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Kaiser Wilhelm II. in Zivil

Kaiser Wilhelm II. in Zivil

Zweites Buch: Macht

 

»Wenn Könige donnern könnten wie Jupiter, sie machten taub
den Gott und täten nichts als donnern, nichts als donnern!«

Maß für Maß

 

IV. Kapitel.
Kabalen

I

Aus der altmodischen Tür des Auswärtigen Amtes tritt ein hochgewachsener Mann, ehrerbietig wünscht der Pförtner dem Herrn Baron Guten Abend, denn dieser Mann ist mächtig, immer der letzte, der das Bureau verläßt, heut ist es wieder nach Neun. Auf den Stufen schlägt er den Mantelkragen hoch, drückt den Hut noch tiefer, senkt die Hände in große Manteltaschen, und ohne jeden Umblick geht er eng an der Mauer entlang, wie um Begegnungen auszuweichen. Sein fester Schritt, die rüstige Gestalt des Fünfundfünfzigjährigen scheint einer so sorgsamen Einhüllung zu widersprechen, man sieht, nicht der Kälte sucht er auszuweichen, sondern den Menschen, und wenn es einem gelänge, an einer Laterne seine Züge zu erfassen, der würde mit Erstaunen über der Adlernase einem mißtrauisch verschleierten Blicke begegnen, mit dem Ausdruck verlegener Trauer, Zügen, die, grau wie Auge und Spitzbart, in Stubenluft verstaubt sind. Dabei ahnt niemand, daß er heut wie immer einen Revolver in der Tasche trägt.

Noch in diesen vorgerückten Jahren ist er oft auf den Schießstand gegangen, obwohl, nicht Offizier und schon lange nicht mehr Jäger, er sich weder für Waffen noch für sportliche Eleganz interessierte, auf einen kleinen, bürgerlichen Schießstand, um sich unerkannt mit dem Revolver zu üben. Machte er im Urlaub vielleicht exotische Reisen? Suchte er heimlich die Kaschemme auf? Stille, kleine Bäder im August, im kleinsten Kreise Borchardt in Berlin, das sind seine Erholungen; niemals geht er zu Hof oder zu Festen, kaum an einen andern Teetisch als den einer klugen Frau, der er vertraute. Nur gegen seine Standes- und Berufsgenossen schießt er sich ein.

Denn Mißtrauen, das ist der Grundzug des Barons von Holstein, Menschenfeindschaft und beinah tückische Vorsicht, die er von sich auf jeden überträgt. Freilich, dreimal hat ihn das Schicksal getroffen und verwundet:

Auf dem Familiengut in der Mark sah er als Knabe den eignen Vater in brennender Scheune verschwinden. Dann wurde das Lebensgefühl des jungen Mannes auf undurchsichtige Art »durch eine schwere Jugenderfahrung angefressen«. Der dies überliefert, ein feiner Kenner, sah in seinem Wesen »einen weiblichen Zug, der ihn alles vermeiden ließ, was zu Konflikten, zu Lärm und Aufsehen führen konnte. Um das zu verbergen, umgab er sich mit dem Schein einer Unnahbarkeit, die seiner Natur nicht entsprach ... Holstein, so haben mir zwei seiner ältesten Kollegen gesagt, ist nicht zu finden, so oft es Entscheidungen gilt, die peinliche Konsequenzen nach sich ziehen könnten. Er hätte also danach den Mut seiner Meinung nicht gehabt, wenn Gedanken zu Taten werden sollten ... Sein Selbstgefühl machte den Eindruck, erzwungen zu sein.« (von Eckardt, Caprivis Kampf.)

Hatte er also, nach diesen und manchen stärkeren Andeutungen aus seinem Kreise gewisse Perversionen zu verheimlichen – auch Hammann betont seine krankhafte Veranlagung –, so erklärt diese Unsicherheit eines weiblichen Empfindens doch nur zur Hälfte sein Auftreten. Er war noch junger Sekretär an der Pariser Botschaft, als die Fürstin Hohenlohe, wie ihr Sohn schreibt, sich beim Verlassen des Palais oft von ihm beobachtet fühlte und vor seiner Spionage gewarnt wurde; ja schon vorher hatte Bismarck ihn an der Petersburger Botschaft überwachen lassen und eben hierbei seine besonderen, verschwiegenen Gaben erkannt.

So schien er ihm später das rechte Werkzeug, seinen zweiten Pariser Chef, den Grafen Arnim, Bismarcks Feind, zu überwachen, und er hat offenbar geheime Berichte von diesem Sekretär über seinen Chef gewünscht und erhalten. Nachdem aber Holstein Arnims furchtbaren Sturz auf so geheimen Wegen in Paris vorbereitet hatte, nötigte ihn Bismarck im Prozeß, dieselben Dinge als Zeuge offen auszusagen. Dies ist als Makel an ihm hängengeblieben und hat die Verbitterung seines Wesens mitverschuldet. »Die Bismarcks haben mir wie einem Galeerensträfling ein Schmachzeichen auf die Stirn gebrannt, und damit halten sie mich fest.«

Auf diesen dunklen Wegen hat nicht bloß Bismarck den Baron Holstein, hat auch dieser jenen an sich gefesselt, denn der hielt ihn im Amte mit Haß, nannte ihn den Mann mit den Hyänenaugen und suchte vergebens, ihn als Unterstaatssekretär ins Licht zu stellen, um ihn zu verbrauchen: jede Erhöhung der Stellung lehnte der wunderliche Geheimrat ab. »Ein schwieriger Passagier,« sagte Bismarck später, »wollte man ihn aber aus dem Wagen setzen, so riskierte man, daß er vielleicht im Auslande zu plaudern anfing.« Ja, Eulenburg will aus bestimmten Quellen wissen, daß Holstein ernsthaft dem Fürsten Bismarck den Vorschlag gemacht hat, den Kronprinzen Friedrich vergiften zu lassen, und erklärt sich den furchtbaren Haß Holsteins gegen Bismarck daraus, daß er zurückerfuhr, der Fürst habe diesen Vorschlag in seiner Umgebung verraten (E. 2, 383).

In so furchtbarer Verkettung gefangen, die ihm auch gegen Bismarck zugute kam, durfte Holstein dennoch kaum hoffen, den Allmächtigen zu stürzen. Aber je tiefer der Haß zwischen beiden wurde, gestärkt durch ein fast unentbehrlich gewordenes Wissen Holsteins in allen auswärtigen Fragen, um so heftiger spürte dieser nach einem Wechsel aus und witterte Morgenluft, als ihm, von allen Intrigen täglich unterrichtet, die ersten Differenzen des Prinzen Wilhelm mit dem Kanzler bekannt wurden. Sollte er wirklich die Stunde der Befreiung erleben? Um diese Zeit lockerte er sein Verhältnis zu Herbert, verbündete sich mit Waldersee, gab ihm mit dem Einblick in alle wichtigen Eingänge Material in die Hand, den Kaiser aufzuputschen, und hat so am Ende ein großes Stück Verantwortung an Bismarcks Entlassung historisch zu tragen. Die Szene in der Geheimen Registratur, aus der er seinem frühern Freunde Herbert die russischen Akten weggepascht hatte, war nur der letzte Sieg in seinem Feldzug 88 bis 90.

Nun saß er da, mit Bismarcks Erbschaft sachlich allein belastet, denn da auch Herbert ging, blieb in der Wilhelmstraße niemand, der die Geschäfte kannte wie Holstein. Seine politische Leidenschaft konnte sich nun um so reiner entfalten, weil er auch jetzt – der einzige in diesen Räumen – ganz frei von äußerem Ehrgeiz blieb, Rang, Titel, Orden verschmähte, das Amt des Staatssekretärs ausschlug, um dessen Macht zu behalten. Aus seiner größten Schwäche, der Angst vor Verantwortung, zog er in Form der indirekten Macht die größte Stärke.

Hier war nicht ein ironisch Entsagender, der nur noch durch weisen Rat sein gefährdetes Vaterland stützen wollte; hier war ein Mann, glühend für das Metier, ein Schachkünstler hohen Ranges, der das Spiel als solches nicht entbehren konnte, sich aber den Turnieren entzog, schon um nicht in die Zeitung zu kommen. Jahrelang ist er der photographischen Platte wie einer Krankheit ausgewichen, und während seine Kollegen alle den Ruhm des Tages und der Presse, die Gunst des Kaisers und des Reichstages, Glanz von Hof und Gesellschaft, zumindest eine historische Rolle suchten, lebte unter ihnen dieser Eine, der all dies fürchtete und haßte. Dafür aber wirkte er mit unermüdlicher Spannkraft daran, von seinem kleinen Zimmer aus durch Chiffren und Briefe mit den Zentren der Staaten maßgebend zu verhandeln, Botschafter, Minister und alle Figuranten an geheimen Drähten zu ziehen, unbekannt dem Volk und den Völkern, und so die diabolischen Triumphe eines unsichtbaren Magiers zu genießen.

Bisher war seine allseitige Kenntnis der Verhältnisse und Verträge in den Dienst eines Meisters gestellt gewesen, der in ihm den geborenen Zweiten nutzte; jetzt aber nahm er selber die Zügel zur Hand und bestimmte die Fahrt. In seiner Zelle saß er nun, der menschenscheue Zauberer, er hatte sie seit Jahrzehnten kaum mehr verlassen, und ohne die reale Welt, die Länder draußen, anders als im Vexierspiegel ihrer Presse zu studieren; ganz fremd den neuen Menschen und Bedingungen, die dort regierten, spann er allein an dem kostbaren Gewebe fort, nach seinen eignen innern Bildern.

Die waren wunderlich verschoben. Mit Zahlen rechnete er, doch selten mit Größen, und wenn er Unwägbares hinzuzählte, so verrechnete er sich. Von heller Logik, doch ohne Psychologik, spielte der einsame Sonderling das große europäische Spiel als ein Brettspiel, und weil ihm hierin niemand gewachsen, weil er Kenner aller Wege, Umwege, Schleichwege, aller Nuancen diplomatischer Winke, Demarchen, Noten war, fürchteten ihn alle Missionschefs und suchten seinen Beifall. So kam es, daß er, Geheimrat, nicht einmal Abteilungsdirektor, mit den meisten Botschaftern nicht bloß privat korrespondierte, er sandte selber chiffrierte Depeschen an jene, die er oft seinem Chef und den Akten vorenthielt, und vermochte so, die Berichterstattung von draußen nach dem Amt nach seinen Wünschen zu gestalten.

Stand er mit einem Botschafter schlecht, so wies er zuweilen auch Sekretäre der Botschaft an, sich über den Kopf ihres Chefs hinweg direkt mit der fremden Macht zu verständigen und wieder nur ihm persönlich zu berichten. Wehrte sich jemand und berichtete amtlich unbeirrt seine eignen Eindrücke, so ließ er meist eine zweite Depesche folgen, die der Staatssekretär seinem Geheimrat vorlegen konnte, »für die Psyche von Holstein berechnet« (Eck. 2, 239). Hunderte von Berichten über die wichtigsten Dinge tragen, um seine Eifersucht zu schonen, den Vermerk »Privat für Baron Holstein«, worauf sie auf den Dienstweg, dann also auch zum Staatssekretär gelangten.

Diese kuriose Stellung mußte in ihm mehr und mehr den Autokraten entwickeln, er forderte Gehorsam und Rücksicht und beginnt eine seiner zahllosen Depeschen an den damals schwerkranken Botschafter Hatzfeldt in London (A. 16, 319): »Überaus erfreut, endlich wieder von Ihnen zu hören. Warum Sie übrigens, selbst wenn Sie krank waren, mich lange Wochen ohne persönliche Nachricht gelassen haben, ist mir unverständlich.« Botschafter, die beim Staatssekretär jederzeit Zutritt forderten und fanden, ließ er tagelang warten oder empfing sie gar nicht; als Alexander Hohenlohe im Gespräch einmal die Wendung brauchte, »Ich würde Ihnen raten«, empfing er ihn, Sohn und Vertrauten des Kanzlers, nicht mehr, bis der Vater den Grund erfahren und es wieder gutgemacht hatte (AI. 309).

Fiel es ihm ein, so ließ er einen langen Brief, drei enge Druckseiten füllend, ohne jeden Anlaß zur Eile, nach London chiffrieren. Während er Denkschriften in prachtvoller Logik aufzubauen wußte, waren solche Depeschen mehr Selbstgespräche, salopp, mit Also beginnend, oder es hieß darin »Affenkomödie ... Was soll man von solcher Politik denken ... also wo sitzen die Schwierigkeiten.« (Eck. 2, 213). Ging er auf Urlaub, so schloß er die wichtigsten Stücke weg und machte eine weitere Bearbeitung bis zur Rückkehr unmöglich, Adressen auf Reisen gab er nicht an; in seiner kleinen Wohnung, gelegen in einem altmodisch entfernten Stadtteil, ließ er sich nie finden.

Da er Widerspruch nicht vertrug, verengte er immer mehr seinen Kreis, vergrößerte damit den Nimbus seines wolkenhaften Sitzes, wurde nur noch schrulliger, brachte an wichtige Posten am liebsten Männer, die durch Armut oder Vorgeschichte irgendwie abhängig waren, um sie sicherer zu beherrschen, und besetzte schließlich alle entscheidenden Stellen im Auslande oder vermochte doch andre Besetzungen durch sein Veto zu hindern. Nach Bismarcks Sturze lehnte er zwei Kandidaten ab, entfernte einen tüchtigen Unterstaatssekretär und gab seine Zustimmung erst zur Ernennung des Freiherrn Marschall von Biberstein, weil dieser als Neuling in der Reichspolitik ganz auf ihn angewiesen war. »Waldersee kann ich nicht zum Kanzler machen,« sagte der Kaiser, »da Holstein erklärt hat, dann nicht bleiben zu wollen« (W. 2, 260).

Noch leidenschaftlicher als im Königsmachen, ist er im Stürzen von Mächtigen, im Zerstören bestehender Bande. Jahrelang hat er Bismarcks Söhne gegeneinander und beide gegen den Vater zu hetzen versucht, dann Eulenburg gegen seine beiden, hoch amtierenden Vettern, schließlich Eulenburg gegen den Kaiser. Sein Mißtrauen stieg zum Verfolgungswahn: »Wenn er«, schreibt Hammann, »sich durch Verdacht gegen andere in der eignen Machtsphäre bedroht glaubte, wenn er unter passivem und aktivem Terror litt, wenn ihn hysterische Eifersucht packte, kannte er sich selber nicht.« Eulenburg und Bülow nannten ihn den Marder, und Eulenburg berichtet von Holsteins Mißtrauen: wenn einer ihn einmal nicht gegrüßt hatte, »genügte das, um die Verfolgung gegen den Feind zu beginnen, die niemals endete. Auch ein Wort, daß irgend jemand gesagt haben sollte, ... genügte, um eine dauernde Feindschaft zu gestalten ... Einen Diener hielt er nie, ... da er wohl der Meinung war, ein solcher würde sich bestechen lassen, stehlen oder ihn ermorden ... Seine Genialität lag völlig konzentriert auf dem politischen, und zwar auf dem intriganten Gebiete. Allerdings – so muß ein Eulenburg hinzufügen – wird der Urgrund politischer Arbeit immer Intrige sein.«

Weil dieses Urteil nur über Holstein, nicht über die politische Arbeit im Großen richtig ist, wurde Holsteins Wirken unheilvoll. Bei voller Kenntnis der Sachen blieb er im Grunde unsachlich und hat deshalb trotz seines Scharfblicks die drei oder vier grundlegenden Fragen Europas am Ende des Jahrhunderts falsch beantwortet: Holstein hat weder die Brüchigkeit des Dreibundes gesehen, noch an den nahenden Verfall Österreichs geglaubt; er hat jeden für naiv erklärt, der eine Verbindung Englands mit Frankreich, und jeden für toll, der sie mit Rußland für möglich hielt. Das waren seine Thesen und Vorurteile drei Jahrzehnte lang, aus ihnen folgen von Fall zu Fall all seine Mißgriffe im einzelnen.

Nur eines hat er von Anfang richtig erkannt, das war das Problem des Kaisers. Ihn hat er gemieden, alle Einladungen ausgeschlagen, »ein einziges Mal«, berichtet Wilhelm, »im Laufe vieler Jahre hat er sich herbeigelassen, im Auswärtigen Amt mit mir zu speisen«, dabei bat er seinen Rock zu entschuldigen, weil er keinen Frack besäße. Als einer der ersten hat Holstein den Kaiser erkannt, ihn schon im Jahre 92 mit dem Kaiser im Zweiten »Faust« verglichen, seinen Sturz und selbst die Republik vorausgesagt.

Kein Wunder, er war ja sein Antipode: Wilhelm wollte immer den Schein der Macht, Holstein nie, Wilhelm wollte überall glänzen, Holstein nirgends; war jener bestrebt, in jedem Mittelpunkt zu stehen, öffnete er Herz und Mund überall, war nie allein, stets Menschenverbraucher und Optimist, so blieb dieser immer im Hintergrunde, verschloß sich den meisten, immer allein, immer skeptisch. Wilhelm war der am häufigsten, Holstein der am seltensten photographierte Deutsche seiner Zeit.

Und doch, ein entscheidender Zug ist ihnen gemein: Beide wollen jede Verantwortung meiden, schieben jeden schlechten Ausgang auf andere, fühlen sich unsicher und gehen nur mit Waffen aus: der Baron nicht ohne Revolver, der Kaiser nicht ohne Schutzmann.

 

II

Sieben Jahre lang ist die äußere Politik des Deutschen Reiches von drei Männern gemacht worden, deren Namen unter keinem abschließenden Aktenstücke stehen: Holstein, Eulenburg und der Kaiser waren rechtlich ohne Verantwortung, die beiden ersten auch moralisch, denn welcher Diener lenkte nicht gern seinen Herrn. Neun weitere Jahre blieben sie an der Macht, von einem Vierten, von Bülow nicht verdrängt, sondern ergänzt. Wurde also das Deutsche Reich die ersten sieben Jahre nach Bismarcks Sturze nur von verantwortungslosen Männern geleitet, so wurden diese nachher von einem Freunde gedeckt, der mitregierte. Die politische Urquelle blieb während dieser sechzehn Jahre der Baron Holstein. »Sein politisches Urteil war nach Bismarcks Rücktritt bis zu seinem eignen Rücktritt, 1890 bis 1906, in allen wichtigen Fragen der auswärtigen Politik maßgebend ... Zweifellos wäre seine Politik absolut maßgebend geworden, wenn nicht das Eingreifen des Kaisers den Bahnen der Politik so oft andre Wege gewiesen hätte, als Holstein sie wünschte.«

Dies Urteil Eulenburgs wird von allen Seiten, besonders aber von den Akten bestätigt, die fast ununterbrochen die Initiative des Vortragenden Rates beweisen. Will freilich Eulenburg sich selber mit dieser Feststellung entlasten, so tut er es nur nach der sachlichen Seite, von der er nichts verstand; wie sehr er den Einfluß nach der persönlichen hatte, sagt er in treffenden Worten: »Man fühlte sich gewissermaßen hilflos ohne meine Vermittlerrolle zwischen einem hyper-temperamentvollen Kaiser, der blitzartig aus heiterem Himmel in die Zirkel des Auswärtigen Amtes fuhr, einem geistvollen, stark pathologisch veranlagten dirigierenden Geheimrat sowie einem Reichskanzler, der ... meine Vermittlerrolle als ein notwendiges Übel betrachtete.«

Ein notwendiges Übel war der geistvolle und stark pathologische Eulenburg selber, denn da zwischen Kaiser und Holstein ein persönlicher Verkehr sozusagen unmöglich, zwischen Kaiser und Eulenburg natürlich war, so mußten Holsteins logische Irrtümer immer erst von Eulenburg psychologisch raffiniert werden, damit der Kaiser manchmal nach einem Plan entschied.

