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Mit jedem Jahre wuchs die Macht des Alchimisten. Von seiner Zelle aus vermochte Holstein zu berufen oder zu stürzen, wen er erwählt oder verdammt hatte, und mit dieser Auswahl der regierenden Personen die Weltpolitik des Reiches tatsächlich fort und fort zu bestimmen, für die er die Grundlinien ohnehin vorgezeichnet hatte; aus dieser Macht des Geheimrats erklärt sich die gesamte deutsche Außenpolitik des nächsten Jahrzehntes.
Daß hier keinerlei Magie, daß aber dunkle Dinge im Spiel waren, schien schon damals einigen Menschen bekannt; der Historiker, dem an der Darstellung von Pikanterien nichts, doch viel an sachlichen Folgen persönlicher Eigenheiten liegt, läßt die Erklärung für zwei Sätze offen, die in den Memoiren wie wunderliche schwarze Punkte zwischen bunten Bildern stehn: »Kein Reichskanzler, schreibt Eulenburg, hätte Holstein entbehren können. Auch Bülow konnte ihn nicht fallen lassen, das hatte allerdings seine besonderen Gründe; denn die Schlinge, die ihm Holstein um den Hals gelegt hatte, war mit dem besten Willen nicht zu entfernen« (E. 2,385). Daneben Waldersee: er »hätte geglaubt, Holstein würde von Bülow gleich beseitigt werden, aber es liegt vor allem so, daß Holstein seinen Halt beim Kaiser hat. Das Warum möchte ich dem Papier nicht anvertrauen« (W. 3,171). Auf den tausend Druckseiten seines ganz vertraulichen Tagebuches kommt eine ähnliche Wendung nicht vor, vielmehr sind vom Herausgeber viele Stellen durch Punkte ersetzt, so daß Waldersee auch hier sich hätte notieren können, was die Nachwelt doch nicht erführe.
Und doch hatte Holstein mit beiden Männern, die das nächste Jahrzehnt bestimmen sollten, keinerlei Intimitäten: den Kaiser sah er nie, Bülow lernte er erst mit gegen Sechzig näher kennen; man muß also auf ein Wissen von Dingen schließen, die Holstein in seiner Hehlerluft barg, um sie zu Erpressungen gouvernementaler Art zu benützen; denn um Geld hat es sich bei allen diesen sonderbar verknüpften Männern niemals gehandelt.
Jahrelang hatte Holstein Bülows Heraufkunft erschwert. Dem Kaiser war der neue Favorit durch den alten längst zugeführt worden, mit Entzücken hatte Bülow schon seit Jahren bei Besuchen des Kaisers Reize geschlürft; Holstein aber duldete nur kleine Leute über sich, ließ seinen Wagen bequem durch Marschall und Hohenlohe ziehen und erhielt nur um Eulenburgs willen, den er noch nicht entbehren konnte, eine lose Beziehung zu Bülow. Eulenburg aber, dessen weibliche Natur immer einen Mann zum Bewundern brauchte und im Kaiser doch bald nur noch ein Objekt mütterlichen Mitleids sah, hatte in Bülow den Mann seiner Wahl erkannt und war entschlossen, ihn zu der Macht zu führen, an die sich sein timides Wesen selbst nie gewagt hätte.
Schon als Männer von Anfang Dreißig hatten sie sich in Paris gefunden, und in der Tat ist diese Freundschaft produktiver als alle andern geworden. An den Kaiser fesselte Eulenburg zunächst die Macht, vielleicht auch das Mitgefühl des Freundes, an Holstein von Anfang an nur die kalte Erwägung, besser mit ihm zusammen als gegen ihn zu intrigieren; jener war ein Jahrzehnt jünger und ihm in allem unterlegen, dieser ein Jahrzehnt älter und als Politiker ihm weit voraus. Bülow entsprach seiner Anlage und Bildung, war aber im Unterschied zu andern Freunden der einzige Staatsmann, den er unter den ihm sympathischen Naturen traf und auch gleich erkannte; deshalb bestimmte Eulenburg, der alle seine Freunde in hohe Stellungen gebracht, nur diesen einen von Anfang an zum Kanzler. Ihm hat Bülow seine ganze Laufbahn, hat Deutschland die Folgen dieser Laufbahn zu verdanken, die trotz aller Fehler doch die einzige staatsmännische unter Wilhelm dem Zweiten geblieben ist.
In der Tat vereinigte Bülow fast alles in sich, was Holstein und Eulenburg nur zusammen und nur in widerstrebendem Gemisch besaßen: Holsteins Kenntnis der Sachen verband er mit Eulenburgs Erkenntnis der Menschen, Holsteins Arbeitskraft mit Eulenburgs Gewandtheit, und wenn er als Politiker wie Holstein Zusammenhänge zu berechnen verstand, so konnte er sie wie Eulenburg als Hofmann auch in Szene setzen. Er war der erste, der seit Bismarck bei politischem Talent die Verantwortung nicht scheute, der jene beiden zeitlebens ausgewichen sind. Da er naiver war als beide, optimistischer, auch menschenfreundlicher, war er vor Eulenburgs Liebesschwüle und vor Holsteins Koboldhaß in seinem Herzen sicher. Seine reichen Gaben, von denen keine typisch deutsch, die meisten die eines Romanen schienen, machten ihn inmitten preußischer Enge um so mehr zum wunderlich bunten Vogel, als auch seine Schwächen unpreußisch waren: ohne System und ohne Vorurteile, immer gewinnend, niemandes Feind, von einer Koketterie, die nie weiblich wirkte, vielmehr den Zynismus nur halb verbarg, glich er einer hochlackierten Kugel, die immer rollt, ohne anzustoßen, und in deren glänzender Oberfläche sich die Umwelt scharf, aber klein und etwas gebogen spiegelt.
Vor allem verstand er, den Mann zu gewinnen, von dem er abhing. Obwohl er vom Kaiser nicht viel besser als Holstein dachte, umbuhlte er ihn wie Eulenburg, war aber, frei von dessen wirklichen Gefühlen, imstande, ihm viel grotesker zu schmeicheln, und umhegte ihn allmählich mit einem kunstvollen Gitter lebender Blumenworte, durch das er, selbst ungesehen, hineinblinzeln konnte, um die Stimmung des Herrn von seinen Zügen abzulesen. Zwischen Holstein, dessen Zurückhaltung, und Eulenburg, dessen Schwärmerei dem Kaiser nicht immer imponierte, wuchs nun Bülow rasch empor, dessen geschickte Huldigungen er schlürfte, ohne ihre Schlauheit zu erkennen. War Eulenburg längst ein dienender Freund, so wurde Bülow ein befreundeter Diener, der keinen Anspruch auf Treue erheben, den man mit Macht bezahlen konnte, während jener Jugendfreund nichts wollte und deshalb zuweilen die peinliche Miene des Mentors aufsetzen durfte.
War es ein Wunder, daß der Findling seinen Pfleger überwuchs, daß der Kaiser an Bülows kalte Wärme sich rasch gewöhnte und Eulenburgs feuchte Hitze ein wenig vergaß? Hieraus entwickelten sich die ersten Katastrophen.
An Fähigkeit, sich anzupassen, war freilich Bülow dem Freunde gleich, aber er wußte, daß er spielte, Eulenburg dagegen hatte in seiner verschwommenen Art Natur und Kunst längst gefährlich vermischt; auch in ihren Briefen sind Bülows unechte Gefühle sichtlich unecht, Eulenburgs dagegen echt. Als sie nach einem Jahrzehnte der Freundschaft im Jahre 93 zum Du vorgeschritten waren, legt Bülow Festschmuck an:
»Sieh, äußerlich in manchem unähnlich, sind wir innerlich doch wahrhaft wahlverwandt. Nicht nur, weil wir so viele, schöne und schmerzliche gemeinsame Erinnerungen haben, sondern weil wir in der Tiefe unseres Wesens gleich denken und empfinden, nach außen im täglichen Leben uns ergänzen. Als schwesterliche entstiegen einst unsere Seelen dem rätselhaften Born alles Daseins, nur andere Hüllen und verschiedenfarbige Flügel wurden uns gegeben. Wenn dir die Himmlischen die Zaubergabe reichen und glänzenden Talentes schenkten, so kann ... ich dir aus der von mir nach und nach aufgespeicherten Vorratskammer manches Stück für den Bau reichen, den du, gegen deine eigentliche Neigung, aber zum Wohl unseres Kaisers und Landes in den politischen Kampf geworfen, mit leichter und doch sicherer Hand aufführst. Du bist vielleicht mehr germanisch-hellenisch, wie der Zweite Teil des Faust, ich mehr preußischrömisch; du mehr ritterlich, ich mehr militärisch ... Aber wenn dein Scheitel die Sterne berührt, so wurzeln deine Sohlen doch auf der wohlgerundeten Erde; wenn ich im Boden hafte, so reicht mein Blick doch zu den Wolken und Sternen ... Du mit deinem unendlich feinen Gefühl, ein schöner Edelfalke in einem von Füchsen, Borstentieren und Wildgänsen erfüllten Wald ... Wie herrlich war unser Sonnabendabend! Nie, so lange ich lebe, wird derselbe meinem Gedächtnis entschwinden. Vergangenheit und Gegenwart, Sichtbares und Unsichtbares verknüpften sich, um eine Stimmung hervorzurufen, die nur in weihevollen Augenblicken zu spüren ist ... Die ewige Macht, die dich leitet, erhalte dich, mein Philipp!«
Dieses Parfüm, in dessen Wolke Eulenburg ein Leben verbringt, ohne zu ersticken, wird von Bülow nur an Feiertagen gebraucht und verbreitet, er spricht diese Bayreuther Sprache fließend wie fünf andere europäische Idiome, er kann das seitenweise fortsetzen, ohne zu stocken, und trotz des Nocturno, das er ihm vorspielt, hat er den Freund um diese Zeit sicher von Herzen gern. In Wahrheit ist er ganz gesund, kann mit Agrariern kneipen, mit Sozialisten fechten, überall seine Psyche verbergen, die Eulenburg immer im Knopfloch trägt, und weiß von seiner Bildung so nützlichen Gebrauch zu machen, daß Fachleute aller Art skeptisch werden und an ein Lexikon glauben, wo große Belesenheit durch ein stupendes Gedächtnis im Fluß gehalten wird.
Während Bülow sich nun anschickt, an Eulenburgs Hand in das Flugzeug und dann mit dem Kaiser zu steigen, zieht unten Holstein am Seil und windet es mit aller Macht um die Felsen seiner Höhle. Jetzt hat er mit zwei Freunden zu kämpfen, die viel zu vorsichtig sind, ihn etwa zu entmachten. »Wüßte Holstein den Grad unseres Vertrauens, er würde die Flinte ins Korn werfen« (E. 2, 226), und sorgenvoll berichtet Philipp an Bernhard über Holsteins Haß gegen den Kaiser. Solche Sätze erwidert Bülow mit souveränem Geschick, er schreibt gleich immer für die Nachwelt mit und wird sich hüten, gefährliche Vertraulichkeit in die schriftliche Welt zu setzen: »Ich bewundere nicht nur die Intensität und Genialität von Holstein, er ist mir auch ans Herz gewachsen. So viele würden das nicht begreifen, du verstehst mich. Ich liebe diese tragische Natur. Ich würde mich nie von ihm abwenden, ich möchte ihm helfen. Eine große Schwierigkeit für uns liegt aber darin, daß Holstein außer Rand und Band gerät, wenn ihm sein System bedroht oder auch nur eingeengt erscheint ... Wie würde er nach oben und vielleicht selbst dir gegenüber vorgehen, wenn er nicht S.M. und dich als Bundesgenossen gegen seine und seiner Gruppe zahlreiche Feinde nötig zu haben glaubte? ... Wir müssen vor allem Holstein beruhigen.«
In so glatten Stil, der selbst aus dem verschlossenen Kuriersack jedem Spion in die Hände fallen dürfte, hüllt der behutsame Bülow in Briefen an den nächsten Freund seine Besorgnis vor Holsteins Hinterlist, der sie beide erst die Zähne ausbrechen müßten, ehe es losgehen kann. Während er persönlichen Verrat von Holstein fürchtet, der ihm weder tragisch noch liebenswert erscheint, entnimmt er Eulenburgs Wortschatz die Wendungen, die auf ihn wirken, und gewinnt mit dem Mittel der Vorsicht vor unberufenen Augen auch noch die Sympathie dieses Lesers, der ihn zugleich durch die Blumen seiner Rede versteht.
Eulenburg kämpfte indessen für ihn, wie die Prinzessin für ihren Erwählten, bei seinem König. »Wer sich Bernhards Wissen und Können auf politischem Gebiet verschließt – schrieb er schon 92 dem Kaiser, unter Beilage politischer Briefe Bülows –, der ist ein Neidhammel ... Ich bin froh, daß E. M. Blick für Talent haben und das wichtige Gesicht besagter Hammel im entscheidenden Augenblick auf seine inneren Motive zurückführen werden.« So brachte er den Freund zuerst aus der Enge von Bukarest in die römische Weite. Im Jahre 95: »Bernhard ist der wertvollste Beamte, den E. M. haben, der prädestinierte Reichskanzler der Zukunft«, worauf denn der Kaiser (E. 2, 225) Ende 95 als seinen unumstößlichen Beschluß kundtut:
»Bülow soll mein Bismarck werden!«
Aber noch hatte der Kaiser Holstein vergessen: ihn zu überwinden, gelang ihm auf eine Weise, von der er selbst nichts ahnte.
Als anfangs 97, ein Jahr nach dem Krüger-Telegramm, eine neue Gefahr an einem jener unerheblichsten Punkte der Erde heraufstieg, wo sich die Mächte Europas Vorwände für ihre Eifersüchte holten: als ein Aufstand auf Kreta gegen die Türken von den Griechen unterstützt wurde, erklärte der Kaiser, entgegen seinen Ministern, kurzerhand den fremden Diplomaten: Auf nach Kreta! Die Großmächte sollten den Piräus blockieren, um den Türken zu helfen. Hohenlohe machtlos, Holstein rasend, Marschall sucht den Lärm wenigstens im Lande zu sänftigen, indem er dem Reichstag Erklärungen über Kreta verspricht. Da drahtet der Kaiser, der sich desavouiert fühlt, von irgendwoher wütend: »Dies dürfte ohne Befehl Meinerseits ausgeschlossen sein. Der entscheidende Schritt zur Lösung dieser Frage ist von Mir persönlich direkt gegangen worden, und bin Ich daher der einzige, der dem Reichstag Erklärungen zu geben hat ... Nach Meiner Rückkehr nach Berlin wird der Reichstag nach dem Schloß befohlen und demselben durch Mir vorher zu unterbreitende Kaiserliche Botschaft die Haltung Meiner Regierung in der Kretafrage in toto verkündigt werden« (A. 12, 348).
Auf diese Cäsarenworte, glaubt man, werden Kanzler und Staatssekretär zurücktreten. Durchaus nicht. Man läßt nur Holstein an Eulenburg um Hilfe drahten: »Sie müssen diese betrübenden Vorgänge kennen – betrübend wegen des krankhaften Hauches, der das kaiserliche Telegramm durchweht. Die wenigen, die es kennen, haben alle denselben unheimlichen Eindruck davon« (E. 2, 216). Eulenburg versucht wie ein alter Arzt, der schon andere Tolle im Purpur frei herumlaufen sah, den Eindruck abzuschwächen: »Auch ich finde das bewußte Telegramm aufgeregt, aber ... die Aufregung ist nicht etwa eine psychologisch oder physiologisch beunruhigende«, das ganze sei nur Folge der nicht fertiggewordenen Erziehung des Kaisers. Wenige Tage darauf hält dieser die berühmte Rede, in der er seinen Hochseligen Herrn Großvater als Schöpfer des Reiches, die andern aber als seine Handlanger bezeichnet.
Damals verdunkelt sich die Lage des Reiches durch große Spannung mit Wien, wesentlich verschuldet durch Holsteins Haß gegen Goluchowski, durch Ablehnung der ersten größeren Flottenvorlage, Prozeß des Staatssekretärs Marschall gegen Verleumder, den ihm der Kaiser übelnimmt: alles geht durcheinander. Nur in einem gehen Amt und Kaiser völlig konform: sie halten und erklären sich gegenseitig für verrückt. »Die Anwesenheit des Herrn von Holstein, der ein genialer Narr ist, genügt weder mir noch sonst jemand, um eine Puppe zu decken«, sagt der Kaiser jetzt vertraulich (E. 2, 231). Was Holstein zugleich vom Kaiser denkt, schildert Eulenburg dem Freunde nach Rom: »Ich muß dir leider sagen, daß die Zustände zwischen S.M. und dem Amte an der Grenze des Möglichen angelangt sind: weil das Amt jetzt ganz unverhüllt S.M. für toll hält!!« (März 97).
Zugleich handelt Eulenburg vernünftig nach zwei Seiten: nach außen verteidigt er den Kaiser, privatim warnt er ihn: »Es kann passieren, daß durch E. M. persönliches Eingreifen das Funktionieren der Maschine gestört wird. Ich muß wiederholen, daß die Einheit zwischen E. M. und dem Amte eine zwingende Notwendigkeit ist.« Nach diesem Briefe spricht er den Kaiser und wird von ihm, Mai 97, als Unterhändler zum Waffenstillstand in die Wilhelmstraße gesandt.
Dort sitzen in Holsteins Zimmer abends spät die Verschworenen: Hohenlohe will gehen, wenn der Kaiser Marschall opfert; man spricht von des Kaisers Entmündigung. Als Eulenburg sich mit den Herren ausspricht, erscheint, »nach Wein riechend und lallend, Kiderlen von einem Saufgelage ... Holstein sagte, der Kaiser müsse sich blind unterwerfen und Lucanus entlassen. S.M. müsse als das Kind oder der Narr behandelt werden, der er sei ... Alexander Hohenlohe sekundierte, und Kiderlen spritzte Gift wie ein Stinktier aus der Drüse seines lallenden Mundes – ekelhaft! Der Kaiser hätte zu wählen zwischen völliger Unterwerfung und der belle sortie des Kanzlers ... Ich habe selten ein solches Gefühl tiefverletzter Treue und Liebe für den edlen, guten Herrn empfunden, der sich vor meinem geistigen Auge wie ein Siegfried erhob! Ich kämpfte mit furchtbarer Überwindung die Worte nieder, die einen Riß auf immer zwischen mir und dieser Drachenbrut herbeigeführt hätten« (E. 2, 233).
In solchen Augenblicken ist Eulenburgs Kaisertreue ganz glaubwürdig, und wenn man den Siegfried und die andern Superlative streicht, die er weder merkt noch meint, so behält er als Freund, wenn auch nicht als Politiker recht; zugleich sieht er Holstein aufs neue entfremdet, den Weg für Bülow wieder bedroht.
Da wird dieser auf groteske Weise erschlossen.
Marschall erbittet nämlich einen Orden für einen Geheimrat, der unter dem falschen Verdachte der Autorschaft jener Artikel im Kladderadatsch in Ungnade gefallen war. Im Augenblick, wo Holstein dies vernimmt, schlägt in seinem Hirn die Kette der Schlüsse zusammen: Marschall hat also damals doch jene Angriffe veranlaßt! Im Nu ist aus Marschalls Verteidiger sein Todfeind geworden. Hier also sitzen die Feinde! Da bleibt nichts übrig, als sich dem Freunde anzuschließen, dem er so sehr mißtraute! Sofort lädt er Eulenburg zu Borchardt ein, fragt schriftlich, welchen Wein er trinken wolle, denn diesmal wird es was Besondres geben.
Bei Tisch erzählt er Eulenburg – wie dieser sogleich an Bülow berichtet (E. 2, 236) – »in dem Ton zitternder Erregung seine Entdeckung ... Der ganze Haß richtete sich gegen Marschall, plötzlich und katastrophenartig. Darum brach eine zärtliche, fast leidenschaftliche Freundschaft für mich und für dich heraus. Aber er stand auch plötzlich in seiner Anschauung der Lage – Kaiser, Inneres, Amt – ganz auf unserer Seite. Die Wendung hat das Gute, daß, wenn dir der Kelch nicht erspart würde, berufen zu werden, du Holstein in einer total geänderten Verfassung vorfinden würdest und mit ihm arbeiten könntest ... Er ist der Ansicht, daß alles daran gesetzt werden müsse, dich mit Hohenlohe zusammen zu lassen und dich nach dessen Rücktritt zum Reichskanzler zu machen ... Du siehst, was jetzt auch kommen möge, Holstein wird nicht einen Finger rühren gegen dich und mich ... Ich stehe sehr unter dem Eindruck dieser überraschenden Wendung. Ich neige dazu, darin eine Fügung Gottes zu sehen, der dir für deine etwaige unvermeidliche Berufung freundlich die Wege ebnen will ... Ich drücke dir in sorgenvoller Teilnahme die Hand.«
Nachdem sich Gott so sichtbar zwischen einem Orden, einem Witzblatt, einem Chambertin und dem Verfolgungswahn eines Geheimrats hatte blicken lassen und der vom Alp erlöste Königsmacher über die Alpen seinem Freunde das Glück der endlich freien Bahn mit sorgenvollem Händedruck zum bittern Kelch umgefälscht hat, stellt sich das Ganze als Irrtum heraus: es ist gar nicht jener Feind gewesen, der dekoriert werden sollte, Holstein versöhnt sich mit Marschall, aber nun kann er nicht mehr zurück, zu groß ist auch des Kaisers Verstimmung: Marschall muß fort.
Bülow betritt die Szene.
Die Flitterwochen dauerten sehr lange. »Bernhard – Prachtkerl!!« schrieb der Kaiser in seiner kernigen Sprache Ende 97 (E. 2, 240). »Hat sich vorzüglich gemacht und adoriere ich ihn! ... Welche Freude mit jemandem zu tun zu haben, der einem mit Leib und Seele ergeben ist und einen auch verstehen will und kann!« Sommer 98: »Von dem Augenblick, da Bernhard kam, ist alles in Ordnung gekommen; er allein hat alles gemacht ... Die Wirtschaft der Geheimräte hat gründlich aufgehört. Wer spricht jetzt noch von Herrn von Holstein? ... Seit Bülow die Zügel in der Hand hat, kennt man gar nicht mehr die Namen seiner Räte.«
Interessanter ist die Gegenstimme. Bülow, August 97: »S.M. als Mensch reizend, rührend, hinreißend, zum Anbeten; als Regent durch Temperament, Mangel an Nuancierung und zuweilen auch an Augenmaß, Überwiegen des Willens über die ruhig nüchterne Überlegung ... von schwersten Gefahren bedroht, wenn er nicht von klugen und namentlich von ganz treuen und sicheren Dienern umgeben ist. Davon wird es abhängen, ob seine Regierung ein glänzendes oder ein düsteres Blatt in unserer Geschichte ausfüllt. Bei seiner Individualität ist beides möglich.«
So rasch erkennt Bülows Verstand sofort die Wichtigkeit des Einflusses bei diesem sprunghaften Fürsten. Nachdem sie nun aber mit »Prachtkerl« und »schwergefährdet« ihre Stellungen bezogen haben, kehrt Bülow sofort wieder in seine vorsichtigen Berechnungen zurück und schreibt dem Freunde nur noch Briefe, die er im Schlosse vorlegen kann. Anfang 98: »Ich hänge mein Herz immer mehr an den Kaiser. Er ist so bedeutend!! Er ist mit dem Großen König und dem Großen Kurfürsten weitaus der bedeutendste Hohenzoller, der je gelebt hat. Er verbindet in einer Weise, wie ich es nie gesehen habe, echteste und ursprünglichste Genialität mit dem klarsten bon sens. Er besitzt eine Phantasie, die sich mit Adlerschwingen über alle Kleinigkeiten emporhebt, und dabei den nüchternsten Blick für das Mögliche und Erreichbare und – dabei welche Tatkraft! Welches Gedächtnis! Welche Schnelligkeit und Sicherheit der Auffassung!«
Der Mann hat den Verstand verloren, könnte man glauben; man braucht aber nur seinen Stil zu kennen, um den großartigen Zynismus zu durchschauen, mit dem Bülow solche Tiraden wieder auf Wunsch seitenweise niederzuschreiben weiß, mit der offenbaren Absicht, daß der Freund sie dem Kaiser vorlege. Mit nichts kann Bülow seine frühe Geringschätzung der kaiserlichen Gaben besser beweisen als mit der Berechnung, daß Wilhelms Eitelkeit bis in so plumpe Vergleiche hinein ihm folgen wird. Andere Köpfe, von diesem Treiben entfernter lebend, begreifen es nicht, Ballin sagt: »Das kann unmöglich lange dauern, der Kaiser ist ein viel zu kluger Herr, um nicht zu durchschauen, daß Bülow ihm beharrlich Schmeicheleien sagt.« Waldersee aber, der ihn länger kennt, bemerkt dazu: »Ich bin anderer Ansicht: es ist dem Kaiser bisher noch nie zu viel geworden« (W. 3, 176).
Diese Technik verteidigt Bülow bald offen: »Ich habe doch den Kaiser nicht gleich anfangs durch Widerstand verstimmen, sondern mir erst meine Stellung schaffen wollen.« Das aber war die Frage: ein Widerstand in den ersten acht Tagen hätte den Kaiser wohl verstimmt, vielleicht aber gefügiger gemacht. Bülow, der überhaupt nie nein sagte, kann das seinem Souverän erst recht nicht bieten; doch macht er nachher, im Vertrauen auf die Flüchtigkeit seines Herrn, oft was er will, und vergißt überhaupt nur selten, was man aus einem nervösen Autokraten alles herausholen kann. Plötzlich freilich traf ihn dann zuweilen »ein durchdringender Blick, und bald oder sofort erfolgte eine scharfe Unterbrechung, in der S.M. brüsk, keinen Zweifel und Widerspruch duldende Ansichten aussprach. So wie dieser Blick sichtbar und dieser Ton hörbar wurde, begann der Vielgewandte devot zu schweigen, um sich dann später unauffällig wieder in das Gespräch einzufädeln« (Z. 37). Zedlitz, der Bülows Verkehr bei Hofe jahrelang sehr fein beobachtet hat, bedauert ein andres Mal, daß auch er dem Kaiser stets nur Angenehmes sagte: »Wenn er nur einmal im geringsten sich reserviert zeigte oder gar durchfühlen ließe, daß er doch eigentlich von seiner Stellung unabhängig wäre, so könnte er Großes erreichen, denn er ist als Persönlichkeit für den Kaiser ganz unersetzlich. Leider liegt dies nicht in seiner Natur.«
So wirkt er bald mehr ausgleichend und verhindernd als produktiv. Die Akten sind von Beispielen voll. Entrevue mit dem Zaren an Bord der »Hohenzollern«. Kaiser: »Ich bitte dich, von jetzt ab den Namen Admiral des Pacific zu tragen. Ich selber werde mich Admiral des Atlantic nennen.« Nikolaus, entsetzt oder verlegen, winkt ab. Bülow, der dabei sitzt, wird kalt und heiß: Was tun? Sogleich muß etwas geschehen! Nach ein paar Sekunden hat er sich gesammelt, er lächelt: »Dieser Name würde zu E. M. besonders passen, da E. M. ein erklärter Freund des Friedens sind: darum Pacific!« Der Kaiser kommt wiederholt darauf zurück und läßt bei Abfahrt signalisieren: »Der Admiral des Atlantic grüßt den Admiral des Pacific.« Nikolaus antwortet nur: »Gute Fahrt!« Darauf beschwört Bülow den Kapitän, allen Offizieren und Mannschaften Stillschweigen über diesen Flaggengruß zu befehlen. Aber die Russen plaudern alles aus.
Vor allem bringt Bülow nach siebenjährigem Chaos dem Amt und der Politik des Auswärtigen so viel Ruhe zurück, als der Kaiser zuläßt. »Keine Bombendepeschen mehr, schreibt ihm Eulenburg befriedigt, keine wilden Briefe Holsteins ... Es beherrscht mich das Gefühl, daß ich das Schiff der Regierung des Kaisers nach fürchterlichen Stürmen endlich in einen doch leidlich sicheren Hafen gesteuert habe ... Frage ich mich ehrlich, ob das Fahrzeug ohne mich den Hafen nach 9 Jahren erreicht hätte, so muß ich mit Nein antworten.« Zu all dem ist Eulenburg berechtigt, noch mehr zu der Unruhe, die ihn trotzdem über das Schicksal seines kaiserlichen Freundes nicht verläßt: »Es ist mir stets ein unheimliches Gefühl, schreibt er Anfang 99 an Bülow, wenn ich daran denke, daß unser lieber guter Herr mit dir seine letzte Karte in die Hand nahm. Ein andrer kann – oder vielmehr wird auch ihm nicht mehr die Arbeit tun, wie du sie tust ... die Liebe eines treuen Dieners, die bei dir die Form der Liebe eines Vaters zu einem schwierigen Kinde angenommen hat.«
In der Tat ist in den ersten Amtsjahren Bülows seine Intimität mit Eulenburg noch groß, dieser schickt ihm tagebuchartige Briefe von einer Kaiserreise, Bülow erwidert: »Ich sage, schreibe, tue politisch nichts, ohne dabei an Dich zu denken.« Von Holstein aber trennt sich Bülow noch lange nicht: diesen Wunsch Eulenburgs weiß er zu überwinden, er gibt dem Amt das Air, es wäre niemand Herr als er allein. »Jetzt ist die Signatur der Hauptgruppe«, schrieb er dem Freunde gleich beim Eintritt, »böses Gewissen und große Angst. Holstein ist elegisch (»Seit zwanzig Jahren fühle ich wie ein Vater für Sie«), Kiderlen wie ein Ohrwurm ... natürlich hat die Gruppe noch nicht die Hoffnung aufgegeben ... ihr Zukunfts-Ideal: Hatzfeldt Reichskanzler, Kiderlen Staatssekretär, im Hintergrunde stünde die Entmündigung S.M.« (E. 2, 240).
Eulenburg weiß es besser, aber er schweigt. Er weiß, warum Bülow sich von Holstein nicht trennen kann, und während der Kaiser siegerhaft fragt: Wer spricht noch von Herrn von Holstein? sprechen die Eingeweihten alle von ihm, außer Bülow, der immer mit ihm spricht.
Dreimal versuchten in den nächsten Jahren die Engländer, zu einem Bündnis mit Deutschland zu kommen, dreimal lag die Entscheidung in der Hand des Kaisers, der die auswärtigen Geschäfte genau so bestimmte wie vorher Bismarck; kein Entschluß wurde ohne seine Zustimmung gefaßt, und diese war niemals rein formal.
Den ersten Schritt tat Chamberlain. »Es ist der Versuch, die Erde im ganzen politisch zu organisieren. Es ist der hinreißende Plan eines englischen Kaufmanns, dessen nüchterne Phantasie den Globus umspannt ... Bis dahin ... blieb Europa die höchste Einheit, um die politischer Ehrgeiz und Kunst sich bemühten ... Ging Großbritannien ... mit Deutschland zusammen, dann konnte Amerika sich anschließen, und die weltpolitische Gruppe, gegen die sich keine Kraft gleicher Gegner mehr aufstellen ließ, war gebildet ... Der Plan war ausführbar« (Fischer, Holsteins Großes Nein).
Zwei Jahre nach der Krüger-Depesche, März 98 tat Chamberlain den ersten Schritt beim deutschen Botschafter Hatzfeldt (A. 14, 197).
Die Isolierung ist vorüber, sagte er, England wird in nächster Zeit weitgehende Entschlüsse fassen und neigt zu Deutschland. »Dies würde dem Beitritt Englands zum Dreibund gleichkommen und durch einen Vertrag, für welchen wir unsere Bedingungen zu formulieren hätten, festzustellen sein.« Man solle sich rasch entscheiden.
