sie sich bissen.

Eines Tages hatten die Hunde einen Hasen gejagt, ohne daß Bogdan ihn zum Schuß bekommen hatte. Er hatte auch keine großen Anstrengungen weiter dazu gemacht, sondern war hinaus aufs Moor gegangen, wo er in Gedanken verfallen war und sich auf einen Hügel gesetzt hatte.

Hunde und Hase konnten sich zu Tode jagen, soviel sie wollten. Dazu hatten sie ja das Leben.

Ja, das Leben, dachte Bogdan, als er da draußen im Moor saß, mit der Faust unter dem Kinn, das Leben ist nicht viel besser für den, der jagt, als für den, der gejagt wird. Sie streben beide einem unabwendbaren Ende zu, gegenseitig miteinander verbunden. Nur ein kleiner, bedeutungsloser Unterschied in der Zeit ist vorhanden, klein und bedeutungslos, wenn der, der jagte, selbst gejagt wird und die kurzen Augenblicke zählt, die ihn vom Verfolger trennen ... Aber er war doch noch nicht so alt, wenn er auch zugeben mußte, daß sein Lebenshunger bei weitem nicht mehr der alte war. Selbst Gewalttaten und Grausamkeiten bekommt man auf die Dauer über. Aber er hatte ja schlimmstenfalls sich selbst noch unberührt als Gegenstand für Selbstpeinigungen gelassen, wenn es ihn danach verlangte. Er konnte ja sein eigenes Fleisch peitschen und brennen und zerfetzen, soviel er wollte, und das hatte noch den Vorzug der Neuheit. Anders konnte er wohl sich selbst nicht peinigen. Die Schatten seiner Opfer nahmen sich ja in acht, in seinem Gewissen zu hausen ... Gewissen.

Er lachte verächtlich durch die Nase. Gewissen! Das ist des großen Haufens Feuer-Rostprobe, die die schlaffen, blutlosen Seelen nicht ertragen können, ohne Brandblasen zu kriegen und branstig zu riechen.

Feuerfest war er aus der Esse der Instinkte gesprungen und hatte sich für zu gut gehalten, eine Hexenprobe abzulegen. Ja, er hatte sich nichts versagt im Leben. Er war zum Raubtier geboren und hatte dessen Triebe nicht im Namen eines mißverstandenen, höheren Daseins erstickt. Genuß und Entzücken tief in den höllischen Mysterien schwarzer Künste hatten wie ein Flammenstrom all die Wurzeln seiner Nerven umflossen ... Er hatte etwas vom Leben gehabt, hatte den Stein der Weisen gefunden, den tiefen, geheimnisvollen Grund aufgesucht, wo das Wahre im Menschenherzen sich niedergeschlagen hat wie schweres, blutrotes Gold. Dort unten leben unter ungeheuerm Druck bleiche Tiefseefische. Dort unten grinst die Medusa versteint und verzerrt von der Oberfläche dünnschaliger Schlottrigkeit ... Was zum Teufel konnte er dafür, daß er unter einem so gewaltigen Druck geboren war, mit einem so unbändigen Temperament, daß er nur in der finsteren Tiefe dort unten leben konnte ...

Ja, er hatte etwas vom Leben gehabt. Alles was er sich gewünscht, hatte er erhalten, und seine Wünsche waren über alle Grenzen hinausgegangen, er hatte sie rücksichtslos überschritten wie ein unschuldig Kind, das lächelnd mit einer Giftflasche spielt ..., allen einschenkt ..., sie sterben sieht ... und unschuldig lächelt ... Ein gefährliches, innerliches Lächeln legte sich auf seine Mienen, und er sank zusammen, gepackt von Erinnerungen an Taten, die ihm Glück und Genuß gewesen waren, aber für andere Erniedrigung, namenloses Elend, Gift und Tod ...

Er erwachte, als die Hunde mit heraushängender Zunge zurückkamen und sich um ihn herum zur Erde warfen ...

Alles hatte er bekommen, war sein letzter Gedanke, als er sich erhob. Alles ... Alles, was er wollte. Nichts war ihm entgangen, das er begehrt hatte ...