Darum erkannten beim Aufgang des neuen Gestirns die beiden schwankenden Gestalten es als Notwendigkeit sich zu verbünden, denn ihr Bündnis würde, so fühlten beide, gleich dem Produkt ihrer Kräfte sein. Eulenburg, beinah immer am Hof und in Gesellschaft, propagierte und vervielfältigte die Gedanken des Sonderlings, band sie in seladongrünes Maroquin, brachte sie unter die Leute: er wurde sozusagen der Verleger von Holsteins Ideen. Holstein sah in dem neuen Freunde einen Hofsänger, der Serenissimus mit Harfentönen zu gewinnen verstand, Eulenburg in jenem einen Alchimisten, dessen Tränke man bei Hof nicht entbehren konnte, beide hielten einander für verrückt, abnorm und unmöglich. Trotzdem hatte jeder vor den ihm völlig fremden Gaben des andern einen gewissen Respekt und empfand mit ihm eine Art von Mitleid, das zur Liebe nicht langte, doch jeden Augenblick in Haß umschlagen konnte, weil beide alle Verantwortlichkeit mieden und gegebenenfalls einander zuschieben wollten.

Schon 89, als Eulenburg noch Sekretär in München war, erhielt er die ersten geheimen Briefe von Holstein, und zwar nach Starnberg, »weil ich Ihretwegen wünsche, daß Ihr jetziger Chef nicht meine Handschrift sieht«. 91 spricht Holstein schon von »zwei solchen Weggenossen wie wir,« und »es war für einen alten Junggesellen eine ungewohnte Arbeit, für Ihre Nachkommenschaft etwas aufzutreiben«, dann rühmt er des Freundes Ausführung seiner Ideen als meisterhaft. Eulenburgs Antworten schmelzen zurück: »Mit der unvergleichlich roten und dürstenden Farbe des Mussigny male ich in meinem dankbaren Herzen Ihren Namen, der mir zuerst vor Jahren erschien, als ein fremdes, unnahbares, dem jungen Legations-Sekretär, der sich mehr mit Poesie als mit Diplomatie beschäftigte, für alle Zeit verschleiertes Bild ... So hat alles seine Schicksale ... Ich kann mir mein Leben nicht mehr ohne Sie vorstellen« (E. 2, 165).

Mit solchen Rosenliedern beantwortete er Holsteins Skaldengesänge, und doch wäre es absurd, die Anormalität beider Männer in direkten Zusammenhang zu bringen. Mitte Vierzig, konnte Eulenburg diesen Freund nur noch durch Übermittlung von Intrigen reizen, und beide, der Schreiber dieses Brautbriefes und der zehn Jahre ältere Empfänger, lächelten beim Nehmen und Geben in ihre Bärte. Schon zwei Jahre später notiert sich Eulenburg: »Sobald eine Situation brenzlig wird, wird Holstein ganz verrückt. Die Zumutung ist geradezu grotesk ... Ich bin kein Holstein, sondern ein Eulenburg,« und glaubt damit ein Plus zu konstatieren, weil er auch noch Dichter und Graf, Gardeoffizier und Musiker ist. Im Jahre 94 liegt der Haß schon offen am Tage: »Wenn der arme Caprivi (den sie eben zusammen stürzen) diesen Zettel in die Hand bekäme, so wären wohl die Tage des Freundes Holstein gezählt. Da wir diesen aber, ich hätte fast gesagt, leider, nicht entbehren können, so werde ich ... den Zettel auch nicht dem braven Caprivi zeigen. Mein Gott! welches Theater! ... Wäre ich nicht, was ich bin, so würde mich Freund Holstein über Bord werfen.«

Aus solcher Hehlerluft, wo jeder seinen Komplizen haßt und doch nicht opfern kann, gingen in den sieben führerlosen Jahren die politischen Entscheidungen des Deutschen Reiches hervor.

Denn unermüdlich folgt Eulenburg den Winken des Freundes Holstein beim Freunde Wilhelm, dem er oft begegnet und immer schreiben kann. Auf diese Art, durch inspirierte Briefe des Grafen an den Kaiser, stürzen sie zunächst Anfang 92 den einzigen noch aufrechten Mann, den Grafen Zedlitz (E. 2, 66). Sie machen auch Große Politik. Hält Holstein politisch für unzuträglich, daß der Kaiser den Zaren in Danzig trifft, so muß Eulenburg persönliche Gründe erfinden, um den Kaiser zurückzuhalten. Will Holstein den Kaiser gegen die Konservativen hetzen, so läßt er ihm durch Eulenburg von einem Brief des konservativen Führers berichten, der nie eingelaufen ist. Wird ein Großfürst erwartet, so entwirft Holstein in seinem Berliner Zimmer die Gespräche, zum Teil schon französisch, die der Kaiser mit dem Russen führen soll, und schreibt sie dem Freunde nach München, damit sie dieser nach Potsdam weiterleite (E.2, 76).

Doch Holstein ist es nicht allein, der Eulenburg bedient. »Hunderte von Briefen« liefen bei ihm zusammen, um den Kaiser warnen oder anspornen zu lassen; von der Auswahl dieser Anregungen hingen die Entscheidungen weit stärker ab, als von den Vorträgen des Kanzlers. Eulenburgs Kunst lag dabei im Vorgefühl von Wirkungen, hier lagen auch seine Verdienste. Neben den reichsgefährlichen Entscheidungen, die er durch Besetzung wichtiger Stellen mit unfähigen Busenfreunden auf dem Gewissen hat, gibt es einige warnende Briefe, die man für echt halten darf, obwohl sie nur von ihm selber, spät und nach Konzepten vorgelegt und nur zuweilen durch kaiserliche Antworten bestätigt werden. So schreibt er dem Kaiser Ende 91 aus München: »Alle Parteien ohne Ausnahme haben sich durch das Wort E. M. ›regis voluntas suprema lex‹ verletzt gefühlt, es war dazu angetan, in schmählichster Weise gegen E. M. ausgebeutet zu werden.«

Ein Jahr darauf, nach der Rede »Herrlichen Zeiten führe ich euch entgegen«, schreibt Eulenburg: »Die große Redegewandtheit und die Art und Weise E. M. üben auf die Zuhörer einen bestrickenden Einfluß ... Bei der kühlen Beurteilung des Inhaltes ergibt sich aber unter den Händen des deutschen Professors ein andres Bild. Über die Zeiten, da man an einem Kaiserwort nicht deuteln sollte, sind wir hinweg, schon deshalb, weil auch E. M. mit den Kaiserworten anders umgehen und ihnen zu viel und zu häufige Publizität geben«. Drahtantwort: »Besten Dank für Brief, der mir nichts wesentlich Neues brachte. Bin noch recht elend und muß mich jeder Arbeit fernhalten. Zustand durch Überarbeitung und Überanstrengung gekommen ... Werde vielleicht, wenn wieder wohler, mal ausspannen und Ortswechsel vornehmen müssen. Daher alle Politik, innere wie äußere, mir fürs erste völlig gleichgültig, solange sie sich im gewohnten Kreise fortbewegt. Besten Gruß den Ihrigen. Wilhelm.«

Man sieht, er ist touchiert, weicht aus, rühmt seine Anstrengungen fürs Vaterland und nimmt einen Ortswechsel in Aussicht, von dem er eben heimkehrt. Freund Holstein applaudiert: »Einstmals wird man jedenfalls sagen können, daß einer da war, der Wilhelm dem Zweiten die Wahrheit sagte. Aber ich glaube wirklich, daß es nur einer war.« Das ist nach beiden Richtungen falsch: es werden zwei oder drei andere kommen, die dies sogar ohne den Schirm der Freundschaft wagen, Eulenburg aber, der erklärte Favorit, dem damals alles freistand, sagt die Wahrheit viel zu selten, verheimlicht seine Besorgnisse und wird vor der Geschichte doppelt schlecht bestehen, weil er oft richtig sah und zu Gefahren schwieg, die er näher als alle andern erkannte.

Auch er hat den Kaiser früh erkannt; daß ihn persönliche Neigung milder stimmte, soll man nicht verwerfen. Noch 90 schilderte ihn Waldersee als gläubigen Verehrer des Kaisers, von dem er eine ideale Anschauung habe; 92 findet er bei ihm »eine Wandlung, er denkt jetzt sehr nüchtern und sieht mit Besorgnis, wie es bergab geht«. Als man ihn aber auffordert, dem kaiserlichen Freunde Wahrheiten zu sagen, bricht er in Tränen aus: »Ach, ich kann ihm doch nichts Unangenehmes sagen!« (W. 2, 374). Wie er dann den Kaiser im Manöver den Feldherrn spielen sieht, schwindelt ihm »bei dem Gedanken an die furchtbare Verwirrung, die ein Stören des Generalstabes hervorrufen würde ... Sie entsinnen sich der Befürchtung wegen des Größenwahns, die ich bekämpfe. Hier ist ein Gebiet beschritten, wo man den jungen Kaiser in solchen hineindrängt. An der Spitze der mächtigsten Armee der Erde mit dem Bewußtsein zu stehen, zugleich ein genialer Feldherr und mit der Krone von Gottes Gnaden auf dem Haupt zu sein: das ist gefährlich« (E. 284). So klar erkennt er die Gefahr und schweigt.

Er schweigt, als er sich bald darauf die allgemeine Wahrheit aufschreibt: »Es fehlt die Einheit der Führung, weil S. M. keine Einheit in sich hat. Tür und Tor ist der Maison Militaire geöffnet, mit Plessen an der Spitze, der nur von Schießen spricht ... Ich kann es niemand sagen, was ich eigentlich empfinde, weil das Gesamtbild jeglicher Harmonie bar ist – und weil diese Harmonie nicht herzustellen ist. Denkt man einer Herrschergestalt, wie der alte Kaiser es war, denn alle Rosse zogen gern seinen Wagen, der der Staatswagen war ... Und jetzt?! Alles beißt sich, schlägt sich, haßt sich, belügt sich und betrügt sich. Ich habe öfter denn je vorher das Gefühl, in einem Irrenhause zu leben. Verrückte Borniertheit, verrückte Widersprüche, verrückter Hochmut. Dalldorf – Dalldorf – Dalldorf!« (E. 2, 108).

Als ihn die neuverliehene Hof-Jagduniform drückt, klagt er: »Weshalb aber dazu noch gelblederne Stiefel mit silbernen Sporen gehören, ist mir ein Rätsel ... In meinem alten Liebenberg, wenn der Kaiser mich besucht, verkleidet herumzustolzen, ihm in meinem friedlichen Zimmer mit Sporen Vortrag zu halten und zum Schluß gar noch an meinem Flügel in hohen gelben Stiefeln mit silbernen Sporen Lieder zu singen!! ... Ich will nicht angezogen sein wie kaiserliche ›Umgebung‹. Ich bin jemand anders« (E. 2, 111).

Und doch, trotz richtigen Einsichten, die teils seiner Vernunft, teils verletztem Dichterstolz entspringen, rührt er sich nie aus diesem Kreise, befestigt lieber mit jedem Jahr seine Stellung, denn er denkt, »l'amitié d'un grand homme est un bienfait des dieux«. Bald bietet ihm der Kaiser Brüderschaft an, d. h. auf Lakaienart, der Herr sagt Du, Eulenburg schreibt weiter in dritter Person und alleruntertänigst; ja so ganz ist er Hofmann, daß er selbst in Briefen an die intimsten Freunde den Kaiser als Er und Ihn und in der Wiedergabe von Gesprächen des Kaisers Ich und Mein sogar in den Konzepten groß schreibt.

Da er alles kann, gefällt er dem Kaiser. Nachdem er in Jagd und Gesang exzelliert, alles als Wirt arrangiert, bei Tische leitend konversiert hat, »so daß es das Mahl mit Heiterkeit würzte, ohne überzuschäumen«, werden auch noch »sehr ernste Fragen der Politik zwischen mir und dem Kaiser erörtert, die um ihres geheimen Charakters willen als ein moralisches Plus zu aller Verantwortung traten«. Oder er bleibt nach dem Frühstück im Coupé »mit dem geliebten Kaiser allein, und ein Strom von Klagen ergoß sich über mich ... Ich konnte nur seine liebe Hand ergreifen und drücken und ihm sagen, daß Preußen noch stark genug sei, um nicht wirklich Schaden gelitten zu haben. Meine Bewegung dämmte seinen Zorn plötzlich ein, daß ich ihn ganz verstand, fühlte er schnell, und es milderte seinen Kummer.« Gedenkt man überdies der Berliner Witze, mit denen er, nach eigenem Rückblick, sich meist erst die Laune des Kaisers schuf, und daß er dann wieder »in Schattentagen wie die Tragödin Ristori gesprochen und Erfolg gehabt« (E. 2, 381), so hat man alle unmännlichen Elemente, die ganze Unsachlichkeit und Schauspielerei zusammen, die nötig waren, um sich beim Kaiser durchzusetzen.

In solchen Treibhäusern wuchern die falschen Gefühle im Menschenherzen, Machtwille und Ehrgeiz blassen vor ihren eignen Trägern hin zu Pflichtgefühlen, Herr und Diener glauben am Ende wirklich, daß sie nur Opfer im Dienste des Vaterlandes sind und bringen. Als Eulenburg Ende 96 aus Presseangriffen befürchten muß, man wolle ihn aus seiner Wiener Botschaft verdrängen, schreibt er nicht etwa wehrhaft, sondern in schmelzender Verlogenheit an Bülow: »Geliebter Bernhard ... Möchte es dem armen Kaiser erspart bleiben, mich opfern zu müssen. Er würde sehr darunter leiden. Ich fühle es deutlich, wie er mich immer mehr lieb hat.« Oder in langen Aussprachen mit demselben, den er zum Staatssekretär ausersehen, heißt es nicht etwa: bald ist es erreicht, dann kommst du zur Macht, auf die du längst wartest, sondern: »Davon abgesehen, daß du, Liebster, Dich den Mühen nicht ganz entziehen darfst, ist Deine Gesundheit für Kaiser, Land und Dienst viel wichtiger.«

Von Allen wird der Liebling des Herrn umworben. Er ist noch ein kleiner Gesandter in Oldenburg, da schreibt ihm Marschall, als er sein Vorgesetzter wird, nämlich Staatssekretär, »mit der Bitte, mich auch fernerhin mit Rat und Tat und, wo es nötig wird, auch durch rückhaltlose Kritik zu unterstützen«. Ja, Marschall weiß, daß sein Gesandter in Oldenburg jede Stunde selber Staatssekretär sein könnte, Eulenburg aber weiß ebenso genau, warum er sich entzieht: er fürchtet, die Kaiserfreundschaft »durch den steten Verkehr und die Vorträge zu stören« (Ho. 497). Warum Verantwortung tragen, wenn man die Macht ohne Gegenzeichnung genießt! Und warum in einer bequemen Gegenwart von dieser dunklen deutschen Zukunft ein Stück auf seine schmalen Schultern laden! Man schiebt so fort und resigniert: »Der arme Kaiser macht die ganze Welt nervös, das aber läßt sich nicht ändern. Bei einer schlechten Ehe gibt es Scheidung. Zwischen Volk und König macht sich das nicht so leicht, darum wird es wohl eine unglückliche Ehe bleiben.«

Außer den zwei oder drei Intimen ahnt niemand diese frühen Erkenntnisse in einem Mann, der seine Favoritenrolle überall zur Schau trägt und den man deshalb für sehr beschränkt, wenn man ihn nicht für sehr treulos halten müßte, wollte man in ihm einen schweigenden Erkenner sehen. Gegen den Kaiser ist Eulenburg keins von beiden gewesen, nur schwach und eitel, nur Schwärmer, am besten von Bismarck gezeichnet: »Etwas wie ein preußischer Cagliostro ... Pietist, romantischer Schönredner ... für das dramatische Temperament unseres Kaisers besonders gefährlich. In der Nähe des hohen Herrn nimmt er Adorantenstellungen ein, meinetwegen ganz aufrichtig. Sobald der Kaiser aufblickt, ist er sicher, dies Auge schwärmerisch auf sich geheftet zu sehen.«

Daß er Bismarck verließ, trotz langer Freundschaft zu seinem Hause, ist ihm, wie er nun einmal war, so sehr nicht zu verübeln: dem Kaiser war er wahlverwandt, nicht dem Kanzler, denn er fühlte sich, nach einem abgrundtiefen Selbstbekenntnis, »Charakteren gegenüber instinktiv in innere Opposition gedrängt. Auf der Bühne sind Charaktere notwendig, in der Geschichte machen sie mir Freude, im Verkehr sind sie unbequem, ja unerträglich«. Schildert er danach seine Lage bei Bismarcks Entlassung als einen Konflikt zwischen zwei Freunden, so ist etwas Wahres darin, »daß der Kaiser in der entscheidenden Stunde der Schwächere war, trotz seiner königlichen Macht, und seine tiefe Überzeugung, in meiner Treue einen Stützpunkt in schwerer Stunde zu haben, vermochte ich nicht zu täuschen. Ich blieb bei seiner Fahne, – und das wurde mein Schicksal«: das setzt er im Alter mit schmerzlichen Gefühlen hinzu, denn die Enttäuschung seiner Lebensfreundschaft sollte ihn erst viel später erwarten.

 

III

Der Mann, der unterschrieb, war vier Jahre lang ein General; erstaunlich ist daran nur, daß dieser Militärstaat während 50 Jahren nur vier Jahre lang von der Uniform auch amtlich geleitet wurde.

Waldersee war gefallen. Vergebens hatte er versucht, seinen Ehrgeiz nach dem Kanzlersitz in immer erneuten Beteuerungen an sein Tagebuch zu ersticken, daß er durchaus nicht Kanzler werden möchte. Der Kaiser hatte ihm in artiger Schlauheit gesagt: »Sie sind mir zu schade für diesen Posten« und ihn zum Chef des Generalstabes gemacht, als der alte Moltke, belehrt durch Bismarcks Schicksal, freiwillig zurücktrat. Aber Holstein und Eulenburg hatten anderes beschlossen: Waldersee schien gefährlich, denn er war selber klug und selber intrigant, sie aber brauchten einen ruhigen Neuling, steckten sich deshalb hinter seine Frömmigkeit, die damals eine Weile unter Eulenburgs Mystizismus aus der Mode kam, machten dem Kaiser vor, Stöcker erstrebe die Leitung der Protestanten und Waldersee die Leitung Stöckers, und beide fielen in Ungnade. Waldersee wagte schließlich eine unbequeme Manöverkritik, erwachte aus diesem Traum von Unparteilichkeit als Kommandierender General in Altona, blieb wichtiger Beobachter und sollte zehn Jahre später auf dem großen Welttheater in unverdienter Komik enden.

Caprivi war viel besser. Neben Waldersee erscheint er als der altpreußische General, pflichttreu und sachlich, tapfer und bedürfnislos wie der alte Kaiser, neben dem stellengierigen, politischen, intriganten und prächtigen Typus der neuen Ära. In Armut bei der Garde aufzuwachsen, war schon in den Sechziger Jahren unbequem; lebt man dann vom Hauptmann ab schuldenlos von seinem Gehalt, bezahlt davon noch seine Pferde, immer isoliert, ohne Besitz, ohne Familie, so darf man in grauem Haar mit Stolz davon reden; nur hat man sich in so puritanischem Leben die Welt nicht erschlossen, von der man plötzlich ein Stück beherrschen soll. Befehlen und Gehorchen, das war Caprivis Grundsatz, und auch als Reichskanzler hat er so gut gehorcht wie als General, nämlich seinem Obersten Kriegsherrn.