Was hier geschah, war Bismarcks Traum gewesen: England, durch äußere Verwicklungen gedrängt, sollte einmal genötigt sein, die deutsche Hand zu suchen. Wahrhaft prophetisch klingen heut Bismarcks Worte aus jener Instruktion an Hatzfeldt vom Januar 88:
»Es handelt sich dabei nicht um ein Stärkersein im Falle des Krieges, sondern um ein Verhindern des Krieges. Weder Frankreich noch Rußland werden den Frieden brechen, wenn sie amtlich wissen, daß sie, wenn sie es tun, auch England sicher und sofort zum Gegner haben ... Wenn nun festgestellt wird, daß England gegen einen französischen Einfall durch ein deutsches und Deutschland gegen einen französischen Einfall durch ein englisches Bündnis gedeckt sein werden, so halte ich den europäischen Frieden für gesichert, für die Zeit der Dauer eines solchen ... Bündnisses. Ich glaube, daß die Wirkung ... in ganz Europa eine Erleichterung und Beruhigung sein würde ... Es ist meines Erachtens nicht nützlich für England, die Politik der Enthaltung so weit zu treiben, daß alle kontinentalen Mächte, namentlich Deutschland, sich darauf einrichten müssen, ihre Zukunft ohne Rechnung auf England sicherzustellen.«
Zu dieser letzten und stärksten Garantie des Friedens zu gelangen, fehlte Bismarcks Absicht und Autorität nur eine englische Nötigung; noch ein paar Jahre im Amte, und er hätte England gewonnen. Nun fiel denen, die seine Meisterschaft dem Reich zu rauben gewagt hatten, drei Monate vor Bismarcks Tode der reife Apfel zu. Sie lehnten ihn ab.
Denn Holstein war dagegen. Bismarck hatte die Verewigung des russisch-englischen Gegensatzes für Unsinn erklärt: darum erklärte Holstein den Zusammenstoß zwischen beiden für »naturgesetzlich«, darum auch eine franco-englische Alliance für unmöglich, darum wollte er uns »die Rolle des Schiedsrichters« vorbehalten. Und nun sollten wir den Engländern »die afrikanischen Kastanien aus dem Feuer holen?« Niemals! Das ist englische Teufelei, »Schwindel und Bluff«, man will uns von Rußland trennen! So übertrug er auch hier sein Mißtrauen auf andere, um vor sich selbst seine politischen Grundlagen zu rechtfertigen.
Bülow hätte diese Argumente Holsteins dem Kaiser nicht vorgelegt, wenn er nicht seine englische Nervosität kannte, und wirklich, der Kaiser war glücklich: Jetzt kommen sie, die Hochmütigen! Nur ja nicht zugreifen! Warten lassen! Er schrieb: »Der Antrag geht aus der Besorgnis vor den Folgen unseres Flottengesetzes hervor. Im Anfang des nächsten Jahrhunderts würden wir über eine Panzerflotte verfügen, die, im Verein mit andern, England wirklich Gefahr bringen kann. Daher die Absicht, uns entweder zum Bündnis zu zwingen, oder, wie seinerzeit Holland, zu vernichten, ehe wir stark genug geworden sind. Wäre England bona fide, dann wäre die Vereinigung für die Zukunft ausgezeichnet und unser kolossaler Handel gesichert.«
Die Ablehnung, in die Form des Hinhaltens gekleidet, beruhte also im Mißtrauen des Kaisers gegen die Ehrlichkeit der englischen Absichten: in dem Motiv der Seele, das üble Jugend- und ärgerliche Mannes-Erfahrungen bei seinen Verwandten in ihm erzeugt hatten. Das zweite Motiv war der Wunsch nach der Flotte, diesem Werkzeug und Symbol der Eifersucht, das er nur bei Reibung mit England, niemals im Bündnis mit ihm vom Reichstage durchsetzen konnte. Mit der Begründung, wir brauchten dazu beide Parteien des englischen Parlaments und wären ihrer heut noch weniger sicher als vor zehn Jahren, vertagte Bülow die Verhandlung, und als London die gewünschte Vorlage im Parlament anbot, lehnte er unter dem Vorwand ab, Rußland dadurch zu erschrecken.
Inzwischen griff der Kaiser zur Feder, um, Mai 98, ohne jede Vorfühlung plötzlich vom Zaren Vorteile dafür zu erlangen, daß er selbst anti-englisch gesinnt sei. Indem er an das Vermächtnis der Väter anknüpft, vertraut er ihm, England wäre zweimal um ein Bündnis an ihn herangetreten, kühl abgewiesen worden, habe trotzdem mit kurzen Terminen und enormen Vorteilen für Deutschland den Antrag wiederholt: »Bevor ich die Antwort gebe, möchte ich Dich als meinen geschätzten Freund und Vetter benachrichtigen, da ich fühle, daß es sozusagen eine Frage auf Leben und Tod ist ... Jetzt bitte ich Dich, ... mir zu sagen, was Du mir bieten kannst und willst, wenn ich ausschlage, bevor ich ... meine Antwort erteile. Klar und offen und ohne Hintergedanken müßten Deine Vorschläge sein, so daß ich sie in meinem Herzen und vor Gott erwägen kann, wie ich muß, da es sich um das Gut des Friedens für mein Vaterland und die Welt handelt ... Mit diesem Brief, liebster Nikolaus, lege ich meinen ganzen Glauben in Dein Stillschweigen, jedem gegenüber ... Es geht um die nächste Generation!«
Die Feierlichkeit dieses dummschlauen Briefes zeigt sich am besten in dem Anruf »Nikolaus«, den er sonst in sämtlichen Briefen Nicky nannte; auch wurde der Brief, der in maßlosen Übertreibungen von ungeheuern Angeboten spricht und eine Entscheidung hinauszuzögern vorgibt, die schon gefallen war, 11 Jahre später vom Kaiser aus den Akten des Amtes zurückverlangt (A. 14, 250). Ebenso schlau, nur weniger feierlich ist der Korb, der nach wenigen Tagen aus Petersburg eintrifft: hierin wird der Empfänger – einfach Willy – mit der Mitteilung überboten, England habe kurz vorher noch nie dagewesene Anerbietungen an Rußland gemacht, um in verschleierter Form die Freundschaft mit Deutschland zu stören; darum könne Nicky weder raten noch antworten.
Der Gedanke verließ den Kaiser nicht mehr. Zwischen der Begierde, die Hand auszuschlagen, um selber eine Flotte zu bauen, und der Ungewißheit, ob dies gewaltige Bündnis nicht auf immer verloren wäre, steigerte sich der Gewissenskonflikt des Schwachen, der stark erscheinen wollte, zu Ausfällen und Prahlereien gegen England, an dem er sich irgendwie rächen möchte; böse Worte zum englischen Botschafter über Salisbury wurden nach London gemeldet. Als dann die Großmutter des Kaisers Besuch zum 80. Geburtstag ablehnt, sammelt er seine ganze Gekränktheit in einem langen Schreiben an diese: »Dein Minister hat uns behandelt wie Portugal, Chile oder Patagonien ... und all das nur wegen einer dummen Insel (Samoa), die England nicht mehr als eine Haarnadel wert sein kann, verglichen mit den tausenden von Quadratmeilen, die es rechts und links jedes Jahr ohne Einsprüche annektiert« (Mai 99).
Die Königin hatte in diesen zehn Jahren oft gegen ihren Sohn für den kaiserlichen Enkel Partei genommen, so wollte es ihr stark dynastisches Gefühl. Jetzt hatte auch sie genug, sie erwiderte: »Lieber Wilhelm ... Dein Brief hat mich offen gesagt sehr erstaunt. Den Ton, in dem Du über Lord Salisbury schreibst, kann ich nur einer vorübergehenden Nervosität zuschreiben ... Ich zweifle, ob jemals ein Monarch in solchem Ton an einen andern Monarchen geschrieben hat, und nun gar an seine leibliche Großmutter über ihren Premier! Ich würde dergleichen niemals tun, habe auch nie den Fürsten Bismarck angegriffen, obwohl ich weiß, was für ein bitterer Feind Englands er war ... Deinen Besuch in Osborne, nicht in Cowes, halte ich für einen Besuch zu meinem Geburtstage, da ich Dich an diesem Tage nicht empfangen konnte ... Deine Dich liebende Großmama V. R. I.« (A. 14, 620).
Außer im letzten Adjektivum hatte sie ihm lauter Wahrheiten gesagt. Er aber war froh, nach vier Jahren England wieder besuchen zu dürfen, denn seit der Krüger-Depesche hatte sich die englische Presse gegen die Besuche des Kaisers drohend gewehrt, was wiederum die deutsche Presse aufregte. Um so mutiger war Chamberlain, in Deutschland der bestgehaßte Mann, mit seinem Vorschlag vorgetreten. Nun meldete der Kaiser seinen »Meteor« zur Regatta an wie früher, siegte abwesend, Eduard hielt auf ihn am Abend die offizielle Rede. Am nächsten Morgen war im Haus des Königlichen Klubs eine Depesche des Kaisers angeschlagen, voller Beschimpfungen: »Your handicaps are simply appalling!«
Sofort schlug die Stimmung um. »Es ist wirklich zum Verzweifeln, sagte Eduard zu Eckardstein. Da gebe ich mir die größte Mühe, den Kaiser nach allen Zwischenfällen der letzten Jahre zu rehabilitieren, – und da fängt er gleich wieder an, uns mit Schmutz zu bewerfen ... Sie wissen, wie solche Vorwürfe wirken müssen, da unsere Leute im Sport so empfindlich und auf ihr fair dealing stolz sind!« (Eck. 2, 29). Als dann die Hofmarschälle den Besuch vorbereiteten, wünschte Eduard, in des Kaisers Gefolge den Admiral von Senden nicht zu sehen, der ihn ein Jahr vorher beleidigt hatte. »Ich nehme mit, wen ich will!« sagte der Kaiser und setzte es durch.
In diesen Verstimmungen empfing man im Herbst zum erstenmal nach Jahren den Kaiser, mit Kaiserin und Bülow.
Man schrieb November 99, die Erregung war in beiden Ländern noch zu frisch, man wagte amtlich nicht vom Politischen zu reden, meldete nur den Kuß der Monarchen auf beide Wangen und daß der Kaiser 178 Fasanen, 328 Kaninchen und 1 Rebhuhn geschossen habe; selbst dieses Unikum von Rebhuhn schien zwischen den Rekordzahlen der Hof Jagden irgendein Englandfresser zur Darstellung dieses armen Landes vor die deutschen Leser ausgebreitet zu haben. Vom Burenkriege gedrängt, suchte England einen Freund, Chamberlain und die Seinen hielten an Deutschland fest und suchten ein zweites Mal sich ihm zu nähern, bevor sie sich an die Gegenseite wandten. In zwei langen Unterredungen legte er und setzten andere Mitglieder des Kabinetts dem Kaiser, in andern Gesprächen dem Kanzler die Lage dar, bis Bülow ihm den Wunsch ausdrückte, öffentlich über die gemeinsamen Interessen zu sprechen, »Daraufhin«, schreibt Chamberlain, »meine gestrige Rede, die Bülow hoffentlich befriedigen wird.«
Einen Tag nach Abfahrt des Kaisers hatte nämlich der Engländer in Leicester öffentlich über den neuen Plan gesprochen: »Jener weitblickende Staatsmann (Disraeli) hat längst gewünscht, daß wir nicht dauernd auf dem Kontinent isoliert bleiben sollten, und ich denke, die natürlichste Allianz ist die zwischen uns und dem Deutschen Reiche ... Die Einigung, das Bündnis, wenn Sie wollen: die Verständigung zwischen diesen beiden großen Nationen wäre in der Tat eine Sicherung des Weltfriedens ... So würde ein neuer Dreibund zwischen der teutonischen Rasse und den beiden großen Zweigen der angelsächsischen eine noch bedeutungsvollere Macht für die Zukunft der Welt darstellen.«
Wütend scholl das Echo: der Bluthund von Transvaal will uns verführen, den Dreibund sprengen, in Paris mit der deutschen Freundschaft großtun: alles Motive von Holstein, der die Presse speiste. Obwohl er von Hatzfeldt und andern Kennern Englands gewarnt war, heißt es in Holsteins Gutachten: »Ich bin gegen den jetzigen Freundschaftssturm ... deshalb besonders mißtrauisch, weil die angedrohte Verständigung mit Rußland und Frankreich vollständiger englischer Schwindel ist ... Ein vernünftiges Abkommen mit England läßt sich meines Erachtens erst dann erreichen, wenn das Gefühl der Zwangslage dort allgemeiner geworden ist.«
Bülow wußte es besser. »Die Stimmung in England«, schrieb er nach seiner Rückkehr, »ist viel weniger antideutsch, als die Stimmung in Deutschland antienglisch ist.« Auch die Hofgesellschaft habe der großartige Gedanke eines Weltbundes der drei Reiche ergriffen, denn jetzt, zugleich in Ägypten, Transvaal und China kämpfend, brauchte England einen starken Genossen. Dennoch war Bülow von Holstein so abhängig wie von der öffentlichen Meinung, die dieser großenteils gemacht hatte: er wagte nicht, wie eben Chamberlain oder wie Bismarck in den Sechziger Jahren getan, die Nation zu neuen, ihr noch fremden Gruppierungen zu erziehen, und erwiderte auf die von ihm selbst gewünschte Rede des Engländers abweisend im Reichstag, mit Verbeugung vor Frankreich und Rußland: »Wir treiben lediglich deutsche Politik. Ob und wann, wie und wo wir genötigt sein könnten, zur Wahrung unserer Weltstellung ... aus unserer bisherigen Reserve herauszutreten, das hängt vom Gang der Ereignisse ab ..., den keine einzelne Macht vorzeichnen kann.« Diesen Gang vorzuzeichnen war aber grade jetzt des Staatsmanns Aufgabe, die »Weichenstellung«, von der man in Europa überall sprach, mußte von beherzter Hand auch in Deutschland gewagt werden! Was konnte es da nutzen, wenn Bülow dem Engländer nachher sagen ließ, seine Rede sei nicht so gemeint wie gesprochen, er hätte dabei an den deutschen Sturm und an das Flottengesetz denken müssen.
»Ich will mich nicht«, schrieb Chamberlain privatim, »über die Behandlung äußern, die mir Bülow hat widerfahren lassen. Jedenfalls muß ich alle weitern Verhandlungen in der Bündnisfrage fallen lassen ... Es tut mir wirklich sehr leid, aber auch ich selber tue mir leid. Alles lief gut, auch Lord Salisbury war wieder ganz freundlich gestimmt und mit uns einig. Aber, hélas! es sollte nun einmal nicht sein« (Eck. 2, 125).
Zweimal ablaufen lassen: das war des Kaisers Rache! Doch schon suchte er nach neuer Befriedigung seines Machtwillens und benutzte dies Umworbensein und die schwierige Lage Englands zur Verhetzung der Russen gegen die Engländer. Neujahr 1900 drückte er dem russischen Botschafter Bewunderung über die Probe-Mobilmachung an der afghanischen Grenze aus. »Der Kaiser sah darin die Bestätigung seiner eigenen Meinung, daß nur Rußland Englands Macht niederschlagen könnte. Dies Thema führte ihn dazu, mit Wärme zu erklären, daß, wenn je unser erhabener Herr sich entschlösse, seine Armee gegen Indien zu führen, er selbst, der Kaiser, ihm garantieren würde, daß sich in Europa nichts regen sollte: er stände Wache an unserer Grenze.« Auf diese Mitteilung hin, zu deren Weitergabe sich der Botschafter vom Kaiser noch ausdrücklich autorisieren läßt, fragt man von Petersburg aus in Paris und andern Hauptstädten an, ob man nicht London zur Beendigung des Krieges auffordern, also einen kontinentalen Druck selbst auf Gefahr eines Weltkrieges ausüben sollte.
Als dann aber, Anfang März, der Botschafter in dieser Sache zum Kaiser kommt, zieht sich Wilhelm mit dem Bemerken zurück, er müsse erst in London anfragen. Denn inzwischen hat er zugleich Rußland an England verraten, in mehreren Februar-Briefen Eduard gewarnt: »Wir brauchen ein starkes und ungebrochenes England, denn das ist für den Frieden Europas unentbehrlich. Seid auf Eurer Hut!« (Lee, König Eduard, 763 f). Zugleich kondolierte er in zahlreichen Depeschen mit strammen Übertreibungen zu den englischen Verlusten, schrieb in unverhohlen beglückter Stimmung über die »Schwarze Woche«, und »eure Verluste, wie sie nun nach und nach herauskommen, sind ja ganz erschreckend und finden hier große Teilnahme« (Lee, 754). Von Aphorismen, die er einem dieser Briefe beifügte, sollte die Welt erst spät, doch immer noch zu früh erfahren.
Noch immer war das Bündnis nicht begraben, in London arbeiteten drei Deutsche daran, und obwohl der kluge, doch alt und leidend gewordene Graf Hatzfeldt auf Holsteins und des Kaisers Nerven in seinen Berichten Rücksicht nahm, betonte er sowie der kühne Freiherr von Eckardstein, der sich in der Gesellschaft freier bewegte, mit Chamberlain und dem König gut stand, in ihren Berichten die Größe des Augenblicks. Damals übernahm Graf Wolff-Metternich die Geschäfte, die er, nach Hatzfeldts Tode zehn Jahre Botschafter, erst auf ein Bündnis bin, später für freundschaftliche Beziehungen in immer erneuten, zum Teil historisch bedeutenden Berichten solange gegen die Flotten-Politik der Berliner Zentrale fortführte, bis der Kaiser auch diese warnende Stimme erstickte.
Der Tod der Queen Victoria, Januar 01, führte zur Versöhnung der englischen Stimmung mit dem Kaiser: daß er zur Zeit kam, um sie noch am Leben zu treffen, dann längere Zeit blieb, Bestattung und Thronwechsel mitmachte, wirkte auf die Sentimentalen in England, d. h. auf die ganze Nation: »Thank you, Kaiser«, sagte auf der Straße eine Stimme, als er stumm von der Menge empfangen wurde. Die Sterbende erkannte ihn nicht mehr, in großartiger Ironie der Todesstunde nannte sie ihn Friedrich, sie nahm ihn für seinen Vater. Die Unterhaltungen zwischen Neffen und Onkel wurden im Eindruck familiärer Gefühle freundlicher, nach Jahren sprach man sich zum erstenmal vertrauter aus. Der Kaiser, z.Z. antirussisch gesinnt, schien empfänglicher als früher, und zum drittenmal im Laufe dreier Jahre setzte Chamberlain seine Wünsche auseinander: »Die Zeit der Splendid Isolation, sagte er damals in voller Offenheit, ist für England vorüber. Wir wollen sämtliche Fragen in der Weltpolitik, besonders Marokko und Ostasien mit einer oder mit der andern der großen Völkergruppen lösen. Allerdings gibt es im Kabinett schon Stimmen, die Anschluß an den Zweibund wünschen; wir andern sind für die deutsche Seite« (Eck. 2, 236).
Doch kaum war der Kaiser wieder zu Hause, da schlug seine Stimmung um, die Flottenfreunde lagen ihm im Ohr, zum drittenmal befahl er kühle Behandlung der Frage und ergriff selbst den nächsten Anlaß, dem neuen König, seinem Onkel, im April kritische Lehren zu geben, wobei er seine Minister »unmitigated noodles«, grenzenlose Idioten, nannte. »Was würde Ihr Kaiser dazu sagen, sagte der König zu Eckardstein, dem er den Brief vorlas, wenn ich mir ähnliche Titel für seine Minister erlaubte! Seit Jahren und noch heute glaube ich, wir sind die natürlichen Bundesgenossen: zusammen könnten wir die Weltpolizei üben und den Frieden dauernd erhalten. Gewiß braucht Deutschland Kolonien und Ausdehnung seiner Wirtschaft, beides kann es haben ... Die fortwährenden Bocksprünge des Kaisers kann aber niemand mitmachen! So ist eben auch in einigen von meinen Ministern das Mißtrauen gegen ihn und Bülow entstanden. Ich habe immer versucht, es zu zerstreuen. Schließlich hat alles ein Ende« (Eck. 2, 298).
Kurz darauf schrieb ein Vorkämpfer des Bündnisses, Lord Alfred Rothschild: »Auf die schönen nichtssagenden Phrasen Bülows fällt hier kein Mensch mehr herein ... außerdem scheint Ihre Regierung auch heute noch nicht zu wissen, was sie will ... Chamberlain, der bei mir aß, hat ganz den Mut verloren, er will mit Berlin nichts mehr zu tun haben. Wenn die so kurzsichtig sind, sagte er, und nicht sehen, daß eine neue Weltkonstellation davon abhängt, so ist ihnen nicht zu helfen« (Juni 02). So kam es, daß derselbe Chamberlain, der alle Reibungen verachtet hatte, Angriffe der deutschen Presse gegen die faktische Grausamkeit seiner Soldaten in Transvaal eines Tages abwehrte und in einer Rede das Verhalten seiner Truppen mit dem anderer europäischer Soldaten verglich, unter anderem mit den deutschen im Jahre 70. Neuer Sturm in Deutschland. Bülow, obwohl von Londoner Kennern gewarnt, kann der Versuchung nicht widerstehen, sich aufs neue von der Stimmung der Nation tragen zu lassen, statt ihre Verstimmung zu ertragen, und erwidert im Reichstag mit einer Abweisung jeder Kritik des deutschen Soldaten: »Wer das tut, der beißt auf Granit!«
Der mächtige Applaus, den ihm diese Rede brachte, wurde mit endgültigem Abbruch der Verhandlungen quittiert. Chamberlain beklagte sich: »Schon einmal hat mich Bülow blamiert, vor zwei Jahren; jetzt habe ich genug. Von einem Zusammengehn kann keine Rede mehr sein.« Drei Monate darauf, Februar 02, begann er Verhandlung mit Cambon, die zwei Jahre später zur Entente Cordiale führte.
»In Berlin fürchten jetzt weitere Kreise ..., daß wir eines Tages zwischen sämtlichen Stühlen sitzen könnten. Leider hat der Kaiser ja mit allen Staaten anzubandeln versucht, was sie natürlich sämtlich wissen. Auch ist er in seinen Äußerungen gar zu unvorsichtig, er sagt, wenn er mit England gut zu stehen meint, unglaubliche Sachen über Rußland, und umgekehrt; seine Aussprüche teilt man sich dann gegenseitig mit ... Von seiner Unfehlbarkeit und Überlegenheit ist er überzeugt; wenn etwas nicht gut geht, so haben immer andere schuld. Leider wird er keineswegs gewissenhafter und arbeitsamer, im Gegenteil« (W. 2, 368).
Diesen politischen Befürchtungen vom Jahre 96 läßt Waldersee ein Jahr später, bei Bülows Eintritt, militärische folgen: »Man läßt sich durch die vielen Kraftausbrüche täuschen ... Unsere Gegner glauben noch immer, daß wir einmal über sie herfallen könnten, und ahnen augenscheinlich noch nicht, daß wir völlig unter dem Drucke stehn, eines Tages von ihnen überfallen werden zu können. Schutz unserer langen Ostgrenze durch Befestigungen zu erwirken, ist einer der unglücklichsten Gedanken ... Hier hilft allein Offensive, und daß wir diese aufgegeben haben, ist tiefbetrübend. Was würde der verewigte Feldmarschall sagen, wenn er das hörte! ... Leider spielen ganz bedenkliche Motive mit: die an Panzertürmen, Lafetten, Platten usw. gewaltige Summen verdienende Großindustrie benützt die Neigung des Kaisers, um Geschäfte zu machen. Der Kaiser fand keinen Widerstand, als er das Ostheer zugunsten des Westheeres schwächte« (W. 2, 401).
Tatsächlich hat der Kaiser an einen Konflikt mit Rußland am wenigsten geglaubt. Seit Nikolaus Zar geworden, lief er ihm nach, redete sich um Rußlands willen in einen Haß gegen die Gelbe Rasse, schickte dem Zaren im Jahre 95 sein Bild: »Völker Europas, wahret Eure heiligsten Güter!«, empfing aber zugleich den sehr gelben Li-Hung-Tschang mit hohen Ehren und erklärte ihm: China und Deutschland sind natürliche Verbündete. Auf jenem Bilde war der milde Buddha in einen über Blut und Feuer thronenden Götzen verwandelt, Rußland und Deutschland stehn als Schildwachen, um das Evangelium der Wahrheit im fernen Osten zu proklamieren. »Ich zeichnete diese Skizze in der Weihnachtswoche unter dem Glanz der Lichter des Christbaumes«, schrieb er dem Zaren im Eulenburgischen Stile, nachdem er einem Hofmaler das Schokoladenblatt befohlen hatte. Indessen klagen die deutschen Vertreter in Tokio, durch solche, den Erdkreis rasch durchlaufende Bilder würde die Freundschaft Japans erschüttert. Auch fragt man überall, wie denn diese christliche Wache mit der Freundschaft des Sultans und der 300 Millionen Mohammedaner stimmte, die der Kaiser in Damaskus als seine Freunde bezeichnet hatte, während er am Grabe Saladins eine Wunderlampe aufhängte.
Als man Japan nach einem Sieg über die Chinesen Einhalt gebieten wollte, stellte sich der Kaiser persönlich gegen Japan. Kaum schlug das Schlagwort von der Gelben Gefahr an sein Ohr, so sah die Phantasie schon gelbe Armeen und Flotten wider Europa anlaufen; gegen solche konnte nur Rußland vorgehen. Dieser Gedanke, den Zaren in Ostasien zu beschäftigen, um unsere Ostgrenze zu entlasten, war eine Lieblingsidee des Kaisers geworden und hat später den Ausbruch des japanischen Krieges erleichtert und beschleunigt. Schon April 95 hatte er dem Zaren Rückendeckung versprochen, wenn er gegen Asien zu Felde zöge, und dies ohne Kenntnis des Auswärtigen Amtes. Als er ihm dann jenes Bild schickte und sein Botschafter meldete, es habe gefallen und sei sorgsam gerahmt worden, schrieb der Kaiser neben den Bericht: »Also es wirkt, das ist sehr erfreulich.« Rührender ist keine unter seinen Äußerungen, hier scheint er wirklich ein Phantast, der nicht zu sehen vermag, was in der Tat geschieht. Ein Kaiser schickt dem andern ein Bild zur politischen Suggestion, der Empfänger kommt in Verlegenheit, die Minister lachen, Kaskaden von Bonmots rieseln an der Zeichnung herunter. Was tut man? Sehr schön, sagt man, und läßt die Sache rahmen. Diese kälteste Empfangsanzeige genügt, um den Monarchen, qualis artifex!, aufleuchten zu lassen, und er ist naiv genug, für die Augen seiner Berater hinzuschreiben: Es wirkt!
Es wirkte durch Festlegung des Reiches auf die zweifelhafte Macht des Zaren in seinem Hof und Reiche; es wirkte durch die moralische Verantwortung, die wir für den schlechten Ausgang des japanischen Krieges mit übernahmen, da wir die Russen ermuntert hatten; es wirkte durch Entfremdung des englandfreundlichen Japan. »Wir hatten alles auf eine Karte gesetzt, die wir nicht einmal selbst in der Hand hatten« (Brandenburg: Von Bismarck zum Weltkrieg).
In den nächsten Jahren werden Begegnungen mit dem Zaren erzwungen, im Jahre 97 wird eine »mit Hängen und Würgen zustande gebracht. Nach wie vor läuft er dem Herrn Vetter nach, ja, man könnte schon einen härteren Ausdruck gebrauchen ... Eigentlich ist es nur zu erklären aus Furcht vor dem Kriege« (W. 2, 374). Im Jahre 98 schickt er dem Zaren einen neuen Knackfuß, Deutschlands Verbrüderung mit Rußland darstellend, worüber Bülow nur noch erschrecken darf. Mit einer Ausdauer, die kein preußisches Ressort dem Kaiser attestiert hat, setzte er seine Korrespondenz jetzt und durch 20 Jahre mit dem Zaren fort und wartet wie ein Hofmann auf die Antworten. »Heut früh kam endlich ein seit langer Zeit sehnlichst erwarteter Brief des Zaren an. Es herrschte darüber Freude und große Aufregung. Diese Briefe werden immer lange erwartet und kommen immer zu spät. Manchmal dauert die Vorfreude auf solch einen Brief Monate« (Z. 101).
Als dann Rußland Anfang 04 den Krieg begann, war der Kaiser nur mühsam neutral zu halten, lieferte dem Zaren Kohlen in Kiautschou, und wenn Japan reklamierte, war er wütend und drohte nach England hinüber. Sein politisches Programm schrieb er damals, August 04, auf einen Bericht als Marginale, das allen Vertretern zugehen sollte:
»Zur Nachachtung für meine Herren Diplomaten! ... Es wird der Endkampf zwischen den beiden Religionen des Christentums und des Buddhismus werden, der abendländischen Kultur und der orientalischen Halbkultur. Es wird der Kampf werden, den ich im Bilde gezeichnet vorausgesagt habe, bei dem ganz Europa als États Unis de l'Europe sich unter deutscher Führung zusammenscharen solle und müsse zur Verteidigung unserer heiligsten Güter ... Es ist der Instinkt, der den Japanern warnend im Busen dasselbe Gefühl erweckt uns gegenüber, wie es Cäsar gegen Casca und Wallenstein gegen Butler hatte! ... Daher gehören unsere Sympathien auf Rußlands Seite! Daher ist es von allergrößter Wichtigkeit, daß die Baltische Flotte – wenn fertig und eingeübt hinausfährt, um die Seeherrschaft zurückzuerobern und Japan zu entreißen ... Es handelt sich um die Zukunft Rußlands und auch indirekt Europas! ... Ich weiß genau, daß wir einst mit Japan auf Tod und Leben werden fechten müssen, und ich treffe meine Vorbereitungen dafür! Die Russen ... sollen uns später die Japaner abschlagen helfen, aber besser wäre es, sie täten sie jetzt schon ordentlich verdreschen!«
In diesem Aktenstück sind alle Elemente seines Wesens zusammen verschmolzen zum einzigartigen, wilhelminischen Amalgam: Kreuzrittertum, Seeräuberlust, Großes Historisches Schauspiel, Hegemonistik, falsches Pferd, schließlich werden die Deutschen zweimal mit klassischen Mördern verglichen. Auch sein fester Glaube wurde durch den Fortgang dieses Religions-Matches nicht erschüttert, denn er sagte vor den Rekruten: »Aus den japanischen Siegen darf man nicht den Schluß ziehen, daß Buddha unserm Herrn Christus über sei.«
Dahinter lagen politische Erwägungen. War nicht Rußland auf alle Fälle zu brauchen? Gewann es den Krieg, so hatten wir es beraten und unterstützt; verlor es den Krieg, so war es geschwächt genug, um in ein Bündnis gezwungen zu werden. Dieser letzte Gedanke war von Holstein ausgearbeitet und, Oktober 04, dem Kanzler mit der Begründung vorgetragen worden, der gemeinsame Druck von Rußland und Deutschland werde dann auch Frankreich zum Beitritt nötigen! Zwei Reiche, so schloß Holsteins Ingenium, die sich nur verbündet hatten, um früher oder später ein drittes zu erdrücken, waren zwar nicht zu trennen und einzeln nicht zu gewinnen, zusammen aber waren sie auf der Plattform des dritten mit diesem zu versöhnen, um den Zweck ihres Bündnisses in sein Gegenteil umzuwandeln. Auf Holsteins Entwurf wurde also ein Bündnis aufgebaut, das jetzt nach anderthalb Jahrzehnten ersetzen und übertreffen sollte, was derselbe Kopf durch Aufgabe der Rückversicherung verschleudert hatte.