Er reckte die Arme aufwärts in schmerzlichem Wohlbefinden, ließ sie aber plötzlich fallen, als wäre er von einem dunkeln, flammenzüngelnden Messerstich getroffen worden. Sein Gesicht verzog sich zu einer desperaten und verzerrten Grimasse.

Draußen auf dem Moor ging ein kleines Mädchen in rotem Kleid und pflückte Beeren in seinen Korb.

Es war Dunkas Tochter.

Dunkas Tochter! Ha – ha! Dunka! Nein – sie hatte er nicht gehabt! Sie war ihm entgangen! Sie wollte nicht! Sie hatte getrotzt! Das hatte er ganz vergessen, als es ihn mit süßem und sattem Tone »Alles – Alles« durchklang.

»Satan! Hölle!« stieß er durch die zusammengebissenen Zähne hervor, so daß die Hunde aufsprangen und ihn ansahen, und das kleine Mädchen den Kopf hob.

»Hallo! hallo! hallo!« rief er, indem er vorwärtslief und auf das Kind zeigte, das mit dem Korb in der Hand schreiend auf seinen kleinen Beinen zwischen den Hügeln hindurchfloh. »Hallo! hallo! Faßt sie!« brüllte Bogdan, daß die bissigen Hunde heulend und bellend auf die Fährte des neuen Wildes gingen.

Im Augenblick hatten sie das Kind eingeholt. Es fiel mit scharfem, durchdringendem Schrei auf einen Hügel, und die Hunde zerfleischten es, durch ihres Herrn »Hallo! Hallo!« erhitzt, in einem Nu.

Es fiel ein Stein von Bogdans Herz, als er die bluttriefenden Hunde von der kleinen, zerfleischten Leiche weggetrieben hatte und ruhig auf einem Umweg durch den Wald heimwärts wanderte: Die Wölfe hausten ja schlimm heuer, und schließlich konnte er ja für seine Hunde keine Verantwortung übernehmen. Die Kleine hätte sich abseits vom Moore halten können und ihm namentlich nicht in einem Augenblick vor Augen kommen müssen, wo er ganz den Umfang seines Lebensglückes gefühlt hatte ...

Als man nach einigen Tagen die Leiche fand, gab es niemand, außer Dunka, der etwas Besonderes dabei gedacht hätte, aber sie schwieg; keine Menschenseele hatte ja etwas gesehen.

Aber die Hunde waren nach dieser Zeit noch bissiger auf die Leute, und der Hundewärter beklagte sich, daß sie ihn auffressen wollten. Als das Bogdan hörte, lachte er, als wollte er sagen:

Was bildet der sich ein! Glaubt er, sie werden sich nach dem kleinen, leckeren Kinde jetzt um so ein altes Schweineleder rühren ...

… Das war das letzte Jahr vor Aufhebung der Sklaverei.

Bogdan Tschernjaew war im Ernst alt geworden.

Es sah aus, als schrumpfte er zusammen, je stärker das Gerücht von der Befreiung des Volkes aus der historischen Morgendämmerung der Zeit emporwuchs.

Dieser Gedanke peinigte und plagte ihn tagelang. Die mußten ja verrückt und wahnsinnig in Petersburg sein, wenn sie auf solche Dinge verfallen konnten. Auf einmal ein halbes Hundert Millionen Sklaven loszulassen in Rußland, war doch ein Verbrechen, für das man kein Wort finden konnte, das stark genug gewesen wäre.

Er hätte gerne alle seine Leute gerädert und zuschanden geschlagen, damit sie sich nichts einbildeten. Das war ja Aufruhr! Das war ja offener Raub, einem Menschen sein gesetzliches Eigentum zu nehmen! Was scherten ihn die paar Heller, die die Regierung zum Ersatz versprach!

Er konnte seine Leute nicht ansehen, ohne die Zähne zu zeigen, aber sie quälen, wie er Lust hatte, das durfte er nicht.

Sie fingen an zu murren und die Trotzigen zu spielen.