Nur aus Gehorsam übernahm er die Stelle, er fühlte sich nach Wilhelmstraße abkommandiert, nicht anders als zur Eroberung einer Südsee-Insel, und sagte in den ersten Tagen zu Bismarck: »Wenn ich in der Schlacht an der Spitze meines 10. Korps einen Befehl erhalte, von dem ich befürchte, daß bei Ausführung das Korps, die Schlacht und ich selbst verloren gehe, und wenn die Vorstellung meiner sachlichen Bedenken keinen Erfolg hat, so bleibt nichts übrig, als den Befehl auszuführen und unterzugehen. Was ist da weiter? Mann über Bord.« So sprang er in die Bresche, mit seinem kugelrunden Seehundskopf, den klaren, blanken Augen, den kurzen, ruhigen Bewegungen, und blieb so lange, bis man ihn aus dem Hinterhalte wegschoß; dann ging er schweigend und schrieb keine Memoiren. Er prätendierte nichts. »Mir ist so, als ob ich in ein dunkles Zimmer träte ... Ich kann immer nur im Schatten des großen Mannes stehn.«

Mit aller seiner Sachlichkeit konnte er auch zu Untaten schreiten. Bismarck hat ihm nichts nachgetragen, als »die ruchlose Zerstörung uralter Bäume im Kanzlergarten«, Unica in Berlin, die der General fällen ließ, um auf seinem Büro mehr Licht zu haben. Bei solchem Mangel an Phantasie kann man freilich nicht »mit fünf Bällen spielen« und läßt einen Staatsvertrag fallen, dessen Grund und Folgen sich ja eben in der Vorstellung abspielen. Caprivi war ein zu guter Offizier, um im Alter noch Politik zu lernen. Trotzdem hat er im Hauptpunkt: England als vernünftiger Laie richtiger gesehen als die Spezialisten nach ihm. »Mit solcher Flottenpolitik, sagte er (Friedjung, Imperalismus 1,127), schwächen sie unsere Wehrkraft zu Lande und bringen uns schließlich mit England auseinander, unserm einzigen, natürlichen Verbündeten ... Es kann sich für Deutschland heut und für die nächste Zukunft nur darum handeln, wie klein unsre Flotte sein kann, nicht wie groß.«

In der Landesverteidigung gipfelten seine Interessen: größere Cadres wollte er einführen, dafür aber zweijährige Dienstzeit. Das war neu und so gewagt, daß ihm bei erster Darstellung seiner Absicht ein Generalstäbler erwiderte: »Wenn der Kaiser das hört, schickt er nach der Wache und läßt Sie arretieren.« Die ganze Gefahr der Uniform am falschen Platze tritt aus diesem Witz hervor. Während er sich sonst überall leiten ließ, schärfte der Wunsch nach größerer Schlagkraft dem General den Mut: auf seinen Kopf löste er den Reichstag auf und setzte seine Cadres schließlich mit ein paar Stimmen Mehrheit durch. In diesem Kampfe von 93 war er selbständig, trat auf, wie sich's gehörte, und verstimmte dadurch seinen Herrn. Als er dann auch in sozialen Vorlagen anfing, vernünftigere Mittel zu vertreten, und zwar im Gegensatz zu den heimlichen Regierern, beschlossen diese seinen Sturz.

Nichts ist leichter: man wartet die nächste Verstimmung ab, dann haut man zu. Oktober 94: der Kaiser empfängt Caprivis ostelbische Feinde, die Gewalt gegen die Sozialisten fordern. Caprivi erbittet Entlassung, der Kaiser versichert ihm vollstes Vertrauen, faßt ihn am Portepee: »Sie haben versprochen, sich für mich totschießen zu lassen, Sie müssen bleiben.« Darauf diktiert Holstein auf seinem Zimmer einem ihm ergebenen Journalisten einen Artikel, der den Gegensatz zwischen Caprivi auf der einen, dem Kaiser und Botho Eulenburg, preußischen Ministerpräsidenten, auf der andern Seite darstellt, und Caprivis Sieg über beide in der sozialen Frage feiert. Alles folgt, wie Holstein es berechnet hat: Eulenburg (der Große), zeigt den Artikel auf der Jagd dem Kaiser, dieser schickt Lucanus, der Kanzler möge ihn abschütteln, dieser weigert sich, da er ihn keineswegs inspiriert habe. Abschied, wenige Tage nach jener pathetischen Anrufung seiner Treue. Zwei Stunden später sagt Caprivi: »Jetzt bin ich froh und frei. Ich gehe nach der Schweiz. Tun Sie alles, um meine Presse von Ausfällen gegen den Kaiser abzuhalten« (Hammann, Kurs, 104).

Solche Morde, verübt mit vergifteten Pfeilen aus dem Hinterhalt, in ihrer Folge die erste Stelle im Reichsdienste neuen Männern überlassend, wurden damals gern in die sanfte Romantik einer Hofjagd verlegt. Eulenburgs Feder, wie sein Herz begabt zur Darstellung von Intrigen, in denen nach seinem Ausspruch das Wesen aller Politik hegen soll, schildert solche Szenen meisterlich (E. 2, 154). Nachdem auch sein Vetter Botho während des Frühstücks im Liebenberger Walde den Abschied erbeten, »kam der Kaiser mit dem gewissen blassen, verkniffenen Gesicht zu mir. Ich fragte ihn, ob die Jagd fortgesetzt werden könne, und ging mit ihm zu seinem Stand. Das Wetter war grau, alles schien ungemütlich ... Ich habe ihn selten so hilflos gesehn ... »Wen kannst du mir raten? Ich habe keine Ahnung, wen ich berufen könnte, weißt du niemand?«

Hohenlohe

Hohenlohe

»Als ich mit dem Großherzog von Baden die Möglichkeit eines Wechsels besprach, erwidert der Freund, da nannte er mir Hohenlohe als Übergang zu einem andern, den man suchen müsse ... Die Menschen lieben die Abwechslung, Hohenlohe ist derart etwas Neues, daß jedenfalls niemand schimpfen kann, soweit das in Preußen überhaupt möglich ist.«

»Ich werde an Hohenlohe schreiben, sobald ich mit Caprivi gesprochen habe«, sagte der Kaiser. Während des ganzen Treibens sprachen wir (davon), und zwar nur französisch wegen der Leibjäger, die hinter uns standen. Die Sauen, die zu Schuß kommen sollten, rissen natürlich aus.«

Szene: Serenissimus, beängstigt durch die Störung auf Jagd, hilflos, weil diese fatalen Minister schon wieder ihren Abschied nehmen, und gar beim Frühstück. Der Favorit, zu schlau, verantwortlich zu raten, schiebt einen Onkel vor, der habe einen andern Onkel gefunden, nicht etwa einen tauglichen Mann, nur einen Greis zum Übergange, Kuriosum, durch Neuheit wirkend. Hinter ihnen tüchtige Jäger, weit und breit die einzigen, die hier ihr Handwerk verstehen, in stiller Wut, daß Majestät die beste Beute verfehlt, wenn er immerfort französisch redet. Aber auch der Favorit, Dichterling und darum gern ins allgemeine schweifend, betrachtet mit einiger Ironie die Rettung der Sauen durch Caprivis Untergang und merkt nicht, wie er alles durch die Wendung verdirbt, daß das verängstigte Wild nichts glühender wünschte, als für seinen König zu sterben.

 

IV

Ein paar Tage später findet sich Eulenburg mit den Seinen im Kladderadatsch als Giftmischer abgebildet. Seit Monaten hatte das Witzblatt die beiden Freunde, dazu Herrn von Kiderlen-Waechter, herausgefordert.

Dieser gedrungene jüngere Mann mit einem Bulldoggen-Gesicht, das er durch dicke Zigarre und zur Schau getragene Grobheit stilisierte, ein verschlagner Schwabe, war Holstein an politischem Interesse, Eulenburg an Weltkenntnis gleich, beiden an Mut weit überlegen. Unter den Dreien war er der Normale, großer Freund von Weib, Wein und Havanna, von letztern beiden sogar Kenner, an Bildung, Witzen und Briefstil ein Korpsstudent, brutal, doch nicht bösartig, vor allem aber kämpferisch, im Unterschiede zu den beiden Freunden, bereit zur Verantwortung, entschlossen: ein Mann.

Den Kaiser hatte er, da er weder singen noch zaubern konnte, mit seinem Witz gewonnen, der freilich in zwei Bänden gedruckter Privatbriefe die oben genannte Linie nirgends überschreitet, und durfte ihn deshalb jahrelang, von 88 bis 97, auf seinen Nordlandfahrten begleiten. Während er zehn Sommer lang den Kaiser und die Gesellschaft brieflich verspottet, schreibt er unter den Augen des Herrn Reiseberichte für drei Zeitungen, »der Kaiser drängelt immer danach, ich muß sie ihm vorlesen, er gibt dann auch noch seine Wünsche dazu und dann gehen Abschriften an die Kaiserin«. Zu diesen Byzantinismen, die nicht einmal seiner Intelligenz Raum ließen, trat als Mittel der Wirkung beim Kaiser eine betonte Kritik des abgesetzten Bismarck, der Kiderlen seinerzeit herausgefunden und mit dessen erster Anerkennung dieser sich gerühmt hatte.

Die Rolle des Naturburschen, die er für sich erfunden, die rauhe äußere Schale, mit der er sich unschwer dekorierte, ohne einen süßen Kern zu enthalten, machte ihn falschen Demokraten so interessant wie seine herzenskluge Freundin, die, obwohl ihm sozial nicht sehr unterlegen, er 20 Jahre lang nicht zu heiraten wagte; seinen Mangel an Ehrfurcht und Takt nahm man für genial, und wenn er beim Gelage von »Hofschranzen und einem Rudel Hofdamen« sprach, sah man in ihm den »tollen Junker« und somit den neuen Bismarck, der den alten bis in die Handschrift kopierte. In Wahrheit war Kiderlen nie toll, nur roh, von Bismarcks problematischem Charakter und seiner hohen Bildung in allem unterschieden, aber er hatte politisches Geschick und wußte dies als Weltkind klüger anzusetzen als Holstein in seiner Zelle. Der konnte sich freilich mit ihm auf sachlichem Gebiete besser verständigen als Eulenburg, der in ihm nur den Protégé« des Kaisers schonte, im geheimen aber mit seinen zarten Nerven schon vor Kiderlens Körperlichkeit zurückwich.

Monatelang suchten Holstein, Eulenburg und Kiderlen vergeblich nach dem gefährlichen Spötter, der sie im Kladderadatsch als Austernfreund, Graf Troubadour und Spätzle mit Witz und unheimlicher Kenntnis in Form von Märchen und Gedichten anprangerte. Bei jeder neuen Nummer saßen sie beratend mit dem Staatssekretär Marschall in Holsteins Zimmer zusammen, drahteten, wenn einer abwesend war, diesem den heutigen Angriff, versuchten die Redakteure zu kaptivieren und schickten, als die Presse kritisch wurde, von aller Phantasie und allem Witz verlassen, einen General zum Verleger des Blattes, um ihn ehrengerichtlich zu bedrohen, da er Leutnant der Linie und »mit der Uniform verabschiedet war«! Der ließ sich nicht imponieren, drohte mit Pfeilen, »die in Sekunden töten«. Nun beschuldigte eine kleine Zeitung am Rhein die drei Herren mit ihren wirklichen Namen als Urheber von Hetzartikeln, die sie, Bismarcks Feinde, in Bismarcks Presse lancierten, um den Riß zwischen Kaiser und Bismarck zu vergrößern, – und immer heftiger bedrängte die Drei die eine Frage: Wer steckt dahinter?

Ihre Naturen reagieren verschieden: Eulenburg lächelt und tut gar nichts, beschließt aber im geheimen, sich von den beiden so kompromittierten Freunden zu trennen. Kiderlen fordert den verantwortlichen Redakteur und verwundet ihn. Holstein aber irrt wie rasend in seinem Zimmer herum, beschuldigt lauter Unschuldige: den Staatssekretär, seinen Chef, der sich auf diese Art der Nebenregierung entledigen wolle, dann Herbert Bismarck, der durch den Artikel am Rhein die Spur verwischen lasse, dann den Grafen Henckel, weil dieser Geld in einer Zeitung hat, die mit im Werk ist, und fordert schließlich diesen völlig unbeteiligten Herrn, der ablehnt. Holstein aber, der durchaus Blut sehen will, fordert von Eulenburg einen Druck auf den Kaiser, daß dieser das Duell befehle, Eulenburg fürchtet, »daß Holstein jetzt den Kaiser hassen wird, wenn dieser nicht Farbe gegen Henckel bekennt, ein Haß Holsteins gegen S. M. aber würde zu sehr bedenklichen Zuständen führen«. Tatsächlich hat Holstein dem Kaiser sein Veto nie verziehen.

Währenddessen sitzt, wie in der Posse, der Attentäter im Nebenzimmer, es war, wie man viel später erfuhr, einer von Holsteins Beamten.

Aus dieser Haltung kann man auf die Reaktionen der drei Diplomaten in hochpolitischen Augenblicken weiterschließen.

Noch größer war der Lärm, der sich im gleichen Jahre 94 bis weit ins Ausland aus einem Hofskandal verbreitete. Seit zwei Jahren hatte der Berliner Hof in allen seinen Stufen, von der Kaiserin ab, anonyme Briefe derselben Handschrift bekommen: Intrigen, Kabalen, Verhetzungen, dazwischen pornographische Bilder mit ausgeschnittenen und durch Porträts ersetzten Köpfen, hier wie im Kladderadatsch von solcher Kenntnis der Personen gespeist, daß sie aus unmittelbarer Nähe des Kaisers stammen mußten. Waren die Dinge übertrieben, so waren sie doch im Prinzip meist wahr, darum zitterte der ganze Hof vor jeder neuen Enthüllung; es kamen mehr als 200. Den ersten Personen dieses Hofes wurden die schlimmsten Laster, Buhlschaften, Betrug, Verleumdung nachgesagt; boshaft sagte die Kaiserin Friedrich: »Der eine Teil der Hofgesellschaft schreibt Briefe gegen den andern.« Da der Baron von Schrader besonders angegriffen wird, faßt man Verdacht gegen seinen verfeindeten Kollegen, einen Herrn von Kotze, denn beide sind Zeremonienmeister. Der lebenslustige Kotze ist überall beliebt, vom Kaiser bevorzugt, der ihn oft duzt, hat deshalb den Neid seiner Vorgesetzten auf sich gesammelt; nun findet man Zusammenhänge, da man sie sucht, und sucht Indizien, die man schließlich erfindet: zwei Löschblätter aus seinem Amtszimmer, die die Spiegelschrift der sehr auffallenden, sichtlich verstellten Handschrift jener Briefe tragen.

Mit den zwei Löschblättern überzeugt man den Kaiser: vor diese Dokumente gestellt, erkennt er sofort den Schuldigen und läßt in wenigen Augenblicken einen durch Jahre erprobten Freund und Diener fallen, dem nie einer etwas anderes als Eitelkeit und Lebensfreude, Wappen- und Ordens-Freuden vorgeworfen hat. Er prüft nicht das heitere Temperament des Beschuldigten noch das dunkle der Beschuldiger, denkt nicht an deren Motive gegen jenen, noch daran, daß auch Kotze selber die Briefe erhielt, ruft keinen Graphologen vor die Blätter, macht nicht die naheliegende Probe, ihn zunächst heimlich zu isolieren und dann den Fortgang der Briefe abzuwarten, vor allem aber, den Beschuldigten erst anzuhören, den Eindruck eines geprüften Menschen zu suchen: nichts von alledem. In einer Viertelstunde wird der Mann verworfen. Als er in bester Laune vom Landgut seiner Mutter heimkehrt, sieht er sich im Schlosse plötzlich verhaftet: »Auf Befehl Seiner Majestät.« Da er als Rittmeister unter den Militärgerichten steht, bringt man ihn eine Stunde später in einer Hofequipage als Offizier in das Militär-Arrestlokal.

Verhör durch das Oberste Militär. Nichts. Schreibzeug entzogen, seine Frau nur in Gegenwart eines Offiziers zugelassen. Trotzdem sind nach wenigen Tagen schon neue Briefe bei Hofe eingetroffen. Jetzt wird ein Graphologe befragt: die neuen Briefe, sagt er, sind vom Schreiber der alten, diese aber stammen nicht vom Gebraucher der Löschblätter. Nach acht Tagen entläßt der Generaloberst den Zeremonienmeister mangels Beweisen. Was tut der Kaiser? Läßt er den alten Freund jetzt kommen? Im Gegenteil, er zieht sich zurück. Da der Skandal, den er durch seinen Haftbefehl weit über die Grenzen des Hofes getragen, nun draußen zu wirken beginnt, erklärt er: »Mit dieser Sache habe ich nichts zu tun. Die Untersuchung führt von jetzt ab der Korps-Auditeur.« Kampf der Familien und Parteien Kotze und Schrader, ein Strom von Adligen als Zeugen, ein Meer von Bedrohungen, Beleidigungen, drei Vierteljahre lang. Endlich, kurz vor Ostern, der Freispruch.

Was wird der Kaiser nun tun? fragt alle Welt. In großem Kreis den Unschuldigen empfangen? Stellung, Vertrauen einem Mann erhöhen, den furchtbarer Irrtum aufgerieben? Mit Titel und Orden vor aller Welt bekräftigen, daß Irren menschlich, daß Übereilung möglich sei, daß aber ein König auch königlich wiederherstellt? Er berät sich mit Kotzes Nachfolgern und Gegnern: was tun wir in solcher Lage? Ein Unschuldiger reinigt sich, ein Toter steht wieder auf: sehr peinlich. Empfangen? Unmöglich. Irgendein Gnadenbeweis! Nadel? Tabatière? Haben Sie's endlich? Gewiß, Majestät!

Andern Tags wird im Auftrage S. M. ein Osterei aus Blumen bei Herrn von Kotze abgegeben. Seinen König hat er nie wiedergesehn, nur seinen Hauptfeind, den Baron von Schrader, im Duell totgeschossen. Aber sein Leben und Glück, Ruf und Freiheit seiner Familie waren zerstört, der Name entehrt, bis nach Sibirien und Kapstadt galt Kotze für das deutsche Sinnbild frivoler Verleumdung. Auch in dieser Affäre saß der wirkliche Schuldige unerkannt im Nebenzimmer.

Es war, nach Waldersee, ein naher Verwandter des Kaisers.

 

V

Der Hof Wilhelms des Zweiten, von dessen kaltem Glanz wir gar nicht, von dessen Schmeichlern wir später sprechen, war nicht die Lieblingsstätte seines Herrn. Der Rausch der Farben und Feste war bald vorüber, in Wiederholungen erschöpfte sich der Prunk; der Wunsch nach äußerer Wirkung war auf der Straße, auf Reisen, bei Einzügen in viel größerem Maße und mit viel lauterem Erfolge zu befriedigen. Doch im Kalifen-Stile mußte alles bereit sein, wenn Fürsten fremder Länder des Deutschen Reiches Macht und Größe im Symbol des Weißen Saales bewundern sollten. Man hatte nicht bloß Galakleidung für 600 Hoflakaien, man hielt, der großen Feste wegen, so viele im Dienst, daß keiner über 139, manche nur 81 Tage im Jahre beschäftigt waren. Die Kammerlakaien hatten 70 bis 150 Tage Dienst, die übrige Zeit saßen sie, meist junge Leute um Mitte Zwanzig, müßig in Berlin (Z. 232).