In diesem Entwurf schließt der Kaiser mit dem Zaren ein »Schutz- und Trutzbündnis zur Aufrechterhaltung des Friedens in Europa«, mit welcher Lüge ja die meisten Bündnisse im alten Europa begannen. Im Fall eines Angriffes auf eins der beiden Reiche, verpflichtete sich jeder Verbündete, dem andern mit allen seinen Streitkräften zu helfen; der Vertrag sollte vom japanischen Friedensschlusse ab mit einjähriger Kündigungsfrist in Kraft treten. Der Zar sollte Frankreich benachrichtigen und ihm den Vorschlag des Anschlusses machen.
»Niemand weiß etwas davon«, schrieb der Kaiser dem Zaren, »selbst nicht mein Auswärtiges Amt, die Arbeit wurde von Bülow und mir allein gemacht. Die Pointe liegt darin: wenn Du und ich Schulter an Schulter beieinander stehen (hier scheint der Ursprung dieses Bildes zu liegen), wird das Hauptergebnis sein, daß Frankreich offen und formell uns beiden sich anschließen muß, indem es schließlich Vertragsverpflichtungen gegen Rußland erfüllt, was von höchstem Werte für uns ist, namentlich mit Rücksicht auf seine schönen Häfen und gute Flotte, die dann ganz zu unserer Verfügung wären.« Dann nennt er die Leiter der dem Zaren verbündeten Republik »Clémenceau und all das übrige Lumpenpack und Pöbel«. Darum müßten sie sich erst untereinander einigen, denn da jene Franzosen »nicht Fürsten oder Kaiser sind, so kann ich sie in einer Vertrauenssache wie diese nicht auf den gleichen Fuß wie Dich, meinen Vetter und Freund, stellen.«
Setzt man in diesem Briefe Trusts statt Länder ein und läßt ihn vom Erben eines Kohlen-Magnaten an den Führer der Konkurrenz schreiben und unberaten abgehn, kein Generaldirektor könnte seine Stellung behalten. Bülow hat zwar den Vertrag, doch nicht den Brief gelesen; dafür las ihn das Lumpenpack und Pöbel in Paris, das weder Fürst noch Kaiser, nur intelligent und feindlich war. Nach kurzem traf die Antwort vom Zaren ein, die jeder voraussehen mußte: er müsse solche Offerte erst seinem Pariser Kompagnon zeigen. Da dies unmöglich war, verschwand Holsteins Meisterstück in der Geheimen Registratur.
Ein halbes Jahr später sollte es in einer Form auferstehn, wie sie Holstein ein andermal Politik »à l'operette« genannt hat. Der Kaiser hatte sich eine Szene ausgedacht, wie sie ihm in seiner ganzen Laufbahn nur einmal vergönnt war. In der Seeschlacht bei Tsuschima war Rußland, Mai 05, endgültig geschlagen: in solchem Katzenjammer fängt man Könige, dachte der Kaiser, verabredete im Juli geheimes Zusammentreffen ihrer Yachten in den Finnischen Gewässern, fuhr los, ließ sich einen Tag vor dem Rendez-vous den Text des alten Vertragsentwurfes drahten, schrieb ihn höchsteigenhändig ab, änderte ihn an einem entscheidenden Punkte um, betete, da Bülow abwesend, zum Herrn, »Er wolle doch mich leiten und führen, wie Er wolle, ich sei nur ein einfach Werkzeug in seinen Händen und werde tun, was Er mir eingeben werde, möge die Aufgabe noch so schwer sein.«
Am nächsten Tag umarmte er an Bord des »Polarstern« in der Bucht von Björkö den besiegten Nicky, der in seiner Lage freilich froh war, an ein Freundesherz zu sinken. Sobald sie allein sind, stellen sie fest, daß »Frankreich glatt refüsiert habe, mit uns auf die Mensur zu gehen, und sich also um die Reichslande nicht mehr schlagen wolle«. Dann kommen sie auf England und überbieten sich in Beschimpfungen. Der Zar – so berichtete der Kaiser bald an Bülow (A. 19, 458 f) – bezeichnete den König Eduard in englischer Sprache als den größten Mischiefmaker und unaufrichtigsten sowie gefährlichsten Intriganten in der Welt, worauf er dem Kaiser sein englisches Ehrenwort gibt, nie in seinem Leben mit England gegen ihn eine Vereinbarung zu fassen. Hierauf Festmahl auf der »Hohenzollern« bis zum hellen Morgen.
Vormittags beim Erwachen wiederum Beratung mit Gott, der, vor Überrumpelung des Freundes, seinen lieben Sohn in den Losungen der Brüdergemeinde den nachdenklichen Text an der Stelle aufschlagen läßt: »Ein jeglicher wird seinen Lohn empfangen nach seiner Arbeit«. Da er die Arbeit für gottgefällig hält, steigt der Kaiser hoffnungsfreudig ins Boot, »den Vertrag in der Tasche«, neue Umarmung auf dem Fallrep, dann »vortreffliches Breakfast in der Kajüte«. Der Kaiser fühlt: Historisches Frühstück. Da der Zar skeptisch über die Franzosen redet, so spricht der Kaiser jetzt den Verdacht aus, Eduard hätte vielleicht wieder a little agreement, wofür er ja eine Schwäche hat, hinter Rußlands Rücken mit seinem Verbündeten geschlossen. »Tieftraurig ließ der Zar den Kopf hängen: That is too bad. What shall I do in this disagreable situation? Jetzt fühlte ich, war der Moment gekommen! Da der Allié ohne Mitteilung und Anfrage beim Zaren sich die Politik der freien Hand gewählt habe, sei es ihm ja unbenommen, ohne Unrecht zu begehen, ein gleiches zu tun. Wie wäre es, wenn wir auch so ein little agreement machten? ... Wir würden gute Freunde der Gallier werden, nun falle jedes Hindernis fort.«
»Oh yes, to be sure, I remember well, but I forgot the contents of it. What a pity, I haven't got it here.«
»Ich besitze eine Abschrift, die ich so ganz zufällig in der Tasche bei mir habe ... Der Zar faßte mich beim Arm und zog mich aus dem Saal in seines Vaters Kajüte und schloß sofort alle Türen selbst. »Show it me, please.« – Dabei funkelten die träumerischen Augen in hellem Glanze. Ich zog das Kuvert aus der Tasche, entfaltete das Blatt auf dem Schreibtisch Alexanders III. vor dem Bilde der Kaiserin-Mutter ... und legte es vor den Zaren hin. Er las es einmal, zweimal, dreimal. Ich betete ein Stoßgebet zum lieben Gott, Er möge jetzt bei uns sein und den jungen Herrscher lenken.
»Es war totenstill; nur das Meer rauschte, und die Sonne schien fröhlich und heiter in die trauliche Kabine, und gerade vor mir lag leuchtend weiß die ›Hohenzollern‹ und hoch in den Lüften flatterte im Morgenwind die Kaiserstandarte auf ihr; ich las gerade auf deren schwarzem Kreuz die Worte ›Gott Mit Uns‹, da sagte des Zaren Stimme neben mir: ›That is quite excellent. I quite agree!‹« – Mein Herz schlug so laut, daß ich es hörte; ich raffte mich zusammen und sagte so ganz nebenhin: Should you like to sign it? It would be a very nice souvenir of our entrevue!
»Er überflog noch einmal das Blatt. Dann sagte er: Yes, I will. Ich klappte das Tintenfaß auf, reichte ihm die Feder, und er schrieb mit fester Hand ›Nikolaus‹, dann reichte er mir die Feder, ich unterschrieb, und als ich aufstand, schloß er mich gerührt in seine Arme und sagte: I thank God and I thank you, it will be of most beneficient consequences for my country and yours ... Mir stand das helle Wasser der Freude in den Augen – allerdings rieselte es mir auch von Stirn und Rücken herab – und ich dachte, Friedrich Wilhelm III., Königin Luise, Großpapa und Nikolaus I., die sind in dem Augenblicke wohl nahe gewesen? Herabgeschaut haben sie jedenfalls, und gefreut werden sie sich alle haben!
»Als ich den Zaren darauf aufmerksam machte, es werde sich empfehlen, vielleicht noch zwei Gegenzeichnungen zu haben, das sei so Sitte bei dergleichen Instrumenten, stimmte er zu und wir befahlen sofort Tschirchky herüber und Admiral Birilow herab ... Beiden teilten wir das Faktum des Vertrages mit, und der alte Seemann faßte stumm meine Hand mit seinen beiden Händen und küßte sie ehrerbietig. So ist der Morgen des 24. Juli 1905 zu Björkö ein Wendepunkt in der Geschichte Europas geworden, dank der Gnade Gottes, und eine große Erleichterung der Lage für mein teures Vaterland, das endlich aus der scheußlichen Greifzange Gallien-Rußland befreit werden wird.«
Dieser Brief, sieben Druckseiten füllend, stellt eins der reinsten Dokumente seines Charakters dar, natürlicher und naiver als jene Marschroute für seine Diplomaten. Das ist ein frischer, völlig gutgläubiger Bericht über einen gelungenen Handstreich, geschrieben an einen Vertrauten, ohne Kaiserpose; ein Husarenstück, erzählt von einem 23jährigen Leutnant, und nichts ist im Grunde erstaunlich daran, als daß der Autor ein 46jähriger König ist. Gerade die Gefühle guter Absicht und kluger Mittel, die ihn beseelen, das Bewußtsein christlich und recht, zum Besten seines Landes zu handeln, dies Arsenal von jesuitischen Vorhalten und Bedingungen, mit denen er seine psychische Erpressung mühelos entschuldigt, die stete Gegenwart Gottes ersetzen ihm Verfassung, Staatssekretär und politisches Weltbild. Hier steht ein gläubiger Mann, der nach durchzechter Nacht auf seine »Losungen« und die Kaiserstandarte im Morgenwinde vertraut und auf die Unterschrift eines geschlagenen, verlassenen, nun in die Enge einer Yacht und einer Kajüte gedrängten Fürsten, vom Himmel die einst verbündeten Väter herunterschauen sieht, die sich ja auch gegenseitig betrogen haben. Seine Freudentränen sind genau so echt wie die Gerissenheit, mit der er dem armen Schwächling in seiner Not den Verrat an seinen Verbündeten aufzwingt, der orientalische Kniff mit der Gegenzeichnung ist ihm so natürlich wie der historische Schauer vor dem alten Schreibtisch, das Meeresrauschen wie das Breakfast, der Angstschweiß wie der Freundeskuß.
Nur eins wirkt erstaunlich unecht, und zwar gerade das, wofür man ihn in aller Welt so lange rühmte: die Schauspielerei. Wie er den Übergang zu seinem Vertrage sucht, wie er dann zweimal so ganz zufällig und so ganz nebenhin die entscheidenden Schritte zu tun vorgibt, das ist alles so ungeschickt, daß Bülow, der schlaue Empfänger des Briefes, sich beim Lesen völlig als Meister empfinden muß. Wüßte man es nicht aus hundert Fassaden und Hofbühnengesten, so würde dieser Brief in seiner treuherzigen Schlauheit den ganzen Dilettantismus eines Mannes enthüllen, den man gern als großen Schauspieler vorstellt. Es war nur ein Liebhabertheater an Bord des ›Polarstern‹, wie es jeden Juliabend an Bord der ›Hohenzollern‹ beliebt war, die Höhe der Siamesischen Zwillinge wird nicht überschritten, und wenn man heut, nach dem Abtreten beider Kaiser, diese Szene auf die Bühne brächte, der Kleinbürger selbst würde sie als unglaubwürdig verwerfen.
Das tat auch die Geschichte. Zunächst entdeckte Bülow, daß der Kaiser durch den selbständigen Zusatz der Hilfeleistung nur »in Europa« den Wert des Vertrages stark gemindert hatte, fragte Holstein an und knüpfte nach dessen Einverständnis an diesen Zusatz sein erstes Entlassungsgesuch: einer der schlauesten Schachzüge dieses Menschenkenners, denn eben in dieser glücklichen Stimmung war er sicher, nichts zu riskieren, dagegen seine Stellung zu festigen und sich ein Stück des Herrn zu unterwerfen. Er traf ihn ins Herz. Des Kaisers Ablehnung (A. 19, 496 f.) hat nicht einmal in der Korrespondenz Wilhelms des Zweiten ihresgleichen.
Erst rühmt er seine Tat: »Wenn dies Bismarck gelungen wäre, ... so wäre er außer sich vor Freude gewesen und hätte sich von allem Volke feiern lassen.« Dann beginnt die Klage über und an Bülow: »Vom besten und intimsten Freunde so behandelt zu werden, ... das hat mir einen solchen fürchterlichen Stoß gegeben, daß ich vollkommen zusammengebrochen bin und befürchten muß, einer schweren Nervenkrankheit anheim zu fallen! ... Nein, das werden Sie uns beiden nicht antun! Wir sind beide von Gott berufen und füreinander geschaffen ... Ihre Person ist für mich und für unser Vaterland hunderttausendmal mehr wert als alle Verträge der Welt ... Ich bin Ihnen zuliebe, weil es das Vaterland erheischte, auf ein fremdes Pferd trotz meiner durch den verkrüppelten Arm behinderten Reitfähigkeit gestiegen, und das Pferd hätte mich um ein Haar ums Leben gebracht, was Ihr Einfall war! ... Und jetzt wollen Sie mich, wo ich das alles für Sie getan, einfach fallen lassen, weil meine Situation Ihnen zu ernst erscheint!! Aber Bülow, das habe ich nicht um Sie verdient! ... Sonst wäre Ihre ganze eigene Politik von Ihnen desavouiert und ich auf ewig blamiert! Was ich nicht überleben kann! ... Telegraphieren Sie mir nach diesem Brief Allright, dann weiß ich, daß Sie bleiben! Denn der Morgen nach dem Eintreffen Ihres Abschiedsgesuches würde den Kaiser nicht mehr am Leben treffen! Denken Sie an meine arme Frau und Kinder!«
In so schwerem Zusammenbruch wird man den Kaiser nur noch einmal sehen, im November 08; als typisch aber wird von Eulenburg und andern Intimen das Versagen der Nerven verzeichnet, wenn etwas von außen unerwartet auf ihn losschlug. Dann blaßt alle Schneidigkeit, einem anfälligen Körper und Wesen durch Willenskraft immer wieder abgezwungen, plötzlich hin, die Schwäche tritt um so heftiger hervor; es ist, wie wenn ein aufgeblasener Ballon durch Schlag ein Loch erhält, plötzlich sein Gas verliert, in wenigen Minuten sinkt und dann als dünne leere Hülle am Boden liegt. Das sind die Augenblicke, in denen den Betrachter Mitgefühl erfaßt: ein Mann von ständiger Prätension verliert den Halt, und aus dem Heldenspieler schält sich ein armer Mensch, furchtsam, zitternd, doch noch im Zittern fordernd, eifernd, Verantwortung auf seine Freunde abwälzend, die ihn jetzt schmählich im Stiche ließen.
Statt daß also Bülow über den Vertrag fällt, bleibt Bülow und der Vertrag fällt. Denn was muß folgerichtig der nächste Akt enthalten? Der Zar wurde zu Hause gründlich ausgescholten, Lambsdorf zeigt Witte »in höchster Aufregung« das Dokument, beweist daran, daß die Russen Deutschland verteidigen müßten, wenn es Frankreich bekriegen sollte, obwohl sie doch seit 15 Jahren Frankreich dasselbe gegen Deutschland versprochen haben. »Diese Details«, sagt Lambsdorf in vernichtender Ironie, »sind S. M. bei all dem Geschwätz Kaiser Wilhelms entfallen«, und sogleich gibt er das Geheimnis der Kajüte nach Paris weiter, von dort fliegt es nach London, so daß Eduard die Pläne des Neffen bald kennt, der den Kontinent gegen ihn verbünden wollte. Wie peinlich für Nicky! Nach seiner hochzeitlichen Umarmung im Angesichte des Meeres, der Väter und der Flaggen, welch ein Abstieg, wenn er nun dem Kaiser schreiben muß, leider habe er damals seine »Papiere nicht zur Hand gehabt«, er müsse erst Frankreich fragen: lehnt es ab, so soll der Vertrag für den Fall außer Geltung treten, daß Frankreich mit Deutschland in Krieg gerät. Das heißt: es war nur der Traum eines Sommermorgens, meine Minister haben mich mit der Parole geweckt, Zweibund ist Zweibund.
So wird der Sieger von Björkö zum zweitenmal um seinen Triumph gebracht. Die Folgen seines Abenteuers sind gesteigertes Mißtrauen Frankreichs, das dem Zaren einen General zum Aufpassen schickt, Wandel der Deutschenfreunde in Petersburg, die sich betrogen fühlen, Anwachsen der Antideutschen, die ohnehin den verlorenen Krieg dem Rate des Kaisers zuschreiben; selbst Witte, lange prodeutsch gesinnt, fällt ab, und nächstes Frühjahr wird der gefährlichste Feind an die Leitung der Geschäfte gerufen: Iswolski.
Des Kaisers falsche Sympathie vom ›Polarstern‹ verwandelt sich in Gift und Haß (A. 19, 528): »Einliegend sende ich Ihnen wiederum ein köstlich Machwerk des Ideologen-Jünglings auf Rußlands Thron. Die neuste Phase russo-gallischer Alliance ... zeigt, wie in Paris gegen jede Annäherung der beiden Kaiser sofort ein Contrecoup losgelassen wird, auf den allemal das Zarchen, auf Grund der uralten Alliancen, sofort hineinplumpst. Daß er sich mit »meiner« Triple-Alliance-Idee darüber herausredet, als ob mir ein besonderer Gefallen damit geschähe, ist wirklich mehr als kindisch und naiv! Und das alles wird einem serviert unter der tränenfeuchten Maske nie ersterbender, innigster Freundschaft!«
Wie sehr er sich mit dem letzten Satze selber trifft, bemerkt er nicht.
Wilhelm der Zweite hat das Seestück von Björkö für sein Meisterwerk gehalten: lange nach seinem Sturze, noch 1924 setzte er es an die Spitze einer Widmung seiner Memoiren an den General Suchomlinow, die auch aus andern Gründen interessant ist.
Sie lautet:
»Der zwischen dem Zaren Nikolas II. und mir in Björkoe geschlossene Vertrag schuf die Grundlagen für ein friedliches und freundschaftliches Zusammengehen Rußlands und Deutschlands, was beiden Herrschern am Herzen lag. Seine Wirkungen wurden vernichtet durch die Russische Diplomatie (Ssasanow, Iswolski), die hohen Russischen Militärs, die bedeutenden Parlamentarier und Politiker. Der von ihnen ersehnte Weltkrieg erfüllte ihre Hoffnungen nicht, warf ihre Pläne über den Haufen, und kostete dem Zaren sowie mir den Thron.
Die furchtbaren Folgen des Ueberfalls auf Deutschland für Rußland und das erstere lehren, daß das Heil beider Länder in der Zukunft besteht, in treuem Zusammenstehen, wie vor 100 Jahren, nach Wiederherstellung der beiden Monarchien. Für Ihre Zusendung Ihrer Memoiren besten Dank.
Wilhelm I. R.
Doorn, 1. VIII. 1924.«
»La Conférence serait, Dieu aidant, d'un heureux présage pour le siècle qui va s'ouvrir. Elle rassemblerait dans un puissant faisceau les efforts de tous les États qui cherchent sans sermon à faire triompher la grande conception de la Paix Universelle sur les éléments de troubles et de discorde. Elle cimenterait en même temps leur accord par une consécration solidaire des principes d'équités et des droits sur lesquels reposent la sécurité des États et le Bien-être des Peuples.«
Auf diesen Schluß des berühmten Friedens-Manifestes, mit dem der Zar August 98 die Erde zu einer ersten Abrüstungs-Konferenz zusammenrief, erwiderte ihm der Kaiser: »Können wir uns einen Monarchen vorstellen, einen Obersten Kriegsherrn seiner Armee, der seine durch 100jährige Geschichte geheiligten Regimenter auflöst, ihre glorreichen Fahnen an die Wände der Zeughäuser und Museen verbannt und so seine Städte den Anarchisten und Demokraten preisgibt?«
Und doch liegen hier nicht klar geschieden zwei Welten vor uns. Zu den humanen Motiven des Zaren traten damals politische seiner Umgebung, die das Projekt sonst verhindert hätte, das Herz des Kaisers aber bebt trotz seiner schneidigen Antwort in Furcht. Hinter den glänzenden Worten beider Kaiser breitet sich Verlegenheit. Auch auf der Konferenz ist niemand als aufrichtiger Pazifist erschienen, außer den Vereinigten Staaten; es war zu früh. Um zu erwachen, brauchte Europa den Geruch von zehn Millionen Leichen.
Trotzdem war kein Monarch und Minister vom ersten Tag an grimmiger und zynischer als Wilhelm der Zweite gegen diesen Gedanken, mit dem man am Ende des alten Jahrhunderts die politische Grundidee des neuen zu formulieren suchte. Auch jetzt schreckten ihn Bündnisse von außen weniger als die Heraufkunft der Roten im Innern; das Meer, an Deutschlands Küsten brausend, hörte er mit ruhigeren Ohren, als das vulkanische Grollen im Innern seines Landes. Darum spricht er gleich von Anarchisten und Demokraten, die ihm ohne Soldaten seine Städte zerstören würden. Truppen! Truppen! Der gepanzerte Arm, auf den er sich stützen könnte, Geschütze, deren Mündungen man mit einem Handgriff von außen nach innen drehen, Gewehre, die man auf meuternde Untertanen knattern lassen konnte, wenn es nötig wurde! Als beim Streik der Trambahner 1900 auf dem Dönhoffsplatz in Berlin Unruhen ausbrachen, drahtete er dem Generalkommando: »Ich erwarte, daß beim Einschreiten der Truppe mindestens 500 Leute zur Strecke gebracht werden« (Z. 75).
Diese Furcht vor seinen Untertanen, die ihn nie verlassen hat, begegnete auch diesmal dem Wunsch, vor allen schneidigen Deutschen, will sagen, vor dem größten Teil der Nation als Offizier und Oberster Kriegsherr die Schneidezähne zu zeigen. Preußischer Drill und unpreußisches Zittern ließen den Kaiser die Idee des Friedens mit forciertem Gelächter empfangen; daß daraus die andern Staaten auf kriegerische Ungeduld schlossen, war falsch, doch unvermeidlich, da sie ja nichts zu sehen bekamen, als die Vorderseite des Helden.
Im Lande selbst konnten einige Kenner des menschlichen Herzens, die sich an den Hof verirrt hatten, schon aus der Aufgeregtheit aller Glossen und Gespräche auf Verlegenheit schließen. »Heller Blödsinn! Dalldorf!« schrieb der Kaiser an ein Exposé des russischen Ministers, und neben die Anregung, alle Staaten sollten über einen gewissen Prozentsatz hinaus ihre Völker nicht zu den Waffen rufen: »Wenn er mir das anbietet, schlage ich ihn hinter die Ohren!«
Zur Konferenz entsandte er als Sachverständigen einen bellikosen Professor, trotz der Warnung des mit ihm entsandten Fürsten Münster, und als nun gar die Hauptfrage auftauchte, das Schiedsgericht, da war kein Halten mehr. Hier wurde der Kaiser wahrhaft vom Gefühl seiner Nation getragen: halb Deutschland lachte und Holstein sprach diesmal das nationale Empfinden aus, als er sich gegen dieses komische Institut sogleich verwahrte (A. 15, 189): das ginge für kleine Staaten, nicht für große, denn »für den Staat gibt es keinen höheren Zweck als die Wahrung seiner Interessen. Letztere werden aber bei Großmächten nicht notwendig identisch mit der Erhaltung des Friedens, ... sein.« Seitenlang wird Holsteins Gutachten von Bülow in seinen Berichten an den Kaiser übernommen. Der schreibt neben die Erklärung Rußlands, sich jederzeit einem Schiedsgericht zu unterwerfen: »Ich nie!« Und neben das Wort Friedensbureau: »O herrjeh! Vorstand Frau von Suttner! ... Die ostpreußische Grenze wird mit einer Kette von Forts und Schnellfeuer-Kanonen und dahinter durch Infanterie mit Repetiergewehr zugemacht ... Die Konferenz-Komödie mache ich mit, aber den Degen behalte ich zum Walzer an der Seite« (A. 15,196).
Er steht nicht allein; in diesem Fall sind die synonymen Berichte seiner Diplomaten nicht nur für sein Auge, sie sind aus dem Herzen des Volkes geschrieben. Der Kaiser hatte mit dem Stichwort Komödie die Schneidigkeit seiner Vertreter erst legitimiert. Als man im Haag auf Antrag der Vereinigten Staaten das Privateigentum auf See für unverletzlich erklären will und der Kaiser Nein daneben schreibt, meldet Bülow dies Wort als Direktive S. M. mit dem Kommentar: »Die Frage ... ist hiernach im negativen Sinn entschieden.«
Daß auf der Konferenz des Friedens die Krieger Opposition machen, ist natürlich; der britische Admiral Fisher ist nicht besser als der deutsche Oberst von Schwarzhoff, beide ausgesandt, um zu stören: jener sagt »might is right«, dieser schreibt: »Dank der außerordentlich geschickten Leitung ... sind die russischen Abrüstungs-Vorschläge heut endgültig beseitigt worden.« Aber in London bekämpft der Premier als erklärter Friedensfreund seine militärische Gruppe, in Berlin sind Kanzler und Kabinett militarisiert. So kommt es am Ende doch zum Konflikt Deutschlands mit fast allen andern Staaten: die Gruppierung des Weltkrieges wird in der Debatte über den Weltfrieden vorweg genommen:
»Fast alle Delegierten«, schreibt nämlich Münster (A. 15, 285), »haben sich in einem mir unverständlichen Enthusiasmus für die Schiedsgerichts-Vorschläge begeistert, werden, um uns zu gewinnen, noch weiteren Konzessionen zustimmen, um dies Schiedsgericht rein fakultativ zu gestalten,« man möge doch formell nachgeben. Aber Holstein will nicht, setzt sogar durch, den amerikanischen Delegierten, der eigens nach Berlin kommt, um Kaiser und Kanzler umzustimmen, »mit kühler Abweisung« zu empfangen. So bleibt der deutsche Widerspruch isoliert, nachdem, wie es im Bericht heißt, »der Vorschlag des Schiedsgerichtes rasch Anklang ... gefunden hatte.« Wird man darüber in Berlin nicht stutzig? Der Kaiser lacht, er schreibt dazu: »Weil sie alle nicht so schnell mobil machen können, wie wir! Und das ist der Grund, warum wir gehändikäppt werden sollen!«
Also drehen die Deutschen die Sache um, so daß, wie Bülow stolz berichtet (A. 15, 302), »kaum mehr als der Name übriggeblieben ist ... durch die infolge des deutschen Einspruchs eingefügte Klausel, wonach die obligatorische Arbitrage ausgeschlossen ist von allen Fragen, wo Lebensinteresse eines Staates oder seine Ehre berührt werden ... Die Schiedsgerichts-Idee ist an und für sich unsympathisch. Durch E. M. feste und entschiedene Haltung ist es jedoch gelungen, die übrigen Staaten dahin zu bringen, daß Sie alle bedenklichen Seiten jener Idee preisgegeben haben.«
So hat, neunzehnhundert Jahre vorher, der Vierfürst an den Cäsar über Niederhaltung von Gefahren berichtet, die aus der neuen galileischen Lehre aufzusteigen drohten. Blind tasten diese Lenker Europas an den Ideen des Geistes vorbei, glauben mit Demarchen und Protesten, Klauseln und Noten einen Gedanken auszubrennen, das Apostolische durch einen Überwurf zum Närrischen umzufälschen. Nachdenklich epilogisiert, da er der Gefahr entronnen, der Kaiser: »Was doch der alberne Streich eines träumerischen Knaben für wichtige Interessen auf das Spiel gestellt hat!« Doch bald reißt er sich wieder in seine alte, gottvertrauende Offiziersstellung zurück und findet seine Sprache wieder, indem er schließt (A. 15, 306):
»In meiner Praxis werde ich mich aber für später nur auf Gott und mein scharfes Schwert verlassen und berufen! Und scheiße auf die ganzen Beschlüsse!«
Für diesen Akt fand er ein Jahr darauf einen geeigneten Ort an der Chinesischen Mauer. Die Kämpfe der Boxer hatten der Habgier Europas einen Vorwand gegeben, um auf einer Kreuzfahrt gegen die Gottlosen ein paar gelbe Häfen durch weiße Kultur zu adeln »Also, für China kann ich auf Sie rechnen«, sagte zu Waldersee der Kaiser, der im Sommer 1900 eine seiner wiederkehrenden Perioden erhöhter Erregung durchmachte (W. 2, 448). Die Aufteilung Chinas war damals modern.
Erst einige Tage später erfuhr er von der Ermordung seines Gesandten in Peking. Daß dieser Mortimer ihm sehr gelegen starb, bewies er bald durch eine, sogar für sein Tempo ungewöhnliche Wut und Hast, mit der er den Sühnefeldzug arrangierte. Weltpolitik, das war die Losung: wo war sie leichter zu haben! Und in einer auch stilistisch erstaunlichen Paraphrase rief der Kaiser in diesen Tagen bei einem Stapellauf aus: »Der Ozean ist unentbehrlich für Deutschlands Größe, aber der Ozean beweist auch, daß auf ihm und in der Ferne jenseits von ihm ohne den Deutschen Kaiser keine große Entscheidung mehr fallen darf.« Darum wurde in aller Eile ein Expeditionskorps und auch ein Panzergeschwader nach China kommandiert. »Wenn wir ganz ehrlich sein wollen,« schrieb Moltke, der den Kaiser damals begleitete, »so ist es Geldgier, die uns bewogen hat, den großen chinesischen Kuchen anzuschneiden. Wir wollen Geld verdienen, Bahnen bauen, Bergwerke in Betrieb setzen ... Darin sind wir keinen Deut besser, als die Engländer in Transvaal« (M. 243).
Weniger leicht war die politische Frage zu lösen, denn da sich der Kaiser in Wilhelmshöhe, der Kanzler auf seinen Gütern in Rußland, der Staatssekretär in Norderney, der Unter-Staatssekretär in Berchtesgaden befand, so vermochte Holstein, der allein in Berlin regierte, seinen Herrn von eigenen Schritten nicht abzuhalten und von der Gefahr einer Provokation Englands nicht zu überzeugen. Während er wider Willen Waldersee empfing, seinen alten Feind, später Freund, dann wieder Feind, um ihn jetzt vor der Abfahrt politisch zu unterrichten, war Bülow über den neuen Kommandeur entzückt, da er mit Waldersee den einzigen Konkurrenten für sein Kanzleramt im Ozean entschwinden sah, denn Hohenlohe war Achtzig und im Begriffe nun auch formell zu gehen.
Der Kaiser hatte große Tage: Ausfahrt und Rede, Flaggen, Kanonen und die Kriegsdrommete standen in Aussicht, ohne daß er die Streitmacht im Innern zu mindern brauchte. Da schien ihm der Friede noch einen Streich zu spielen: am Abend vor den Festlichkeiten der Abfahrt kam die Nachricht, die verbündeten Truppen hätten Peking genommen, der chinesische Kaiserhof sei geflohen. »Natürlich«, schreibt Waldersee, »war dies zunächst für den Kaiser eine große Enttäuschung. Er hatte sich fest in den Kopf gesetzt, die Gesandten samt ihrem Personal seien längst ermordet; nach meiner Ankunft sollte der gemeinsame Vormarsch auf Peking, der bis dahin wegen der Regenzeit als unmöglich angesehen wurde, unter meinem Oberbefehl erst beginnen und mir der Ruhm werden, Peking erobert zu haben. Dieser Traum war dahin, die Gesandten lebten, die Regenzeit war nahezu ausgeblieben ... Peking ohne große Opfer eingenommen« (W. 3, 6).