Er litt fürchterlich darunter. Das Herz in der Brust tat ihm weh, und es konnte ihn eine solche Schmerzraserei befallen, daß er sich in die Finger biß und heulend in den Stuben umherlief. Das hatte er nie geglaubt, daß er eine solche selbstverzehrende Machtlosigkeit je zu fühlen bekäme.

Die Selbstpeinigung kam über ihn eher, als er sich reif dafür fühlte, und in ganz anderer Form, als er erwartet hatte.

Aber das konnte ja nie Gesetz werden! Der Adel würde Widerstand leisten. Er würde nicht Stein auf Stein lassen da, wo so unerhörte Dinge ausgeheckt wurden! Das war ja Gewalt! Willkür!

Er kaute mit den großen, gelben Vorderzähnen, daß ihm der Speichel in den grauen Kinnbart lief, und die eingefallenen Backen sanken noch mehr zusammen.

Entsetzlich sah er aus, entsetzlich wie die verbissene Bosheit, wie ein blutdürstiger Greis, dessen Finger sich in machtloser Raserei krümmen. Seine Augen hatten den hellen Stahlglanz verloren. Matt und rotumrändert lagen sie tief in den Höhlen wie angelaufene Messerklingen.

Das grauwelke Haar hing in dünnen, zottigen Strähnen über die vorspringenden Nackenwirbel herab, als flüchtete es sich vor der runzligen Stirne, und schlängelte sich um die zusammengesunkenen Schläfe.

Die Mädchen, die zu früheren Zeiten Jahr für Jahr im Spinnhause gewechselt hatten, waren alt auf dem Hofe geworden. Er behielt die, an welche er sich in besseren Tagen gewöhnt hatte, und welche die größte Fertigkeit im Kratzen hatten. Seine Hautkrankheit hatte sich mit den Jahren verschlimmert, so daß die Mädchen ihn fast den ganzen Tag jucken und kratzen mußten. Sie mußten sich lange und scharfe Fingernägel halten, damit es ihm ordentlich weh tat, und er fand erst Ruhe, wenn sie ein richtiges Blutbad auf seinem Rücken angerichtet hatten.

Er saß im Bett mit dem mageren, krummgebeugten Rücken und ließ sich kratzen:

»Kratz doch, zum ... Da ist es ja gar nicht, alte Kuh!«

Er streckte das eine fleischlose Schulterblatt in die Luft.

»Da, da! Ahhh ... Arh! Kratz doch durch! ... Au, über die fressende Seuche!«

Das Mädchen kratzte ein ganzes Stück Haut herunter, daß das Blut in kleinen Punkten hervorquoll.

So ließ er sich schinden, Stück für Stück, Tag für Tag. Wenn neue, lose Haut die Wunden wieder bedeckte, fingen sie wieder von vorn an. Er saß da, drehte den Kopf schief zur Seite und pustete durch die Mundwinkel, ächzte und stöhnte mit verzerrten, weit geöffneten Lippen und klappernden Zähnen.

Er sah aus wie ein entlassener Handlanger aus des Teufels Küche, der aus Langeweile sich mit seinen eigenen Zangen brennen läßt und sich dabei recht wohl fühlt.

Bogdan Tschernjaew lag im Bett, als er im Januar die Nachricht von dem bevorstehenden Erlaß des so verhaßten Freiheitsbriefes bekam. Seine Beine eiterten, so daß er sich auf sie nicht stützen konnte, und der Arzt kam ab und zu und steckte ihm eine Röhre in den Leib. Er freute sich jedesmal darüber. Es täte so gut, sagte er. Als er aber vom Freiheitsbrief des Kaisers hörte, stieß er eine Fülle von Flüchen, Verwünschungen und Gotteslästerungen aus. Er fauchte und spuckte:

»Pfui, über den krummschwänzigen Satan! ... Pfui! über den gemeinen Hund! ... Zum Teufel mit dem Kaiser! ... So ein Bastard von 'nem Hund und 'ner Laus! ... Ich gebe sie nie frei! ... Ich ... ich Bogdan Tschernjaew ... niemals! Das schwöre ich!«

Das schwärende Fleisch an seinen Beinen begann aufzuplatzen, und es floß Wasser aus den Wunden wie von warmem, gekochtem Speck, ihm aber war es einerlei, und er schwärmte vom Leben wie nur jemals, und versprach jeden Abend, den nächsten Tag aufzustehen, um allen zu zeigen, was eine Harke sei. Er werde ihnen das Faseln von Freiheit bald austreiben.