Die Lagerbestände für die Tafeln des Schlosses hatten einen Wert von 1,2 bis über 2 Millionen (Z. 52). Als aber einmal ein Reiseauto defekt war, und der verantwortliche Graf auf die hohen Kosten bei Mitnahme von Reserveautos hinwies, fuhr ihn der Kaiser an: »Was das kostet, was ich verlange, ist gleichgültig. Ich fordere, daß alles klappt, Sie sind mir verantwortlich.«

Reischach, der schon unter dem alten Kaiser Hofstellungen eingenommen, berichtet, der Marstall Wilhelms des Ersten war ein Luxusstall, es fuhren nur die Majestäten, die Oberhofmeisterin, die Palast- und Hofdamen. Unter Wilhelm dem Zweiten »hatten wir täglich etwa 200 Gespanne zu stellen, und zwar für die Oberhofmeisterin, die Hofstaatsdamen und Hofdamen, die Generaladjutanten und Flügeladjutanten, die Kabinettchefs, den Oberhofmarschall, die Hofmarschälle, die Kammerherrn vom Dienst, den Oberhofmeister, die beiden Ärzte und für die Herren des Marstalls, außerdem Gespanne für die Wirtschaft ... Die meisten mußten täglich zweimal, manche drei- und viermal gehen. Der Marstall war beinah das ganze Jahr in Berlin, Potsdam und dem Neuen Palais in Tätigkeit, wenn gereist wurde, manchmal auch noch an drei andern Orten der Monarchie zugleich;« und er berechnet, wenn zwei Generaladjutanten von Potsdam aus dienstlich selbst mit der Bahn nach Berlin fuhren, daß trotzdem für sie zusammen 20 Wagen an diesem Tage nötig waren. Da das wiederholt erhöhte Gehalt, das das Volk seinem König zahlte und nur etwas verschämt Zivilliste nannte, durch mannigfache Extraforderungen noch stieg, konnte der Kaiser, der für sich sehr gut wirtschaftete, schon nach 2 Dienstjahren 4 Millionen zurücklegen (W. 2,157).

Das schwerste Leben haben die Hofmarschälle. »Der Kaiser liebte es nicht, viel gefragt zu werden, konnte doch aber sehr ungnädig sein, wenn man unterlassen hatte, dies oder jenes zu fragen. Mehr als 3 oder 4 Fragen konnte man kaum an ihn richten, und die günstigen Augenblicke hierfür mußte man mit größter Aufmerksamkeit abpassen« (Z. 52). Der vornehme August Eulenburg mußte noch mit Siebzig als Oberhofmarschall oft abends nach Potsdam reisen, dort übernachten, um morgens seinen vom Reiten heimkehrenden Herrn die 80 Schritte bis zu seinem Zimmer zu begleiten und hierbei die nötigsten Fragen anzubringen, obwohl der Kaiser keine zwei Stunden am Tage durch Arbeit verhindert war. So stieg seine Willkür:

»Abends, im Salon« – so erzählt Zedlitz – »fällt ein Aschenrest auf dem Teppich in des Kaisers Blick: ›Natürlich, das sind so meine Hofmarschälle! Statt meine Sachen in Ordnung zu halten, sind sie es, die mir am meisten verderben!‹ Und mir mit der Faust dicht an das Gesicht heranfahrend, fuhr er fort: ›Ich werde Ihnen aber gehörig beibringen, wie man sich hier benimmt!‹ Obgleich sich ähnliche Vorfälle mit dem Kaiser häufig abspielen, ... verletzte mich diese Sache doch sehr tief. Ich fühlte sofort, daß eben grade deswegen schwer etwas dagegen zu tun sei, weil der Kaiser so etwas immer halb ernst, halb scherzhaft abmacht, so daß jeder anständige Mensch das Gefühl hat, es war ja nur Spaß ... Gerade hierin liegt etwas von der Macht des Kaisers auf seine Umgebung; alle fürchten die Rücksichtslosigkeiten, die er begeht. Dabei hat er natürlich die Lacher immer auf seiner Seite.«

Später Meldung des Hofmarschalls, er sei tief verletzt. Kaiser: »Ich weiß gar nicht mehr, wovon Sie eigentlich sprechen.« Vortrag. »Ach, nun weiß ich, was Sie meinen.« Neue Klage des Hofmarschalls, es wären jüngere Offiziere dabei gewesen, er selbst stehe doch schon im 44. Jahre. Kaiser: »Aber Sie sehen aus, als wären Sie erst 28. Sie müssen sich ein dickeres Fell anschaffen!« Hierauf mit Kopfnicken: »Na, es ist gut.«

Dieser klugen Darstellung einer korrekten Beschwerde folgt nun ein Satz, der alles erklärt, Zedlitz schließt: »Worauf ich eine Verbeugung machte und hinausging.« Der Beleidiger ist endlich einmal gestellt worden, obwohl er König ist, er erinnert sich zuerst an nichts, biegt dann in zweideutiger Bemerkung über das junge Aussehen des Beleidigten aus, rät ihm Dickfelligkeit an und nickt am Schluß mit der Bemerkung Gottes am Abend nach einem Schöpfungstage: er sah, daß es gut war. Hier steht ein schlesischer Graf aus altem Geschlechte, kein Fremder, sondern ein täglicher Begleiter; trotzdem darf es der Monarch getrost wagen, denn er weiß, womit selbst solche seltnen Beschwerden enden müssen: mit stummer Verbeugung.

Wie kann es anders sein, wenn man die Sorgen und Schrecknisse bedenkt, die das Lebensmark dieser Beamten aushöhlen. Programm bei einer Metzer Kirchenfeier: »Ihre Majestäten werden durch den Bischof eingeladen, Allerhöchst sich in den Dom zu den auf dem Hofchor, rechts vom Altar bereiteten Sesseln zu begeben. Zur Linken S. M. nimmt der Legat, zur Rechten I. M. der Statthalter Platz. Mündlich war noch vereinbart worden, daß der Sitz des Legaten sowohl als der Sitz des Statthalters etwas zurückstehen und eine Stufe niedriger gestellt werden sollten. Allen diesen Vereinbarungen entgegen hatte aber der Legat statt seines Sitzes links von den Majestäten schräg gegenüber unter einem prunkvollen Baldachin auf einem die Majestäten überragenden Sitze Platz genommen« (Z. 35). Die Empörung ist allgemein, aus solchen Invektiven erwuchsen im Mittelalter jahrelange Kriege. Was aber tut der Legat in Metz von seinem erhöhten Sitze? Verleiht er dem Monarchen die gesalbte Krone? Hält er ihm eine Lehrpredigt? Nichts davon. »Er nahm von hier oben ... die Erteilung des Segens vor,« was er, eine Stufe unter den zu Segnenden technisch nicht gut hätte durchführen können.

Glücklicher als bei Hof ist der Kaiser auf Jagd. Zwar sein Jagdrevier, Rominten, einer der schönsten Forste, gehört dem Staate, nicht der Krone, wird aber, 100 000 Morgen groß, auf des Kaisers Wunsch aus einem Urwald mit Seen und Flüssen in ein Schachbrett für Jäger verwandelt, da er jede Jagd zur Treibjagd schabloniert und nur in der leicht erreichten Zahl, nicht im schwer überwundenen einzelnen Wild Genüge findet. »Ein Heer von Forstbeamten war zu Rad, zu Wagen, zu Pferde und zu Fuß so in Tätigkeit, daß tatsächlich jeder ... Punkt dauernd unter schärfster Observation lag ... Auch in den meisten Revieren waren überall Pirschsteige, Kanzeln und Schirme angelegt ... daß ich mich häufig eines Gefühls des Bedauerns nicht erwehren konnte, diesen so herrlichen Forst zu einem gekünstelten Jagdrevier gemacht zu sehen« (Z. 39).

Auch nach Eulenburgs Bericht, der so oft dabei war, waren »die Jagden entsetzlich. Dieses Niederknallen des armen Wildes, das sich nicht einmal durch die Flucht der Unannehmlichkeit entziehen kann, totgeschossen zu werden, ist keine königliche Lustbarkeit. Seltsamerweise hat niemand an einem Hof das Gefühl dafür, daß es zum Glanz eines Königs nicht unbedingt gehört, armes Wild in eine große Umzäunung zu treiben, in deren Mitte die hohen Schützen aufgestellt sind, die nun so lange auf das atemlos und verzweifelt immer an den äußeren Zäunen entlang rasende Wild schießen, bis alles tot ist oder sich todwund heranschleppt, bis ihm am Schluß der Jagd der Fang gegeben wird.«

Da es die Masse bringen mußte und dem Jäger das Wild vor dem Rohr vorbeigetrieben wurde, brachte es der Kaiser in 3 Dezembertagen beim Fürsten Donnersmarck auf 1675 Stück und konnte in seinem 43. Jahre auf einen Granitblock in goldnen Lettern setzen lassen: »Hier erlegte S. M. Kaiser Wilhelm II. Allerhöchstseine 50 000. Kreatur, einen weißen Fasanhahn.« Der Autor dieses Textes wußte kaum, wie viele Kreaturen des Kaisers er in diesem Sammelbegriffe traf, ohne sie zu erlegen. Übrigens mußte der hohe Jäger in besonderen Fällen sich doch nach dem Wilde richten, wurde auf den Schrei des Hirsches aus seiner Arbeit weggeholt und erfuhr niemals, daß Tirpitz, wenn er vortrug, sich jeden solchen Schrei beim Leibförster abbestellt hatte (T. 138). Das mußte man freilich, wenn man in Rominten Staatsfragen zur Entscheidung bringen, dann den einzigen Zug nach Berlin erreichen, am nächsten Tag im Reichstag sprechen sollte.

Am liebsten ist der Kaiser auf seiner Yacht. Sicher vor Vorträgen, von einer kleinen Schar immer lustiger Männer umgeben, geschützt vor jedem möglichen Anschlag, fern von den Frauen und der Familie, in patriarchalischer Enge, wo er alles übersehen, für alles, bis in die Küche, selber sorgen kann, absolutes Haupt dieses kleinen Staates, ohne demokratische Schmälerungen fürchten zu müssen, am Sonntag sogar Prediger, unerreichbar und doch imstande, seinen Willen jeden Augenblick durch den Draht in die Welt zu schleudern: so lebte er glücklich an Bord in griechischen Buchten und nordischen Fjorden dahin. Mit den neuesten Kenntnissen, die er durch drahtliche Berichte des Auswärtigen Amtes erwirbt, kokettiert er so lange vor den Genossen, bis diese sich durch Freunde die gleichen Informationen drahten lassen und nun an Bord ein Übertrumpfen der Wissenden entsteht wie auf einem Schulspaziergang.

Es ist eine Art ewigen, schwimmenden Kasinos, und so ist auch der Ton. Morgens »macht es ihm Spaß, die Herren des Gefolges mit Einschluß des ältesten Generaladjutanten auf Deck Freiübungen und Turnen ausführen zu lassen und sie dabei gelegentlich während der großen Kniebeuge oder Hocke anzustoßen, damit sie umfielen« (E. 2,110). »Die alten Knaben tun dann so, als ob diese Auszeichnung ihnen eine besondere Freude macht, ballen aber die Faust in der Tasche und schimpfen nachher unter sich über den Kaiser wie alte Weiber.« Geist und Einfälle dieser durch Wochen müßigen Gesellschaft beschreibt Kiderlen:

»Es wurden befördert zu Oberfahrtgesellen: Graf Waldersee zum Punschwart, von Hahnke zum Oberschlürfer und Oberkapellmeister in Ess-dur, Graf Goerz zum Sachverständigen in Unfallangelegenheiten und Sangesbruder, Graf Wedell zum Sachverständigen in Eti-Piquet-Sachen, Graf Eulenburg zum Festbarden und Polar-Skalden; Dr. Leuthold: Eiskulap 1. Klasse. Von Senden: Navigationsoffizier unter beiden Wendekreisen, namentlich aber des Krebses« usw. Dann wird beschrieben, wie Graf Goerz jeden Abend sein Tierstimmen-Repertoire vorträgt. »Die Abende ... teils musikalisch, teils zaubert Hülsen etwas vor, teils muß man irgend etwas aufführen; ich habe schon den Zwerg aufgeführt und zu allergrößtem Gaudium des Kaisers das Licht ausgelöscht ... In einem improvisierten Tingeltangel habe ich mit G. die Siamesischen Zwillinge gemacht, zusammengewachsen waren wir mit einer großen Zervelatwurst.«

Die Fahrtgesellen stehen im Alter zwischen 35 und 60 Jahren.

Da er nie allein sein konnte, verbrachte der Kaiser seine gästefreien Abende meistens mit der Kaiserin. Erinnerungen an die erste Jugend, Haß gegen die Mutter machten ihn von vornherein ängstlich vor weiblichem Einfluß, und schon im Anfang »bäumte er sich gegen die Fessel der Ehe auf« (E. 89). Bald irritiert ihn auch der Pietismus seiner Frau, die in und bei Berlin in zehn Jahren 42 Kirchen, also durchschnittlich alle drei Monate eine errichten ließ, ihn ermüdet die Enge ihrer Hofdamen. Hier wird er sogar nachsichtig, um frei zu sein, und obwohl er wahrscheinlich nie auf Abenteuer gegangen ist, entfernt er sich, wie Zedlitz aus siebenjähriger Erfahrung berichtet, »so oft als möglich, ist stets unmittelbar nach der Abfahrt in gehobenster Stimmung und genießt sein Leben am besten fern vom Familienzwang. Bei jeder Rückkehr konnte ich das Drückende der Atmosphäre bei ihm bemerken. Immer hatte er den Wunsch, sich zu absentieren, seine Gemahlin aber, dies so weit als tunlich zu verhindern ... Diese Umklammerung hatte etwas Weibliches und Rührendes, und ich war häufig geneigt, sie für bedrohlich zu halten, denn wer dem andern zu sehr nachläuft, macht sich leicht lästig ... Das starke Bedürfnis zu reisen und etwas vorzuhaben entsteht hauptsächlich dadurch, daß der Kaiser sich im engen Kreis zu Haus nicht befriedigt fühlt ... Die Stimmung, die im Neuen Palais und im Schloß meist eine etwas drückende Atmosphäre zeigt, verändert sich sogleich aufs günstigste, wenn etwas vorgenommen, namentlich wenn gereist wird, und besonders, wenn anregende Herrenunterhaltung Aussicht auf Abwechslung bietet.«

Was sich hinter geschlossenen Türen in dieser Ehe eines begabten, hochnervösen Mannes mit einem freundlich beschränkten, frommen Landkind zugetragen haben mag, davon haben nur wenige etwas gesehen, noch weniger berichtet; Mitgefühl mit der beklagenswerten Gefährtin eines hysterischen Autokraten entwaffnet alle Kritik. Sie bemerkte manchen Betrug, den Schmeichler dem Kaiser antaten, als sie aber über die falschen Berichte vom Gute Kadinen klagt und Graf Eulenburg, der ältere, sie bittet, ihm einmal die Wahrheit zu enthüllen, sagt sie: »Ich kann leider gar nichts machen, er sagt dann immer nur: ›Geh weg, du verstehst nichts von diesen Sachen!‹« (Z. 74). Aus zwei Dialogstellen, die der Hofmarschall Zedlitz mit angehört hat, kann man auf hundert, aus zwei Stimmungen von Minuten auf Jahre einer ermüdeten Gemeinschaft schließen, in der man vor allem die Frau bedauern muß. Zwei Tage vor seinem Geburtstag läßt der Kaiser einmal wegen Erkrankung eines Sohnes 34 Fürsten absagen.

Kaiserin: »Aber Wilhelm, du wirst doch nicht!«

»Der Kaiser schob sie mit der Hand energisch beiseite: »Ich habe zu bestimmen, nicht du!«

Kurz vorher, einer der wenigen ruhigen Winterabende ohne Gäste im Neuen Palais, bei denen nur zwei Hofdamen und vier Herren zugegen sind, die Kaiserin mit Handarbeit, er Depeschen oder Ausschnitte lesend, zuweilen vorlesend, die andern am großen Tisch in Zeitschriften blätternd bis gegen elf: »Der Kaiser hatte den ganzen Abend für sich allein gelesen, dann fragte er plötzlich die Kaiserin:

»Willst du eigentlich hier übernachten?«

»Nein, Wilhelm, aber ich wollte dich nicht stören, da du doch den ganzen Abend so beschäftigt bist mit Lesen.«

»Na, was soll ich denn sonst machen, wenn es so unglaublich langweilig hier ist!« (Z. 94).

Ein Ehe-Dialog, von keinem Dramatiker zu übertreffen.

Kehrseite für die Untertanen, Rede in Schleswig: »Das ist der Edelstein, der an Meiner Seite glänzt, Ihre Majestät! Das Sinnbild sämtlicher Tugenden einer germanischen Fürstin, danke Ich es ihr, wenn Ich imstande bin, die schwere Pflicht zu tragen.« Stiftungsfest des Corps Borussia, Rede des Kaisers: »Noch nie, solange die Geschichte der deutschen Universitäten geschrieben wird, ist einer von ihnen eine solche Ehre zuteil geworden. Im Kreise des schönen Bonn, umgeben von fürstlichen Damen ist die Kaiserin erschienen, die erste Landesfürstin, um einem Kommers von Studenten beizuwohnen ... Ich hoffe und erwarte, daß alle jungen Borussen, auf denen heut das Auge Ihrer Majestät geruht hat, eine Weihe für ihr ganzes Leben empfangen haben.«

 

VI

Großes Hauptquartier: so taufte gleich nach der Thronbesteigung der Kaiser die alte Maison Militaire und schien mit diesem Kriegswort mobil zu machen; es war aber nichts als die schneidige Geste, zu der ihn überall seine Unsicherheit drängte, denn er schätzte nicht einmal jeden Rat seiner Flügeladjutanten. Mit diesem Gefühl innerer Unsicherheit traf sich vielmehr der Wunsch nach äußerer Sicherheit, denn durch seine 30 Königsjahre hat ihn die Furcht vor Revolten nie verlassen, und darum hat er keiner Klasse oder Partei, keinem Stande getraut als dem seiner Paladine. Die Begriffe Leibadjutant, Leibgarde belebten sich in ihm wieder in ihrer buchstäblichen Bedeutung, er richtete auch eine Leibwache für sich ein. Das alles waren die Männer, die ihn im Augenblicke der Gefahr mit ihren Leibern decken würden, und solche Gefahr konnte aus keinem Schlachtfeld sich gegen ihn erheben, auf dem moderne Truppenführer nicht mehr stehn; nur aus dem Innern seines Volkes, aus dem Roten Vulkan.