Wie? Sollte der große Gedanke unter kleinlichen Nebenumständen, wie ausgebliebene Regen- und Todesfälle leiden? Hier gab es kein Zurück! Am nächsten Tage sprach der Kaiser zu den in Parade stehenden Marinetruppen: »Ihr wißt, ihr sollt fechten gegen einen verschlagenen, gut bewaffneten, grausamen Feind. Kommt ihr an ihn, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferungen und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutscher in China auf tausend Jahre durch euch in einer Weise betätigt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen!«
Die Erregung, in die der sprechende Kaiser immer mehr geriet, konnte sich von der ihm seit drei Wochen bekannten Ermordung seines Gesandten um so weniger herschreiben, als er den Raubzug schon vordem geplant hatte; warum, das sagte Moltke. Gewiß ist, daß Eulenburg, mochte er nun die Rede kennen oder nur ahnen, inzwischen die Journalisten heimlich zu sich lud, ihnen in seiner Kabine eine ganz andere Kaiserrede zum Nachschreiben hielt; nur einer war »von den Beamten nicht erwischt worden, der aber fing ein Stück davon auf, bald wurde sie auch ganz bekannt«.
Die Wirkung dauerte zwanzig Jahre. Durch nichts war ein deutscher Barbarengeist von seinen Gegnern schon im Frieden leichter zu beweisen, als durch diese Rede seines Kaisers, und als im Weltkrieg einem Volk nach dem andern die Überzeugung suggeriert wurde, mitten in Europa wohnten 60 Millionen Hunnen, die den neuen Attila als ihren König verehrten, da verkannte man nicht bloß alle guten Instinkte des deutschen Volkes, auch noch die schlechten des Kaisers und beleidigte nach tausend Jahren durch den Vergleich mit Wilhelm dem Zweiten jenen todesmutigen, dämonisch wilden Räuberhauptmann mit der Krone. Im doppelten Fehlgriff dieses Vergleiches wurde das doppelte Mißverständnis der Welt über Deutschland deutlich: ein großes, ruhiges Volk, das einem kleinen, prahlenden König sich in verächtlichem Gehorsam Untertan fühlte, mußte nun für die klirrenden Worte seines eitlen Herrn büßen, der es zu Hunnen nur erniedrigt hatte, um den Attila zu spielen.
Fürs erste spielte er Hegemonie: Europas Truppen unter einem deutschen Marschall, das war sein Traum, und als der Zar, auf dringende Anfrage wegen Waldersee zustimmend gedrahtet hatte, ließ der Kaiser nach London melden, sein Freund der Zar habe Waldersee den Oberbefehl angetragen. Darauf sagte der Zar dem deutschen Botschafter, er habe »nur aus kollegialem Gefühl für den Kaiser« seine Darstellung nicht dementiert, und Salisbury begriff nicht, »warum der Kaiser absolut den Oberbefehl einem deutschen General übertragen will, da doch für jede Macht ein großes Risiko mit der Führung verbunden ist« (Eck. 2, 187). Bülow und das Amt wurden übergangen, der Kaiser wollte »das Ganze wie eine rein militärische Sache allein vom Sattel aus dirigieren«, schrieb Eulenburg hilferufend an Bülow (E. 2, 258).
Waldersee bekam zum Abschied, wie er selber beschreibt, den Marschallstab, einen Salonwagen bis Neapel, dann die ganze Erste Kajüte, 200 Flaschen Sekt, 50 Flaschen Punsch und 2 Leibgendarmen mit, denen der Kaiser einschärfte: »Wenn sich der Feldmarschall im Gefecht zu weit nach vorn wagt, so haben Sie ihn zurückzuhalten, nötigenfalls ihm sogar in die Zügel zu fallen!« Dann schärfte der Kaiser dem Heerführer ein, ja eine hohe Kriegsentschädigung herauszuschlagen, er brauche das Geld für seine Flotte. Kaum war der »Weltmarschall« unter der Perron-Begeisterung Deutschlands und dem Lächeln Europas abgefahren, so forderte der Zar in einer Kollektivnote die Mächte auf, ihre Truppen an die Küste zurückzuziehen, da jede Gefahr für Europäer beseitigt sei. Der arme Kaiser schalt dies eine »Rücksichtslosigkeit, gänzliche Verkennung der Verhältnisse und Mangel an Überblick, die geradezu niederschmetternd sind.«
Als Waldersee sechs Wochen später in China eintraf, konnte er noch eine große Parade ohne Regen abhalten. Der Feind war besiegt oder verschwunden, Pardon wurde nicht gegeben, Gefangene wurden nicht gemacht: alle Befehle des Kaisers waren bereits ausgeführt.
Inzwischen waren die Wirkungen vom Ausland in die Heimat zurückgedrungen, und deutsche Fürsten und deutsche Volksvertreter lehnten sich endlich auf: der Kaiser hätte den Feldzug unternommen, ohne vom Reichstag die Mittel zu fordern. In dieser Lage zog der uralte Hohenlohe vor zu verschwinden, Bülow, der neue Kanzler, kopierte geschickt Bismarcks Rede vom Jahre 66 und rettete die Lage durch Bitte um Indemnität, diesmal freilich ohne Sieg. In seiner Angst, es könnte wieder etwas passieren, drahtete er an Eulenburg (E. 2, 258): »Was Du lange vorausgesehen, die Gefahr einer Koalition der deutschen Fürsten und des Reichstages gegen S.M. ist drohend ... Suche einen Vorwand, um dem Kaiser zu schreiben, oder drahte sofort, rate ihm Vorsicht in seinen Reden an, bis zur Erledigung der chinesischen Fragen vor dem Reichstag!« Worauf Eulenburg den Kaiser in diesem Sinne warnt, dieser sich aber Redefreiheit sichert. –
Mit solchen Kunststücken mußten Minister und Freunde den Herrn am Reden verhindern, um die Folgen seiner eigenen Einfälle mit den Organen der Gesetzgebung wenigstens nachträglich in Einklang zu bringen.
Als Tirpitz die Krüger-Depesche als Erwecker des Volkes zur Flotte bezeichnete, nahm er ein Symptom für ein Ereignis: zwanzig Jahre lang ist der Ärger zwischen Deutschland und England, der fast ganz dynastischen Ursprungs war, Ursache immer neuer Rüstungen geworden, und diese Rüstungen erregten neuen Ärger. Im Wettrüsten Europas, das aus dem Mißtrauen Aller gegen Alle entstand, ist der deutsche Flottenbau darum der psychologisch unnötigste Teil gewesen, weil man ohne die persönliche Eifersucht des einen Souveräns gegen den andern dem schwer geharnischten deutschen Ritter nicht auch noch einen Gummimantel übergezogen hätte.
Bismarck, der als der Letzte vor Kriegsflotte und Weltmacht Halt hatte, warnte bis zuletzt vor einer Politik, in der Deutschland seine Sicherheit in Europa zugunsten fragwürdiger Eroberungen in Afrika und Asien aufs Spiel setzte; verkannte er dabei die neue Form der Handelsflotte, so erkannte er doch die Gefahr einer Kriegsflotte und wehrte die Phrase ab, Deutschland brauche solche, um seine Kolonien zu schützen. Er war es, der, nur auf kontinentale Macht gestützt, die erste deutsche Kolonie gegen England durchgesetzt hatte, ohne auch nur ein Schiff zu besitzen. Er wußte, daß auch Frankreich und Rußland, die Seemächte hohen Ranges nie gewesen, dennoch als Großmächte neben England bestanden, er verspottete das Argument, wir kämen sonst »zu spät« bei der Verteilung der wilden Weltteile, die doch seit Jahrhunderten von einer Hand in die andere gewandert waren.
Was aber Bismarck ein Jahrzehnt vergeblich erstrebt hatte, fiel den Nachfolgern im Jahre seines Todes zu, und wenn sie das englische Bündnis dreimal ausschlugen, so waren dreimal des Kaisers Gefühle gegen England entscheidend: mit unüberwindlichem Groll sah er in ihm die höhere Form des modernen Staates und bekämpfte sie, weil er sich dies Gefühl nie eingestand. Nichts regte ihn stärker an als englische Angriffe, sie schmeichelten ihm, hier war er Märtyrer, im Deckhaus der »Hohenzollern« ließ er englische Karikaturen aufhängen, alle feindlichen Artikel, wie ihm solche aus Deutschland verheimlicht wurden, ließ er aus England sich vorlegen, immer aufs neue reizte er die niemals ganz vernarbten Wunden seiner Jugend. Wie er als junger Offizier und Prinz sich für die Verachtung seiner englischen Mutter durch glänzende Vorführung seines Regimentes rächen wollte, so trieb ihn diese tiefste und schmerzlichste Erfahrung seines Lebens immer wieder, sein Regiment im Lande dem Oheim vorzuführen. Von den Tagen der Kindheit bis zu den Tagen des Kampfes um die Flotte, von 1872 bis 1912 reicht eine Gefühlskette im Herzen Wilhelms des Zweiten, gleich schicksalsvoll für ihn wie für die Deutschen.
Als das gekränkte England ihn nach der Krüger-Depesche beschimpfte, forderte er die erste große Anleihe, 300 Millionen, unterhandelte auf eigene Faust mit der Vulkan-Werft; schon damals, Januar 96 schrieb Waldersee: »Der Kaiser scheint sich völlig in den Gedanken der Marine-Vermehrung verrannt zu haben.« Hohenlohe versagte sich, erklärte die großen Flottenpläne »für absehbare Zeit für eine praktische Unmöglichkeit und totgeboren« (E. 2, 213), und Eulenburg mischte sich, wie er sagte, grundsätzlich nicht in Militärisches; der verständige und sehr beliebte Admiral Hollmann mußte gehen. Aber da war im Gefolge des Kaisers jener Admiral von Senden-Bibran, Englandfeind aus persönlicher Gekränktheit, dessen politische Einsichten aus seiner Antwort auf eine warnende Stimme deutlich werden: »Was geht denn das England an! Wir können doch bauen, was wir wollen!« Seinem unermüdlich bohrenden Einfluß in der täglichen Umgebung des Herrn schreibt Eulenburg den größten Einfluß zu.
Die Kammermusik der kaiserlichen Gefühle orchestrierten die Flottenvereine, die sich in diesen Jahren endemischer Feststimmung überall bildeten und dem »Großdeutschen Bunde« schon damals folgende Ausdehnung entwarfen: »Erstens das jetzige kleine deutsche Kaiserreich mit Luxemburg, zweitens Holland und Belgien, drittens der deutsche Teil der Schweiz, viertens das österreichische Kaiserreich.« Diese Dinge wurden nicht nur in deutschen Bierhäusern und Zeitungen, sondern auch im Pariser Palais Bourbon vorgetragen. Solange sich aber die Politiker abwandten, nur Militärs und Kleinbürger schwatzten, solange es dem Kaiser an einem Kopfe fehlte, blieb alles totgeboren. Es fehlte ein Hofadmiral von Waldersees Intelligenz und Geschmeidigkeit.
Da kam Tirpitz.
Der Kaiser hat immer Blick für Männer bewiesen, deren Gaben ihm seine Wünsche erfüllen sollten; hier hat er gewiß die stärkste Begabung aus seiner Marine gefischt. An Tatkraft, Klugheit, Mut fand Tirpitz auch in der Armee kaum ein Pendant; im Unterschiede zu allem, was den Kaiser bisher umgeben, war hier ein Mann, den seine Geschmeidigkeit zu keiner Schmeichelei verführte, kein Zweifel beunruhigte, kein Laster entstellte: ein Fachmann, der mit großer Sachkenntnis echte Leidenschaft für seine Waffe verband. Tirpitz hatte nur Einen Fehler: er log. Bei Hofe hieß er der Märchenerzähler.
Er mußte lügen: die deutsche Kriegsflotte muß gebaut werden, um den Diplomaten Verständigung mit England zu ermöglichen. Dafür erfand er zwei Schlagworte: Risikoflotte und Gefahrzone. Diese Flotte würde England hindern, das Risiko einzugehen, und Deutschland habe nur einige Jahre eine Gefahrzone zu durchlaufen, in der ihr Bau den Engländern unbequem und deshalb uns gefährlich sein würde. Alle Welt sprach die beiden Worte nach, und nur die Skeptiker sagten sich, England wird zweifellos immer im gleichen Tempo Schiffe bauen, die Zone wird nie enden. Von allen diesen Motiven glaubte Tirpitz keins: er wollte vielmehr als Seemann eine starke Waffe, um sich in zwanzig Jahren mit England in der Schlacht zu messen.
Um aber gegen alle Widerstände diesen Zweck zu erreichen, mußte er lügen. Hätte er, wie der britische Admiral Fisher, auch nur bei festgeschlossenen Türen in der Sitzung auf den Tisch geschlagen und ausgerufen, wir wollen England vernichten und an seiner Statt Weltreich werden, ein Seebär, ein Haudegen, so hätte ihn die Timidität des Kaisers rasch verbraucht; den Kampf mit den Diplomaten konnte er nur als Diplomat gewinnen. Tirpitz ist ihre gewundenen Wege nicht gegangen, um sich wie alle andern an der Macht zu halten, sondern um gegen die Macht der andern einen Gedanken zu verwirklichen, an den er glaubte. Feurig als Deutscher und Soldat, glaubte er fest an die Phrasen, die er vom »deutschen Volk, nahe seiner höchsten Vollendung« schrieb oder vom »preußischen Militärgeist, auf welchen das ganze nationale Dasein und das höhere Wirtschaftsleben unseres Volkes sich gründete und auch in der Zukunft wird gründen müssen.«
Jedem, der Englands Art, Geschichte und Bedingungen kennt, mußte Tirpitz' Gedanke absurd erscheinen, da die stärkste Seemacht der stärksten Landmacht keine annähernd gleich starke Flotte konzedieren konnte, ohne ihre Existenz zu gefährden. Ohne Flotte konnten wir mit England, mit Flotte mußten wir gegen England gehen. Darum bot England uns das Bündnis an, als wir, wie Tirpitz schreibt, noch nicht wußten, »ob der politische Schritt zur wirklichen Seemacht gewagt werden oder das ganze Unternehmen nur eine grundsätzliche Demonstration bleiben sollte«. Tirpitz gewann den Kaiser für die Schlachtflotte durch ein paar Gespräche, wurde Sommer 97 Staatssekretär, setzte im September seine erste Vorlage bei Hohenlohe durch und stellte Bülow, der erst im November sein Amt übernahm, in der Tat vor ein Fait accompli. Dieser hätte Fachmann sein müssen, um in der ersten Bauvorlage die zukünftigen zu wittern.
Denn hier, gleich im Anfang war Tirpitz genötigt zu lügen: nur 7 Linienschiffe wurden gefordert, doch mikroskopisch lag in dem Entwurf der Bau von 38 vorgebildet, und in den späteren Novellen figurierten die neuen Riesenkähne als kleinere Typen; diese Verschleierungen haben damals nur ein paar Eingeweihte, nicht aber die Abgeordneten erkannt. Den Kaiser von vorzeitiger Prahlerei zurückzuhalten, fiel Tirpitz trotzdem schwer. Als im Herbst 99 im zweiten Flottengesetz die Entwickelung zur »Weltpolitik« entschieden wurde, suchte er die Kaiserrede bei einem Stapellauf vergebens zu hindern. Ohne Aufsehen etwas langsam zu entwickeln, war dem Kaiser unmöglich, dem nur rasches Aufsehen Freude machte, und statt, wie etwa die Japaner, sich unauffällig zur Seemacht heraufzubauen, hielt er die schallende Rede mit dem Schlagwort: »Bitter not tut uns eine starke deutsche Flotte!« Als Tirpitz dann bis zum Zusammentritt des Reichstages mit seiner noch unvollendeten Novelle warten wollte, drängte ihn der Kaiser. Nicht in allen Fällen hat Tirpitz nachgegeben, vor Ungnade fürchtete er sich kaum und meinte, in seiner Lage sei das »Stadium der leichten Ungnade« das wünschenswerteste. Er war, nach Ballins Bericht, »durchaus kein sympathischer Mann für den Kaiser, keineswegs nach seinem Herzen, aber er ließ sich ihn gefallen, weil er seine Politik teilte« (Huldermann, Ballin 295).
Vergebens riet man dem Kaiser, »unsere Flotte wie einen verborgenen, aber unentbehrlichen Schatz zu hüten, die Engländer von ihr möglichst wenig hören und sehen zu lassen« (A. 19, 218). Neben diese Sätze Bernstorffs schrieb er nur: »Ausgeschlossen!« Indem er das Gegenteil tat, enthüllte er aufs neue seine innersten Motive: »Die Flotte allein gibt mir in England das nötige Ansehen«, sagte er im Jahre 04 und beschloß, sich sogleich in seinem neuen Glänze vor Eduard zu zeigen. Als dieser das erstemal nach Jahren endlich nach Deutschland kam, war der Kaiser auf seinem Schiff in Kiel in größter Erregung. »Bis in die Kleinigkeiten bei Ausschmückung der Hohenzollern griff der Kaiser ein, ein großes Zeltdach wurde über das Promenadendeck gespannt, wunderbare Blumenausschmückungen wurden angeordnet, kleine Fontänen und Wasserfälle sollten plätschernd das Auge erfreuen. Ein Diner zu 108 Personen, ein Tee zu 220 wurden dem König gegeben. Der Kaiser ergriff diese Dinge mit solcher Wichtigkeit, daß er dreiviertel Stunden vor Beginn der Festlichkeit bereits vollständig angekleidet unruhig an Deck umherging und den Verlauf der Zeit gar nicht abwarten konnte« (Z. 78).
Dann aber zeigte er dem König die ganze deutsche Flotte in Parade. Das war sein Augenblick: er imponierte dem verhaßten Onkel, der noch vor fünf Jahren gesagt hatte, »let him play with his fleet«. Nur imponierte er ihm leider zu sehr. Denn der König hatte Blumen und Tee, sogar die Wasserfälle, nicht aber Stärke und Modernität dieser Schiffe rasch vergessen; mit unruhigen Plänen kam er zurück auf seine Insel. Zwei Monate später begann in London in Presse und Unterhaus die Hetze gegen die deutsche Flotte, der Navyscare, diesmal gaben die Staatsmänner das Zeichen. Lord Fisher schlug vor, mit dieser deutschen Flotte wie einst mit der dänischen zu verfahren, der König versprach Delcassé englische Schiffe gegen Deutschland, der Seelord Lee sann auf plötzlichen Überfall, schickte nach der Ostsee nach 50 Jahren zum erstenmal ein Geschwader, offen phantasierte man über die Landung von 100 000 Engländern in Schleswig. Es war im Lauf, es war nicht mehr zu halten.
All dies hielt der Neffe nur für Bosheit des Onkels. Im Kreise von neun Herren sagte er nach dem Souper: »Der König läßt aus persönlichem Haß die ganze Presse mit englischem Gelde gegen mich arbeiten. Er ist ein Satan! Man glaubt gar nicht, was für ein Satan er ist!« (Z. 153.) Am liebsten erleichtert er sich gegenüber dem Zaren, nennt Eduard den Erzintriganten und Unglückstifter und schreibt im August 05: »Ich habe meiner Flotte befohlen, der britischen auf dem Fuße zu folgen, und wenn sie Anker legt, sich nahe zu halten, ihnen ein Diner zu geben und sie betrunken zu machen, um so bald als möglich ausfindig zu machen, um was es sich (bei ihrer Nordseefahrt) handelt, und dann wieder schnell wegzusegeln ... Erzähle es niemand, denn das Geheimnis muß gut bewahrt bleiben. Ta-Ta! Das ist das richtige Ende meines Briefes. Willy.«
Als dann aber der Onkel sich bei der Durchreise nicht bei ihm meldet, und der Kaiser, Oktober 05, ihn deshalb anfragen läßt, »ob er mit mir anbinden will, daß er so ohne Notiz von mir zu nehmen durch mein Land fährt«, dann ist freilich die Antwort des Botschafters: der König sei verstimmt, daß ihn der Kaiser in ganz Europa verklatschte und habe deshalb ihn nicht aufsuchen können (Z. 132). Um diese Zeit hatte man im Auslande aufgehört des Kaisers Worte ernst zu nehmen. Der Oberhofmarschall fragte damals den englischen Botschafter, warum er gar nicht mehr so freundlich zu ihnen sei, da erwiderte dieser in lachendem Ton: »Wenn ich alles nach London berichtet hätte, was mir Ihr Allerhöchster Herr gesagt hat, dann hätten wir schon zwanzigmal den Krieg gehabt« (Z. 133).
Der Kaiser war glücklich. Als mit einer neuen Novelle sechs weitere Panzerkreuzer durchgesetzt waren, sagte er: »Ich habe den Reichstag mit dem neuen Gesetz absolut hereingelegt. Bei der Annahme sind sie sich über die dehnbaren Folgen absolut nicht klar gewesen, denn dieses Flottengesetz bestimmt, daß bewilligt werden muß, was ich nur irgendwie verlange ... Jetzt habe ich sie in der Hand und keine Macht der Welt soll mich davon abhalten so viel herauszuziehen, als möglich ist. Die Hunde sollen zahlen, bis sie blau werden!« (Z. 159.)
Unter allen deutschen Provokationen, die zwischen 1890 und 1906 zur Einkreisung Deutschlands geführt haben, ist eine wichtig, die der Kaiser nicht zu verantworten hat: er hat im Jahre 04 dem König Eduard, dann wiederholt seinen Beratern sein Desinteressement an Marokko ausgesprochen, die Gefährlichkeit jeder Einmischung in diese französische Halbkolonie beizeiten erkannt, die Landung in Tanger wochenlang und noch im letzten Augenblick abgelehnt. Beseelt vom Ehrgeiz, Frankreich zu versöhnen, hat er seine Drohungen überhaupt nur sehr selten gegen Paris gerichtet und wollte es auch in Afrika lieber schonen als demütigen. Die Verantwortung trägt Bülow, der mit seinem Coup Delcassé »lackieren« wollte; mit ihm Holstein, der ein Zurückweichen als »neues Olmütz oder Faschoda« brandmarkte, und Herr von Kühlmann, der als Geschäftsträger in Tanger den Besuch des Kaisers erfunden hat. Nichts von allem, was um 1905 in und nach Marokko hin spielt, ist vom Kaiser gewollt worden; es ist also hier auch nicht darzustellen. Warum aber, fragen wir uns, ließ dieser Autokrat sich schließlich doch zu dem großen Fehler drängen?
Hier sehen wir ihn in einer neuen Lage. Stellte sich seinem Willen zu einer Demonstration der Widerstand seiner Minister entgegen, so stieg sogleich sein nervöser Wunsch: Reden, Depeschen, Begegnungen, Einladungen, Ausladungen, Reisen setzte er trotzig rasch ins Werk, schon um seinen Handlangern zu beweisen: regis voluntas! Nur Eulenburg und Bülow kannten den Kniff den kaiserlichen Motor abzustellen. Leichter war es bei ihm, statt einer Handlung eine andere durchzusetzen, denn wirken, dauernd und sichtbar wirken wollte seine unersättliche Begierde, ihm galt es schließlich gleich, ob man an Krüger das Protektorat drahtete oder nur einen Glückwunsch. Dagegen ist es, wenigstens bis 1909 eigentlich nicht vorgekommen, daß man ihn zur Aktivität drängen mußte.
Damals, zwischen 04 und 05, war der Kaiser in einer jener Perioden der Depression, die den Zeiten gesteigerter Aufregung folgte und voraufging, während seine Diplomaten gerade jetzt auf alle Art die Franzosen zu demütigen suchten. Nach dem an prahlerischen Reden reichen Jahre 03 lag er im November unter dem Messer eines Chirurgen, der einen Polypen aus seiner Kehle entfernte; die Frage, ob er vom Vater und von der an derselben Krankheit soeben verstorbenen Mutter den Krebs ererbt hätte, drückte auf ihn, eine gewisse Schwermut ging durch das Wesen dieses immer gehetzten Menschen und schenkte seiner nervösen Natur heilsame Entspannung. In solchen Stimmungen scheut man vor Lärm und Drohungen, die Problematik des dauernden Handeln, die Fragwürdigkeit des steten Einsatzes treten deutlicher vor die Seele. Schon im Frühjahr 04 verbot er die Entsendung eines deutschen Schiffes nach Marokko und wurde ein Jahr später nur durch Bülows Andeutungen, man würde es in Frankreich als Schwäche auslegen – und auch so nur recht schwer für die Landung in Tanger gewonnen. Ja, er hielt, dicht vor der Abreise in Bremen eine seiner besten Reden, die zwischen hunderten ganz allein steht:
»Ich habe mir den Fahneneid geschworen, als ich zur Regierung kam, nach der gewaltigen Zeit meines Großvaters, daß, was an mir liegt, die Bajonette und Kanonen zu ruhen hätten, nur scharf und tüchtig erhalten werden müßten, damit Neid und Scheelsucht von außen uns an dem Ausbau unseres Gartens und unseres schönen Hauses im Innern nicht störe. Ich habe mir gelobt, auf Grund meiner Erfahrungen aus der Geschichte, niemals nach einer öden Weltherrschaft zu streben. Denn was ist aus den großen sogenannten Weltreichen geworden? Alexander, Napoleon, all die großen Kriegshelden, im Blute haben sie geschwommen und unterjochte Völker zurückgelassen, die beim ersten Augenblick wieder aufgestanden sind und ihre Reiche zum Zerfall gebracht haben. Das Weltreich, das Ich mir geträumt habe, soll darin bestehen, daß vor allem das neuerschaffene Deutsche Reich von allen Seiten das absoluteste Vertrauen als eines ruhigen, ehrlichen, friedlichen Nachbarn genießen soll, und daß, wenn man dereinst vielleicht vor einem deutschen Weltreich oder von einer Hohenzollern-Weltherrschaft in der Geschichte reden sollte, sie nicht auf Eroberungen begründet sein soll durch das Schwert, sondern durch gegenseitiges Vertrauen der nach gleichen Zielen strebenden Nation ... nach außen begrenzt, im Innern unbegrenzt ...«
Doch nach diesen schönen und verständigen Sätzen fährt er plötzlich fort:
»Die Flotte schwimmt und sie wird gebaut, ... der Geist ist derselbe, der die preußischen Offiziere bei Hohenfriedberg, bei Königgrätz und Sedan erfüllt hat, und mit jedem deutschen Kriegsschiff, das den Stapel verläßt, ist eine Gewähr mehr für den Frieden auf der Erde gegeben ... Die Aufgabe der Jugend ist ... sich der festen Überzeugung hingeben, daß unser Herrgott sich niemals eine so große Mühe für unser deutsches Vaterland gegeben hätte, wenn Er uns nicht noch Großes vorbehalten hätte. Wir sind das Salz der Erde, aber wir müssen dessen auch würdig sein ... Dann möge über das deutsche Volk einst geschrieben werden, was an den Helmen meines Ersten Garderegimentes steht: Semper talis! Dann ... können wir stehen, die Hand am Schwertknopf, den Schild vor uns auf die Erde gestellt und sagen: Tarnen! Komme was wolle!«
Ergreifender Zwiespalt! Der immer Herausfordernde will der Welt ein beruhigendes Wort sagen, acht Tage, bevor er sie zum ersten Male gegen seinen Willen herausfordern soll: so suggeriert er sich ein heimliches Kaiserreich der Seele und der Stille und ist als Redner stark genug, um sogleich die rechten Beispiele und das schöne Bild des Gartens zu finden. Er, der ein Leben lang alles nach außen tat, nach Innen nichts, kehrt dies Grundgefühl seines Herzens um, drei Minuten lang scheint Wilhelm der Zweite ein weiser, entsagender Gedankenfürst; sicher ist ihm in diesen drei Minuten sehr wohl zumute. Aber da schaut er um sich, entlang an der in Front zu ihm stehenden Versammlung von Uniformen, sprühenden Orden, strammen Rücken, Gelenken und Schnurrbärten, die Starrheit des Systems prallt gegen ihn an, automatisch schließt sich der Anschluß von Verlegenheit zur Schneidigkeit, von Mißtrauen in die eigene Wirkung zum Entschlüsse sie zu verdoppeln, – und wieder rollen in Kaskaden Namen der Schlachten, Bilder der Schiffe, Devisen der Helme, und im aufgezogenen Uhrwerk muß auch der deutsche Gott erscheinen, sein besonderes landesväterliches Interesse für uns bekräftigen, denn wir sind das Salz der Erde. Schwertknopf, Schild, komme was wolle: ehe er sich's versieht, ist der Kaiser, der Andante begonnen, im alten Marschtempo bei seinem kriegerischen Hurra angelangt.
Auf der Höhe von Tanger, wo ihm von stürmischer Seefahrt und vor spanischen Anarchisten übel zumut ist, will er eine Stunde vor der Landung lieber abdrehen, hatte sich bei fortgesetzter Weigerung in den letzten Tagen überhaupt nur durch die Suggestion, »kühne Tat« und »historischer Einzug« hinbringen lassen, und rief noch dem triefend vor ihm erscheinenden Kühlmann zu: »Ich lande nicht!« Als er schließlich nach einer Probelandung seiner Adjutanten es doch riskiert, bringt ein nicht hoffähiger Gaul ihn vollends außer Fassung, obwohl Bülow drahtlich »ein garantiert ruhiges Pferd« gefordert hatte. Die ganze burleske Lüge kolonialer Patronage wird deutlich, wenn man nun den Herrn eines Landes, das einem andern Lande eins aufs Prestige geben will, beim Onkel eines schwarzen Sultans opernhaft einziehen und ihn seiner vollen Souveränität versichern sieht, um die Macht des Konkurrenten über ihn zu schmälern.
Die Erfinder dieses Heldenstückes jubelten, denn als Delcassé in Paris darin die programmäßige Provokation sieht, ergreifen seine Kollegen den Vorwand, um sich seiner Autokratie zu entziehen und wecken durch Nachgiebigkeit die schon halbschlafenden Rachegeister Frankreichs aufs neue. Prestige, das Wort im Wappen Satans, gellt durch alle Pariser Blätter und Kehlen: wir sind von den Deutschen gedemütigt worden, Frankreichs versöhnlichere Stimmung, schon bis in die Schulbücher gedrungen, ist hin, gesteigerte Rüstungen folgen, und auf der Konferenz zur Regelung der Marokko-Fragen findet und schließt sich endgültig die Entente. »Es war bei uns« – so urteilt Brandenburg – »eine kleinliche, teils von Verlegenheit, teils von Begehrlichkeit und Prestigerücksichten diktierte Politik, die wieder einmal das Große und Dauernde über dem Kleinen vergaß.«
Hier war es, in Algesiras, wo England zum erstenmal entschlossen mit Frankreich sich zusammentat, während Grey sich mit Cambon über Belgien verständigte, von hier aus wurde das Flottenrüsten Mittel- und Drehpunkt der aktiven Politik. In mehreren Novellen zur sogenannten Verjüngung der Flotte, entrollte sich nun Tirpitz' heimlicher Plan vor den deutschen, doch leider auch vor den englischen Augen, nun wurde der Bauplan bis 1917 und 20 durchsichtig, die Unruhe mußte in England den Wunsch nach Abwehr erregen. Als Bülow jetzt bremsen wollte, war es zu spät.