Eines Abends ließ er sogar alle seine alten Mädchen tanzen und singen, und das amüsierte ihn köstlich.

Aber an den folgenden Tagen wurde es schlimmer und schlimmer. Er schwoll ganz auf und stöhnte, und fluchte ununterbrochen.

Der Arzt kam täglich, und wenn er hinausging, schüttelte er mit dem Kopfe und sagte, daß Bogdan Ippolitowitsch es nicht mehr lange mache.

Eines Tages wurde Bogdan auf einmal ganz still und sah aus, als käme ihm ein neuer und, ganz unerwarteter Gedanke:

Wenn das nun der Tod wäre, mit dem er kämpfte?

Er bewegte die Zunge langsam im Munde, als ob sie klebrig und dick geworden wäre.

Wozu sollte er sterben, er war ja noch ein junger Mann, nicht mehr als siebzig. Es gab ja welche, die wurden über hundert.

Doch der Tod schlug ihn kräftig auf die Schultern, schlug kräftiger von Tag zu Tag, und schließlich konnte Bogdan nicht mehr. Er brach zusammen und wünschte nur, daß es ein Ende nähme, wenn es doch schließlich sein müßte.

Aber es wollte kein Ende nehmen, und er fluchte und schalt über den Tod, der ihn liegen und warten ließe ohne Zweck.

Es sah aus, als wollte er ihn nicht holen:

»Höre,« sagte Bogdan eines Tages, »geh und sende einen Boten zu Pater Alexei!«

Es durchzuckte ihn elende Angst.

»Ich habe etwas mit Pater Alexei zu reden.«

Als der Pope aus Bogdans Zimmer trat, hielt er die Hände vor sich gefaltet und schüttelte mit dem Kopfe, als hätte er etwas so Unwahrscheinliches und Entsetzliches gehört, daß sein Verstand stillestand.

Er hatte sich gerade in seinen Wagen gesetzt, als Bogdan ihn wieder zu sich rufen ließ: Der Tod will mich nicht haben, wenn ich nicht die Geschichte von dem Kinde erzähle, das für mich die Satanshunde zerrissen, dachte Bogdan. Und er sah einen Augenblick, wie Dunkas kleines Mädchen in seinem roten Kleid über die Hügel im Moor lief.

Schließlich ist es ja eine Bagatelle, die nicht der Mühe wert ist, davon zu reden ... Aber der Sicherheit wegen ... und er kann mich wohl noch mal bereiten, der alte Eitersauger!

Gegen Morgen fiel er in Schlaf; und als er wieder erwachte, fühlte er ein ruhiges und glückliches Lächeln auf seinem angeschwollenen Gesicht, das dadurch einen fremden und rätselhaften Ausdruck bekam.

»Tatjanna!« sagte er wie im Schlaf zu seinem alten Mädchen. »Was war das für ein blutrotes Band, das ich drin bei Mutter fand?«

»Was? ... und warum schlug sie mich dafür? Was Tatjanna?«

Er redete augenscheinlich irre.

»Tatjanna! Nun habe ich den ganzen Tag nachgedacht ... Was war es damit, wofür ich die Rute bekommen sollte? ...«

Er fiel zurück, und nur die Lippen bewegten sich, als murmelte er.

Ein paar Stunden später streckte er sich nur ein, wenig im Bett und war tot.

Aber so wunderbar sind die Menschenherzen, daß es noch Leute gab, die aufrichtig weinten, als dieser verhärtete Mensch als Leiche in der großen Stube lag. Und wie verhärtet der letzte Tschernjaew auch war, es fanden sich doch Menschen, die nicht nur seiner Bahre folgten, sondern auch seine Schuldlosigkeit und Abhängigkeit von der Zeit und ihren Vorurteilen ahnten, wovon er nun durch den großen Freiheitsbrief erlöst war.


 << zurück weiter >>