So war Wilhelm der Zweite aus doppelten Motiven seiner Seele auf die Armee gewiesen: hier also, glaubt man, würde er exzellieren, hier fielen ja Interesse und Ehrgeiz zusammen. In hundert Reden hat er es, zum Staunen der Nation, gesagt: »Wie damals, 1861, so herrscht auch jetzt Zwietracht und Mißtrauen im Volke. Die einzige Säule, auf der unser Reich beruht, ist das Heer ... Wenn es der Stadt Berlin einfallen sollte, sich je wieder gegen ihren Herrscher zu erheben, dann wird das Regiment mit dem Bajonett den Ungehorsam des Volkes gegen seinen König zurückweisen!«

Zuerst begann er alles zu reformieren, Generalstab, Manöver, Uniformen, die Generalität wollte er verjüngen, überall fuhr er selbst dazwischen, alles staunte. So ging es ein Jahr. Dann kam das Unerwartete: der Stand, den der Kaiser am meisten auszeichnete, sein Stand fing an, altpreußische Tradition mit neudeutscher Mode zu vergleichen und wurde mißtrauisch. Schon Mai 90 bekennt Waldersee als Chef des Generalstabes:

»Sehr schmerzlich ist es mir, zu hören, daß in der Armee der Kaiser sichtlich an Boden verliert. Ganz allmählich hat sich die Abkühlung vollzogen, die noch ständig zunimmt. Ursachen: große Bevorzugung der Marine, zugleich der Garde, und damit geringes Interesse für die Linie ... Erheblich geringere Höflichkeit gegen höhere Offiziere, als man dies beim Großvater gewöhnt war. Ausgesprochne Neigung zur Soldatenspielerei, besonders deutlich durch die ständigen Alarmierungen, die gar keinen Zweck haben ... Überhebung über das Urteil erfahrener Leute. Häufiges Bevorzugen Einzelner, das man allein auf persönliche Empfindungen zurückführt, umgekehrt harte Behandlung anderer ... Ungeniertes Sprechen mit Offizieren über deren Vorgesetzte. Schließlich die Neigung, auf Kosten der Armee sich populär zu machen ... Ich schreibe dies nieder, weil es mir von den verschiedensten Seiten und urteilsfähigen Männern immer wieder von neuem mitgeteilt wird ... Die hohen Offiziere sind nicht mehr lange genug in ihren Stellungen ... Eine sehr üble Folge ist das Gefühl der Unsicherheit bei ihnen und damit auch Mangel an Dienstfreudigkeit. Die Angelegenheit der Kritik ist in der Armee sehr bekannt geworden und hat böses Blut gemacht. Man tadelt ... den Kaiser scharf, man sagt: was soll daraus werden, wenn keine Autorität mehr gilt! Wenn von dieser Seite Klagen an mein Ohr kommen, müssen sie wahr sein, denn da ich für einen besonderen Freund des Kaisers gelte, sind die meisten mir gegenüber doch sehr vorsichtig« (W. 2,126).

Dies ist das erste dunkle Urteil, das vorliegt, es stammt vom Ersten Soldaten der Armee. Einige Monate darauf, Kaisermanöver 90, resümiert er noch schärfer:

»Im vorigen Jahr ging alles noch weit besser. Jetzt ist die Sicherheit gewachsen, aber auch die Überschätzung der eignen Fähigkeiten ... Der Kaiser ist außerordentlich unruhig, jagt hin und her, ist viel zu weit vorn in der Gefechtslinie, greift in die Führung der Generale ein, gibt zahllose, sich oft widersprechende Befehle und hört kaum auf seine Ratgeber. Er wünscht immer zu siegen und nimmt daher eine gegen ihn ausfallende Entscheidung des Schiedsrichters übel. Das sollte ich erfahren, als ich auf diesen Wunsch keine Rücksicht nahm ... Seine Disposition war entschieden schlecht, schon am Abend vorher sah man, daß es eine für ihn verlorene Schlacht geben würde. Bezeichnenderweise herrschte darüber bei Fürstlichkeiten und Gefolge allgemeine Befriedigung ... Wollte er im Kriege das Kommando führen, nicht bloß formell wie sein Vater und Großvater, es gäbe ein Unglück.«

Am Tage nach der Kritik läßt der Kaiser bei Waldersee privatim anfragen, ob er nicht Kommandierender in Stuttgart werden wolle. Moltke hält eine Entlassung des Chefs des Generalstabes für unmöglich »ohne Schädigung der höchsten Interessen«. Drei Monate später wird Waldersee in Gnaden entlassen, der Kaiser sagt: »Der Chef des Generalstabes soll bei mir nur eine Art Amanuensis sein, und dazu brauche ich einen Jüngeren.«

Um das verlorene Manöver auszugleichen, beteiligt er sich aufs neue an den taktischen Arbeiten, wieder ohne Erfolg. Was tun, um ihn vom Erscheinen bei der Kritik abzuhalten? »Man hat ihm ganz geschickt beigebracht, im Generalstabsgebäude seien die Masern. Wäre er gekommen, so würde Schlieffen (der neue Chef) wahrscheinlich in die Lage gebracht worden sein, seinen Abschied nehmen zu müssen« (W. 2, 234).

Um nicht ein drittes Mal bei den Aufgaben zu versagen, erkundigt sich im nächsten Jahr, März 93, »der Flügeladjutant vertraulich nach der Lösung des Grafen Schlieffen und macht dann auf Grund dieser Kenntnis mit dem Kaiser die Arbeit. Bei der Kritik kann dann der Monarch mit größter Sicherheit sich völlig der Ansicht des Chefs anschließen und durchblicken lassen, daß er genau die richtige Lösung getroffen habe« (W. 2, 286).

Nachdem sich Graf Schlieffen durch Masern das eine Mal, das zweite mit einer anderen ansteckenden Mitteilung gerettet hat, wird er vom Kaiser durch einen neuen Aufmarschplan nach zwei Fronten überrascht. »Der Kaiser will gegen Frankreich sogleich die Offensive ergreifen und hat deswegen das Ostheer um 2 bis 3 Korps geschwächt. Er tat damit genau das, was die Franzosen hoffen. Wir rennen gegen ihre ... verstärkten Stellungen an und haben alle Aussicht, mit blutigen Köpfen abgewiesen zu werden. Unsre Chancen liegen wirklich gut, wenn wir, wie ich es wollte, sie herauskommen lassen ... um dann über sie herzufallen ... Schlieffen müßte seine Stellung dafür einsetzen, den Kaiser von seinen unreifen Ideen abzuhalten« (W. 2, 318).

Aus diesem Kriegsspiel wurde Ernst: 20 Jahre später erleichterte der Plan des Kaisers den Franzosen die Marneschlacht (s. S. 433).

Über das Militärkabinett urteilt im selben Jahre Eulenburg: »Der Begriff, daß der Flügeladjutant eine Art Heiligtum, höchste Vollkommenheit eines menschlichen Wesens sei, will in meinen Kopf nicht hinein ... Daneben steht der halbverrückte Senden und dazu Plessen ... Es ist wirklich gut, daß es in diesem Hexenkessel, um nicht zu sagen Narrenhaus, auch einmal etwas zu lachen gibt« (E. 2, 248). Der Admiral von Senden-Bibran, einst durch eigne Schuld in England schlecht behandelt, hatte einen tiefen Haß gegen alles Englische gefaßt und suchte »mit bocksähnlichem Eigensinn und stets argwöhnischer Beschränktheit« dem Kaiser dies zu suggerieren. Die Anschauungen des Generaladjutanten von Plessen werden aus einem späteren Gespräch mit dem Marinechef kund, dem er sagte:

»Jetzt, wo England in einen Krieg verwickelt ist, muß Deutschland ihm den Krieg erklären.«

»Aber wir haben ja keine Schiffe, Exzellenz!«

»Das macht nichts, eine einzige Division hinübergeworfen, und England ist erledigt!«

Neue Einwände des Admirals.

»Na, wenn das auch nicht geht, dann marschieren wir eben mit Rußland zusammen nach Ägypten und Indien!«(Eck.2,44).

Alles mußte militarisiert werden, auch die Minister. Bei einem Diner, Anfang 89, teilt der Kaiser in vorgerückter Stimmung Beförderungen aus, sagt dem Kultusminister Goßler, er sei Major, dem Finanzminister von Scholz, er sei Leutnant geworden. Der hält es für einen Scherz, liest aber drei Tage später mit Staunen die Ernennung des Feldwebels von Scholz gedruckt. Damals, ein halbes Jahr nach der Thronbesteigung, ironisierte schon die »Germania«: »Es ist hart! Der Chef der preußischen Finanzverwaltung ist 55 Jahre alt und hat sich bisher mit der bescheidenen Würde eines Vizefeldwebels begnügen müssen. Jetzt hat er den Rang eines Sekondeleutnants erklommen.«

Mit solchen Beförderungen waren die Minister in den Augen ihres Herrn durchaus nicht gestiegen, im Grunde kam ihm jeder Reserveoffizier ein wenig komisch vor: diese Federfuchser ließ er nicht in den Kreis der Elite-Menschen. Dagegen durften solche sich als Militärattachés im Bezirk der Diplomaten tummeln, ja sie errangen rasch in fremden Hauptstädten die heimliche Führung: »Ihnen ist es gestattet, Briefe und Berichte direkt an den Kaiser zu richten, der jedes Wort für bare Münze nimmt. Er schätzt diese Mitteilungen unbedingt höher ein als jeglichen Bericht eines Gesandten, der nicht etwa früher auch einmal aktiver Offizier gewesen war ... Diese Hauptleute, Rittmeister oder Majore bereiten sich ernsthaft auf den einstmaligen Antritt eines Botschafterpostens vor ... Immer wieder werde ich zu der militärischen Gruppe hingeführt, die eine permanente Kamarilla darstellt und die von dem Militärstaat Deutschland als solche nicht anerkannt wird. Denn taucht jemals eine Bemerkung über militärische Intrigen auf, so erhebt sich irgendein General, dreht den Schnurrbart und sagt: Ich, der General X., erkläre hiermit, daß jede Äußerung über Adjutantenpolitik grobe Verleumdung ist« (E. 2, 245).

Daß diese Anklage gegen eine Nebenregierung von Eulenburg stammt, erhöht ihre Pikanterie: die Eifersucht eines Favoriten gegen den andern enthüllt wenigstens der Nachwelt eine Kamarilla, die nur von einer zweiten bekämpft wurde.

Aus solchen Einflüssen entsteht des Kaisers innere Politik.

»Ich kenne nur zwei politische Parteien: die für Mich und die gegen Mich sind!« Das Motto eines absoluten Herrschers. Dies Wort, gesprochen vom Dreißigjährigen, in der Epoche der besten Absichten und der geringsten Verblendung, stellt das Thema dar, das er durch drei Jahrzehnte variieren wird, in wechselnder Abneigung gegen alle Parteien. Reichstag und Landtag waren ihm Häuser voll unreifer, störrischer Menschen, deren Farbe er kaum unterschied. Sein ständiger Wunsch bei Differenzen war: nach Hause schicken, Aufstände mit der Garde bewältigen; am Staatsstreich, zu dem man offen riet, hinderte ihn nur die Ungewißheit des Ausgangs.

Seine Grundstimmung war so, wie er es im Jahre 97 dem Freiherrn von Stumm mit dem Wunsch zur Verbreitung sagte: »Wenn Mir der Reichstag meine Schiffe nicht bewilligt, gibt es einen Kladderadatsch, wie er noch nicht da war!« Wenn alles »Sein« war, Schiffe, Soldaten, Untertanen, Reich, so war diese Ungeduld berechtigt. Die volle Verachtung seines Herzens zeigte er aber erst an vertraulichen Stellen. An den Zaren, 95: »Beide Parteien sind bald reif, samt und sonders gehängt zu werden.« In ein Aktenstück, 99: »Was ich seit 10 Jahren den Ochsen von Reichstags-Abgeordneten alle Tage gepredigt habe!« Beim Besuch von Ballins Schiff in der Kieler Woche ließ er sämtliche Herren stehn, sprach die ganze Stunde lang nur mit den Damen, weil er auf der Liste zwei Abgeordnete, Bassermann und Stresemann, die ihn nie angegriffen, schaudernd entdeckt hatte. So groß war Wilhelms des Zweiten Verachtung gegen die Vertretung seiner Untertanen.

Sein früher Ehrgeiz, die Sozialisten zu versöhnen, war schon nach dem ersten Versuch begraben. Caprivi wurde aus dem entgegengesetzten Grunde wie Bismarck gestürzt: dieser, weil er kein Ausnahmegesetz gegen die Arbeiter, jener weil er eins wollte. Jetzt war dem Kaiser klar: die Arbeiter waren doch nicht zu halten, Klasse und Partei wurden identisch, und so war in seinen Augen bald auch die Klasse selber der Reichsfeind. Da gab es nur Gewalt. Als die Kritik der Sozialisten wuchs, sagte Plessen zum Kaiser: »Es muß sofort geschossen werden, dann hört es auf.« Diese klare Politik widerlegte der Kaiser mit den schneidigen Worten:

»Unsinn! Ich werde die Kerls, die mich beleidigen, von Ihnen fordern lassen!«

Graf Mirbach schlug im Herrenhause Dekretierung eines neuen Wahlrechts vor, Koller wollte gegen die Sozialisten, die beim Kaiserhoch sitzenblieben, den Staatsanwalt mobil machen, die Junkerblätter waren für Vereinigung der deutschen Fürsten zu einem neuen Bunde, um darin das allgemeine Wahlrecht zu beseitigen. Zu gleicher Zeit, am Sedantage 95, bezeichnete der Kaiser die Sozialisten als »eine Rotte Menschen, nicht wert, den Namen Deutsche zu tragen« und rief zum Kampf auf, um der »hochverräterischen Schar zu wehren und uns von solchen Elementen zu befreien«. Andere Aufforderungen zum Bürgerkriege folgten.

Um so entschiedener, sollte man meinen, schloß er nun die loyale Rechte an sich. Waren die Konservativen nicht seine Triarier? Es waren Agrarier. Als diese 94 den russischen Handelsvertrag, 99 den Rhein-Elbe-Kanal zu Falle brachten, die der Kaiser beide haben wollte, warf er mehr Leidenschaft gegen sie als gegen die Sozialisten: diese fürchtete er vom ersten Tage, in jenen aber hatte er den Schutzwall vor den Gefürchteten gesehen, nun fühlte er die Leibwache wanken, denn Garde und Agrarier entstammten denselben Familien. Wagte der älteste Adel zu mucken, wo blieb dann die Autorität des Königs! Es war durchaus ein fridericianischer Gedankengang; nur hundert Jahre zu spät.

Erst suchte er sie an der Tradition zu fassen: »Ich habe tiefbekümmerten Herzens bemerken müssen, daß aus den Mir nahestehenden Kreisen des Adels Meine besten Absichten mißverstanden, zum Teil bekämpft worden sind; ja sogar das Wort Opposition hat man Mich vernehmen lassen. Eine Opposition preußischer Adliger ist ein Unding: Wie der Efeu sich um den knorrigen Eichenstamm legt, ihn schmückt mit seinem Laub und ihn schützt, wenn Stürme seine Krone umbrausen, so schließt sich der preußische Adel um Mein Haus.«

Der Efeu aber, der noch keine Eiche im Sturme geschützt, aber manche erstickt hat, die er zu schmücken vorgab, drückte den knorrigen Redner nur noch fester: »Wenn die Adligen, schrieb man, fortan keine Opposition machen dürften, so müßten sie, soweit sie dem Parlament angehören, entweder den Adel niederlegen oder das Mandat, auch im Herrenhaus.«

Der Kaiser war außer sich, verbot die Kreuzzeitung bei Hofe, entzog dem Grafen Limburg-Stirum, der die Pflicht des Adels zur Warnung der Krone stabiliert hatte, den Rang eines Gesandten z.D. und drahtete einem Dönhoff, der gegen sein der Partei verpfändetes Wort für die Vorlage stimmte: »Bravo! Wie ein echter Edelmann gehandelt!« Im zweiten Kampfe hieß er ein Dutzend »Kanalrebellen« vom Hoflager verweisen, und zwar wurden, wie v. Jagemann berichtet, gleich Formulare hergestellt und mit Namen ausgefüllt: »... wird wegen Opposition nicht nur gegen Meine Politik, sondern auch gegen Meine Person bis auf weiteres vom Hoflager verbannt«. Zugleich setzte er 2 Präsidenten und 16 Landräte aus ihren Ämtern, nahm aber sämtliche Maßnahmen wieder zurück, als ihn der wachsende Lärm erschreckte.

Mit ernster Sorge stehen neben diesen Ereignissen, die ihnen bedrohliche Symptome schienen, die kaiserlichen Freunde; niemand hat – wenn seine Konzepte nicht etwa später retuschiert sind – besser als Eulenburg schon im Jahre 94 die Motive und Gefahren dieses Regimentes umrissen:

»Der König von Preußen«, schreibt er an Holstein, »hat nach der Verfassung das Recht, selbst zu regieren. Macht Wilhelm der Zweite Tollheiten? Vollführt er Regierungshandlungen, die über den Rahmen seiner Rechte hinausgehen? ... Von alldem ist nicht die Rede, – sondern Deutschland und Preußen ertragen nicht mehr die Betätigung eignen kaiserlichen Willens. Es ist hart, zu sagen: die Aufrichtung des Deutschen Reiches, d. h. die Verschmelzung des liberalen süddeutschen Blutes mit Preußen, die Kombination des regierenden Staatsmannes und des schlafenden Heldenkaisers haben das altpreußische Königtum ruiniert. Ein selbstregierender König ist trotz seines guten Rechts dazu nicht mehr denkbar im Gefühl des gebildeten fortschrittlichen Volkes. Man erträgt nur einen König, der sich einer parlamentarischen Form anbequemt ... Tritt nun der Kaiser als Selbstregierer auf, so ist das sein gutes Recht. Es fragt sich nur, ... wer die Partie gewinnt. Ich fürchte, daß nur ein glücklicher Krieg dem Kaiser das nötige Prestige für diesen Kampf verleiht ... Eine andere Form wäre, logisch für den selbstherrschenden Kaiser, der Imperialismus. Dieser würde, wenn auch nicht für ihn, so doch für den Nachfolger, das Ende der Monarchie bedeuten ... Daß S. M. durch sein Naturell getrieben wird, das wiederherstellen zu wollen, was jene vielbesungene Kombination ... zerstört hat, trägt einen elementarischen Charakter.«

Hier sind Ursachen und Folgen des persönlichen Regimentes höchst gerecht betrachtet, und nur das eine verbittert den Geschmack an solcher frühen Erkenntnis, daß sie ihr Träger, des Kaisers Busenfreund, nicht ihm selber, nur immer dem wahlverwandten Holstein vertraute. Der hat denn auch eine prophetisch zynische Antwort bereit, er erwidert (E. 2, 176) in einem Notenstile, den er sonst seinen Privatbriefen fernhält: »Ich verhehle mir nicht, daß S. M. vom royalistischen Kapitale lebt, und daß, was er heut achtlos vergeudet, einstmals seinem Sohne – ja wahrscheinlich schon in wenigen Jahren ihm selber empfindlich fehlen wird ... Eine der wichtigsten Vorbedingungen der nahen Senkung des deutschen Kaisergefühls ist die Tatsache, daß selbst Ihr Verstand halt macht vor der Betrachtung der Folgen, welche das jetzige leichtfertige Regiment zeitigt.«

So sahen die Nächsten schon nach sechsjähriger Regierung des Kaisers die Zukunft voraus, schoben einander die Stichworte zu – und schwiegen.

 

VII

Der Draht nach Rußland war abgerissen. Stehend hatte, ein Jahr nach dem Ende des deutsch-russischen Vertrages, der Zar die ihm verhaßte Marseillaise beim Besuch der französischen Flotte angehört, 92 folgte die Militär-Konvention: nach 20jähriger Einsamkeit hatte Frankreich endlich den ersehnten Alliierten. Den wahren Grund für sein Veto gegen den russischen Vertrag: Furcht vor Bismarcks Rückkehr, hat Holstein später dahin verschleiert: »Es wäre gefährlich gewesen, bei einer solchen Sache den Fürsten Bismarck zum Mitwisser zu haben« (Hammann, Neuer Kurs 33). In diesem Wort enthüllt sich der ganze Charakter: dieser Mann war in seinen Entscheidungen so intrigant und unsachlich, daß er jeden, daß er Bismarck selber für fähig hielt, die Sicherheit seines Reiches durch Verrat eines Vertrages aus Rache zu zerstören! Weil auch er hassen konnte, glaubte er, die Bismarcks fühlen wie die Holsteine.