Man darf ihn nicht einfach mit Unkenntnis des Laien entschuldigen: den Plan hat er bei seinem Eintritt vorgefunden und zehn Jahre später, auf der Höhe seiner Macht bekämpft. »Wenn wir bei unseren Flottenrüstungen den Nachdruck mehr auf die Defensive legten, fiele der Hauptgrund der Spannung mit England weg, vielleicht wäre es auch für unsere eigene Sicherheit besser.« In diesem Grundgedanken empfahl er Unterseeboote und Küsten-Verteidigung und schrieb August 08 dem Kaiser: »Man muß den wachsenden Baum vor Sturm und Entwurzelung schützen. Geht der Flottenbau so weiter, so wird der Besuch des englischen Königspaares unwahrscheinlich«; auch schrieb er über die Gefahr des Dreifrontenkrieges. Weit ernster warnte Metternich aus London: lehnte man Verhandlungen über die Flotte mit England ab, dürfte er nicht mehr unverbindliche Gespräche führen, so wüchse die englische Kriegsgefahr.
Doch was nützten den Kaiser die Mittel der Defensive! Fest entschlossen nicht anzugreifen, wollte er doch in schimmernder Wehr vor seinen Blutsverwandten stehen, und wenn Tirpitz Schlachtschiffe baute, so blühte des Kaisers unkriegerisches Herz auf und er verachtete alle Warnungen vor dem mit jedem Schiff gesteigerten alldeutschen Spektakel, der nun auch das Bürgertum aufzuregen begann. Wir uns vorschreiben lassen, wieviel wir bauen dürfen? Hat England vielleicht unsere Schiffe bezahlt? Man spricht von Rüstung ad infinitum, von Wettrüsten? »Das ist absolut falsch und eine willkürliche englische Übertreibung«, schreibt der Kaiser. »Unsere Gesetzgebung sieht für 1918 bis 20 eine Flotte von 40 Linienschiffen vor. Diese Zahl ist von Tirpitz und mir als vollkommen hinreichend fixiert und vom Reichstag festgelegt worden durch Gesetz ... Es besteht weder bei ihm noch bei mir die allergeringste Absicht, über dieses ... Programm im Linienschiffsbau hinauszugehen ... Eine große Novelle 1912 oder später ist nicht beabsichtigt und besteht nur in der Phantasie der total verrückten Briten ... Von 1920 ab können wir uns unverbindlich mit ihnen über Bauten verständigen.« So versichern galante Mädchen: nur noch dies Eine Abenteuer, dann werden wir ein für allemal moralisch werden!
Aber die majestätischen Zahlen waren Tirpitz zu klein, und bald wußte man drüben, daß er neue Pläne unter dem Barte trug. »Ein Paradegesetz – so urteilt Admiral von Pohl, Flottenchef im Kriege (Aufzeichnungen, S. 97) –, eine Paradeflotte, eine Prestigepolitik lag Tirpitz in erster Reihe; dabei sind die kleinen Kreuzer und die Torpedoboote mit Größe und Armierung zu kurz gekommen.« Da nutzte es freilich nichts, wenn der Kaiser, Februar 08, dem Ersten Seelord in einem Briefe direkt seine friedlichen Absichten versicherte; es gab nur Lärm im Parlament, der Lord kam in Verlegenheiten, der König sprach sein Befremden über den Briefwechsel eines Monarchen mit einem Minister aus, Lord Roberts erklärte eine deutsche Invasion für möglich, und Metternich wird mitten im Sturm der Presse nicht müde, als Englands Lebenspflicht seine Überlegenheit zur See zu betonen. »Sie müssen sich eben an unsere Flotte gewöhnen«, erwidert der Kaiser, »und von Zeit zu Zeit müssen wir ihnen versichern, es sei nicht gegen sie.«
Um diese Zeit, Sommer 08, setzten sich zwei gescheite Juden zusammen und versuchten, ohne falsches Pathos und ohne echtes Pathos als zwei gewichtige Geschäftsleute die Sache in Ordnung zu bringen. Ballin und Cassel, unabhängige Vertraute ihrer Könige: der Engländer mehr Grandseigneur, der Deutsche mehr Emporkömmling, jener umgeben von der Freiheit eines Landes, das noch vor kurzem einem Juden die Leitung des Staates übergeben, dieser im Kampf mit der Unfreiheit eines Landes, gegen dessen Rasseninsulte er fortgesetzt auf der Hut sein mußte; Cassel in einer ihm adäquaten, Ballin in der peinlichen Rolle eines Mannes, der etwas Fremdes, Unbequemes vertreten soll.
Cassel: »Die Sorge vor Deutschlands wachsender Flotte ist es, die uns der Entente zuführt. Wir werden Deutschland einmal anfragen müssen, wann es aufhören will, zu bauen.«
Ballin: »Die Anfrage allein würde den Krieg bedeuten.« Diese Corpsstudenten-Antwort war mit dem Kaiser vorher verabredet, Bülow spricht sie zugleich in einem Rundschreiben aus. Jetzt fällt es den Herren auch ein, was sie vor acht und zehn Jahren abgelehnt haben: »Die einfachste Lösung ist eine Entente oder Bündnis mit uns,« schreibt der Kaiser, »dann sind wir aller Sorgen ledig. Hirnverbrannter Blödsinn, daß die Engländer an unseren Überfall glauben! So dämlich werden wir niemals sein! Das wäre ja Harakiri!«
Als Metternich, Juli 08, ganz im Sinn der plötzlichen Sehnsucht nach Bündnis nun um so offener die englischen Minister als Friedensfreunde darstellt, die nur eine gleichzeitige Verringerung der Flotte suchen, ist der Kaiser wütend und schreibt an den Rand: Versteckte Drohung! Nichts vorschreiben lassen! Botschafter hat seine Befugnisse überschritten! »Es muß ihm bedeutet werden, daß mir ein gutes Verhältnis mit England um den Preis des Aufbaues der Flotte nicht erwünscht ist. Das ist eine bodenlose Unverschämtheit, die eine schwere Insulte gegen das deutsche Volk und seinen Kaiser in sich schließt, die a limine vom Botschafter abgewiesen werden mußte ... Das Gesetz wird ins letzte Tüpfelchen ausgeführt, ob es den Briten paßt oder nicht, ist egal. Wollen sie den Krieg, so mögen sie ihn anfangen, wir fürchten ihn nicht! ... Ich muß mir ausbitten, daß der Botschafter in Zukunft dergleichen Expektorationen unbedingt abweise.«
Nachdem der Kaiser den Reichstag »ordentlich hineingelegt hatte und die Hunde zahlen müssen«, nimmt er nicht bloß vor der Welt, auch hier in verschwiegenen Marginalien die Pose des Evangelisten an: damit erfüllet werde, was im Gesetz steht. Bülow, der solchen Tadel an den Botschafter nur in sehr abgeschwächter Form weitergibt, ordnet jedenfalls eine hinhaltende Politik an mit der Begründung: Kaisers Befehl. Als es in diesen Wochen zum Klappen kommt, zieht sich beim Besuch des Königs Bülow, ohne gerade ein Löwe zu sein, in seine Höhle zurück, obwohl der König Harding mitbringt und Lloyd George gleichzeitig nach Berlin gehen läßt, um, trotz aller Drohungen, den Flottenbau noch einmal zu besprechen. Lloyd George brauchte eine Verständigung, um sein großes Finanzprogramm gegen den Grundbesitz von Flottenbauten zu entlasten, sonst sah das Kabinett schwere Kämpfe voraus und sie kamen. Man wollte vermitteln, man kam mit den egoistisch besten Absichten.
Friedrichshof, August 08: der König spricht mit seinem Neffen über die Sache gar nicht, Harding aber geht nach dem Diner direkt aufs Ziel. Im Laufe der Unterhaltung sagt Harding: »Wäre es nicht möglich, daß beide Länder zusammen ihre Rüstungen gleichmäßig einschränkten?«
Kaiser: »Nur nach unsern Bedürfnissen.«
Harding: »Ein Abkommen sollte doch denkbar sein, wonach beide aufhören oder langsamer bauen.«
Kaiser: »Das ist eine Frage der nationalen Ehre und Würde. Eher würden wir kämpfen!« Darauf bekommt Harding einen roten Kopf und den gleichfarbigen Adlerorden Erster Klasse.
Die Engländer kehren mit dem Gefühl nach Hause zurück, hier ist nichts mehr zu machen; der Kaiser aber, in seinem Bericht an Bülow, von sich begeistert, erhält jetzt von diesem einen neuen Brief der Warnung, wonach mangelnde Verständigung die Kriegsgefahr erhöhe, ein englischer Krieg aber jetzt für uns übel enden könne. Erneut erklärt der Kaiser jede amtliche Anregung zur Einschränkung für einen feindlichen Akt.
Jetzt war der Augenblick für Bülow, abzugehen. September 08: warum hat sein erstaunliches Tastgefühl – einer seiner feinen Sinne – ihm nicht vorausgezeigt, was zwei Monate später geschehen und gegen ihn geschehen sollte? Als Warner und Prophet wäre er gegangen.
Jahresende spitzte sich's noch einmal zu. Metternich hatte mit einer in Botschaftsberichten seltenen Festigkeit des Tones gegen den Kaiser, der ihr Hauptleser war, auf Tirpitz' Theorie von Konkurrenz und englischem Neide geschrieben, »daß der Kardinalpunkt unserer Beziehungen zu England in dem Wachsen unserer Flotte liegt. Es mag dies nicht erfreulich für uns zu hören sein, ich sehe aber keinen Nutzen darin, die Wahrheit zu verschleiern und könnte dies auch nicht mit meiner Pflicht vereinbaren.« Er warnt zu glauben, das englische Volk ließe sich durch neue Steuern oder Furcht in unsere Arme treiben; es werde im Gegenteil doppelt rüsten. Tirpitz erwidert: sie werden bald kein Geld mehr haben und dann nicht weiter bauen. Kurz darauf wurde Lloyd Georges Finanzplan angenommen und weitergebaut. Nun stellte Bülow an Tirpitz die Doktorfrage: »Kann das deutsche Volk einem englischen Angriff mit Ruhe entgegensehen?«
Der Admiral schwieg zwei Wochen lang. Dann schrieb er Nein und empfahl Ausbau der Flotte, um England davon abzuschrecken. Bülow erwiderte, das sei keine Antwort, wir sollten lieber die Küste verteidigen, jährlich höchstens drei Schlachtschiffe vom Stapel lassen. Tirpitz stellte für diesen Fall seinen Abschied in Aussicht: er konnte es wagen, aus ihm sprach ja der Kaiser. Bülow, der wegen zweier Worte im Vertrage von Björkö Entlassung angeboten, konnte ein gleiches jetzt nicht wagen, weil hier der empfindliche Punkt des Kaisers touchiert war. Auch Brandenburg urteilt abschließend, »daß die persönliche Empfindung des Kaisers, in einem solchen Zugeständnis liege eine Demütigung für Deutschland ..., maßgebend gewesen ist«.
Zwischen einen spornenden Admiral, einen warnenden Botschafter, einem zu leise mahnenden Kanzler gestellt, völlig frei, mit seinem Votum die Lebensfrage zu entscheiden, konnte der Kaiser nicht anders, als seinen tiefsten Instinkten und Gefühlen folgen.
Es waren die des verletzten Jugendstolzes.
»Ich bin mir wohlbewußt, daß die Könige von Preußen nicht das hätten leisten können, was sie in der Geschichte geleistet haben, wenn sie nicht ein solches Volk hinter sich gehabt hätten, das ihnen die Offiziere und Soldaten, die Beamten aller Klassen in einer Vortrefflichkeit geliefert hat, wie es ein anderes Volk kaum aufweist.« Trotz der Entstellung dieses Gedankens durch den Begriff des »Lieferns« ist doch hier einmal der Untertan mit dem Prädikate Volk bedacht. Es geschah am Geburtstage 01. Zwei Monate später warf ein junger Mann in Bremen ein Eisenstück nach dem Kaiser, das ihm einen leichten Riß im Gesicht beibrachte. Untersuchung: völlige Unzurechnungsfähigkeit des Täters. Trotzdem tiefer Eindruck, schwere Depressionen, Vorgefühl der immer gefürchteten Revolte. Nächste Rede, zwei Wochen später:
»Mein Alexander-Regiment ist berufen, gewissermaßen als Leibwache Tag und Nacht bereit zu sein, um für den König und sein Haus, wenn es gilt, Leben und Blut in die Schanze zu schlagen. Und wenn die Stadt Berlin noch einmal wie im Jahre 48 sich frech und unbotmäßig gegen den König erheben würde, dann seid ihr, Grenadiere, dazu berufen, mit der Spitze eurer Bajonette die Frechen und Unbotmäßigen zu Paaren zu treiben!«
Im nächsten Jahr übernahm der »Vorwärts« Enthüllungen über »Krupp in Capri«, in denen dessen längst bekannte perverse Anlagen im einzelnen bewiesen wurden. Krupp ist gerade bei der Kieler Woche mit dem Kaiser, man wartet, ob er klagen wird. Er bringt sich um. Der Kaiser beim Begräbnis: »Ich halte meinen Schild über ihn ... kerndeutscher Mann ... Ehre angegriffen. Wer war es, der diese Schandtat an unserm Freunde beging? Männer, die bisher als Deutsche gegolten haben, jetzt aber dieses Namens unwürdig sind, hervorgegangen aus der Klasse der deutschen Arbeiter, die Krupp so unendlich viel zu verdanken haben.« Obwohl die Arbeiter diese Meinung nicht teilten, erwirkte man eine Huldigungsdepesche, gegen deren Entstehung sie sich nachher öffentlich wandten. Krupps Witwe aber ließ ihre Klage fallen, der Staatsanwalt stellte das Verfahren ein.
Bei den nächsten Wahlen verloren die Sozialisten viele Sitze, bei den dann folgenden gewannen sie doppelt so viel und zogen in der Zahl von 110 als stärkste Partei in den Reichstag ein. Was dachte dabei der Kaiser? Im Januar 08 kam es wirklich zu Unruhen in der Hauptstadt. Der Kaiser zog 150 Schutzleute ins Schloß und sagte schneidig zu seinem Adjutanten: »Hätte ich am Sonntag von solcher Unordnung erfahren, so hätte ich das Alexander-Regiment alarmiert und selber die Straßen gesäubert!« Worauf ein Hofmann dem entsetzten Andern erklärt: »Das ist gar nicht so gemeint, der Kaiser sagt das nur so, aber er tut es nachher doch nicht« (Z. 187). Als dann aber 30 Verletzte gemeldet werden, sagt der Kaiser: »Ich bin durchaus zufrieden mit der Haltung der Polizei. Aber das nächste Mal sollen sie nicht mit der flachen, sondern mit der scharfen Klinge zuhauen!« (Z. 185.)
Aus diesen beiden Äußerungen kann man auf die Haltung des Kaisers inmitten einer Revolution vorausschließen: schneidige Befehle, doch kein Schritt aus dem Schlosse, wo bewaffnete Macht zusammengezogen wird; Wunsch und Befehl bei den Straßenkämpfen mehr Blut zu sehen – vom Schloß aus, versteht sich –, um wenigstens das Ende seiner Regierung darein zu tauchen, nachdem er es am Anfang verabscheut hatte. Was aber wäre beim Versagen der Leibwache geschehen? –
Auch die Bundesfürsten hat er nicht anders als eine großartige Leibwache betrachtet, »denn pariert muß werden«, das hatte schon der Prinz in jenem Brief an Bismarck den Fürsten als Richtschnur gesetzt. In Wahrheit bildeten sie eine Fronde gegen ihn, unsichtbar, doch keineswegs schwächer als die Sozialisten. Es war der älteste von ihnen, der die Gefahren seines Wesens zuerst erkannte. Schon Dezember 88 sagte mit der ganzen Vorsicht eines Duodez-Fürsten der Herr von Lippe-Detmold: »Der Kaiser hat fast despotische Neigungen und doch wieder sehr liberale Tendenzen, unglaubliches Gedächtnis und schnelle Auffassung. Man darf daher keine unüberlegten Äußerungen vor ihm tun, sie haften und können ungeahnte Folgen haben, denn er neigt zur Übereilung.«
Als er dann im Jahre 91 in das Goldene Buch von München schrieb: »Regis voluntas suprema lex«, erhob sich das erste Murren; man stritt nur, ob diese Herausforderung auf seine eigene Person oder auf die beiden verrückten Bayern-Könige ging. Bald darauf drahtete er in einer Baufrage an Eulenburg, seinen Gesandten, offen: »Lassen Sie sich durch das Geschrei der dämlichen bayerschen Treue nicht irremachen, die auf jeden Blödsinn hereinfällt ... Ich habe weidlich, über die unglaubliche Torheit der guten Bayern gelacht!« Erschreckt bittet Eulenburg untertänigst, er möge das nächste Mal solche Dinge chiffrieren.
Das Bundesheer, das unter des Kaisers Befehl stand, mußte zur Quelle der Eifersucht werden. Um das Kommando in Stuttgart hatte sich der gute König von Württemberg, dem Kaiser nur an Namen gleichend, bei einem Manöver Herbst 94 so heftig gezankt, daß er plötzlich abreiste. Ähnlich ging es in Bayern zu, und als infolge ständiger Hervorkehrung des preußischen Primates ein deutscher Konsul bei einem Empfang des Prinzen Heinrich in Moskau vom »König und seinem Gefolge« sprach, rief der bayrische Thronfolger sogleich von der Moskauer Tafel in die Welt hinaus, die deutschen Bundesfürsten sind keine Vasallen.
So faßten die »alten Onkels« das Parieren auf.
Der kleinste Staat hatte den größten Ärger. Als Sommer 98 der neue Grafregent von Lippe-Detmold den Seinigen den Titel Erlaucht und den Ehrengruß des Militärs zusprach, ließ das der Kaiser brüsk verbieten. Auf eine höfliche »Bitte und Vorstellung«, in die er seine Beschwerde gegen das Generalkommando kleidete, empfing der Regent diese Depesche: »Ihren Brief erhalten. Anordnungen des Generalkommandos geschehen mit meinem Einverständnis ... Dem Regenten, was dem Regenten zukommt, weiter nichts. Im übrigen will ich mir den Ton, in welchem Sie an mich zu schreiben für gut befunden haben, ein für allemal verbeten haben.«
Darauf erhob sich der kleinste Regent gegen den größten in deutschen Landen und legte in männlicher Form durch Zirkularnote an alle deutschen Fürsten Verwahrung ein. In allen zwanzig Hauptstädten war die Erregung weit größer, als sie das Standesgefühl der Fürsten laut werden ließ, überall Schrecken: dieser impertinente Ton konnte ja morgen auch einen der Könige treffen! Einspruch im kleinen Landtage, Beratung im Bundesrat, Reichsgericht. Der Kaiser hatte der Regentschaft durch den Sohn des Fürsten bald auch die Anerkennung verweigert, Vereidigung der Truppen verboten. Aufgebot höfischer Staatsrechtslehrer, die umständlich bewiesen, daß Recht Unrecht sei, bis sie den Prozeß dennoch verloren und der Kaiser zum erstenmal, wenn auch nur durch deutsche Fürsten, der Bezwungene war.
Sein nervöser Charakter, wie wir ihn in der Mitte seines Lebens und unserer Darstellung nun ausbreiten, ist privatim schon vor Jahrzehnten, nach seinem Ausscheiden auch öffentlich von Psychiatern geprüft worden, vaterländische Männer haben im Jahre 19 die Geisteskrankheit des Kaisers zu beweisen gesucht, um dem Feinde seine Schuldlosigkeit am Kriege zu bekräftigen. Da es sich bei diesem völlig unkriegerischen Fürsten um Vorsatz niemals, nur um Fahrlässigkeit handeln konnte, so war diese Debatte überflüssig; sie ist es heut erst recht. Wilhelm den Zweiten als Bürger in irgendeinem Strafprozeß, würde kein sachverständiger Arzt als unzurechnungsfähig bezeichnen. Freilich sind begabte und komplizierte Charaktere wie dieser niemals normal, liegen immer im Grenzgebiet, und wenn es den Psychiater reizt, den Fall als den eines Neurotikers zu beschreiben, so sucht der Psychologe diese Flucht ins Kranke gerade zu vermeiden und die Erscheinung natürlich und einfach zu erklären, wie sie Vererbung und Milieu, Mangel an Hemmnissen und an Widerspruch entwickeln mußten.
Wichtig sind nur die frühen Zweifel an seiner Normalität. Vom Zweiunddreißigjährigen schreibt Waldersee: »Ganz offen soll vielfach besonders bei Ärzten die Frage besprochen werden, ob, vielleicht im Zusammenhang mit dem Ohrenleiden, sich langsam eine geistige Störung entwickelt« (W. 2, 228). Vom Siebenunddreißigjährigen: »Seit der Nordlandsreise ist das alte Ohrenleiden wieder aufgetreten, was ihn sehr deprimiert. In dieser Stimmung haben seine Nerven wiederholt versagt ... Sollten jetzt große politische Enttäuschungen hinzutreten, was immerhin möglich ist, so wäre der Zusammenbruch da« (W. 2, 374). Über den Vierundvierzigjährigen berichtet der Leibarzt Leuthold, »man müsse bald einmal einen Badeaufenthalt mit strengem Regime zu Hilfe nehmen,« Eulenburg aber, als Begleiter auf der Nordlandreise, warnt Bülow und will ihn »auf die langsame Veränderung in dem geistigen und seelischen Zustand unseres lieben Herrn hinweisen ... Es wird mir schwer, Dir diese Beobachtung mitzuteilen, aber Du verstehst den Sinn meines Briefes ... Auch würde die Krise keineswegs – wie so viele fürchten – oder hoffen – in der Form einer geistigen Störung erfolgen. Sie würde in der Form eines Zusammenbruches der Nerven ... eintreten.«
Wenn so kluge und intime Begleiter über zwölf Jahre weg in den schlimmsten Zeiten nur Zusammenbrüche befürchten, so fragt man zur Entscheidung der pathologischen Kernfrage nach dem Verhalten in den stärksten Krisen. Weder der Anfang noch das Ende des Krieges haben den Kaiser auch nur momentan geistig gestört; nach allem, was geschah, schreitet er jetzt rüstig, gesund und unverändert auf die Siebzig zu.
Die Gaben des nervösen Charakters hat er entschieden; zwei seiner besten Kenner und Kritiker, die lange in seiner Nähe lebten, ohne Hofleute zu werden, nennen ihn noch heute hochbegabt. In der Tat hat er von der englischen Seite Verstand und Geschick in einem Grade übernommen, wie ihn die Hohenzollern seit einem Jahrhundert kaum aufweisen. Sonst aber war die Auswahl der zu vererbenden Eigenschaften unglücklich, von den beiden wahrhaft vornehmen Großvätern hat er nichts, dagegen auch von beiden Eltern nur ihre Schwächen mitbekommen: Friedrichs Pose und Eitelkeit, Viktorias Ehrsucht und Trotz, alles verschmolzen zu der immer wachen Unsicherheit eines leicht entstellten Menschen vor den Blicken der Welt. Alle cäsarischen Züge haben in diesem verlegenen Willen zur Schneidigkeit ihren ersten Anstoß; freilich sind sie später mit steigender Macht von selber gewachsen.
Die Raschheit seines labilen Charakters ließ aus seinem begabten Kopfe Einfälle entspringen, die durch Geschmack und Kombination frappierten. Da ist zunächst die Prägnanz des geborenen Volksredners: »Der Dreizack des Neptun gehört in unsere Faust«: das vergißt niemand. Zur Eröffnung eines Technikums: »Mathematik und Naturwissenschaften haben die Wege gewiesen, auf denen der Mensch in Gottes gewaltige Werkstatt immer tiefer einzudringen vermag«. Zur Einweihung einer Marineschule: »Denken Sie bei der Arbeit daran, daß sie nicht nur eine Ansammlung von Wissen bedeutet, sondern auch Ausdruck von Pflichtgefühl und Energie ... Auf den Charakter kommt es in erster Linie an«. Oder anmutige Wendungen, wie nach einem Geburtstag an die Großmutter: »Wie wunderlich muß es Dir erscheinen, daß das winzige Wesen, das Du so oft in Deinen Armen hieltest und das der Großpapa in seiner Serviette schwang, jetzt die Vierzig erreicht hat, die Hälfte Deines segensreichen Lebens ... Hoffentlich bist Du mit Deinem sonderbaren und temperamentvollen Kollegen nicht unzufrieden« (Lee 740). Mit wieviel zarter Ironie wird in diesen Sätzen mitten in Konflikten der Königin ein Lächeln abgezwungen!
Da er wie ein Kalif gern schenkt, findet er für Orden und Titel in bestimmter Lage Nuancen heraus, die nicht nur die Beschenkten entzücken. Dem alten Menzel in Sanssouci sein Flötenkonzert darzustellen; dem neunzigjährigen Moltke die siegreichen Fahnen als Ehrung zum Geburtstag in sein Haus zu schicken: kleine Einfälle von großem Charme. Sie werden auch politisch. Bei Carnots Ermordung begnadigt er zwei wegen Spionage eingesperrte, französische Offiziere und schickt sie in die Heimat, um dem Lande sein Mitgefühl zu zeigen. Er tritt gegen das Duell auf und erzwingt großen Rückgang dieser Unsitte unter den Offizieren, im Jahre 07 sucht er sogar die Strafen wegen Majestäts-Beleidigung zu mildern.
Wenn in solchen Fällen Instinkt und Verstand auch gegen die Ratgeber gut arbeiteten, warum nicht öfter? Gaben und Einsichten hätten diesen Fürsten in der Tat zu einem trefflichen machen können, wären sie nicht ständig von Wünschen und Ressentiments, von Furcht und Affektation durchkreuzt worden. Eine Analyse dieser gefährlichen Triebe ist niemand früher und besser gelungen als Waldersee, der als Chef des Generalstabes schon Sommer 90 über den Dreißigjährigen resümiert:
»Der Kaiser hat noch auf keinem Gebiet eine eigentliche Ansicht und weiß nicht, wo er hinaus will; er ist von leidlich geschickten Leuten leicht zu beeinflussen und macht die überraschendsten Sprünge nach allen Seiten. Ein Gedanke bestimmt alle seine Handlungen: das Interesse für seine persönliche Stellung, der Wunsch populär zu sein. Dazu tritt die Sorge für persönliche Sicherheit und eine schnellzunehmende Eitelkeit. Ich habe den Kaiser Friedrich für einen sehr eiteln Herrn gehalten, der sich gern drapierte und posierte, der jetzige Herrscher übertrifft ihn aber bei weitem. Er hascht geradezu nach Ovationen und hat nichts lieber als Hurra brüllende Volksmassen. Da er von den eigenen Fähigkeiten sehr eingenommen ist, was leider auf Täuschung beruht, so empfindet er Schmeicheleien sehr angenehm. Gern spielt er den Mäzen und wirft mit dem Gelde um sich, ohne sich die geringsten Sorgen zu machen. All das hat sich so schnell entwickelt, daß ich von einem Staunen ins andere geriet. Er besitzt eine bezaubernde Liebenswürdigkeit und gewinnt die Herzen überall, wo er hinkommt und nicht lange bleibt« (W. 2, 137).
Hier sind die sichtbarsten Züge schon aufgeführt: Schneid, Eitelkeit, Cäsarentum, Labilität, Charme, Verschwendung. Von seiner furchtsamen Schneidigkeit, zu der ihn sein Gebrechen am frühesten hinleitete, stammen alle äußerlich antipathischen Erscheinungen. »Er konnte nicht vertragen, daß ihm jemand fest ins Auge sah« (AI. 359), lachte gern laut und etwas schrill und sprach in Gesellschaft mit peinlich schnarrendem Tone. Während er immer versuchte, die Franzosen zu versöhnen, ließ er sich für die Pariser Botschaft als Garde du Corps mit schwarzem Küraß und Purpurmantel malen, gestützt auf einen Feldherrnstab, so daß Waldersee sagte, über dies Bild dürfe man erst in zwanzig Jahren urteilen: hat er dann große Taten verrichtet, so ist es ein ausgezeichnetes Bild, ist es anders gekommen, so wirkt es einfach lächerlich.« Gallifet aber stand davor und sagte zum Botschafter: »Pour vous dire la verité, ce portrait là, c'est une déclaration de guerre!« (Eck. 1, 240).
Die kriegerische Wirkung solcher Pose wurde zuerst in Rußland deutlich, wo man des Kaisers Äußerungen anfangs noch als politischen Ernst bewertete. »In Rußland wird tatsächlich weiter gerüstet,« schreibt Waldersee 92, »weil man dort an unsere Angriffspläne glaubt. Leider haben sorgfältige Ermittlungen ergeben, daß an dieser Auffassung wahrscheinlich ... unser Kaiser die Schuld trägt. Er hat sich nämlich wiederholt in höchst unvorsichtiger Weise antirussisch geäußert, z. B., wie er die Russen schlagen wolle ... Ich zweifle nicht, daß derartige Bemerkungen noch viel öfter im Familienkreise gemacht werden und von dort weiter an die Öffentlichkeit gelangen ... Nach meiner Überzeugung liegt die Sache noch obendrein so, daß alle diese Worte und Reden einem Furchtgefühl entstammen, wie ein Kind deshalb schreit, um sich Mut zu machen ... Da der Monarch dies aber unter keinen Umständen merken lassen will, entwickelt er Eigenwillen und Härte in kleinen Dingen und redet sich damit selbst vor, er sei ein sehr energischer Mann« (W.230f).
Aus Furcht und Eitelkeit schwoll in ihm jenes Cäsarentum, dessen Sturzwasser in alle Kanäle der Regierung drangen, um sie zu überschwemmen. »Er läßt«, schreibt Waldersee schon 91, »niemand mehr zu Worte kommen, spricht die eigenen Ansichten mit großer Sicherheit aus und wünscht anscheinend keinen Widerspruch.« In diesen Jahren sagt der Kaiser öffentlich: »Es gibt nur Einen Herrn im Lande und der bin Ich.« Zwei Jahre später heißt es schon: »Ich bringe diese Militärvorlage durch, koste es was es wolle ... Ich jage den halbverrückten Reichstag zum Teufel, wenn er mir Opposition macht!« (W. 2, 274). Ebenso denkt er über die Rechte der Bundesstaaten, befiehlt im Jahre 95, welche Eskorte und wo sie ihn im unabhängigen Freistaat Hamburg empfangen soll, der ihn als Gast aufnimmt. Vier Jahre später ist die Verblendung bis zu diesem Punkte gestiegen: »Wie großmütig und gnädig!« schreibt er an einen Bericht aus Petersburg. »So ungefähr muß Nikolaus zu Friedrich Wilhelm IV. geredet haben. Das ist aber unter mir verflucht anders! Bitte!! Die Hacken zusammen und stramm stehen, Herr Murawiew, wenn er mit dem Deutschen Kaiser spricht!« (A. 14, 554).
Doch das ist noch kein Höhepunkt, »das Autokratische in der Persönlichkeit des Kaisers nimmt zu«, schreibt Zedlitz im Jahre 06. Als er von einer Lustfahrt nach Palästina heimkehrte, ließ er sich zwischen beflaggten Häusern bei seinem Einzug in Berlin wie nach einem siegreichen Kriege beglückwünschen. Eine Medaille zur Einweihung der neuen Wittenberger Kirche muß sein Bildnis tragen statt Martin Luthers. Als der Leibarzt ihn über seinen »kleinen Schnupfen« trösten will, richtet sich der Kaiser plötzlich auf, sieht ihn ernst an und sagt: »Ein großer Schnupfen! Bei mir ist alles groß« (Z. 174). Hier enthüllt die Mischung von Scherz und Ernst mehr, als er preisgeben möchte. Ein Vorschlag des Staatsministeriums, bei Geburt des ersten Enkels eine Amnestie zu erlassen, geht mit dem Vermerk zurück: »Das Ministerium hat zu warten, bis der Souverän ihm seine Anregungen zugehen läßt.« Als Wißmann aus Afrika heimkehrt, im Beginn seines Vortrages die ritterliche Wendung braucht, »den schnellen Erfolg habe ich in erster Linie der Tüchtigkeit meiner Offiziere zu danken,« unterbricht der Kaiser: »Das sind Meine Offiziere!« und läßt ihn stehn.
Wo aber nimmt man in modernen Zeiten als Halbgott die Embleme der Gottheit her? Alexander konnte sich noch zum Sohne Jupiters erklären, aber Napoleon sagte, jedes Fischweib würde ihn bei solchem Versuch auslachen. Und kurz, wie wird man als Kaiser Feldmarschall? Verfrüht ernennt er seine beiden Vordermänner, den einen nach einem ungünstigen Manöver, zu General-Obersten mit dem Range des Feldmarschalls, den Moltke weder nach Königgrätz noch nach Sedan errungen hatte. Als er sich zur Centenarfeier selber zum Generaladjutanten macht, gibt er an, Wilhelm der Erste habe ihn als Traumerscheinung dazu ernannt (Gesandter von Jagemann, Aus 75 Jahren); begründet also eine sinnlose Beförderung mit mystischen Gesichten, um sich gewisse Schnüre anzuhängen.
Dann legt er selber, Mai 1900, die Abzeichen des Feldmarschalls an, nachdem er den beiden ältesten Generalen befehlen ließ, ihn darum zu bitten. Mit dieser Würde glaubt er aber auch die Einsichten des Feldherrn vollends empfangen zu haben, denn bei den Manövern sagt er bald: »Ich brauche keinen Generalstab, ich mache alles allein mit meinen Flügeladjutanten.« So kommt es zu Eingriffen in die Leitung der Manöver, »Schlieffens Gehilfen waren außer sich, mußten sich aber darein finden und geduldig zuhören, wenn der Kaiser im größten Kreise über den Generalstab harte Urteile fällte« (W. 3, 225).
Eine andere Form dieses Cäsarentums ist Roheit gegen Freunde, Gäste, Vertraute, wie sie Zedlitz jahrelang beobachtet hat: Der Kaiser zieht einen alten Major am Ohre und gibt ihm einen Schlag in den Nacken, daß er taumelt. Auf der Fahrt nach dem Schießplatz empfängt er den Kriegsminister und den Chef des Militär-Kabinetts mit den Worten: »Ihr alten Esel glaubt, ihr wißt alles besser, weil ihr älter seid als ich!« (Z. 68). Auch Damen, die Fürstin Fürstenberg in Donaueschingen, die Fürstin Leiningen im Straßburger Statthalter-Palais wurden »herangewinkt, um dann von S. M. zu Tische geführt zu werden ... Der Großfürst Wladimir erhielt mit dem Marschallstab einen Schlag über den Rücken, daß es knallte, natürlich galt das als Spaß« (Z. 69).
Auf einer schlesischen Jagd im Herbst 04 drückte er den Obersten von B. längere Zeit in den Schnee »und rieb ihn dann zur Freude aller Umstehenden mit Schnee ein, so wie ein stärkerer Schuljunge einen schwächeren behandelt. Die ganze Jagdgesellschaft und Hunderte von Treibern waren Zuschauer. Noch schlimmer erging es dem Grafen Roger Seherr-Dobran. Man bedenke, er ist preußischer Kammerherr, Mitglied des Herrenhauses, hat zwei Söhne als Offiziere bei den Leibgardehusaren, ist 53 Jahre und hat durch seine großen Besitzungen eine sehr angesehene Stellung in Schlesien. Bei der ersten Begrüßung sagte ihm der Kaiser ganz laut: »Was, Sie altes Schwein sind hier auch eingeladen?« Die Herumstehenden, ja sogar die Damen konnten diese Anrede ganz deutlich hören. Der Graf war natürlich innerlich empört und sprach sich auch seinen näheren Bekannten gegenüber so aus« (Z. 91), anstatt den Kaiser vor aller Welt, auf der Stelle zurechtzuweisen.
Oder er macht den Cäsar als Familienhaupt, erzählt »sehr komisch,« wie der Großherzog von Weimar sich am Abend vor seiner Hochzeit dienstlich bei ihm gemeldet und erklärt habe, er könnte nicht heiraten, die Braut habe ihn beleidigt. Kaiser: »Wenn ich, der Deutsche Kaiser ... zu Deiner Hochzeit herkomme, ... dann kannst Du am Abend vorher nicht erklären, Du wolltest nicht heiraten. Du hast mir in Deinem Fahneneide Treue gelobt, und ich befehle Dir, daß Du morgen heiratest.« Nach diesem Mißbrauch des Eides überredet er auch die Braut, wartet aber beim Umziehen in ihrem Vorzimmer, um sie dann selbst in den Wagen zu bringen, damit sie nicht entwischt. (Z. 113). Aus der Ehe-Hölle, der beide Gatten noch am Tage vorher entfliehen wollten, wurde die Frau nach zwei Jahren durch den Tod befreit.
Cäsarisch war die Führung der Kunst durch den Kaiser gedacht, worüber schon damals am meisten gespottet wurde, heut aber um so weniger zu erzählen ist, weil dies das einzige Gebiet blieb, auf dem seine Torheiten im Grunde niemand geschadet haben: Kunst und Dichtung wurden durch den Widerspruch mit dem Herrscher eher beflügelt, und hier hat er uns überdies seine amüsantesten Aphorismen geschenkt, z. B. das kritische Wort zu Tschudi über Leistikow: »Ich kenne den Grunewald, ich bin selbst Jäger.« Der einzige Deutsche, der in der Kunst- und trotzdem auch in der Hofgeschichte Wilhelms des Zweiten lebt, Menzel hat den Schwarzen Adler-Orden nur einer gelegentlichen Stoffwahl trotz seiner Meisterschaft zu danken. Der naive Unsinn aber, der vom Kaiser über die Kunst gesprochen, befohlen, enthüllt und inszeniert wurde, verblaßt hinter den schweren Folgen seines cäsarischen Wirkens auf politischem Gebiete.
Mit dem Cäsaren- fällt das Gottesgnaden-Gefühl nicht zusammen, sie gehen parallel. Jenes entstammte seiner Verlegenheit, dieses dem Glauben, jenes war eine Stimmung, dies ein Grundsatz und darum echter. Wenn er dem Zaren im Jahre 05 drahtet: »Wir haben uns die Hände gereicht und vor Gott gelobt, der unsere Gelübde gehört hat, deshalb glaube ich, daß der Vertrag gute Wirkung haben wird,« so fühlt sein Sinn ernsthaft den Bund zweier von Gott begnadeter Fürsten, und es ist nur die spöttische Rückseite desselben Gefühls, wenn er im nächsten Jahre »den Gedanken an einen aufgeblasenen Aide de Camps von unserm Kollegen, dem Holzfäller Fallières an Deiner Seite furchtbar komisch« findet.
Vor Eröffnung des Nordsee-Kanals streiten Lloyd und Hapag um das Fürstenschiff, Ballin wünscht wenigstens einen Teil der deutschen Fürsten auf seinem Schiff zu beherbergen. »Das ist unmöglich, sagt der Kaiser, solche Herren kann man nicht mit andern Menschen zusammenbringen, sie müssen unter sich bleiben« (W. 2, 343). Das glaubt er wirklich, obwohl es auch sachlich falsch ist. Es ist dasselbe Gefühl, das ihn gegen Richard II. auf der Bühne ahnungsvoll skeptisch macht – den einzigen König, dessen Schicksal das seinige sich nähern wird – und das ihn eine englische Darstellung von der Überlegenheit der Könige über Parlamentarier mit dem Vermerk zirkulieren läßt: »Mögen sich meine Ministres das Wort des alten Homer: Einer sei der Herr, Einer sei König! ad notam nehmen und den Schluß obigen articuli sich ordentlich einprägen!« Auch diese Gefühlswege führen zum selben Punkte: Auf einen Botschaftsbericht, in dem es heißt, niemand könne für Jahre in die Zukunft schauen, schreibt er: »Die Gabe kommt vor! Bei Souveränen öfters, bei Staatsmännern selten, bei Diplomaten fast nie.«
Dasselbe Motiv, auf seine Vorfahren übertragen, wird dreißig Jahre lang von ihm variiert, um die Größe seines Wesens aus einer genialen Ahnentafel herzuleiten; dafür zeugt die Siegesallee im Tiergarten, deren Marmor sich dann im Schauspielhaus bewegte, und unter deren Nebenfiguren im Rücken fataler Serenissimi Kant und Bach stehen. Wenn der Kaiser in seinen ersten Reden gern den Großen Friedrich zitierte, so stieß er bald auf Widersprüche mit seiner eigenen Welt und zog sich lieber auf seine Nächsten zurück. So hat er die noble und bescheidene Gestalt des Großvaters im Volksgefühl zum Großen Heldenkaiser umzutaufen versucht und von tüchtigen Ratgebern gesprochen, »die die Ehre hatten, seine Gedanken ausführen zu dürfen, die aber alle Handlanger seines erhabenen Willens waren.« Ein Schriftstück, in dem Bismarck als Gründer des Reiches bezeichnet wurde, kam mit dem köstlichen Vermerk zurück: »Das ist Großpapa gewesen!« (Hammann, Um den Kaiser 80).
Gott, sagt er in einem Brief an Hollmann über sein Christentum, offenbart sich gelegentlich in großen Naturen, »Hammurabi, Moses, Abraham, Homer, Karl der Große, Luther, Shakespeare, Goethe, Kant, Kaiser Wilhelm der Große,« und er fügte dieser Knabenliste als Erklärung in voller Treuherzigkeit den Satz an: »Wie oft hat mein Großvater ausdrücklich betont, er sei ein Instrument nur in des Herren Hand!« So scheint er denn entschlossen, ihn auch nach oben zu erhöhen, denn, sagt er in einer Rede, »wenn der Hohe Herr im Mittelalter gelebt hätte, er wäre heilig gesprochen und Pilgerzüge aus allen Ländern wären gekommen, um an seinen Gebeinen Gebete zu verrichten.« Auch der arme Vater, der als Kronprinz nie selber einen Sieg errungen und dem als König gar keine Zeit gegeben war sich hervorzutun, mußte an die Vergoldung glauben: »Als das Morgenrot des neuen Deutschen Reiches strahlend emporstieg, da durfte er als gereifter Mann die Träume seiner Jugend verwirklichen. Das Deutsche Schwert in der Faust, gewann der Sohn auf blutiger Wahlstatt seinem Vater die Deutsche Kaiserkrone! Seinem Hammerschlag ist es zu danken, daß des Kaisers Rüstung fest geschmiedet war.« Ja, auf dem Umweg über Gottes Fürsten wird sogar das Volk der Untertanen auserwählt, in einer Provokanz, die er einem andern Volke immer übelnahm: »So hat der Weltschöpfer das Volk im Auge behalten, das er sich auserwählt hatte, um endlich der Welt den Frieden zu geben ... Daß Gott sich einen Märker ausgesucht, das muß etwas Besonderes bedeuten.«
Hier ist der logische Ursprung des Deutschen Gottes.
Deutlicher als in diesen halbgedanklichen Erscheinungen tritt der nervöse Charakter in sensuellen Formen hervor. Das ganze Gebiet des Willens war labil; man fragt sich nach den Hintergründen.
Der einzige ernste Zeuge für eine stark entwickelte Sexualität des Kaisers ist Bismarck; doch weder er noch andere, den Hofklatsch überragende Zeugen deuten auf Wege, die außerhalb seiner früh geschlossenen Ehe liegen. Herbert Bismarck erklärte es in den ersten Jahren sogar für nötig, »daß man eine Mätresse für den Kaiser aussuchen müsse, denn alsdann ließe sich am leichtesten regieren« (E. 247). Beim Ersten Garderegiment »war verboten, in Gegenwart des Prinzen Zoten zu erzählen, bei den Gardehusaren war dieser Befehl unterlassen, und der für jeden Scherz aufgelegte junge Herr blies in das plötzlich erklingende Horn so lustig überrascht, daß er es wohl sein Leben lang blasen wird, und doch hat dieser Klang nichts zu bedeuten« (E. 220).
Daß diese Worte von Eulenburg stammen, macht sie doppelt wichtig. Da der Kaiser trotz des immer steigenden Gefühls der Allmacht, trotz Temperamentes, Sucht nach Abwechslung und trotz der Kühle gegen seine Frau sich niemals Frauen zu Geliebten, dagegen wiederholt effeminierte Männer zu Freunden gesucht hat, so bleibt für das zweifellose Fehlen jeder perversen Handlung nur eine Erklärung, und diese stammt eben aus dem alten Unruhpunkte seines Wesens: Schwächen zu verbergen. Auch der Kreis jener Männer um Eulenburg bestand aus kinderreichen Vätern und war doch nicht normal; war der Kaiser ihnen nicht psychisch verwandt, warum umgab er sich dann mit solchen Naturen? Sein steter Wunsch nach Schneid und Männlichkeit schützte ihn vor jeder erotischen Akzentuierung seiner ins Frauenhafte reichenden, sprunghaft-geschwätzigen Natur, die Ringe, Armbänder, Orden und jeden Schmuck suchte; unbewußt bekämpfte er in sich auch das als Schwäche, was ihn an Eulenburg in den empfänglichen Zwanziger Jahren entzückte. In den Herrenwitzen des Kasinos ertränkte er eine nie eingestandene Zartheit, die seine Lebensform zu der seiner Freunde verfeinert, seine Entschlüsse freilich nicht männlicher gestaltet hätte. Wilhelm der Zweite, immer in Flucht vor seiner Schwäche, immer in Sucht nach preußischer Offiziershaltung, schlug in sich alle Differenzierungen nieder, um nur ja ein ganzer Mann zu sein.
Und doch war er von so labilem Wesen wie kein rechter Mann. Hinzpeter, der ihn aufgezogen und ihn schon als Kind weiblich nennt, sprach hinter seinem Rücken kluge Zynismen über ihn aus: »Es ist gar nicht nötig, daß der Kaiser die Sache zu Ende führt, die Hauptsache ist, ihn nur immer in Atem zu halten. Wenn nichts Neues kommt, so fällt er in Apathie« (W. 2, 174). Mit dem Schwanken der Stimmungen ging sein Urteil über Diener, Fürsten und Völker auf und nieder. Verhältnis zu Windthorst: März 90: »Wenn Windthorst ins Schloß kommt, so lasse ich ihn arretieren.« Dezember: lange Unterredung mit Windthorst beim Reichskanzler, der ihn einladen durfte. Januar 91, bei einem Unfall Windthorsts: »Ist es wohl zu viel, wenn ich mich durch einen Flügeladjutanten erkundigen lasse?« Gleich darauf, vor der Liste zum nächsten Hofball: »Warum ist denn Windthorst nicht dabei?« (W. 2, 184).
Diese Umschläge der Stimmung schadeten vor allem ihm selber, weil ihm zuerst alle Parteien glaubten und sich dann alle betrogen fühlten. Er ist streng lutherisch, spricht aber in verführerischen Worten vor Bischöfen über den Papst und begegnet diesem mit Huldigungen, wie nie vor ihm ein protestantischer Fürst. Oder er sagt, Ende 89, in einer Rede diese in seiner Jugend noch möglichen schönen Sätze: »Ich werde erst durch ein langes Leben zu verdienen haben, was mir aus treuem Herzen jetzt dargebracht wird ... Wenn ich mich manchmal mit dem Gedanken trage, ob ich der Aufgabe gewachsen bin, so ist es für mich immer eine Stärkung, ... wenn mir Worte des Vertrauens entgegengebracht werden.« Alles lauscht dem Berichte: welch treuer Diener des Staates! Drei Tage darauf, ohne den geringsten Zwischenfall: »Man wird es in Berlin noch so weit bringen, daß die Sozialdemokratie die Mehrheit bekommt, dann werden sie die Bürger plündern. Mir ist es gleichgültig, ich werde Schießscharten ins Schloß machen lassen und zusehen, wie geplündert wird!« Damit war die Wirkung der vorigen Rede zerstört.
Die schweren politischen Folgen dieser Labilität wurden an vielen Punkten dargestellt; die Entscheidung zwischen Rußland und England blieb deshalb in der Schwebe, je nach Stimmung verriet er einen um den andern. Es ist nur ein Beispiel, wenn man an des Kaisers Depesche an den Zaren, Herbst 05, erinnert, »daß der Erz-Unheilstifter von Europa in London wieder am Werke ist. Delcassés Enthüllungen ... zeigen einen geplanten Krieg gegen unsere friedliche Nation. Wie Räuber im Walde!« Neun Monate später: »Ich hoffe aufrichtig, daß der Gedankenaustausch zwischen Onkel Bertie und mir, der sich nur um die Befestigung des Weltfriedens drehte, Dir und Deinem großen Reiche von Nutzen sein wird.«
Zeichen dieses labilen Nervenzustandes sind seine Lieblingsbeschäftigungen: Reisen und Reden. Das stete Reisen, Symbol eines vor sich und vor der Stille flüchtenden Herzens, wurde schon früh, doch erfolglos von den Ärzten bekämpft; auch das Reden, an manchen Tagen viermal öffentlich absolviert, war ein Mittel der immer durstigen Nerven. Der Augenblick, wo an festlicher Tafel sich alles erhob, mit glänzenden Augen in die seinen sah, wo buchstäblich jeder Blick an seiner Lippe hing, dies Schweigen, dies große Aufgesaugtwerden, dies Gefühl mit jedem der nun fallenden Worte morgen die Hauptstädte der Welt zu beschäftigen: das konnte er so wenig missen wie jene Kette von Einzügen und Aufzügen, Empfängen an Stadttoren und in Rathäusern, Fracks, Ehrenjungfrauen, das Fallen der Hülle vom Denkmal, das Gleiten des Schiffes vom Stapel, die Tuschs und Märsche, die Hurras und Fahnen, die Blumen, das Adieu auf dem Perron. Für das Jahr 94 wurden 199 Reisetage, in 17 Jahren wurden 577 öffentliche Reden berechnet, das heißt alle elf Tage eine Kaiserrede.
Eine andere Erscheinung des weiblichen Elementes in ihm ist der Spieltrieb; er ermüdete sich am liebsten am Militär. Schilder, Ketten, Schnüre, Änderungen der Uniform folgten einander durch zwanzig Jahre; die konservative »Schlesische Zeitung« zählte im Jahre 03 schon 30 Änderungen in 15 Jahren, die Abzeichen nicht gerechnet, und erklärte davon höchstens fünf für zweckmäßig. Um diese Zeit führte der Kaiser eine neue Gewehrhaltung ein, nachdem es mit unendlichen Mühen gelungen war, das sogenannte angefaßte Gewehr abzuschaffen, um der Infanterie mehr Zeit für wichtigere Partien zur Ausbildung zu geben. »Ich möchte«, schließt Waldersee, »die Grundstimmung der Armee eine resignierte nennen, man fragt sich oft: Wo will das hinaus?« (W. 3, 192). Über diese Spielereien hat sich am klarsten der Erste Soldat der Armee, der jüngere Moltke im Jahre 05 ausgesprochen:
»Am nächsten Sonntag ist wieder große Fahnen-Nagelung im Zeughaus. Wir meinen noch immer, daß wir in dem Kampf um Leben und Tod den Sieg mit einem Lappen bestickten Tuches erringen werden ... Es graut mir, wenn ich all diesen Unfug mit ansehe, über dem die Hauptsache ... völlig vergessen wird. Da werden den Leuten bunte Schnüre als Schützen-Abzeichen angehängt, die sie nur an der Handhabung des Gewehrs hindern, durch alle möglichen äußeren Auszeichnungen wird der Ehrgeiz angeregt, statt das Pflichtgefühl zu entwickeln, die Uniformen werden immer glänzender, statt feldmäßig unscheinbar gestaltet zu werden, die Übungen werden zu parademäßigen Theaterstücken: dekorativ ist die Losung des Tages, und hinter all diesem Firlefanz grinst das Gorgohaupt des Krieges hervor, der über uns hängt wie eine Wetterwolke. Und keine Umkehr auf diesem Wege, es wird nur immer schlimmer!« (M. 337).
Vor so ergreifenden Klagen des verantwortlichen Feldherrn flüchtet man gern in den Gedanken, daß Heinrich V. im Augenblicke der Not und Gefahr all seine Spiele hinwarf, Soldat wurde und König. Vielleicht, so denkt man, sind das nur Zeichen des Müßigganges, wenn der Kaiser an manchen Tagen zwölfmal den Anzug wechselt, wenn er die Vorstellung des Fliegenden Holländers in Marine-Uniform besucht, die Jagdgruppen im Tiergarten in Gardeschützen-Uniform enthüllt, in seinem Bad eine Schiffspfeife anbringen läßt oder seinen Kammerdiener nach Petersburg schickt, um dem Zaren zu zeigen, wie er den Küraß des ihm verliehenen Kürassier-Regimentes umschnallen soll.
Wie aber, wenn es ernst wird? Als Rußland unter den schwersten Niederlagen knirscht, Ende 04, schreibt der Kaiser dem Zaren: »Waidmannsheil für das große Spiel!« Wie sich's aber in seinem Herzen spiegelt, wenn der Krieg drohend vor ihm selber erscheint, das zeigt eine Notiz von Zedlitz, März 09: »In diesen Tagen ist das ganze Interesse des Kaisers einer etwa notwendigen Mobilmachung zugewandt. Leider spielen nebensächliche Dinge eine unglaubliche Rolle: eine Schiene am Helm, eine besondere Vorrichtung zur Anbringung der Schuppenkette, doppelte Nähte an den Beinkleidern, häufige Besichtigung der Garderobe mit Vater Schulz (Kammerdiener) beschäftigen den Kaiser derart, daß er stundenlang davon sprechen kann.«
Wie in der Armee Auftritt, Haltung, Anzug, so sieht er überall mit den Augen des Schauspielers sofort die Szene, die gespielt werden soll; hier liegt die Verwandtschaft mit Eulenburg, aber man ist geneigt, das Theatralische am Kaiser für echter zu halten, weil er viel naiver ist. Freilich, auch bei ihm führt es ins Absurde: Moltke stirbt 91 jährig, vom Kaiser vergessen, zuletzt auch pensioniert, mit ihm stirbt nichts als eine Erinnerung. Der Kaiser, der zwischen Depeschen-Formularen lebt, um mit Stimmungen und Befehlen den Raum in Sekunden zu überwinden, sagt nicht den Hinterbliebenen sein Mitgefühl im Andenken an den großen, uralt vollendeten Feldherrn, er fragt sich vielmehr: Was sagt ein König, wenn sein ältester General stirbt? Und er ruft durch den Draht: »Bin wie betäubt, eile sofort zurück! ... Habe eine Armee verloren und kann es nicht fassen!« Oder er fährt zu jener geheimen Zusammenkunft nach Björkö, da drahtet er dem Zaren: »Kein Mensch hat die leiseste Ahnung. Alle meine Gäste glauben, wir gehen nach Gothland ... Habe wichtige Neuigkeiten für Dich. Die Gesichter meiner Gäste werden sehenswert sein, wenn sie plötzlich Deine Yacht erblicken. Tableau! Welchen Anzug für Begegnung? Willy.«
Die Kunst des Schauspielers, sich auszulöschen, um eine fremde Person darzustellen, bewährt er auch darin, daß er mit jedermann anders umgeht: dem Zaren ist er nicht weniger zarisch entgegengekommen als Cecil Rhodes demokratisch, Roosevelt amerikanisch, Saint Saëns, Massenet als Franzose: darum entzückt er beim erstenmal fast alle, und Gordon Bennett, der ihn in Kiel kennen und aus Instinkt sofort verabscheuen lernte, bedeutet fast ein Unikum. Wären die Journalisten das, was der Kaiser mit dem Worte Preßbengel zu treffen glaubte, so könnte man ihn wohl einen Journalisten nennen, denn er eignet sich, erzählt Zedlitz, »mit größter Geschicklichkeit und Schnelligkeit, alles Oberflächliche (z. B. einer neuen Welt-Entstehungstheorie) an, so daß er darüber sprechen kann, als hätte er sie selbst erfunden oder als wäre er Professor der Astronomie und hätte jahrzehntelang auf einer Sternwarte gearbeitet. Darauf fallen dann die berühmtesten Leute herein, bewundern seine Kenntnisse, seine erstaunliche Arbeitskraft und die phänomenale Auffassungsgabe« (Z. 211).
Eine offenere Form des Komödiantentums erschließt ihm die Predigt, die ihm an Bord zusteht, aber er besteigt auch auf dem Lande die Kanzel (Wernigerode im Jahre 06). Unter den Schiffspredigten ist eine, Juli 1900 vor Helgoland gehalten, als die ersten Schiffe nach Ostasien fuhren: da knüpft er an ein Wort des Exodus also an: »Warum hat sich heidnischer Amalekitergeist geregt im fernen Osten? Mit großer Macht und vieler List, mit Sengen und Morden will man dem Durchzug europäischen Handels und Geistes wehren. Und wiederum ist der Befehl Gottes ergangen: Erwähle die Männer, zeuch aus und streite wider Amelik! ... Wir aber, die wir zurückbleiben müssen in der Heimat, die wir durch andere, heilige Pflichten gebunden sind, – sagt: hört ihr nicht den Ruf Gottes, der an euch ergeht und der zu euch sagt: Steige hinauf auf den Berg! Hebe Deine Hände empor zum Himmel! Das Gebet der Gerechten vermag viel ... Wir wollen nicht nur Bataillone von Kriegern mobil machen, nein, auch eine heilige Streitkraft von Betern ... Wie wird er sie stärken, begeistern, der Gedanke: Tausende, nein Millionen tragen uns daheim auf betendem Herzen! Der König aller Könige ruft: Freiwillige vor! Wer will des Reiches Beter sein? Oh, wenn es auch hier hieße. Der König rief und alle, alle kamen! Fehle kein einziger von euch! Der ist ein Mann, der beten kann!«
Dies Stück, das jeder Hauptmann der Heilsarmee mit kollegialem Neide lesen mag, stammt aus dem Beginn des Operetten-Krieges und schrillt von falschen Tönen: nicht um Geist geht es nach China, nur um Geld, nicht Gott schickt die Scharen, sondern die Sensationslust eines Fürsten, nicht heilige Pflichten, sondern der Einspruch der Mächte hält die andern zurück, Millionen sind da, die nicht beten, sondern lachen, er aber, im theatralischen Eifer projiziert seine Königsgefühle an den Himmel und hört aus Gottes Munde das preußische Kommando: Freiwillige vor! Diese militarisierte Theokratie ist es auch, die ihn bald darauf beim Festmahl in Hamburg mit schmetternder Stimme den geschmückten Damen und erschreckten Herren kommandieren läßt: »Die Augen auf! Den Kopf in die Höhe! Den Blick nach oben! Das Knie gebeugt vor dem großen Alliierten, der noch nie die Deutschen verlassen hat!«
Der Schauspielerei entspringen seine Affektationen. Das sind nicht bloß die immer zum Photographieren bereiten Herrschermienen, von tiefernst über ernst und heiter zu sprühender Laune, es sind auch einzelne Posen von durchbohrender Symbolik. Nach einem Wettstreit der Männerchöre sagt er den ersten deutschen Dirigenten nicht bloß, wie sie singen müßten, auch daß fast alles zu hoch eingesetzt und »zum Teil einen halben, einen dreiviertel, sogar einen fünfviertel Ton zu hoch geschlossen hätte«, was selbst der Musiker, der es wirklich erlauscht, in dieser Form nie sagen würde. Oder er sieht, selber noch nicht Dreißig, den zwölf Jahre älteren Moltke sich als neuernannten Major melden: da affektiert er den unter hohen Gedanken und Sorgen früh gealterten Herrscher: »Mein Gott, Sie sind auch schon Major? Man wird alt. Wenn ich denke, wie ich Sie noch, als ganz jungen Dachs beim Regiment gekannt habe« (M. 148).
Die dritte und stärkste Form seiner Nervosität ist die Angst: schlagender Beweis gegen »Attila«. Es war der stockkonservative Präsident des Abgeordnetenhauses, der alte Junker von Koller, der zu Hohenlohe sagte: »Gott behüte uns vor dem Kriege, solange dieser Kaiser auf dem Throne sitzt! Er würde die Nerven verlieren, er ist ja feige!« (Al. 338). Hohenlohe, Vater und Sohn, waren von diesem Wort aus solchem Munde zu dieser Frühzeit noch frappiert; später wußten es alle. Aus solcher Nervenverfassung ist niemand ein Vorwurf zu machen, nur wirkt sie störend am Obersten Kriegsherrn des militantesten Volkes. Verkettung des Schicksals: ein verkrüppelter Mensch, zum Offizier, wie sein Erzieher sagte, untauglicher als irgendeiner im Lande, dennoch zu diesem Handwerk verurteilt, wenn er nach der Tradition seines Hauses nicht auf die Krone verzichten will, die man in Preußen eher wegen unheilbarem Zivilismus als wegen Krebs aufgibt, – und nun gezwungen, sich und der Welt ein Leben hindurch einen Mannesmut vorzuspielen, den ihm die Natur durch Schwächung in der ersten Stunde entzogen hatte! Hier liegt das tragische Moment im Leben Wilhelms des Zweiten samt allen direkten Wirkungen auf die Nation.
Denn eben weil er sich dies Angstgefühl des Schwächeren nie eingestehen durfte, den Seinen und der Welt verschwieg, was ihn aufrieb, entwickelte er aus seiner zur Defensive geborenen Natur eine offensive Haltung. So kam es, daß er das Ausland dauernd zu provozieren schien, während er sich vor einem Kriege mehr als mancher ruhige Kollege fürchtete, und daß zugleich derselbe Mann im Lande die Bürger durch fortgesetzte Drohungen gegen den roten Reichsfeind erschreckte.
Darum durften nur Junker in die Garde, und diese durften rascher avancieren, was die Linien-Offiziere verbitterte, darum plante er »in seiner Besorgnis vor Anarchisten in der Nähe des Schlosses einen womöglich gepanzerten Turm bauen zu lassen, der die Spree und ihre Brücken beherrscht,« versicherte aber zur selben Zeit, Februar 91, in einer Rede an den Brandenburgischen Landtag, er werde Deutschland herrlichen Zeiten entgegenführen (W. 2, 233). Darum bei Magenbeschwerden die Furcht vor Vergiftung, wovon Zedlitz dreimal zu berichten weiß: »Ich bin geradezu vergiftet worden! Es muß unbedingt etwas in den Speisen gewesen sein!« (Z. 134). Die Angst vor Krankheiten war so groß, daß er mit der Kaiserin, die einen Prinzen in Lungenentzündung pflegt, nur in freier Luft zusammentrifft, dagegen ablehnt, den Sohn zu besuchen, der doch keine Ansteckung bringen kann (Z. 109). Die Angst vor Menschen, die bei seiner Abgeschlossenheit kaum praktisch wurde, zeigt sich vor dem General von Bissing, der wegen eines Korpsbefehls entlassen, aber nicht, wie ein Adjutant rät, eingesperrt wird: »Bissing ist ein rabiater Mensch. Wenn ich den mit Arrest bestraft hätte, dann hätte er sich womöglich totgeschossen.« Meint der Kaiser wirklich »sich«? (Z. 182).
Der Krieg wird die Probe aufs Exempel bringen.