Bismarck schrieb in seiner Zeitung schon vier Wochen nach der Entlassung für Rußlands, gegen Österreichs Balkanpläne und betonte, es sei »nicht Deutschlands Sache, ehrgeizige Pläne Österreichs auf dem Balkan zu fördern«. Der Kaiser dagegen sagte zu seinen Generalen: »Rußland will Bulgarien besetzen und fordert dafür unsre Neutralität. Ich aber habe dem Kaiser von Österreich Treue gelobt und dem Zaren erwidert, ich könnte Österreich nicht im Stiche lassen.«

Dies ist sein Glaube. Die Freundschaft für Österreich, die Deutschland am Ende ruinieren sollte, ist, soweit sie der Kaiser pflegte, nur auf das feudale Haus Habsburg gegründet gewesen und wäre einem Staatenbunde wie der Schweiz, wenn die 8 Staaten anstatt in der Monarchie in einer Republik zusammengefaßt wären, von ihm niemals erwiesen worden. Da er Republiken verachtete und auch »Schattenkönige« nicht als Seinesgleichen empfand, da er vom Primat des Fürsten von Gottes Gnaden ausging, war seine Freundschaft mit Habsburg und dem Sultan weniger politischer Gedanke, es waren dynastische Gefühle, die ihn mit diesen beiden Kaisern und nur mit ihnen in dauernder Verbindung hielten. Nichts ist echter an Wilhelm dem Zweiten gewesen als der fatale Gedanke solcher »Brudertreue«, doch nur, weil sie der Kaiser nur dem gleichberechtigten Fürsten, nicht etwa einem teilweis deutschen Volke hielt.

Darum war der Kaiser zeitlebens zwischen Wien und Petersburg im Gewissenskonflikte, darum hat er den Sohn jenes Zaren, der ihm übelwollte und den er aus Trotz gegen Bismarck verließ, durch 20 Jahre umworben, nur weil er Autokrat alten Stiles war, ein Zar, ein Kaiser wie er selbst. In einem Drei-Kaiser-Bündnis, wie es 84 geschlossen wurde, hätte Wilhelm die einzige würdige Verbindung erlebt. Republiken aber: das waren die geborenen Feinde, sie weckten Nachahmung im unzufriedenen Teile seines Volkes. In der Allianz des Zaren mit Frankreich sah er darum eine größere Gefahr für den Thron als für das Reich. Dem Zaren spricht er deshalb wiederholt, nie aber klarer als in einem Brief von Ende 95, von der Gefahr, die durch Bündnisse mit Republiken dem gemeinsamen monarchischen Gedanken erwächst:

»Die ständige Anwesenheit von Fürsten, Großherzogen, Staatsmännern, Generalen in Gala bei den Truppen-Revuen, Begräbnissen, Diners, Wettrennen mit dem Haupt der Republik oder in seiner Umgebung läßt Republikaner wie diese glauben, daß sie äußerst ehrenwerte Leute sind, mit welchen Fürsten zusammengehen und im Innern fühlen könnten. Was würde aber dann daheim in unsern Ländern die Folge sein? Die Republikaner sind von Natur revolutionär und werden ganz folgerichtig als Leute, die erschossen oder gehenkt werden müssen, behandelt. Sie sagen unsren übrigen, loyal gesinnten Untertanen: Oh, wir sind keine gefährlichen Menschen, geht nur nach Frankreich, dort könnt ihr Royalisten mit Revolutionären zusammengehen sehn, warum sollte das nicht auch bei uns gehen? ...

»Vergiß nicht, daß Jaurès, es ist nicht seine persönliche Schuld, auf dem Thron des angestammten Königs und der Königin von Frankreich sitzt, die die Revolutionäre geköpft haben. Das Blut Ihrer Majestäten klebt noch an dem Lande. Sieh es dir an, ist es seitdem je glücklich oder ruhig geworden? Schritt es nicht in seinen großen Augenblicken von Krieg zu Krieg, bis es ganz Europa und Rußland in Ströme von Blut gestürzt, bis es zuletzt die Kommune wieder über sich hatte? Nicky, nimm mein Wort: der Fluch Gottes hat dies Volk für ewig getroffen! Uns christlichen Königen und Kaisern ist eine heilige Pflicht vom Himmel auferlegt: das Gottes-Gnaden-Prinzip aufrecht zu erhalten.« Dann erzählt er von einem russischen General, der neulich in Paris auf die Frage, ob Rußland die deutsche Armee zerschmettern würde, erwidert hat: Nein, wir werden kaputt gehen, aber was macht das: dann werden wir auch die Republik haben! »Das ist, was ich für dich, mein lieber Nicky, fürchte!«

Selten hat der Kaiser mit solcher Konsequenz, in so ruhigem Fluß einen Gedanken durchgeführt; das kommt, weil er ihm Glaubenssache ist. Warum Ihre Majestäten auf jenem Thron geköpft wurden, weiß er nicht, noch auch, warum der russische General offenbar in vino veritatem fand. Er ahnt nicht, auf welch schicksalsvollem Umwege sich seine Worte 20 Jahre später an demselben Zaren bewahrheiten werden, noch weniger, daß er selber diese Zeche bezahlen wird: er sieht nur Begräbnisse und Wettrennen in Gala und neben geborenen Kaisern bleiche Bürger mit bösen Herzen stehn und sich für ehrenwert halten. Er lebt 120 Jahre zurück, scheint Enkel der Bourbonen mehr als Enkel von Voltaires Freund, sieht Jaurès' Deputiertenstuhl für einen Thron an und hält in der Tiefe seines Herzens alle diese Leute, die mehr sein wollen als Untertanen, für wert, erschossen, richtiger gehenkt zu werden.

Nach Petersburg, von dem er sich bei Bismarcks Sturze abgewandt, sucht darum der Kaiser den Rückweg, aber das nie eingestandene Gefühl der Reue über eine Torheit kreuzt sich in ihm mit Furcht und Mißtrauen, und so wird dieser Weg von Rückschlägen ständig irritiert: des Kaisers russische Politik durch 24 Jahre gibt ein Bild seiner schwankenden Stimmungen. Anfang 91 »ist seine Angst vor Rußland deutlich erkennbar. Wie bei sich selbst hält er auch anderswo eine sprunghafte Entwicklung für möglich ... Bald glaubt er, es sähe völlig friedlich aus, bald, wir ständen dicht vor dem Kriege ... Dabei rennen wir mit Sicherheit ins Verderben« (W. 2, 204). Zwei Jahre später ist er über das Erstarken des Zweibundes, den er doch selbst erst möglich machte, so empört, daß er Caprivi eine Brandrede gegen Rußland aufträgt, nach der Schuwalow außer sich gerät: »Seit 8 Jahren habe ich an der Besserung der russisch-deutschen Beziehungen gearbeitet. Jetzt ist mein ganzes Werk verloren.«

Der Tod Alexanders, dem er jenes Spotturteil aus Bismarcks Händen freilich nicht zu vergessen braucht, bringt in dem schwachen, undurchsichtigen Nikolaus einen Menschen auf den Thron, den der Kaiser beherrschen möchte und dem er wie ein Rattenfänger besonders in Briefen nachstellt: sie stellen seine einzige fortlaufende Korrespondenz während 20 Jahren dar. Nicky und Willy, wie sie sich nennen, in Tugenden und Schwächen einander völlig unähnlich, spielen die ränkevolle Freundschaft des Mannes mit einer Frau, die sich ihm, meist entfernt und unter seinen Feinden lebend, in schwachen Augenblicken dennoch aus Furcht hingibt, um sich bald, bei erstarktem Gemüt, aus der Ferne dafür durch Haß und Hingabe an einen andern zu rächen; mit Recht, denn wenn er fort ist, betrügt er sie nicht minder.

Am liebsten mit England. Aber in diesem schwierigsten Verhältnis hat der Kaiser die weibliche Rolle: mit nie endender Haß-Liebe umwirbt und verschmäht er den mächtigen Briten, in immer neuen Formen sucht die deutsche Majestät es ihm gleichzutun, beobachtet ihn von ferne mit dem Opernglas, um ihn zu studieren, gibt sich, dabei erwischt, das Air, gleichgültig zu sein und völlig selbständig, weist Annäherungen, auf die er jahrelang gewartet, brüsk ab wie eine zu spät zum Tanz gebetene Schöne, schlägt jede männliche Werbung aus: denn auf den Knien will sie ihn sehen, Triumph, nicht Liebe sucht sie, in der unversiegbaren Erinnerung, von diesem Mann und seinem Haus dereinst beleidigt worden zu sein – und dies Haus war auch das seine!

Geschundene Eitelkeit aus deutsch-englischen Jugendtagen, verwundbarer Ehrgeiz, von den Pfeilen der Mutter getroffen, das stete Mißtrauen, gerade von diesen Menschen heimlich verspottet zu werden, deren ruhige Macht er bewundert, deren kluges Wirken er mit Eifersucht verfolgt und deren Blut in sich zu fühlen er ebenso stolz als mißtrauisch ist: diese Empfindungen des Unterlegenseins, die er um jeden Preis aus seinen Nerven bannen will und die ihm ein Leben lang die Wollust der Macht zerstören bis in seine Träume hinein, sie sind es, zu deren Beruhigung er eine Flotte bauen, als Seeheld einem Seestaate gebieten will, um es dem Schiffs- und Inselreiche gleichzutun.

Die Mutter tut nichts dagegen. »Denken Sie, sagt Ende 88 der Kaiser zu Waldersee, meine Mutter will nach England reisen und hat mir durch den Hausminister sagen lassen, sie will mich vorher nicht sehen, ich hätte das Andenken meines Vaters entehrt!« (W. 2, 19). Die Spannung wird so stark, daß Ende 90, vor der Errichtung eines Denksteins für Kaiser Friedrich in England, weder die alte Königin noch ihre Tochter dem Kaiser Mitteilung machen, er liest es in den Zeitungen und schickt einen Adjutanten hinüber, um am ersten Denkmal seines Vaters einen Kranz niederzulegen. »Sie hat keinen Glauben, klagt er jetzt, sie unterstützt meine Schwester in Athen, ihre Konfession zu wechseln, das ginge mich gar nichts an, und wenn sie Jüdin würde. Ich habe sie reich dotiert, ihr mehrere Schlösser gegeben, von Dank ist keine Rede. Neulich hat sie mir sogar gedroht und prophezeit, mein ›autokratisches Auftreten‹ müsse im Unglück enden!« Als sie in diesen Wochen die zu früh niedergekommene Kaiserin besuchen will, läßt sie der Kaiser gar nicht eintreten, sondern führt sie zu ihrem Wagen zurück (W. 2,167).

Um diese Zeit, Anfang der Neunziger Jahre, war die englische Stimmung noch einmütig für Deutschland, die Tradition von Waterloo und Disraelis Politik wirkten fort, der immer gegen Rußland für Deutschland optiert hatte, das Wort von der deutschen Konkurrenz war noch fast unbekannt, Bismarcks Vermächtnis in seinen Annäherungen an Salisbury war »auf dem Tisch liegen geblieben«. Da war es Wilhelms des Zweiten dynastischen Gefühlen vorbehalten, zwei Völker zu entfremden, die seltener als andre Völkerpaare zu kollidieren brauchten.

Der Prinz von Wales, gegen 20 Jahre älter als sein Neffe, unterschied sich von ihm wie die Platte vom Abdruck, überall war er hell, wo jener dunkel war und umgekehrt. Der eine scheint aus einem Stück von Sardou, der andere aus der Wildente zu stammen. So wenig Abenteuer Prinz Wilhelm in der Jugend gehabt, so viele hatte Prinz Eduard noch im Alter, der kaiserlichen Tugend stand eine weltbekannte Libertinage, seinem Pathos eine bequeme Ironie gegenüber, die nichts verschonte. Jener hatte immer, dieser nie den Wunsch zu glänzen, ihm war die Majestät eher unbequem, und wenn die Phantastik des Neffen zum Mittelalter strebte, so hätte sich der Onkel höchstens nach Merry Old England zurückgezogen. Weder Nerven noch Eitelkeiten beunruhigten ihn, ein großer Respekt vor seiner Mutter ließ ihn den Haß des Neffen gegen die seinige noch schwerer begreifen, ja er vertrieb sogar die Ungeduld, die seinen Schwager Friedrich um allen Genuß gebracht, aus seinem Kronprinzen-Herzen und entging der Demütigung des Nichtstuns durch Genuß. Dabei war er nicht nur schlauer und erfahrener, auch in gewissem Sinne tätiger als der rastlose Neffe.

Zu solchen Widersprüchen trat noch der schlechteste Mittler: Victoria konnte ihrem Bruder nur ein verdorbenes Bild des Neffen malen, bevor er ihn näher kannte, und doch stand ihr Eduard so nahe, daß er bis zu ihrem Tode in wöchentlichem Briefwechsel mit ihr blieb (Reischach, 155).

Schon in der Jugend hatte aber der Prinz den Haß von der Mutter auf ihren Bruder übertragen, zunächst wohl nur, weil er ihr Bruder war; schon damals hat er den englischen Onkel an den Zaren verraten, was um so erstaunlicher, als ja dieser Zar dem Prinzen Wilhelm gar nicht wohlgesinnt, dagegen Eduards Schwager war, und diesem alles weitertragen mochte. Als 84 der Onkel in Potsdam zu Gast war, rühmte sich Prinz Wilhelm brieflich gegen den Zaren seiner Gegnerschaft: »Der Besuch scheint Früchte zu tragen unter den Händen meiner Mutter und meiner Großmutter. Aber diese Engländer haben zufällig vergessen, daß ich existiere ... und ich schwöre dir, daß ich alles, was ich für dich und dein Land tun kann, tun werde. Es wird aber lange dauern.« Ein Jahr darauf: »Auf den Besuch des Prinzen von Wales freue ich mich keineswegs – verzeih, er ist ja dein Schwager –, mit seiner intriganten Natur wird er sicher versuchen, mit den Damen politische Intrigen zu spinnen. Möge ihn Allah zur Hölle schicken, wie der Türke sagt ... Hoffentlich wird der Madhi diese Engländer alle im Nil ersäufen!« (Lee 480).

Kaum ist er an der Macht, so läßt er sie den Onkel, der doch nur Prinz ist, fühlen. Bei seinem ersten Besuch in Wien, September 88, macht der junge Kaiser, weil Eduard sich zugleich angesagt hat, die Bedingung, allein empfangen zu werden, lehnt sogar Eduards Anerbieten ab, ihn in preußischer Uniform auf dem Wiener Bahnhof zu empfangen, zwingt ihn, für eine Woche von Wien weg und nach Ungarn zu gehen, und sieht bei alledem nicht, daß der Onkel seiner alten Mutter bald folgen, daß er als König sich rächen, daß auch ein Privatmann von Ehre solche Demütigungen im Leben nie vergessen kann. Darf man sich wundern, daß der Onkel dann vor dem Besuch seines Neffen in London einen Entschuldigungsbrief fordert, daß dieser nur ein halbes Zugeständnis macht und daß ohne Salisburys energisches Eintreten der Kaiser gar nicht eingeladen worden wäre?

Gleich dieser erste Besuch, von der klugen Königin mit allem Glanz umgeben, der dem Enkel schmeicheln sollte, war von heimlichen Zwischenfällen getrübt. Eduard, erst vor kurzem zum Admiral der britischen Flotte ernannt, konnte den 30jährigen Neffen nur ungern zum gleichen Rang aufsteigen sehen und mußte im stillen spotten, wenn er ihn diesen Rang gebrauchen sah, als hätte er ihn sich verdient. Denn der Kaiser rät sogleich der Königin, 12 statt 5 Einheiten im Mittelmeer zu halten, und sagt Eduard, der ihm die Flotte vorführt, seine eigne werde in kommender Zeit viel moderner ausgestattet werden (Lee, 656).

Und doch zog es den Kaiser nirgendshin so stark wie nach diesem Lande seiner Eifersucht, keinen fremden Staat hat er so oft besucht, denn Norwegen bedeutete ihm nur ein paar Häfen. Die nächsten fünf Jahre, 90 bis 95, kam er jeden Sommer, um an den Regatten seines Onkels teilzunehmen, den er so wenig leiden konnte wie jener ihn; in diesen etwa 18 Hochsommerwochen, in der gefährlichen Enge des Bordlebens, bildeten die beiden ihre Antipathie zu einer Feindschaft aus, deren Folge Weltgeschichte wurde.

Hier trat der Neffe dem Onkel einmal als Kaiser, dann wieder als Spaßmacher entgegen. Er behandelte ihn – nach Eckardsteins Beobachtung, der vier Sommer dabei war – »teils als quantité négligeable, teils irritierte er ihn durch burschikose Äußerungen und Spaße.«

Der Onkel, dem dies alles ungewohnt und unbequem war, sagte des Kaisers Freunden ironische Wahrheiten: »Ich begreife den Kolonialsport meines Neffen nicht recht. Ich verstehe, daß jemand gern Diamanten kauft, der keine hat, aber wenn man nicht in der Lage ist, große Diamanten zu kaufen, ist es doch praktischer, solchen hoffnungslosen Sport zu unterlassen. Es ist ja nett, daß sich der Kaiser für Schiffe interessiert, wenn man ihn aber mit seinem lahmen Arm derartig hantieren sieht, wie jetzt oben auf Deck, so muß einem Angst werden, daß er sich Schaden tut« (E. 2, 86). War Eulenburg klug genug, dies zu verschweigen, böse genug es zu erzählen: gewiß ist, daß solche vergiftete Pfeile ein oder das andere Mal den Kaiser erreichten und in diesem Herzen Wunden aufrissen, unheilbar fortan. Mit jedem Jahre wurde der Empfang kühler, der Prinz nannte seinen Gast den »Boss von Cowes« und sagte: »Früher war die Regatta mein Vergnügen und meine Erholung; seit der Kaiser hier kommandiert, ist es nur noch eine Plage. Nächstes Jahr komme ich vielleicht gar nicht mehr« (Eck. 1, 207).

Freilich, es gab harte Proben. August 93 rückte eine plötzliche Spannung mit Frankreich um ostasiatischer Fragen willen den Krieg in England plötzlich sehr nahe; Kurier aus London an die Königin, auch der Kaiser sei zu unterrichten. Diner bei Eduard, Privatsekretär des Premiers überbringt Briefe und Bescheid: Frankreich wolle sich in Anlehnung an seinen russischen Freund in Hinterindien ausdehnen. »Nachdem der Kaiser das Schreiben gelesen, brach er in lautes Gelächter aus, klopfte seinen Onkel auf die Schulter und rief: »Na, da kannst du ja mit nach Hinterindien gehn und zeigen, was du als Soldat leistest!« (Eck. 1, 208). Hierauf Rückkehr auf die »Hohenzollern«.

Dort läßt er, völlig gebrochen, Eulenburg in die Kabine kommen. »Ich habe ihn eigentlich nie so fassungslos gesehen ... Es war nach dem Besuch der französischen Flotte in Kronstadt der zweite große Choc, der sich infolge der Nichterneuerung des russischen Vertrages einstellte.« Der Kaiser sagte:

»Englands Flotte ist schwächer als die der Russen und Franzosen zusammen. Unsre kleine hilft da auch nichts. Unsre Armee ist noch nicht stark genug, um nach zwei Fronten zu fechten! Deshalb haben die Franzosen den Zeitpunkt so geschickt gewählt! Unser ganzes Prestige geht kaputt, wenn wir keine führende Rolle übernehmen! Ohne Weltmacht zu sein, ist man eine Jammerfigur! Was soll man tun?« Eulenburg beruhigt ihn mit zwei Vertrauten, doch als sie gehen, »sah er noch miserabel aus, blaß und nervös die Lippen kauend ... Er fühlte sich mit seinem großen Schiffstrara hier plötzlich in eine gewisse bescheidene Enge getrieben und politisch ausgeschaltet, und das ist für die liebe Eitelkeit immer ein Butterbrot ohne Butter« (E. 2, 84).