Den nervösen Partien seines Charakters stehen sehr realistische gegenüber; von Romantik, die manche in ihm sahen, sind kaum Spuren. Bei seinen Festen und Gesten ist der Kaiser ebenso unromantisch wie jeder andere Schauspieler, er probiert alles aus, studiert alles ein. Er gibt sich nicht hin, er bleibt kalt. Mäntel und Sterne, Pagen und Hofmarschälle, Friderizianer und Piqueure, alles ist organisiert, der Spieltrieb eines ewigen Knaben hat sie aufgezogen, nun schnurren die Puppen, damit ihn das Schauspiel freut. Alles ist Kulisse, nichts Schwärmerei, das stärkste Auto und das schnellste Flugzeug fesseln ihn viel stärker als der Purpur des Königsmantels und der Puder der Perücken, die er für Feste befiehlt. Die Romantik Ludwigs von Bayern hatte von solchen Zügen keinen: der Romantiker sucht Einsamkeit, der Kaiser fürchtete, er floh sie. Ludwig fuhr allein in seiner Grotte auf dem goldenen Muschelboot spazieren, Wilhelm mit zwanzig Begleitern auf seiner Dampfyacht. Er wollte nicht wie Ludwig als Ritter aus-, er wollte nur einziehen, und der Goldhelm, den sie beide aufsetzten, hatte grundverschiedenen Sinn. »Die Johanniter-Feier« schreibt Zedlitz »war sehr würdig und schön, wenn man davon absieht, daß sie eben etwas vom Mummenschanz hat und viel Unwahres enthält ... Dafür ist sie aber auch ungefähr viermal anderthalb Stunden im Beisein des Kaisers durchgeübt worden« (Z. 154).
In solchen Spielen war er unermüdlich; weniger in Regierungsgeschäften. Alle Memoiren und Berichte stimmen über die wachsende Faulheit des Kaisers überein. Im Jahre 89 sagt Hinzpeter noch im Ton des Erziehers von dem Dreißigjährigen: »Ich habe dem Kaiser die Arbeiterfrage angeraten, um ihn dadurch selbst zur Arbeit anzuregen, denn er hat nie das Arbeiten gelernt.« Im nächsten Jahre Waldersee: »Die schwersten Bedenken bei allen, die mit ihm zu tun haben, erregt es, daß er selbst nicht die geringste Lust mehr zur Arbeit hat. Zerstreuungen, Spielereien mit der Armee und namentlich mit der Marine, Reisen oder Jagden gehen ihm über alles; so hat er in der Tat kaum mehr Zeit zur Arbeit. Er liest sehr wenig, ... schreibt selbst kaum noch, abgesehen von Randbemerkungen auf Berichten, und hält den Vortrag für den besten, der schnell erledigt ist. Wahrhaft skandalös ist es, wie die Hofberichte das große Publikum über die Tätigkeit des Kaisers täuschen, nach ihnen ist er von früh bis spät im Geschäft.«
Frühling 94, Abbazia, es schweben Verhandlungen mit England wegen des Anschlusses, mit dem Vatikan wegen Italien, außerdem Reichstag; da schreibt Eulenburg, der hier die Minister vertritt: »Alle Augenblicke kommen Depeschen, die ich erledigen muß, dann wieder muß ich zum Kaiser und dazwischen mich umziehen, morgens Promenadenkostüm, zum Frühstück schwarzer Rock, geht man zur Yacht, Yacht-Dreß, geht man zum Tennis, Tennis-Dreß ..., so daß ich, während ich mich wasche, Depeschen diktiere; dann ein Vortrag, bei dem im Galopp die Sachen mit dem Kaiser erledigt werden, die man hübsch im Schritt erwägen müßte ... Er läßt sich politisch alles von mir sagen, weil ich mit ihm Tennis spiele und zwischen fliegenden Bällen und bei kleinen Ruhepausen ein gutgestimmtes, kaiserliches Ohr vor mir habe, das geneigt ist, schwierige Dinge bei guter Laune zu bewilligen. Ludere pro patria et imperatore! Tolle Welt!« (E. 2, 111).
Zwischen April und Dezember 01 sieht der König von Preußen außer Bülow, Goßler und Podbielski dreiviertel Jahre lang keinen seiner Minister (W. 3, 175), der Gouverneur der Kinder beklagt sich, trotz täglichen Zusammenseins mit dem Kaiser kein ernstes Gespräch über den Unterricht erreichen zu können, und als auf der »Hohenzollern« über das Wort gepredigt wird: wenn das Leben köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen, schreibt Moltke: »Wie wahr das ist, empfinden wir alle in unserem aufgezwungenen Müßiggang. Alle, leider, bis auf Einen.«
Wieder eine neue Epoche, Januar 10, da schildert Zedlitz den Tag des Kaisers: »Das Schlimmste ist, daß er sich immer mehr entwöhnt, wirklich etwas zu arbeiten. Er steht spät auf, frühstückt um neun ... mit drei warmen Gängen, ist nur sehr schwer und sehr ungern etwa zwei Stunden am Vormittag für die Vorträge zu haben, häufig benutzt er sie, um seinen Räten selber Vortrag zu halten. Dann folgt das Frühstück um ein Uhr. Es folgt die Ausfahrt um zwei, dann Tee, dann Schlafen und vor der Abendtafel um acht noch Erledigung einiger Unterschriften. Infolge des öfters sich bis drei Stunden hinziehenden Nachmittagsschlafes bleibt der Kaiser regelmäßig bis zwölf oder ein Uhr auf und steht dabei am liebsten im Kreis von Menschen, die ihm andächtig zuhören und denen er unentwegt erzählt. So spielt sich das Leben tatsächlich ab. Man vergleiche, was die Historiker darüber sagen ... Neun Monate Reisen, nur die Wintermonate zu Hause. Wo aber bleibt bei fortgesetzter Geselligkeit Zeit für ruhige Sammlung und ernste Arbeit?« (Z. 212, 230).
Als um diese Zeit Lyncker das Militärkabinett übernimmt, sagt der Kaiser zu ihm in traurig-bittendem Tone: »Aber nicht wahr, lieber Lyncker, nicht nur trockene Vorträge! Hin und wieder eine kleine lustige Geschichte!« Hier tritt die Furcht vor Sachlichkeit schrecklich zutage, denn dies spricht ein 50jähriger Mann, den man noch jetzt den »jungen Kaiser« nennt.
Dagegen ist er stets bei der Sache, wo es sich um Geld handelt; nicht immer, um zu verdienen, wie er es beim Verkauf seiner Kadiner Tonwaren macht. Reichtum imponiert ihm als solcher, diese moderne Form der Macht anerkennt sein unromantischer Geist; Reichtum genügt, woher er stammen möge, um ihn zu verlocken. Trotz eines verständigen Erlasses vom Jahre 90, der die Beförderung der Offiziere von ihrer Geldlage unabhängig machen will, verkehrt er selber nur bei den reichen Regimentern, die sich bei Kaiser-Diners an Luxus überbieten, vervielfacht dem Offizier die Kosten durch immer neue Litevken, Pelerinen, Stiefelhosen, Tressen, Koppeln und nötigt z. B. im Jahre 94 jeden Offizier zum Kauf der neuen Feldbinde, 95 wieder zur alten Form, 96 zu einer dritten, 97 vierten Variante.
Aus der dreimal erhöhten Zivilliste sparte er für sich, was er konnte, noch zuletzt im Jahre 18 waren es 1,8 Millionen. In dem Quartalsetat, der auf über 5 Millionen sich belief, figurieren als des Kaisers »Schatullengelder« 440,000 Mark, als »Laufende Gnadenbewilligungen« für Institute 4188 Mark, für einzelne Personen 3000 Mark, darunter solche von 10 bis zu 5 Mark vierteljährlich an Kinder von Hofbeamten und alte Leute aus dem Hofgartenbetrieb. Der König, der diese Almosen verteilte, besaß 73 Schlösser und Herrensitze.
Nie ist vordem der Erbe eines alten Fürstenhauses so wahllos bei reichen Leuten zu Gaste gewesen wie der Kaiser, der nicht bloß in Kiel und Norwegen sich von Dollarkönigen einladen, der sogar zum Empfang eines 26jährigen Vanderbilt-Sohnes die Marienburg herrichten ließ. Hatte er die Berliner Kommerzienräte zum Bier eingeladen, so ließ er gern eine Liste für Flottenzwecke herumgehen, deren Zeichnung sich keiner entziehen durfte. Der Adel wurde in diesen Sphären weniger verliehen als verkauft.
Aber auch nach dem Ausland hin war er entschieden tüchtig: Oktober 04 an den Zaren: »Dies erinnert mich an meinen früheren Vorschlag, daß Du nicht vergessen mögest, ebenfalls neue Linienschiffe zu bestellen, um einiges fertig zu haben, wenn der Krieg vorüber ist ... Meine Privatfirmen würden sich freuen, Aufträge zu erhalten.« Und nach drei Monaten, als er ihm zum Fall von Port Arthur kondoliert, heißt es im gleichen Briefe weiter: »Jetzt ... wirst Du hoffentlich nicht vergessen, Deine Behörden an unsere großen Firmen in Stettin, Kiel usw. zu erinnern. Sie werden, dessen bin ich sicher, Dir schöne Typen von Schlachtschiffen liefern. Ich hoffe, Du wirst die beiden Vasen aus unserer Königlichen Manufaktur für das Christfest freundlichst annehmen.« Hier liegen entschieden landesväterliche Tugenden, hier ist ein nie schlummernder Geschäftsgeist.
Beim Mangel jeder Stetigkeit, immer in Gefahr eines Stimmungswechsels, wird der Verkehr mit dem Herrn für seine Diener sehr erschwert. Wie vor dem Sonnenkönig müssen die höchsten Beamten achtgeben, ob sich in einer gewissen Unruhe der Blicke das plötzliche Ausbrechen nervöser Erregung ankündigt; dann ließ z. B. Tirpitz »alle Entscheidungen unter den Tisch fallen. Man mußte ihn unter vier Augen sprechen, da, wenn Dritte anwesend waren, sein eigenes wirkliches Urteil leicht abgelenkt wurde durch den von ihm stark gefühlten Drang, bei jeder eigenen Stellungnahme als Kaiser zu erscheinen. In diesem Umstand wurzelte die Macht der Kabinette« (T. 135). Da nun einer der drei Kabinettschefs den Vorträgen der Minister fast immer beiwohnte und nachher mit dem Kaiser allein blieb, so brauchte er »nur den richtigen Augenblick abzupassen ..., um seiner Ansicht Geltung zu verschaffen.« Auf diese Art machten Hülsen, Müller, Lucanus große Politik. Auch über die Kunst, den Kaiser zu behandeln hat Waldersee das beste Wort geprägt: »Er ist ja sehr schwer zurückzuhalten, aber spielend leicht vorwärts zu treiben.«
Was der Kaiser selbst von den Seinen forderte, kann man aus seinem Verhältnis zu den Pferden schließen. »Mein erster Eindruck«, schreibt der Oberstallmeister Reischach, »als ich S.M. beim Reiten beobachtete, war, daß es nicht leicht war, den hohen Herrn beritten zu machen, da er sehr viel vom Pferde verlangte. Das Pferd mußte ruhig Schritt gehen, vor nichts scheuen, flott galoppieren, dann wiederum beim Vorbeimarsch der Truppen tadellos stehen, ebenso wie bei der Kritik, die oft eine Stunde dauerte, wobei auch manchmal auf die auf dem Pferdehals ausgebreitete Karte mit der Hand geschlagen wurde ... Das Schwierigste war die Beurteilung, wieviel Vorarbeit die Pferde erhalten müssen, um ihnen den Stallmut zu nehmen. Ist die Vorarbeit nicht genügend, kommt leicht Unerzogenheit des Pferdes vor; wird sie überschritten, dann gehen die Pferde ohne Murr.«
Diese Eigenschaften hat eigentlich nur Bülow vereinigt, der ebensogut galoppieren wie auf Kommando stillstehen konnte, vor nichts scheute, bei der Kritik ruhig stand, den Stallmut verloren hatte und doch nie langweilig ohne Murr ging; als schließlich doch einmal Unerzogenheit vorkam, wurde er durch einen nachdenklichen Grauschimmel ersetzt, der nur noch im Kreise ging, auf dessen langen Hals aber der Kaiser seine Karten aufschlagen konnte.
Wie sehr er in guten Stunden verstand, seine Leute herumzukriegen, bewies er Waldersee. Was tut er, als er ihn von der ersten Stelle in der Armee entfernen will, weil er im Manöver gegen ihn verloren hatte? Erst setzt er den Kommandierenden General in Altona plötzlich unter einem Vorwand ab, um die Stelle freizubekommen, dann gibt er an seinem Geburtstag Waldersee einen großen Orden, »um aller Welt zu zeigen, in wie schönem Verhältnis wir zueinander stehen.« Hierauf wünscht er seine hervorragenden Talente im Kommando eines Korps zu nutzen, und als darauf Waldersee den Abschied fordert, erklärt er ihm, wie enorm wichtig Altona sei. Drei Tage später neue Unterredung, er solle sich an seiner Freundschaft genügen lassen: »Ich will aller Welt zum Ausdruck bringen, was es heißt, Freund des Deutschen Kaisers zu sein. Wer ein Wort gegen Sie sagt, der soll zerschmettert werden!« Schließlich faßte er »mit zartester Gebärde meine Hand und bat mich: »Nicht wahr, Sie nehmen an? Ihr Kaiser bittet Sie!« Als Waldersee hart bleibt und Wahrheiten sagt, dreht er die Sache um, wird elegisch und sagt: »Es ist traurig, was ich schon für Erfahrungen habe machen müssen. Meine besten Freunde verlassen mich.« Als Waldersee schließlich annimmt, küßt ihn der Kaiser dreimal und versichert ihm ewige Freundschaft.
Ein grollender, frondierender Waldersee hätte ihm geschadet, also Orden, Zärtlichkeit, Elegie und drei Küsse.
Aber inmitten all dieses bald harten, bald biegsamen Cäsarentums: welche Stunden der Einsamkeit, Verbitterung, der Galle! Wie muß ihn über eine durch Jahrzehnte nie unterbrochene Festesstimmung geheimer Ekel anfassen, wie muß er sich an denen rächen, die sich dies alles gefallen ließen! »Manchmal«, erzählt Zedlitz, »empfindet der Kaiser doch wohl das Einsame seiner autokratischen Stellung, und daß seine besten Freunde sich nur so von ihm behandeln lassen, weil sie dabei ihre persönlichen Vorteile finden. Dann wird er finster und verschlossen. Ich habe bemerkt, daß es ihm in solchen Augenblicken Freude macht, bei durchaus ernsten Veranlassungen alle Anwesenden, auch seine Gemahlin das gerade Gegenteil von dem glauben zu machen, was er dachte und wußte. Ja, er hat in solchen Augenblicken auch eine Art eigentümlicher Freude, anderen Menschen wehezutun. Der Mehrzahl passiert dies, wenn sie sich grade zu sicher in seiner Gunst fühlen; um so unerwarteter kommt dann plötzlich der Keulenschlag, und um so mehr Freude bereitet es dem Kaiser, diese Wirkung zu sehen« (Z. 110).
Diese tiefen Beobachtungen, die den Kaiser Ende der Vierziger treffen, zeigen den Rück- und Umweg eines Autokraten, den Eitelkeit, Kälte und Verlegenheit zu seinem eigenen Unbehagen in einsame Menschenfeindschaft verbannt haben, während er doch nur unter Menschen und zwischen heiteren Gesichtern leben konnte. Dann wurde er selbst zu einem der Schwarzseher, die er in seinem Reiche verboten hatte.
Wer hat diesen Charakter beizeiten erkannt? Wer hat die Deutschen vor ihm gewarnt? Wer warnte den Kaiser selber? Aus den Antworten entscheidet sich die Frage, warum ein einziger Charakter stärker blieb als eine ganze Nation.
Diese Antworten belasten zunächst nicht die Nation, nur die Umgebungen des Kaisers. Denn so gewiß unter den 60 Millionen Volk, auch unter den Sozialisten niemand war, der sein Wesen und der sein Treiben ganz erkannte, so gewiß war unter den wenigen hundert Menschen, die ihm nahe kamen, keiner, der ihn ganz verkannte. Was Bismarck und Bülow, Hohenlohe Vater und Sohn von ihm dachten, was Eulenburg und Holstein, Waldersee und Moltke, Kiderlen und Tirpitz, Zedlitz und Hammann einander oder sich selber über ihn aufschrieben, wird wohl aus unserer Darstellung deutlich, und doch sind das alles nur Fragmente von Erkenntnissen, immer mit Vorsicht, meist in Zeichensprache skizziert; dabei ist dies Dutzend Gehirne grundverschieden, ihre Tätigkeit vielfältig, jeder des andern Feind, alle verbunden nur durch Dienst beim Kaiser. Hinter diesen wenigen, deren Briefe oder Memoiren vor uns biegen, stehen hundert, die dasselbe wußten, deren schriftliche und mündliche Worte nur bis heut noch nicht historische Dokumente sind.
Dabei sind aus unserer Darstellung sämtliche Urteile der Gegner ausgeschaltet, Richters und Bebels, Eduards und des Zaren, denen politische Interessen im Innern oder draußen den Blick trüben oder überschärfen konnten. Die Raschheit dieser Erkenntnisse, die alle schon in den ersten Jahren beginnen, zugleich ihre Dauer bis in die letzten hinein, schließlich das Fehlen jeder Gegenäußerung ernster und privater Natur beweisen aufs neue, daß zur Beurteilung Wilhelms des Zweiten nicht weitere Akten zu öffnen, daß vielmehr die psychologischen geschlossen sind. Nach allem Vorausgegangenen stellen wir hier nur noch die kühnsten Urteile seiner Nächsten zusammen: seines besten Freundes, seines Ersten Soldaten, seiner Mutter.
»Geistig,« schreibt Eulenburg von der Nordlandreise 99 an Bülow, »geistig hat sich nicht die geringste Wandlung vollzogen. Er ist unverändert in seiner explosiven Art, sogar härter und plötzlicher in einem Selbstgefühl gereifter Erfahrung, – die keine Erfahrung ist ... Echte Genialität modelt die Zeit nach sich, schwächere Geister werden zerrieben. An der Spitze eines Staatswesens müssen so stark eigenartige Naturen Konvulsionen erzeugen, und wir steuern der Zeit entgegen, wo eine Entscheidung kommen wird, ob die Epoche oder der Kaiser stärker sein wird. Ich fürchte, daß er unterliegt ... Ich möchte ihm so viel sagen, dann schnürt sein Kalifentum mir die Kehle zu, wenn ich im Augenblicke vorher glaubte, Harun al Raschid gütig im Volke zu sehen.«
Waldersee, der zu den nächsten Freunden des Prinzen gehört hatte, schrieb schon im Jahre 90: »Bei erheblich entwickelter Eitelkeit stellte sich schnell der Glaube ein, wirklich etwas Besonderes darzustellen ... Dabei ist jetzt deutlich, daß die sozialistische Bewegung, anstatt gehemmt zu werden, nur neuen Aufschwung erhalten hat. Auch beim Kaiser regt sich nun Sorge, Menschen, die ihn genau kennen, sagen: Sorge um die eigene Person.« Sommer 93: »Seine Vielseitigkeit entpuppt sich als Flüchtigkeit, sein privates Leben wird aufmerksam verfolgt und dabei der Schluß gezogen, daß er die meiste Zeit dem Vergnügen widmet« (W. 2, 291). Zehn Jahre später, wieder in voller Gnade, Feldmarschall und als des Kaisers Vertreter bei der Krönung Eduards: »Wird der Kaiser das Deutsche Reich in aufsteigender Linie weiterführen oder wird er es zugrunde richten? Der mit so reichen Gaben gesegnete, vom allerbesten Willen erfüllte Herr hat gar zu viel angefangen, aber leider noch nichts zu Ende geführt und eine Verwirrung angerichtet, deren Lösung unabsehbar scheint. Ich behaupte, daß unter allen Ratgebern ... auch nicht einer ist, der nicht mit schwerer Sorge in die Zukunft sähe, ebenso besorgt sind die meisten Bundesfürsten.«
Sommer 04: »Es ist betrüblich anzusehen, wie unter dem hohen Herrn die Revolution vorbereitet wird ... Die Mächte des Umsturzes arbeiten mit immer größer werdender Offenheit, und er verletzt und verbittert die große Masse derjenigen, deren Interessen auf Staatserhaltung hinauslaufen ... Trotz seiner 44 Jahre ist der Kaiser noch nicht so weit zu wissen, daß das Hurraschreien der Massen nur von geringem Wert ist. Im Gegenteil, es erfreut ihn und imponiert ihm sehr, obwohl dazu schon seit Jahren immer die Schuljugend benützt wird ... Ich habe die Hoffnung völlig aufgegeben, daß der Kaiser noch andere Wege einschlägt; dazu könnte es nur durch große Rückschläge kommen« (W. 3, 205 f).
Die Mutter: »Glauben Sie nur nicht, daß mein Sohn etwas aus irgendeinem andern Motiv tut, als aus Eitelkeit« (Z. 111). »Daß nicht einmal die Geschichte Sühne und Gerechtigkeit bringen sollte, das ist schwer zu glauben ... Was können wir noch erleben! Das glückumstrahlte Haupt ist nicht gefeit, und jeder Tag kann ein Memento bringen. Fast möchte man so etwas voraussehen, und man erbebt, wenn man an die Gefahren denkt, die uns umgeben. Es gibt aber einen eigenen Gott für die Kinder – und die Leichtsinnigen! Man kann nur beten, daß Einsicht, Ruhe, Vorsicht und Voraussicht kommen mögen, ohne daß die Klugheit erst durch böse Erfahrungen erkauft zu werden braucht. Mir erscheint die Monarchie auf eine harte Probe gestellt, und ich zittere vor einer schlimmen Wendung« (Victoria an ihre Freundin Schrader im Jahre 93).
Daß unter diesen allen keiner heraustrat, um das Volk zu warnen, ist nicht erstaunlich: alle gehörten dem Adel an oder doch der regierenden Klasse, auch hätte die Aktion eines Einzelnen mehr verwirrt als geheilt. Bismarck aber, der zu dieser Rolle allein geboren und geschickt war, ist wohl zu alt gewesen, um im achten Jahrzehnt das revolutionäre Element loszulassen, das in ihm mit dem royalistischen kämpfte.
Die vortraten, um die Wahrheit zu verkünden, waren sämtlich Männer der Opposition. Für Bebel und Richter war es leicht im Reichstag loszugehen; sie blieben immun. Als im Jahre 92 Ludwig Fulda in seinem »Talisman«, als 94 Professor Quidde mit »Caligula« vor Cäsaren-Wahnsinn warnte, merkte alles auf, und der Kaiser war so unvorsichtig, jenem den Schillerpreis zu nehmen, diesem zu drohen; ihnen folgten Mittelstadt, Freiherr von Guhle, Mommsen protestierte gegen einen Schlag wider die Freiheit der deutschen Universitäten, und Erich Schmidt legte den Vorsitz in der Jury nieder, als der Kaiser den Schillerpreis Gerhart Hauptmann vorenthielt. Im Jahre 06 schrieb Graf Reventlow, 13 schrieb Doktor Liman eine tapfere Warnung, eine Reihe demokratischer Journalisten blieb unerschrocken und kritisch, und August Gaul weigerte sich, einem sitzenden Adler ausgebreitete Flügel zu geben. Ausdauernder als alle andern hat die Wahrheit über den Kaiser Maximilian Harden gesagt, der sich mehr als einmal dafür einsperren ließ und dessen Kritik tiefe Wirkung im Bürgertum erzeugte.
Zwischen denen, die aus der Nähe richtig sahen und schwiegen, und denen, die aus der Ferne erkannten und zur Nation sprachen, waren ganz wenige, die aus der Nähe zum Kaiser selber gesprochen haben. Daß da nie Zeugen zugegen sind, ist natürlich, macht aber die Glaubwürdigkeit vom Urteil über den Erzähler selber abhängig.
Von einem männlichen Widerspruch vor Zeugen findet man nur einen einzigen Fall: Februar 94, nach einem Diner bei Caprivi, der Kaiser sucht bei den geladenen Führern der Agrarier den Handelsvertrag mit Rußland durchzusetzen: »Ich habe keine Lust, wegen hundert Junkern mit Rußland Krieg zu führen. Ablehnung des Vertrages würde der Zar so übelnehmen, daß wir in längstens drei Monaten Krieg hätten, dann werde ich das rechte Weichselufer einfach preisgeben!« Darauf erwidert der Herr von Levetzow, Präsident des Reichstages, bald auch berühmt um seiner prachtvollen Haltung vor dem Bismarck-Feste, ein ruhiger und schweigsamer Mann, im Kreise vieler Hörer mit erhobener Stimme dem Kaiser: »Die Loyalität der Konservativen ist über allen Zweifel erhaben, auch wenn die Partei nach Prüfung des Vertrages für ihre Pflicht hält, gegen ihn zu stimmen!« Hierauf schweigt der Kaiser. Levetzow aber bezeichnet den Tag, an dem er so reden mußte, als den traurigsten seines Lebens.
In camera haben nach ihren eigenen Berichten in dreißig Jahren vier Männer dem Kaiser die Wahrheit gesagt; von diesen hat Waldersees Bericht nach seinem Charakter als Hofgeneral geschwächte Glaubwürdigkeit, Eulenburgs einseitige Mitteilungen, an sich mit Vorsicht aufzunehmen, sind zu sinnlich, um ganz erfunden zu sein und stark genug, um ihm, auch wenn man die Hälfte streicht, das Verdienst des Wahrsagers in gewissen Fällen zu lassen. Hollmanns indirekter, besonders aber Moltkes direkter Bericht wirken nach seinem Charakter und nach der Art der Aufzeichnung völlig echt. Das Wichtigste ist überall die Reaktion des Kaisers. In kleinen Dingen tat es auch Ballin, der in Kiel Dernburgs Empfang zur Abschieds-Audienz und Ähnliches durchsetzte, ohne aber im entscheidenden Flottenpunkte seine Wahrheit zu vertreten. Mommsen rettete zwischen jammervollen Kollegen die Ehre der deutschen Wissenschaft, als er, nach Besichtigung der Saalburg des Kaisers Bewunderung für Roms Cäsaren als Gast an seiner Tafel mit Spott zurückwies, und Ernst von Mendelssohn widersprach im Jahre 05 dem Kaiser offen, als dieser in Panik seine russischen Papiere verkaufte, und wurde dafür auch nie wieder zu Hofe geladen.
Als Waldersee die Leitung des Großen Generalstabes aufgeben soll, will er dem Kaiser gesagt haben: »Die Armee ist in diesen zwei Jahren (88 bis 90) schlechter geworden. Das ideale Verhältnis zwischen Kriegsherrn und Offizierkorps, das E. M. ererbt haben, ist gestört, das Gefühl der Autorität geht bei dem schnellen Wechsel in allen hohen Stellen verloren.« Darauf der Kaiser, erschreckt: »So etwas hat mir noch niemand gesagt!« Dann fährt er in seiner Überredung fort, den zaudernden General zur Rücknahme seines Abschiedes zu bewegen. Von Wahrheiten ist die Rede nicht mehr.
Viel leichter hatte es Eulenburg als Busenfreund, den der Kaiser bewunderte und liebte; wie oft er ihm schriftlich vernünftig geraten hat, wurde hier erzählt. Er war im Grunde der einzige Mensch, von dem sich Wilhelm der Zweite etwas sagen ließ. Als Eulenburg August 97 vor persönlichem Hervortreten bei der Flottenvorlage warnte, damit das Volk nicht das Ganze für einen privaten Sport seines Fürsten halte, erwiderte der Kaiser: »Innigsten Dank für Deinen so wertvollen und interessanten Brief ... Deine freimütige Aussprache hat mich erfreut, und ich bin Dir besonders dankbar dafür, denn, wenn Du nicht von der Leber weg reden willst, wer soll es dann sonst? ... Ich werde also künftig meinen Schnabel halten und nur zum Essen, Trinken und Rauchen benutzen« (E. 2, 251). Hier hat eine gute Laune vorgewaltet, um jene heilsame Selbstironie zu erzeugen, die in des Kaisers Leben sonst fehlt.
Zwei Jahre später, Juli 99, Nordlandreise, neuer Alarm der Öffentlichkeit durch ein Kaiser-Telegramm über unbeugsamen Willen. Eulenburg – nach seinem Bericht an Bülow (E. 2, 253) – im Zwiegespräch an Bord warnend: »Es könnte sonst bei einer gefährlichen Situation, die vielleicht durch eine Unvorsichtigkeit E. M. hervorgerufen und verstärkt wäre, die Regierung ... fortgedrängt werden. Dann würde unter Umständen im Reiche eine Aktion unternommen werden, die auf eine Abdankung oder Entmündigung hinzielte. Ein Gefüge wie der deutsche Staat, ist ein feines, subtiles Werk, ein Kunstwerk im Glasschrank ... Mangelnde Schonung des Kunstwerkes kann das Volk außer sich bringen.« Hierauf wird der Kaiser ernst und fragt, wer solche Gedanken hegen könne. Eulenburg vermeidet Namen, erzählt aber: »Der Kardinal Hohenlohe, den E. M. verehren, hat als letztes Wort an mich vor seinem Tode sehr eindringlich gesagt: »Ich weiß, daß Sie dem Kaiser absolut ergeben und auch in der Lage sind, ihm ganz offen einen Rat zu erteilen. Er möge sehr auf der Hut sein! Ich weiß positiv, daß der Gedanke, ihn für unzurechnungsfähig zu erklären, in vielen Köpfen erwogen wird und sehr viele, auch hohe Persönlichkeiten gern ihre Hand dazu leihen würden, das Verfahren einzuleiten. Warnen Sie den Kaiser!« ... »Sehr gegen seine Gewohnheit endete der Kaiser dies Gespräch nicht mit einem Scherz oder einem energischen mündlichen Haudegen-Hieb à la Erstes Garderegiment, sondern er blieb nachdenklich.«
Zehn Tage darauf, Spaziergang an einem Fjord bei Regen. Eulenburg: »Der Kampf gipfelt in einem bedenklichen Gegensatz zwischen der Persönlichkeit E. M. und dem gesamten Volke. Die zweifellos moderne Seite E. M. ... trägt einen fast fortschrittlichen Charakter, aber sie wird paralysiert durch eine zu hart in die Öffentlichkeit tretende Energie. Durch Reden, Telegramme erwecken E. M. den Eindruck, den absoluten König wieder aufleben lassen zu wollen. Das aber wird von keiner Partei des ganzen Reiches mehr begriffen.«
Kaiser, scharf: »Ich beanspruche für mich das freie Wort wie jeder deutsche Mann. Ich muß sagen, was ich will, damit die vernünftigen Elemente wissen, wie und wem sie folgen sollen. Wenn ich schwiege, würde das völlig »fertige« Bürgertum gar nicht mehr wissen, was es zu tun hat ... Du hast nur Angst, daß ich mit Gewalt gegen den Reichstag vorgehe!«
Eulenburg: »Sie sind ja auch ein viel zu moderner Mensch und haben viel zu viel Verstand, um nicht zu sehen, daß Deutschland ohne ein Parlament nicht mehr leben kann und will.«
Kaiser: »Das heißt, es muß ein modifiziertes Parlament haben, nicht das heutige.«
Eulenburg: »Darüber ließe sich ja einmal reden, aber auch nur auf dem angegebenen Wege. Und dieser Weg ist unfahrbar, wenn das Volk in seiner Mehrheit im Gegensatz zu seinem Kaiser steht.«
Kaiser: »Wäre das wirklich der Fall, so kommt es eben zu einer Revolution – und in irgendeiner Form muß es ja doch einmal krachen! Alles führt daraufhin, man muß deshalb den Kampf akzeptieren.«
Eulenburg: »– den die Koalition der europäischen Mächte nur erwartet, um über uns herzufallen ...«
Kaiser: »Ja, wollte man im Lande nur begreifen, was ich mit meinen Ermahnungen bezwecke! Aber dazu sind die Deutschen viel zu eng und kurzsichtig, sie gehen in kleinlichen Leidenschaften auf ... Ich ein absoluter König!! ... Habe ich je einen Schritt getan, der als Eingriff in unsere Verfassung aufgefaßt werden könnte? Wie kommen die Leute zu solchen Behauptungen?«
Diese bedeutsamen Dokumente sind aus seinen langen Briefen an Bülow, freilich nur aus Eulenburgs Konzepten publiziert, die er im Alter überarbeitet haben kann; sie mögen also zweimal stilisiert, können aber nicht erfunden sein. Sie offenbaren in Wilhelm zunächst den Mann des guten Gewissens, der alles für sein Volk zu leisten glaubt, ferner den König, der sich vom nächsten Freunde Wahrheiten sagen läßt und nachdenklich wird; nur leider, morgen ist diese Stimmung vorüber, und wenn man dem Kalifen zugute hält, daß er dem Wahrsager nichts nachträgt, so kann man ihm doch nicht attestieren, daß er ihm glaubt. Aus diesen Gesprächen, die im ganzen Leben des Kaisers wahrscheinlich ihresgleichen nicht hatten, wird ein Fürst mit guten Absichten, verblendetem Geiste und einem nicht zu bannenden Leichtsinn kund, den die Wahrheit nicht genug erschreckt, als daß er sie nicht vergäße.
Was der Admiral Hollmann gewagt hat, ist nicht von ihm selber aufgezeichnet, daher um so glaubwürdiger. So mag es wahr sein, daß er Ende 03 dem Kaiser zur Zeit seiner Halsoperation eines Tages gesagt hat, er sei von Schmeichlern umstellt: »E. M. ganze Umgebung, zu der auch einige Minister gehören, läßt sich eine unwürdige Behandlung gefallen, wie sie nur Schmeichler ertragen.« Der Kaiser hörte anfänglich ruhig zu, dann brach er die Unterhaltung mit dem Wort ab: »Nun ist es genug« (W. 3, 220).
Die wichtigste Stunde der Wahrheit hat ihm wohl der jüngere Moltke bereitet (M. 305 f.), der, Anfang 05 zum Chef des Generalstabes ausersehen, sich vornimmt: »Jetzt oder nie!« Dem Kaiser sagt er zunächst, die schwere Stellung könne er erst nach offener Darstellung seiner Ansichten übernehmen. Darauf beginnt er eine Kritik der Kriegsspiele, die immer mit der Gefangennahme einer Armee von einer halben Million nach ein paar Tagen schlössen: »E. M. wissen, daß die von Ihnen geführten Armeen regelmäßig den Gegner einkesseln und so angeblich den Krieg mit einem Schlage entscheiden. Diese Art des Kriegsspiels, bei dem der Gegner E. M. gewissermaßen mit gebundenen Händen ausgeliefert wird, muß ganz falsche Vorstellungen erwecken, die verderblich werden müssen, wenn der Krieg wirklich kommt ... Für noch bedenklicher halte ich, daß durch die Gewalt, die dem Kriegsspiel angetan wird, dem ganzen großen Kreis der daran beteiligten Offiziere das Interesse an der Sache genommen wird ... Was ich aber am allermeisten beklage und was ich E. M. sagen muß, das ist, daß das Vertrauen der Offiziere zu ihrem Allerhöchsten Kriegsherrn dadurch aufs tiefste erschüttert wird. Die Offiziere sagen sich, der Kaiser ist viel zu klug, als daß er nicht merkte, wie hier alles zurecht gemacht wird, damit er siegen soll, er muß es also doch so haben wollen.«
Kaiser: »Davon hatte ich keine Ahnung, daß nicht auf beiden Seiten mit gleichen Waffen gekämpft wird, – ich bin ganz bona fide gewesen. Sagen Sie Schlieffen, daß er mich beim nächsten Kriegsspiel nicht besser behandle wie den Gegner.«
Moltke: »Graf Schlieffen sagt, wenn der Kaiser spielt, muß er siegen ... E. M. dürften daher überhaupt nicht führen, sondern müssen über den Parteien stehen ... Wenn die Entschlüsse der Kommandierenden Generäle immer durch das Eingreifen E. M. beeinflußt werden, so wird ihnen die Lust zur Initiative genommen, sie werden unlustig gemacht und unsicher.«
Kaiser: »Ich habe den Kommandierenden immer die Freiheit ihres Entschlusses gelassen.« (Moltke erwähnt einen Fall des Eingriffes). »Ach ja, das war, wie er mit seinem Korps zurückgehen wollte, so daß es an dem Tage zu gar keinem Gefecht gekommen wäre.«
Moltke: »... Die ganze Armee weiß nun, daß E. M. einem Kommandierenden General Befehle für sein Korps einfach diktiert haben und das trägt nicht zur Hebung des Ansehens des Generals bei ... Im Kriege führen E. M. doch kein Korps.«
Kaiser: »Ich führe, um den Kommandierenden zu zeigen, wie ich wünsche, daß es gemacht werden soll.«
Moltke: »Das können E. M. bei der Besprechung zum Ausdruck bringen ... Dazu kommt, daß die Truppe E. M. nicht zu sehen bekommt, was von der größten Wichtigkeit ist, denn der Soldat, der den Kaiser im Manöver gesehen hat, vergißt das sein Leben lang nicht. E. M. wollen zu Gnaden halten, daß ich mich freier ausgesprochen habe, als Sie zu hören gewöhnt sind.«
Kaiser: »Warum haben Sie mir das nicht schon längst gesagt?«
Moltke: »... Es kann doch nicht jeder zu E. M. kommen und sagen, ich finde dies oder jenes nicht richtig.«
Kaiser: »Sie sind aber General-Adjutant, da können Sie immer kommen.« Darauf gibt er ihm die Hand und sagt: »Ich danke Ihnen.« Nach Verabredung der nächsten Schritte gibt er ihm nochmals die Hand, geht in den Salon voraus, wo die Gesellschaft längst wartet, und war »den ganzen Abend sehr schweigsam und nachdenklich. Er tat mir eigentlich furchtbar leid, aber weiß Gott, ich konnte nicht anders ... Er zeigte sich aber auch später gleichmäßig freundlich.«
Folge beim nächsten Manöver, acht Monate später: er führt nicht, »obgleich es ihm bitter schwergeworden ist,« greift nicht ein, spendet Moltke großes Lob. »Niemals hat er mir etwas nachgetragen, wenn ich ihm freimütig entgegentrat.«
Noch nach drei Jahren bestätigt Moltke, der Kaiser hätte getan und dann auch gesagt, was er ihm vorgetragen, »blieb durchaus sachlich und hielt die beste Kritik ab, die ich je von ihm gehört habe, so daß alles ganz entzückt war.«
Diese Wirkungen beweisen, daß ihm ein männlicher und sachlicher Ernst imponieren konnte. Während Moltkes Anklagerede gibt er sich noch erstaunt, naiv, verteidigt sich nur schwach, gibt ihm dann zweimal die Hand, bleibt schweigsam und nachdenklich. Dann handelt er wie er soll, für die Sache, gegen seine Eitelkeit, und die Wirkung dieser Wahrheiten dauert drei Jahre, während sich Eulenburg von einem Fall zum andern hinschleppen muß. Freilich ist auch Moltke kein Haudegen, ist ein dem Übersinnlichen zugewandter Herr, aber er ist nicht des Kaisers Freund: darin liegt die Wirkung. Während Eulenburg durch Herzenstöne, Bülow durch höfisches Geschick ihn zu fassen suchte und doch nur kurze Strecken mit sich zog, steht hier ein Fremder, dessen Selbständigkeit er achten muß, wofern er ihn nicht verlieren will.
Hält man dazu die Berichte Ballins, Metternichs und anderer, nach denen der Kaiser bei kluger Behandlung lenkbar schien, so geht ein Teil der weltgeschichtlichen Kritik von ihm auf seine Ratgeber über, die sich in Front vor ihm aufstellen und mit Ausnutzung seiner Furcht ihn hätten bezwingen müssen.
Das aber war letzten Endes nicht nur die Aufgabe von zwanzig Menschen. Es war die Pflicht der Nation.
Denn zahllos strömten diesem König durch dreißig Jahre aus allen Klassen und Kreisen, in jeder Lage, jeder Gegend, bei Festen und Trauer, an Feier- und Arbeitstagen, durch nichts als durch die Klangstärke unterschieden, die Schmeicheleien seiner Untertanen zu. Der König glaubte alles. »Wer in den Augen der Menschen zu lesen versteht – ich glaube, ich kann das –«, sagte er mit 40 Jahren bei einem Fest in Hannover, und da er es verstand, erkannte er in allen Augen die Echtheit ihrer Huldigung. Dreißig Jahre lang defilierten in unendlicher Cour vor Wilhelm dem Zweiten auf seinem Throne die Deutschen und schmeichelten mit Worten oder Schweigen, um an seiner Sonne zu gedeihen.
Da schritten die Fürsten und Grafen des Landes voran und überboten sich in Jagden, Prunk und Ruhmreden, um ihm zu gefallen. »Wenn der Fürst Dohna in Rominten ein gutes Wild meldet, so gibt er sich das Ansehen, als ob er der Wichtigkeit halber hereingestürzt käme und vor Erregung und Eile gar nicht atmen könnte« (Z. 84); einmal bittet er um die Gnade, seine Kühe solche Schellen tragen lassen zu dürfen, wie die Kaiserlichen Kühe in Rominten. Wenn der Graf Ballestrem als Präsident des Reichstages die Geburtstagsrede hält, so warnt er den Herrscher nicht vor neuen Übergriffen, er feuert ihn vielmehr dazu an, denn er sagt: »Unser Kaiser hat seine Zeit verstanden, er hat gesagt: Ich will kein sogenannter konstitutioneller Monarch sein, der da herrscht und nicht regiert. Ich glaube, das würde unserem herrlichen Kaiser nicht zusagen, wenn man ihm diese Rolle zuteilte.«
Den Edelsten folgten die Reinsten der Nation. »Wenn in jeder Predigt – so berichtet der Oberhofmarschall – die ein Hofprediger hält oder ausarbeitet und die dann der Kaiser vorliest, immer wieder Anspielungen ... auf das Tugendleben des Kaisers vorkommen, ist es nur natürlich, daß sich daraus ein sittlicher Hochmut entwickelt, der dem bedenklichsten Pharisäertum gleichkommt. Nur wer die intimen Vorgänge am Hof ganz kennt, kann die unglaubliche Liebedienerei der schmeichlerischen Predigten ganz ermessen. Ich bin darüber häufig aufs äußerste erschüttert gewesen« (Z. 79). Nach einer solchen »unglaublichen byzantinischen Predigt« bei Eröffnung des Reichstages im Jahre 07 sagte sogar Admiral von Müller, darüber könne nur eine Stimme der Mißbilligung sein. Gleich darauf der Kaiser: »Eine so ausgezeichnete Predigt habe ich sehr lange nicht gehört, das war wirklich ganz hervorragend!« (Z. 179).
Dem Prediger folgte im Zug der Schmeichler der Kanzler des Reiches. Schon im Jahre 93 schrieb Bülow an Eulenburg: »Ich war tief bewegt, als ich ihm die Hand küssen und ihm für so viel Gnade danken konnte.« Fünf Jahre später nannte er ihn in einer Denkschrift arbiter mundi. »Bülow verdirbt den Kaiser völlig,« sagte Ballin, »indem er ihm dauernd die größten Schmeicheleien sagt und ihn so allmählich zu maßloser Selbstüberschätzung bringt« (W. 3, 220).
Ihm folgten die Minister. Waren sie abends zur Allerhöchsten Tafel geladen, »so stellten sie sich dem Kaiser gegenüber im Halbkreis auf, eine mehr oder weniger militärische Haltung nahmen sie alle ein. Der Kaiser richtet nach kurzer Begrüßung scherzhafte Worte an diesen oder jenen, hier und da unterbrochen durch eine Frage, die dann in fast militärischer Form erwidert wird ... Man wird an einen Regiments-Kommandeur mit seinen Hauptleuten erinnert.« Berichtet der Staatssekretär Marschall über die Bagdad-Bahn, die die Deutsche Bank baute, so nannte er sie: »E. M. Allerhöchsteigenes Unternehmen.« Im Jahre 04 resümiert Waldersee (2, 299): »Mag er noch so hart über Personen und Parteien urteilen, es wird mit zustimmendem Lächeln und krummen Rücken angehört. Die Minister müssen einfach gehorchen. Tatsächlich haben wir eine Kabinettsregierung mit autokratischem Willen des Kaisers, der diesen in den meisten Fällen durch Lucanus den Ministern mitteilen läßt.«
Aus ihren Eingaben tropft daher nicht nur der stete Wohlgeruch von Allerhöchst und Alleruntertänigst, sie sprechen auch in den Anweisungen an ihre Vertreter draußen vom Kaiser mit diesen Floskeln, weil er sich manchmal solche Aktenstücke geben ließ und über das Fehlen der Superlative zürnen konnte. Bei ihrer Auswahl der Ausschnitte, die sie und besonders das Auswärtige Amt dem Herrn vorlegen lassen, entziehen sie ihm alles Peinliche; nach freiem Ermessen öffnet ein halbes Dutzend Männer vor seinen Augen Gardinen, schließt sie halb, dreiviertel oder ganz, gibt oder entzieht ihm so den Ausblick auf Ereignisse und Stimmungen des Tages, immer nach dem Grundsatz: Majestät braucht Sonne.
Diese Ausschnitte, jahrzehntelang im Ministerium des Innern vorbereitet, enthielten nur zwei bis drei wohlzensierte politische Nachrichten, dann ebenso viele Unfälle und Verbrechen, dann Berliner Curiosa, dann eine Ausgrabung, Bilderfälschung oder neue Arznei, dann Kaiserfeier, Turnfest oder sonstiges Patriotisches. Nicht der Kaiser, nur die Kaiserin las regelmäßig den »Lokalanzeiger«, der Kaiser hatte deutsche Zeitungen abgelehnt, seit er in jungen Jahren im Vorwärts und Kladderadatsch Angriffe hatte lesen müssen. Er beschränkte sich auf Lektüre der »Fürstenkorrespondenz«, die ihrem Namen entsprach.
Es folgen im Zuge die Botschafter. Ihnen schickte man Abschrift vieler kaiserlicher Marginalien, damit sie aus diesen Zensuren die Stimmungen des Herrn erkennten, und depeschierte ihnen, mit welcher Art Berichten sie seiner Stimmung entsprächen. Man drahtete von Berlin nach Rom oder Konstantinopel, daß ein begeisterter Bericht über den Besuch des Kaisers von diesem erwartet werde. In der Petersburger Revolution vom Jahre 05 zögert der Botschafter eine Woche lang irgend etwas zu berichten, um die Allerhöchste Person nicht zu erschrecken. Wenn ein eiskalter Besuch in England wie Ende 99 ohne allzu heftige Zusammenstöße überwunden ist, berichtet der erleichterte Botschafter nach Berlin für die Augen des Kaisers: »Nach den vielen Äußerungen der Befriedigung, der Freude, ja des Entzückens, die mir berichtet wurden, schließe ich in diese zuversichtlichen Erwartungen ... alle Mitglieder der Königsfamilie ausnahmslos ein ... Nicht minder nachhaltig war die Wirkung des persönlichen Verkehrs mit unserem erhabenen Monarchen auf die Minister Ihrer Majestät. Balfour erklärte, er habe nie eine anregendere Stunde durchlebt, als die, in welcher er ... unter dem Zauber von S.M. Persönlichkeit stand ... Wäre S.M. in London erschienen, hätte er der spontansten und begeistertsten Huldigungen sicher sein dürfen. In der Zurückhaltung, welche sich Presse und Publikum auferlegen mußten, haben sie sich doch im allgemeinen davor zu hüten gewußt, zu kühl zu erscheinen« (A. 10, 422).
Als man im Jahre 95 in China einen Hafen sucht und der Kaiser den Gesandten von Heiking fragt, welchen er im Auge habe, sagt er: »Ich denke an Amoy«. Wie Tirpitz ihn dann fragt, warum er einen Ort nannte, den er gar nicht kenne, sagt Heyking: »Ich konnte doch S.M. nicht ohne positive Antwort lassen.« In Washington verkündigt der Botschafter Speck von Sternburg in öffentlicher Rede, der Kaiser sei, »nicht nur die größte universale Intelligenz in der Welt, sondern auch ein moderner Mann, die Seele der Industrie beherrsche er wie die Technik, die bildenden Künste und die Musik mit gleicher Meisterschaft.«
Es folgen in reichbesterntem Zuge die Offiziere, voran Generale und Admirale, sie hatten die große Ausrede: Gehorsam. Der Kaiser entwirft »ein Idealschiff, welches schwer gepanzert, schnell und mit vielen Torpedorohren armiert wäre, um den Torpedobooten ihre Aufgabe abzunehmen ... Die Konstruktionsbedingungen hoben sich dabei auf. Wir machten uns aber dem erhaltenen Befehl gemäß an die Arbeit und bei der Unmöglichkeit eines brauchbaren Ergebnisses entstand für dieses Produkt der Name Homunculus« (T. 134). Nach einem Galadiner des Generalstabes wird dem Kaiser gesagt, der alte Moltke sei eigentlich kein Feldherr gewesen, nur der Ausführer der Befehle seines Königs. »Die Bemerkung war allein auf den Kaiser berechnet. Wie soll man sich da wundern, wenn dieser schließlich mit Geringschätzung auf den Generalstab sieht!« (W. 2, 208).
»Im Kaisermanöver treffen durchschnittlich dreimal in der Nacht völlig veränderte Befehle bei den Truppen ein. Niemand wagt zu äußern, daß dadurch Unruhe geschaffen wird, wichtige Dispositionen gestört werden, kolossale Märsche entstehen und die Verpflegung bis zu gelegentlichem Mangel erschwert wird. Im Gefecht werden die modernen Anforderungen außer acht gelassen, man bemüht sich nur schöne Bilder zu zeigen, die Stäbe reiten in den Schützenlinien, die Artillerie fährt ebenfalls hinein und die Kavallerie attackiert so harmlos, als ob sie noch mit einem Feuerschloß-Gewehr bewaffnet wäre. Alles das fällt mehr oder weniger vielen auf, aber niemand wagt etwas davon zu äußern, besonders nicht der Chef, Graf Schlieffen ...
»Während niemand den Sterbenslaut einer kritischen Bemerkung wagt, gibt es aber sehr hochgestellte und höchste Personen, die S.M. versichern, wie interessant, lehrreich und prachtvoll alles gewesen sei ... Stumm, ernst und ausdruckslos beteiligt sich Graf Schlieffen, indem er die Befehle von Allerhöchster Stelle ausführt ... Durch dies absolute Schweigen und unbedingte Eingehen ... kommt es auch zu direkter Täuschung. Zu den Paradeaufstellungen und Märschen verstärkt man die Eskadronen in geschickter und unauffälliger Weise durch Leute, die man in der Nähe gedeckt halten ließ. Der Kaiser muß dabei die Überzeugung bekommen, mit dieser Kavalleriemasse ungeheure Anforderungen tagelang hintereinander erfüllen zu können; in Wirklichkeit aber sind es nur wenige Pferde, die täglich mit Anstrengung durchhalten, die andern wechseln nach dem oben geschilderten System einfach ab« (Z. 97, 42).
Aber die Schmeichelei der Uniform geht weit über den Vorwand Gehorsam hinaus. In Danzig, Herbst 04, küßt General von Mackensen auf dem Bahnhof dem Kaiser bei der Meldung die behandschuhte Rechte. Rasch pflanzt sich diese männliche Geste fort und im Kasino der Leibhusaren küßt ein Leutnant die Allerhöchste Hand, die ihm einen Orden beschert hat (Z. 84). Ein alter General, der die Kriege mitgemacht hat, feiert einen Besuch des Kaisers in Aachen öffentlich mit den Worten: »Ich habe in meinem Leben vielen weltgeschichtlichen Ereignissen beigewohnt, aber ich erinnere mich keines, das die Begeisterung zu solcher Höhe steigerte.« Ein Offizier fordert einen Redakteur, der den vom Kaiser komponierten Sang an Ägir als Arbeit eines Dilettanten bezeichnet hatte. Als der Kaiser im Jahre 90 die taktische Aufgabe des Generalstabes falsch gelöst hat, spricht er, wie Waldersee berichtet, »bei der Promenade im Tiergarten jeden Offizier darauf an und sucht für seine fehlerhafte Ansicht Propaganda zu machen. Natürlich fand er einige erbärmliche Leute, die ihm beistimmten.« Ein militärischer Vortrag vor dem Kaiser über Friedrichs Niederlage bei Hochkirch schloß: »Unter Führung E. M. wäre so etwas nicht vorgekommen« (E. 2, 319).
Es folgen die Städte. In allen Provinzen des Reiches harren im Reichsfestschmuck Perrons und Rathäuser, Kasernen und Denkmäler auf die Ankunft der Allerhöchsten Herrschaften, am Brandenburger und an anderen Toren stehen befrackte Oberbürgermeister, Obelisken und Festons tauchen überall auf und unter, um anderweitig wieder aufzutauchen. Im Elsaß hatte man schon so viel Routine, daß ein für allemal die Löcher am Rande des Trottoirs für die Mastbäume frei blieben, herabwallende Fahnen und dichte Tannengewinde hatten den Nebenzweck, die unbeflaggten Häuser der französisch fühlenden Bürger dem alles durchdringenden Hohenzollernauge zu verbergen. Die Stadt Görbitz war nicht die einzige, der man eine demokratische Stadtvertretung durch Entziehung von Kaisermanövern mit den damit verbundenen Geschäften abgewöhnte. Hamburg schuf für den Besuch des Kaisers eine Insel in der Alster, und als die Städte Köln und Krefeld sich mit K schreiben wollten und von zwei Professoren Gutachten dafür abgeben ließen, ließ der Kaiser sein Allerhöchstes C hören, und das Oberverwaltungsgericht wies daraufhin die Beschwerde der Städte kostenpflichtig ab.
Es folgen die Privatbeamten. Seine Kachelfabrik braucht jährlich bedeutende Zuschüsse, da sie die Konkurrenz unterbietet, dann aber werden dem Kaiser großartige Erfolge in Form von Auftraglisten vorgeführt. Sein Gut Cadinen stellt man ihm als Musterwirtschaft dar: »Es ist unglaublich,« sagt darauf der kaiserliche Gutsherr, »wie wenig die ländlichen Arbeitgeber für ihre Arbeiter tun! Warum bauen sie ihnen keine solchen Häuser wie ich in Cadinen, dann würden die Arbeiter nicht nach dem Westen wandern,« und er erzählt dem englischen Botschafter, jedes Schulkind auf seinem Gute habe sich im letzten Jahr allein 800 Mark gespart. Dann ist er entzückt, als man ihm meldet, er habe dort eine Kuh, die täglich vierzig Liter Milch gibt, da man hier »auch nicht davor zurückschreckt, in eine Kuh mehr Milch hineinzugießen, als aus ihr herausgemolken werden konnte ... Es ist doch merkwürdig, schließt Zedlitz, daß der Kaiser überall einen Menschen braucht, der ihn betrügt« (Z. 179).
Es folgen die Freunde und Kameraden. »Die Prahlerei, Ruhmredigkeit und Schmeichelei in diesem Stück (von Lauff) ist kaum zu beschreiben, die verschiedensten hochstehenden Persönlichkeiten konnten sich nicht mehr bemeistern und sprachen es ruhig aus. Bei einigen aber erlebte ich es, daß, als ihnen unmittelbar darauf S.M. Allerhöchst sein Befriedigtsein mit dem Stück aussprach, sie sofort auch nur Worte der Bewunderung und Anerkennung hatten. Dieser krasse Umschwung und vor allen Dingen der scheue Blick, wenn jemand dabeistand, der unmittelbar vorher das entgegengesetzte Urteil mit angehört hatte, konnten gradezu humoristisch wirken« (Z. 48). Von der Nordlandreise 03 schreibt Eulenburg: »Der Widerspruch der Jahre zu der krampfhaften Heiterkeit verletzt mich am meisten. Die Fahrtgenossen sind ohne Ausnahme zu hohen Würden gestiegen ... und sie sind alle recht verbraucht. Aber es bleibt doch noch genug Energie, um heiter, witzig, ja selbst geistreich zu erscheinen ... Mich ekelt das sehr. Ich kann diese Exzellenzen, die die Kniebeuge machen, nicht mehr ertragen, auch nicht mehr Witze von morgens 9 Uhr« (E. 2, 303).
Es folgen die Fabrikanten der Kaiserbücher. »Der Kaiser und die Jugend. Bedeutung der Reden des Kaisers für Deutschlands Jugend,« erschienen 05 mit zwei Vorworten. Aus dem Vorwort eines Hofpredigers: »Es gibt Menschen, deren Worte ihre Handlungen sind, zu diesen werden wir alle unsern Kaiser zählen ... Seine Worte bedeuten Taten ... sie bergen tiefe Lebensweisheit.« Aus dem Vorwort des Herausgebers: »Gott sei heißer Dank dafür dargebracht, daß er uns einen Kaiser geschenkt hat, auf den nicht nur verlogene Liebedienerei oder gesinnungsloser Servilismus, ... sondern auch der ernste Sinn des seinem Amte treu und gewissenhaft ergebenen Erziehers als auf ein leuchtendes Vorbild freudig hinweisen kann ... Das hohe, man möchte sagen heilige Bewußtsein der Pflicht und Verantwortlichkeit, der unermüdliche Eifer und niemals rastende Fleiß, das freudige Anerkennen der Verdienste anderer, das staunenswerte Streben auf allen Gebieten zu lernen und sich zu vertiefen, das alles, verbunden mit dem bestrickenden Zauber einer kraftvollen Persönlichkeit ergibt ein Gesamtbild von so packender Gewalt, daß kein deutscher Jüngling sich seinem veredelnden Einfluß entziehen kann.«
Als ein schlauer Franzose, der Zeichner Grand-Carteret, dies alles erkannte, suchte er den Import seiner Kaiser-Karikaturen nach Deutschland durch einen Offenen Brief im Jahre 04 zu erzwingen, in dem er sich mit diesen Worten über ihn lustig machte: »Wie Napoleon einst für die ganze Welt, so sind Sie, Majestät, kurz: der Kaiser. Das sagt alles, der Cäsar ... Heut sind die Augen Europas beständig nach den Ufern der Spree gerichtet. Sie sind das Idol, der Gott des Tages ... Schon eine Bewegung von Ihnen hallt in der ganzen Welt wider ... Majestät, geben Sie den Wink zur Befreiung der Karikaturen, welchen die Welt von Ihnen erwartet!« Da er verstand in den Augen der Menschen zu lesen, gab er den Wink und ließ das Buch des Ausländers erscheinen, während deutsche Wahrsager auf Festungen und in Gefängnissen ihre Kühnheit büßten.
Es folgten unter den Künstlern die Fabrikanten der Hohenzollernstücke, der Kaiserbilder, Allegorien, Gedichte, die sich für Ton und Farbe, Aufriß von Domen und Dramen dem Genius Serenissimi beugten und deren Rekord der Erbauer der Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche hielt. Ein Architektenzeichen (Kreuzung zweier Kreisbogen), das auf dem ersten Plan über dem Kreuz auf dem Turm wie ein Stern wirkte und als solcher dem Kaiser wohlgefiel, auf der Ausfertigung später natürlich fehlte, wurde vom Kaiser ärgerlich vermißt, denn gerade die Überladung: Kreuz und Stern hatte ihn fasziniert. Herr Schwechten, der die Kirche erdachte, war zu servil, ihn aufzuklären, ingleichen die Kirchenbehörde, und so strahlt über 20 Jahre lang ein eiserner »Morgenstern« über dem Kreuze, wie ihn als Totschläger die Söldner gebrauchten.
Es folgen die Bürger, die besondere Leistungen an den Hof geführt haben. »Mögen sie noch so unabhängig sein, in des Kaisers Gegenwart werden sie zu Höflingen und binnen kurzem häufig zu schlimmeren, als die dauernd dazu bestimmten Menschen. Wenn es ernstlichen Unwillen erregen könnte, treten sie ebensowenig für ihre Überzeugung ein, wie die andern« (Z. 62). Slaby, hervorragender Physiker, »kennt leider in bezug auf Schmeichelei und Liebedienerei gar keine Grenze mehr«. Er legt dem Kaiser dar, wie er über seine Gegner schließlich doch immer triumphiert habe. »Ja, das ist wahr, erwidert da der Kaiser, meine Untertanen sollten einfach tun, was ich ihnen sage; aber sie wollen immer selber denken, und daraus entstehen dann die Schwierigkeiten« (Zedlitz, Herbst 04).
Sie alle sind im Zuge der Schmeichler, die unabhängigen Geister, von denen keiner dem Kaiser die Wahrheit, die er nachher aufschrieb, jemals ins Auge gesagt hat: Ihne, Harnack und Delitzsch, Helfferich und Krupp, Dörpfeld und Bode, Kopp und Faulhaber, Tschudi und Begas, der junge, zuweilen sogar der alte Rathenau, und der große Gelehrte Deußen spricht in seiner Kaiserrede 91 die Erwartung aus, »daß der Kaiser uns von Goethe zu Homer und Sophokles, von Kant zu Platon führen wird«. Lamprecht aber, Deutschlands erster Historiker, zur Wahrheit doppelt verpflichtet, bricht noch 1912 vor der Erscheinung Wilhelms des Zweiten in großem Huldigungsaufsatz in die absurden Sätze aus: »Eine urzeitlich durchwehte Persönlichkeit von mächtigem Willen und entscheidendem Einfluß, dem ... der ganze Empfindungs- und Schicksalsbereich eines schaffenden Künstlers immer und immer wieder erschlossen wird ... Selbstsicherheit und Festigkeit der obersten Ziele, das ist eines der entschiedenen Kennzeichen der kaiserlichen Persönlichkeit.«
Umspielt aber wird der Zug der gebeugten Rücken und der entrückten Blicke, er wird umjauchzt von luftigen Gestalten mit Zimbelschlägen und leisen Pauken, die durch die Schlüssellöcher dringen, zu den Fenstern entfliegen, von keinem Zeremonienmeister gehindert: das ist die Presse des Kaisers und der Seinen. Hier liest er, wenn der entzückte Zug vorüber ist, »die Gefühle des Volkes«, lächelt und kann zum Präsidenten des Herrenhauses sagen: »Was will man denn? Man jubelt mir ja überall zu! Ich weiß sehr gut, was man im Volk von mir denkt und spricht!« Und während er die Ausschnitte seiner Zeitungen sinken läßt, schließt sich das von so viel Glanz und Hingabe lange unermüdete Auge am Ende doch, und noch einmal sieht er sie an sich vorüberziehen: Fürsten und Generale, Hofprediger und Professoren, Botschafter und Minister, Fabrikanten und Architekten, Bürgermeister und Künstler, Kardinäle und Juden, Freunde und Fremde: alle beglückt, alle des Lobes, des Dankes voll!
Nur Einen Stand hat er im Zuge seiner Untertanen nie erblickt: die Arbeiter fehlten. Sie waren nicht hoffähig.