Am nächsten Morgen Wettfahrt, der Kaiser ausschließlich mit Führung und Bedienung des Schiffes beschäftigt, während Eduard von 10 bis 4 an Bord frühstückt, bis neue Nachricht aus London die Spannung friedlich löst. Von dem Zusammenbruch des Neffen hat Eduard nichts erfahren, das ist politisch gut; menschlich wäre es besser, er wüßte davon, so, wie uns heute das glaubwürdige Bild einer solchen Szene den gellenden Auftritt des Kaisers als Kulisse vor Furcht und Verlegenheit erklärt. So aber hält der Onkel ihn erst für impertinent, dann für gleichgültig, und da auch der Neffe nicht fragt, wie weit sich jener inzwischen mit London beraten hat, sieht er ihn nur dinieren und wieder frühstücken.

In derselben Woche wird eine Wettfahrt um die Insel Wight durch Windstille gehemmt; da man abends den Kaiser zum Diner bei der Königin erwartet, sucht Eduard den Neffen zur Aufgabe der Wettfahrt und pünktlichen Rückkehr zu bewegen. Antwort in Flaggensprache: »Wettfahrt muß ausgefochten werden, gleichviel, wann wir ankommen.« Als er nach 10 Uhr bei der alten, pünktlichen und stolzen Großmutter eintrat, hatte er sie stärker verletzt als durch irgendeine ablehnende Note, den Onkel aber wieder verärgert, dessen Respekt vor der Mutter solche Nachlässigkeit bisher unmöglich gemacht hatte.

Im Sommer 95 war England isoliert. Man ließ das liberale Kabinett gehen, Lord Salisbury kam wieder, mit ihm Chamberlain, man suchte Freunde, man suchte vor allem Deutschland. Im Juli regt Salisbury beim deutschen Botschafter die Auflösung der Türkei an, Hatzfeldt ist von dem großen Plan elektrisiert. Was Bismarck länger als ein Jahrzehnt erstrebte, Österreichs und Rußlands Sphären auf dem Balkan zu trennen, war endlich möglich, die russische Verstimmung gegen Deutschland konnte verfliegen, der Zweibund verlor seinen stärksten Zweck; England aber, das war die automatische Folge, trat endlich doch dem Dreibund bei.

Aber Holstein wurde schon durch Salisburys Namen zum Mißtrauen gestimmt, weil Bismarck ihn hochschätzte, auch Privatbriefe des Botschafters überzeugten den Geheimrat nicht, auch diesmal schloß er von seinem knifflichen Wesen auf das der andern, sah dunkle Zwecke Englands, den Dreibund zu sprengen, den Balkan auf den Kopf zu stellen: »England«, schließt er, »ist noch nicht bündnisreif, wir können warten«. Er verweigert dem Botschafter sogar die Erlaubnis, weiterzuverhandeln. Dieselbe Anschauung wird auf bekanntem Wege dem Kaiser suggeriert, in dessen Stimmung sie allzugut paßt, er wiederholt es mit denselben Worten zu Rothenhahn und übertreibt: »Überhaupt sind wir in der glücklichen Lage, ruhig zusehn und abwarten zu können, da niemand in Europa etwas ohne uns erreichen kann.« Jetzt, wieder auf dem Weg nach England, wird er ersucht, Lord Salisbury hinzuhalten.

Zur vereinbarten Stunde trifft der Lord auf der »Hohenzollern« bei Cowes nicht ein, kommt schließlich nach einer Stunde, entschuldigt sich mit force majeure, Defekt an der Dampfmaschine, Mangel eines anderen Bootes, alles erweisbar. Aber der Kaiser, durch kein Gefühl der Würde vor dem Gefühl des Mißtrauens und der Nichtachtung geschützt, war beleidigt, wurde heftig, lehnte nicht nur ab, sondern machte sich über die Pläne zur Teilung der Türkei lustig, bis die Unterredung »in sehr erregten Formen« ihr Ende fand. Zu einer zweiten berufen, in der der Kaiser offenbar einlenken wollte, erschien Salisbury nicht mehr, schrieb einen Entschuldigungsbrief und »die Folge«, sagt Eckardstein, »war eine tiefgehende, dauernde Verstimmung zwischen Kaiser und Salisbury ... Dieser ist in späteren Jahren mir gegenüber wiederholt auf die verhängnisvolle Aussprache zurückgekommen: ›Der Kaiser schien ganz zu vergessen, daß ich nicht Ministre du Roi de Prusse bin, sondern Premierminister der Königin von England‹.« Holstein aber, der die Richtung, wenn auch die brüske Form nicht gewollt, schrieb dieser Affäre die Stimmung des Kaisers zu, aus der heraus er ein paar Monate später das Krüger-Telegramm absandte.

Diese Politika wurden von persönlichen Eifersüchten getrieben oder gehemmt. In denselben Tagen holte sich der Neffe einen Korb beim Onkel, weil er die Kontrolle der Regatta übernehmen wollte, und rächte sich, indem er zur Wettfahrt um den Queen's Cup sein Schiff anmeldete, im letzten Moment aber zurückzog und so den Onkel zwang, allein zu fahren; ja, er beleidigte ihn neuerdings, indem er ihm sagte, er sei ja nie Militär gewesen. Ist es erstaunlich, daß in solchen Stimmungen, die sich auf die Gefolge übertrugen, jeder erfuhr, was der andre von ihm sagte? »He is an old peacock«, sagte Wilhelm. Eduard aber sagte witziger:

»He is the most brilliant failure in history.«

 

VIII

An Bismarcks Schreibtisch sitzt ein Mann, so zart und klein als jener mächtig, so elegant als jener zwanglos war, gemessen, müde, den Kopf meist gesenkt, den Bismarck fast immer zur Kampfstellung erhob, den Blick verschleiert; aber ein schön gewölbter Schädel, ein leises, kluges Gespräch zeigen die Gaben des alten Diplomaten. Er aß die Hälfte von dem, was Bismarck aß, dessen Portionen ihn heiter stimmten. In einem aber trat der Fürst seine genaue Nachfolge an: er übernahm mit 75 das Amt, das man Bismarck mit 75 unter dem Vorwand seines hohen Alters genommen hatte.

»Ich habe mir fest vorgenommen, mich über nichts zu ärgern, und lasse alles laufen. Wollte ich es anders machen, so müßte ich wöchentlich mindestens einmal den Abschied einreichen« (W. 2, 365). Warum sollte sich der vermittelnde Greis noch erregen? Reichsunmittelbar, Onkel des Kaisers, durch die Berufung keineswegs geehrt, bei voller Windstille auf dem Meer des Ehrgeizes nur noch durch kleine Brisen der Neugier bewegt, so ließ er sich zweimal bitten, ehe er kam, nachdem seine Frau von Kaiser und Kaiserin die Freiheit vergeblich erbeten hatte. Holstein hatte ihn erfunden, weil er ungefährlich war, der Großherzog von Baden wurde als Ratgeber vorgeschoben, damit ihn Eulenburg in jener Jagdszene nennen konnte. »Ich habe keinen andern«, sagte der Kaiser.

Fürst Chlodwig unterschrieb sechs Jahre. Beherrscht von Holstein, der ihn noch leichter lenkte als den straffen Soldaten vor ihm, war er beraten von seinem äußerst feinen Sohn Alexander, einem der letzten wahren Prinzen der Epoche. Aber Alexander war Dekadent und ohne Einzelkenntnisse, Holstein tieferfahren und unermüdlich, der Prinz nobel und Weltmann, der Baron verschroben und Intrigant, vor allem gefürchtet im Amt und bei den Missionen, und so aufs neue, nur noch entschiedener der Herr der Wilhelmstraße.

Lautlos ging der Kampf aller gegen fast alle weiter: Holstein haßte den Kaiser, der Kaiser liebte Eulenburg, Eulenburg begann Holstein zu hassen, Hohenlohe haßte und liebte niemand mehr, mißtraute allen dreien und glaubte nicht einmal mehr zu schieben, als er geschoben wurde. Im Hintergrunde scharrte ein neues Rennpferd den Sand, ungeduldig, wann man es in die Bahn galoppieren lassen würde. Wie zwischen den Dreien regiert wurde, dafür ein Beispiel:

Der Kaiser, der seit seiner verärgerten Rückkehr aus London wiederholt dem englischen Militärattaché gedroht und davon üble Folgen vermerkt hat, sucht, zu Ende desselben Jahres 95, in einer plötzlichen Laune die Stimmung zu drehen und sagt dem Oberst Swaine: »Sie hätten ruhig die Dardanellen forcieren sollen, ich hatte vorgesorgt, daß Österreich und Italien mitgingen« (E. 2, 182). Holstein, der diese Bemerkung von Eulenburg sofort erfährt, berechnet richtig, wie rasch sie von Berlin über London nach Petersburg gehen und dort verstimmen wird, denn derselbe Kaiser hatte ja Konstantinopel den Russen immer freigegeben.

Nun wird dieser eine gefährliche Satz für ihn Signal zu einem kleinen Feldzug: »So kann es nicht weitergehen,« schreibt er an Eulenburg, der nun Botschafter in Wien ist. »Heute warne ich Sie wieder. Sorgen Sie, daß die Weltgeschichte Sie nicht einst male als den Schwarzen Ritter, der zur Seite des kaiserlichen Wanderers war, als dieser auf den Irrweg einlenkte!« Dieser pathetischen Prophetie folgt die allzu wahre Glosse des heimlichen über den öffentlichen Regierer: »Der Kaiser sein eigner Reichskanzler, das würde unter Umständen bedenklich sein, nun aber gar bei diesem impulsiven und leider ganz oberflächlichen Herrn, der keine Ahnung von Staatsrecht hat, von politischen Vorgängen, von diplomatischer Geschichte und von Menschenbehandlung.«

Nun richtet Holstein seine Geschütze zugleich nach Wien und Rom, bombardiert auch Bülow, den dortigen Botschafter, mit Briefen, schlägt vor, Eulenburg soll den alten Hohenlohe, der bald in Wien zu Besuch erwartet wird, zu einem Schreiben an den Kaiser aufputschen, indem er sich Einmischungen verbittet, legt Skizze zu diesem Brief gleich bei, regt von Berlin aus Bülow in Rom an, nach Wien an Eulenburg in französischer Chiffre zu drahten, und drahtet selber fortgesetzt nach Wien, um seine Briefe nach Wien und Rom zu kommentieren.

Da es ihm nicht gelingt, ändert Holstein den Kurs: Frühjahr 96 nimmt er den Kampf gegen Hohenlohe, Eulenburg und den Kaiser selber auf. Sein Mut ist im Hinterhalt gestiegen, sein Tempo verdoppelt sich, sein Größenwahn kulminiert. Um diese Zeit des herzlichsten Briefwechsels nennt er privatim seinen Freund Eulenburg den »Mann mit dem kalten Blick der Schlange«, läßt, um ihm zu schaden, in der Presse melden, er sei zum Kanzler ausersehen, versucht bei Hohenlohe »das System der Einschüchterung gegen den Kaiser durchzusetzen«, was dieser ablehnt (Al. 318), reicht alle paar Wochen ein neues Abschiedsgesuch ein, wobei er immer gleich seinen Schreibtisch ausräumt, lanciert vergiftete Artikel gegen den Kanzler, leugnet deren Autorschaft in einem Brief an Eulenburg ab, den er nicht unterschreibt, verbrennt Papiere, trennt sich von Kiderlen, den er noch eben als einzig möglichen Staatssekretär bezeichnete, und macht in seiner geschäftigen Wut nur den einen Fehler, der ihn allein als Diplomaten disqualifiziert: er traut auf Eulenburgs Verschwiegenheit.

Der aber rächt sich auf Ritterart. Als Holstein ihm schreibt: »Ich vermute, daß eine Krisis, wenn sie kommt, ganz rasch kommen wird, um die jetzige Erregung von S. M. auszunutzen und Ihnen keine Zeit zu geben, ihn wieder zu beruhigen,« da nimmt Eulenburg diesen sekreten Brief, schickt ihn originaliter an den Kaiser und fügt hinzu: »Spaßhaft ist die Schlußbemerkung von Holstein. Es geht beinahe daraus hervor, daß alles Angst hat, wenn ich komme! ... Aus der Entfernung kann ich jetzt nur bitten, daß E. M. keine raschen Entschlüsse fasse.« Mit diesem Verrate enthüllt er vor dem Kaiser Holsteins Intrigen zugleich mit seiner eignen Unschuld. Furchtbar wird er das zehn Jahre später zu bereuen haben.

Inzwischen bleiben sie mit lächelndem Haß beieinander. Holstein: »Ich kann von Ihnen sagen, daß Sie mir zu allen Zeiten ein treuer Kamerad gewesen sind.« Eulenburg: »Was Sie mir am Schlusse schreiben, rührt mich tief ... es atmet eine Freundschaft, die – ich vielleicht ein wenig verdiene, für die ich Ihnen aber herzlich danken möchte.« Acht Tage später in sein Tagebuch: »Holstein gehört in eine leere Box im Stalle, die für bissige und keilende Gäule reserviert ist« (E. 2, 204).

Abwechselnd schmollen sie und versöhnen sich wie Weiber. Anfang 97 schmollt Holstein: er ist gegen den Grafen Goluchowski, den neuen österreichischen Minister des Äußern, weil dieser reiche, glänzende Pole, mit einer Prinzessin Murat vermählt, vor 20 Jahren den unbekannten Baron Holstein schlecht behandelt hat, als sie beide noch Sekretäre in Paris waren. Jetzt tadelt er den Freund wegen seines Einverständnisses mit diesem Minister, worauf ihm Eulenburg in zwei Briefen von echter Unechtheit mit Rücktritt droht: »Werde ich getadelt, so tritt meine sensible Künstlernatur in den Vordergrund, ich erlahme und mache die Sachen noch schlechter. Es wird Ihnen also sehr leicht werden, mich wegzugraulen ... Ich stehe Ihnen viel zu nahe, habe Sie persönlich viel zu lieb, als daß ich anderes als einen kurzen Ärger empfinden könnte ... Nur darin bleibe ich stehen, daß es mir unmöglich ist, dienstlich zu existieren, wenn ich nicht Vertrauen und Anerkennung von Ihnen und dem Amte habe ... Dann tritt meine sensible Künstlerseite in den Vordergrund – und alles andere stößt mich ab, treibt mich fort. Ich enthülle Ihnen ganz offen mein Inneres. Wollen Sie mich haben, – so schonen Sie mich!«

In solchen Zerrungen zweier Neurastheniker wurde damals die auswärtige Politik des Deutschen Reiches hin und her gerissen.

 

IX

In fünfjährigen Besuchen hatte der Kaiser die englische Stimmung wider Deutschland erregt: durch sein Auftreten gegen den Onkel hatte er den Hof, gegen Salisbury das Kabinett gekränkt, durch Geschwätz die Gesellschaft, durch Drohungen die Presse, durch Indiskretionen den Mann auf der Straße, der davon las. Die Lage in Transvaal, wo England im Begriffe war, zuzugreifen, ließ des Kaisers Stimmung zur Bedrohung steigen, im Oktober 95 überschüttete er den Oberst Swaine in Berlin mit Vorwürfen: »Wegen ein paar Quadratmeilen mit Negern und Palmen hat England seinen einzigen Freund, den Deutschen Kaiser, beinahe mit Krieg bedroht! Ihr Verhalten zwingt mich förmlich, mit dem Zweibund zu gehen. England muß sich entscheiden, ob es für den Dreibund ist oder gegen ihn.«

Diese erstaunliche Form, ein Bündnis anzubieten, hinter deren Drohungen mit der Gegenpartei nichts steckte, wurde von Hohenlohe rasch drahtlich bis in ihr Gegenteil abgeschwächt (A. 11, 5); aber Swaines Bericht wurde in London für die Mitglieder des Kabinetts, und wohl nicht nur für diese privat gedruckt, der Finanzminister nannte ihn »das wichtigste Dokument, das man uns je aus Berlin gesandt hat«.

Trotzdem ließ Holstein den Kaiser um Weihnachten nochmals wegen des Beitritts zum Dreibund anklopfen, was dieser wiederum mit dem großen Säbel tat: »Sonst könnten Sie leicht einmal den Kontinent geschlossen gegen sich finden!« London schwieg, und eben das war Holsteins Absicht gewesen: die Engländer ins Unrecht setzen, ja nicht jetzt ihr Partner werden, zeigen, daß man sie nicht braucht! Diese labyrinthischen Wege zu schwankenden Zielen, wie sie seiner pathologischen Natur entsprachen, waren den andern drüben ungangbar. Als aber Marschall auf Holsteins Wunsch am Sylvestertage dem neuen englischen Botschafter Lascelles ähnlich wie neulich der Kaiser dem Oberst gedroht hatte, kam ein paar Stunden später aus Afrika eine Art von Bestätigung: Jameson, ein englischer Arzt, hatte im Einverständnis mit Cecil Rhodes und mit den Hetzern von Johannesburg von Kapstadt her einen Überfall auf die Burenrepublik Transvaal improvisiert.

Das war ein großer Neujahrsmorgen für Holstein: Albion endlich erwischt! Jetzt kann er regieren: Drahtbefehl an den Konsul in Pretoria, von dem deutschen »Seeadler« Mannschaften zu requirieren. Drahtanfrage an den Botschafter in Paris: ob Frankreich diesen Konfiskationen durch England ruhig zusehn wolle. Plan einer kontinentalen Verständigung (Holsteins Denkschrift). Drahtbefehl an den Botschafter in London: »Falls E. D. den Eindruck haben, daß diese Völkerrechtsverletzung (von der Regierung) gebilligt wird, wollen Sie um Ihre Pässe bitten.« Sofort leugnet London – was Holstein voraussehen mußte – jeden Zusammenhang mit dem Überfall ab, Hatzfeldt muß seine scharfe Note trotzdem einreichen: da trifft in Europa die Nachricht vom Siege des Präsidenten Krüger über die offiziösen Abenteurer ein, Hatzfeldt zieht seine Note in der Nacht zurück, die zufällig noch uneröffnet, die Rücknahme wirkt in London befremdend.

Noch glücklicher ist der Kaiser: Schadenfreude, Schutz der Schwachen, die deutsche Flagge in Transvaal, Europa gegen England! Am 2. drahtet er dem Zaren: »Niemals werde ich den Engländern gestatten, Transvaal zu unterdrücken«, und er sagt noch drei Jahre später zum französischen Botschafter: »Damals war die englische Flotte unvorbereitet ... Hätten sich damals alle Staaten uns angeschlossen, so wäre etwas zu machen gewesen« (A. 15, 407).

Zum 3. Januar beruft er Konferenz zum Reichskanzler, es erscheinen: der Kaiser, Hohenlohe, Marschall, die Admirale Hollmann und Knorr (vgl. Thimme, Europäische Gespräche 2,24). Der Kaiser eröffnet die Sitzung aufgeregt: Der Augenblick ist da, daß Deutschland sich das Protektorat über Transvaal erwerben kann. Mittel: Mobilmachung der Marine-Infanterie, Truppen nach Transvaal, Fußfassen in Delagoa-Bai, unter diesem Druck Konferenz zur Neutralisierung Transvaals, auf der Konferenz Führung gegen England, endend mit der bevorzugten Stellung für uns, die bisher England dort eingenommen. Beide Staatsmänner sind entsetzt, Hohenlohe sagt ruhig: »Das bedeutet den Krieg mit England.«

Der Kaiser, rasch: »Ja, aber nur zu Lande!«

Er hat also in seinem Plan die nächste Folge nicht berechnet: England werde der Landung deutscher Truppen draußen Gewalt entgegensetzen, neue Transporte abfangen; er wollte Sieg ohne Krieg. Auch die moralpolitische Unmöglichkeit sah er nicht, parteilos aus Freundschaft für die Buren zu vermitteln und zugleich Truppen mobil zu machen. Trotz lebhaften Widerspruches seiner Minister erklärt er sich nicht für überzeugt, gibt zunächst nach, besteht aber auf Entsendung eines Offiziers zur Aufklärung der Lage und sucht nach einem Aufsehen erregenden Schritt gegen England. Warnungen machen ihn nur noch böser, es war »eine überaus lebhafte und selbst dramatische Beratung«. Als kein Beschluß ihm genügt und niemand etwas einfällt, unterbricht der Kaiser die Konferenz mit dem Befehl an Marschall: »Fragen Sie Holstein.«

Holstein sitzt wie immer auf seinem Zimmer, lehnt Marschalls Aufforderung ab, herüberzukommen, da er den Kaiser nie treffen will, weist Marschall an den Referenten, den Kolonialdirektor Kayser. Warum zieht sich Holstein aus der Affäre? Seine Menschen- und Kaiserscheu ist nur eine Ursache und nicht die entscheidende. Er sieht vor sich den Staatssekretär aufgeregt nach einer Lösung suchen, die den um seine Triumphe gebrachten Kaiser irgendwie beruhigen könnte, hört in flüchtigen, halblauten Worten des Kaisers Pläne, fühlt die Wichtigkeit dieser Stunde, da nebenan die Leiter des Reiches kurzerhand über die Zukunft beschließen, – und da sollte er aus seinem Bau herauskommen, sollte an diesen Tisch treten, um vor den Ohren des Kaisers, wohl gar in einem Protokoll, das er mehr als den Teufel fürchtet, Kanzler und Staatssekretär eine Verantwortung abzunehmen, die er seit 20 Jahren meidet? Den Kaiser zu beruhigen, sollte er unternehmen, er, den er selber gereizt hat? Hinüber in dies Amtszimmer, um endlich doch die Schwelle der Verantwortung zu überschreiten? Niemals! Ja, man fragt sich, ob Holsteins Natur nicht auch die Deutung zuließe: den Kaiser sich bloßstellen zu lassen, da er diesen einzigen Rivalen längst unschädlich machen wollte.

Inzwischen findet der Kolonialdirektor den Ausweg: Glückwunsch an Krüger. Marschall atmet auf: das Quietiv für den Kaiser ist gefunden! Rasch einen Entwurf! Der Direktor schreibt, versieht das Blatt mit seinem Zeichen, Marschall kehrt in die Sitzung zurück, legt die Idee stolz als die seine mit der Begründung dar, wir müßten an die Völkerstimmung denken, dann liest er vor: »Ich spreche Ihnen meinen aufrichtigen Glückwunsch aus, daß es Ihnen, ohne an die Hilfe befreundeter Mächte zu appellieren, mit Ihrem Volke gelungen ist, in eigener Tatkraft gegenüber den bewaffneten Scharen, welche als Friedensstörer in Ihr Land eingebrochen sind, den Frieden wiederherzustellen und das Ansehen Ihrer Regierung gegen Angriffe von außen zu bewahren.«

Alles ist erlöst, nur der Kaiser hört diese Chamade nach seiner Fanfare mürrisch an und sagt: »Es muß noch etwas von der Unabhängigkeit hinein.« Rasch wird »das Ansehn der Regierung« in »die Unabhängigkeit des Landes« verschärft. Niemand wirft ein, daß diese Unabhängigkeit durch die Verträge vom Jahre 84 tatsächlich beschränkt war, niemand fällt ein, dem Ganzen die Spitze durch den Zusatz abzubiegen, der Einbruch sei Auflehnung gegen die englische Regierung, die ihn ja gestern abgeschüttelt hat. Marschall macht sein Zeichen, Hohenlohe vermeidet diese Zeremonie, der Kaiser unterschreibt, sofort geht die Depesche offen ab, Schluß der Sitzung.

Gleich darauf ringen zwei Männer darum, sie aufzuhalten. Der ehrliche Admiral von Knorr, schwerhörig, kommt erst nachher dazu, sie zu lesen, erkennt sofort die Gefahr und beschwört den Kaiser, sie nicht abzusenden. Tatsächlich läßt sich dieser durch heftige Voraussage der Wirkung in England jetzt doch beeinflussen, spricht nochmals mit Hohenlohe, erfährt aber, die Depesche sei schon auf dem Draht.

Zur gleichen Stunde tritt Marschall bei Holstein ein – ihre Zimmer sind benachbart wie in einer alten, guten Ehe –, zeigt ihm und dem anwesenden Baron Mumm die Depesche als Frucht der Beratung: nun ist Holstein doch entsetzt und rät, sie aufzuhalten. »Sie wissen nicht, was der Kaiser sonst noch getan hätte!« ruft Marschall aus und schildert die ersten Vorschläge. »Das also war das Minimum, was wir ihm konzedieren mußten.«

Die Wirkung war ohne Beispiel. Nie hat der Kaiser seinem Volke so aus der Seele gesprochen wie mit diesen Worten, die ihm irgendein Direktor in den Mund legte und die er wie eine Schlappheit widerwillig unterschrieb: einmütig applaudierte die Nation. In London freilich wurden die Deutschen in den Docks mit Knüppeln überfallen, aus Bureaus und Hotels zu Hunderten entlassen, deutsche Klubs geschlossen. »Es ist schwer, ruhigen Blutes von dieser Depesche zu sprechen«, schrieb die »Morning Post«. »Die rechte Antwort wäre Berufung unsrer Mittelmeerflotte nach der Nordsee. England wird es nicht vergessen und bei Fortsetzung seiner äußeren Politik in Zukunft immer daran denken.« Hatzfeldt, der es in London ausbaden mußte, wollte zurücktreten »wegen des unverständlichen Irrsinns, der die Wilhelmstraße befallen hatte« (Eck. 1, 278). Der Kaiser erhielt nach seiner eignen Erzählung Schmähbriefe und Drohungen aus der englischen Gesellschaft.

Der Prinz von Wales war konsterniert; er hätte vielleicht gern dem Neffen gesagt, was seinem Vorgänger Heinrich VI. dessen Onkel bei Shakespeare anrät: »Mit Schweigen, Neffe, treibe Politik!« Die nächsten Folgen im Kabinett: drohende Antwort Chamberlains über unzulässige Einmischung eines auswärtigen Staates. Fünf Tage nach der Depesche Begründung eines Fliegenden Geschwaders in der Nordsee. Nach einigen Wochen Nichterneuerung des Mittelmeer-Abkommens mit Österreich und Italien, worauf in Wien und Rom sich antideutscher Groll offen äußert.

Einige Tage nach der Depesche schreibt der Kaiser seiner Großmutter einen Entschuldigungsbrief, versichernd, er wollte nur »seinem Zorn gegen das Raubgesindel Ausdruck verleihen, das den friedlichen Absichten und Befehlen der Allergnädigsten Königin zuwider handelt ... Ich fordere jeden Gentleman auf, mir zu zeigen, wo sich irgend etwas gegen England richtet.« Ohne Wirkung. »Die Deutschen in der City«, schreibt noch nach mehreren Wochen der Botschafter an Holstein, »können fast keine Geschäfte mehr mit Engländern machen. In bekannten Klubs, so namentlich im Turf, herrscht maßlose Erbitterung ... Hätte die Regierung ebenfalls den Kopf verloren oder aus irgendeinem Grunde den Krieg gewünscht, so hätte sie dabei die ganze öffentliche Meinung hinter sich gehabt.« Salisbury bereite sich »auf den Fall vor, daß es entweder zum Bruch mit uns kommt, oder ... der Dreibund in absehbarer Zeit auseinanderfällt ... Ernster ist das offenbare Bestreben einer Annäherung an Frankreich.«

Die schwerste Wirkung der Depesche lag aber weder im Beifall der einen noch im Aufschrei der andern Nation, sondern in dem klugen Mißbrauch, den die Flottenkreise damit machten: Tirpitz ist es, der der Krüger-Depesche nachrühmt, sie habe mehr als alles andere »dem Volke die Notwendigkeit der Schlachtflotte gezeigt«.

 

X

»Eure Durchlaucht werden ergebenst ersucht, die Quote Ihres am 1. Januar erhobenen Quartalsgehaltes für die 11 Tage vom Datum Ihres Ausscheidens aus dem Reichsdienste bis zum letzten März wieder herausgeben zu wollen. Der Reichskanzler. Caprivi.«

Dies ist, nach Bismarcks Bericht, die einzige Unterschrift, die er von seinem Nachfolger zu sehen bekam. Befragt wurde er nie, besucht nur zu unpolitischen Zwecken. Zunächst war alles glücklich, daß man ihn los war, und Hohenlohe fiel es im Sommer 90 als neu auf, »daß die Individuen geschwollen sind, jedes einzelne fühlt sich. Während früher unter dem vorwiegenden Einflusse des Fürsten Bismarck die Individuen eingeschrumpft und gedrückt waren, sind sie jetzt alle aufgegangen wie Schwämme, die man ins Wasser gelegt hat.« Noch schöner ist das Bild, das der Kaiser in seinen Memoiren erfunden oder zitiert hat: es war damals, wie wenn man einen Granitfindling von einer Wiese wegwälzt und unter ihm nur Gewürm entdeckt.

Trotzdem hat ihm der Alte in den acht Jahren seiner Verbannung stärkere Widerstände bereitet als vorher im amtlichen Zwiespalt, und Eulenburg übertreibt es keineswegs, wenn er seinem Freunde schreibt: »Ich halte den Übergang zur Republik nicht für einfach. Er würde vielleicht erfolgt sein, wenn Bismarck jetzt 50 Jahre wäre, Cromwell-artig.« Die wenigen, die ihn von innen her erkannten, bestätigen, daß ihm trotz seines Königsglaubens nach allem, was geschehen, zur Revolte nur die Jugend fehlte.

Nicht zum Widerspruch. Vier Wochen nach der Entlassung fing er an, in den »Hamburger Nachrichten«, zugleich in Gesprächen, die nach draußen dringen sollten, eine Kritik zu üben, die namentlich im Ausland mehr Hörer fand als des Kaisers Worte. »Jeder Preuße«, sagte er, »hat das Recht, seine Meinung frei zu äußern, aber der Teufel holt ihn, wenn er es tut.« Mit grimmigem Zynismus wird er's gefühlt haben, wie sich auch hier die Waffe, die er selbst gegen das Volk geschmiedet hatte, gegen ihn richtete, der nun Volk war; nicht anders als jene andre, mit der er dem König die Macht gegeben, ihn am Ende selber zu stürzen. Denn keineswegs schien man geneigt, ihn frei gewähren zu lassen.

Den Deutschen, die lieber von Helden als von Menschenherzen sagen hören, war das Auftreten des alten Heros zuerst peinlich, sie hätten sich seinen goldenen Lebensabend zwischen Enkeln und Ehrenbürgerbriefen, vor allem aber eine herzliche Versöhnung mit seinem geliebten Kaiser gewünscht. Deshalb regten sich um diesen Hände, die vor der Nation alles ins gleiche, zugleich den Fürsten aus seinem Groll setzen wollten. Eulenburg, der seiner Anlage gemäß einräumte, er habe »warme Beziehungen nach beiden Seiten«, hatte nach einem Jahr den Einfall, der Kaiser sollte dem Fürsten Schloß Bellevue zur Wohnung anbieten, wenn er in den Reichstag ginge. »Weist er es ab, so akzentuiert er den Gegensatz, nimmt er es an, so ist er als Gast des Kaisers vor der öffentlichen Meinung in schwieriger Lage, wenn er unangenehme Opposition macht.« Dieser glatten Oberhofmarschall-Logik erwiderte Holsteins immer waches Mißtrauen: »Das Anerbieten von Bellevue würde als Zeichen von Furcht ausgelegt werden und die Gegner noch frecher machen.« Diese beiden Psychologen sahen gar nicht, daß Bismarck den Reichstag als Abgeordneter nie betreten, das Schloß aber leicht mit glaubwürdiger Begründung ablehnen konnte.

Doch Holsteins Todesangst vor Bismarcks Rückkehr war wieder aufgeweckt, und so beschwört er in langen Briefen Ende 90 den Freund: der Kaiser spräche jetzt tatsächlich von Schloß Bellevue, um Gottes willen herkommen, schreiben! Eulenburg eilt in der Tat, seine eigne Flamme zu dämpfen, wiederholt in ebenso langen Briefen an den Kaiser Holsteins Argumente und warnt: »Experimente so gefährlicher Art können bei schlechter Stimmung im Lande zu Katastrophen führen ... Anderseits würde das Waffenstrecken vor Bismarck das furchtbarste Fiasko der Monarchie bedeuten.«

Und doch läßt die Frage das schlechte Gewissen des Intriganten nicht los, der seinen alten Gönner um den neuen verraten hatte: Eulenburgs zweiter Einfall, den er bei Aufhebung des ersten dem Freunde mitteilt, ist vollends grotesk: »Wenn der Kaiser einmal nach Kiel kommt, so könnte Fürst Bismarck auf dem Bahnhof in Friedrichsruh stehn, während 3 Minuten, und der Kaiser ihm die Hand geben. Keine Abmachung ... nach kurzer Zeit wieder ein Artikel in den Hamburger Nachrichten ... aber die Handreichung ist gewesen. Zu gleicher Zeit müßte eine demonstrative Anerkennung für Caprivi erfolgen ... Das Anerbieten des Schlosses Bellevue fände ich ... nur dann unmöglich, wenn der Kaiser dort Visite macht, das wäre Einflußnahme.« Bezaubernd, wie dieser Hofmann den alten Gedanken mit einer Paraphrase liebreich zu Grabe leitet, den Fall einer Einladung konstruiert, bei der der Wirt den Gast nicht grüßt; wie er dann aber doch zur liebgewordenen Gewohnheit der Bahnsteige zurückkehrt, nur 3 Minuten, und wie er im Geiste neben der amtlichen Depesche am nächsten Tage gleich die Verleihung eines Großkordons an Caprivi liest, der den Orden als Erinnerungsmedaille an den Perron von Friedrichsruh erhalten soll!

Der Kaiser hört nur, was ihm die Götter über Bismarcks Entlassung sagen: der Zar, der muß es wissen! Er reicht dem Kaiser nach dessen Erzählung die Hand: »Le Prince avec toute sa grandeur n'était après tout rien d'autre que ton employé ou fonctionnaire. Le moment, ou il refusait d'agir selon tes ordres, il fallait le renvoyer.«

Die Halbgötter haben's schwerer. Was soll man tun, wenn man, wie Waldersee, Kommandierender in Altona wird oder wie Kiderlen Gesandter in Hamburg? Den Alten besuchen oder schneiden? Kiderlens Besuch beim Fürsten, der ihn wenige Jahre vorher entdeckt hatte, dauerte 30 Minuten, worauf er beklagt, daß man ihm nichts vorsetzte, denn nur im Punkte des Appetites trug er den Beinamen des Neuen Bismarck mit Recht. Waldersee, der erst bei Eulenburg angefragt hat, ob er darf, soll oder muß, erhielt die Marschroute, »besuchen, aber ein politisches Wort selbst da vermeiden, wo es nur ein Kutscher, ein Diener, geschweige denn ein Mitglied des Hauses vernehmen könnte«, das solchen Verrat am Kaiser doch gleich in die Zeitung brächte. So setzt der General, der einst Bismarcks Vertrauen genossen, seine Besuche sehr selten und behutsam ins Werk, schwärmt laut von ihm, läßt in seiner Presse zugleich jede Beziehung leugnen, so daß der Alte bemerkt: »Ich habe bei seinen Besuchen immer das Gefühl, er wolle oder solle nachsehen, ob es schon Zeit ist, einen schicklichen Kranz zu bestellen.«

Im dritten Jahre des Boykottes zog sich's zusammen.

Anfang Juni 92 läßt der Kaiser dem Alten durch Waldersee sagen, er wäre zur Versöhnung bereit, aber »der erste Schritt muß unter allen Umständen vom Fürsten getan werden. Er muß in ganz unzweideutiger Weise schriftlich direkt an mich Bitte oder Wunsch formulieren, wieder mit mir in Beziehung treten zu dürfen.« Auf diese Botschaft erwidert der Alte dem Vermittler: »Ich bin die Treppe heruntergeworfen worden, kann also nicht um Einlaß bitten, sondern muß eine Einladung abwarten.« Als der Agent fort ist, ruft er gewiß bei geschlossenen Türen: Da lach ick över!

Als er den Kaiser so abwies, hatte er grade von einem Erlaß an alle deutschen Missionen erfahren, gerichtet gegen seine gedruckten Äußerungen, wobei zwischen dem Fürsten Bismarck früher und jetzt unterschieden, der jetzige also als schwachsinnig oder aufsässig verworfen wurde. Gleich darauf erschrickt man in Berlin über eine Reise, die der Fürst zur Hochzeit seines ältesten Sohnes vorbereitet, wobei er sich durch den ihm persönlich befreundeten Botschafter, einen Prinzen Reuß, beim alten Kaiser in Wien zur Audienz anmelden läßt. Da erfindet Holstein einen Erlaß an den Botschafter, den Kiderlen applaudiert und Caprivi unterzeichnet: keinerlei Teilnahme an der Hochzeit, größte Zurückhaltung bei Besuchen, Mitteilung hiervon an den Wiener Minister des Auswärtigen, Verhinderung der Audienz beim Kaiser. Auf dringende Warnungen des Wiener Botschafters drahtet man ihm zurück, er sei persönlicher Vertreter des Kaisers und dürfe durch kein Entgegenkommen »Schwäche zeigen«. Zugleich Brief Kaiser Wilhelms an Franz Josef:

»Bismarck wird Ende des Monats in Wien eintreffen, ... um sich von seinen Bewunderern bestellte Ovationen bereiten zu lassen ... Du weißt auch, daß ein Hauptstück von ihm der geheime Vertrag à double fonds mit Rußland war, der hinter Deinem Rücken geschlossen, von Mir aufgehoben wurde. Seit der Zeit seines Rücktritts hat der Fürst in der perfidesten Manier gegen Mich, Caprivi, Meine Minister, Krieg geführt ... Er versucht mit aller List und Kunst, es so zu drehen, daß Ich als der Entgegenkommende vor der Welt dastehen soll. Als Hauptstück seines Programms in dieser Angelegenheit hat er sich eine Audienz bei Dir ausgedacht. Ich möchte Dich daher bitten, Mir Meine Lage im Lande nicht zu erschweren, indem Du den ungehorsamen Untertan empfängst, ehe er sich mir genähert und peccavi gesagt hat.«

Dieser Brief gehört zu den furchtbarsten Dokumenten einer versinkenden Zeit. Die Bosheit, mit der hier der Schöpfer des Reiches vom Herrn des Reiches, mit der das Genie vom Erben bei einem Dritten verklagt, verleumdet wird, damit dieser ihm nicht die Partie verderbe, der Ton des Herrn gegen den Untertan, dieser bellende Ton des Schwachen, der den Starken erschlagen wollte und noch immer atmen hört, all dies, nach einem grandiosen Wirken, nach einem Menschenalter unschätzbarer Dienste für die Familie Hohenzollern, geschrieben von einem Kaiser an den andern: welch eine Epoche, in der es solcher Sätze auf Kronen tragenden Briefbogen bedurfte, um eine Nation aufzurütteln!

Denn ohnegleichen war die Volksbewegung, die diese Ausstoßung des volkstümlichsten Deutschen weckte. Schon auf dem Wege nach Wien empfing ihn halb Berlin auf dem Bahnhof, und als der Fürst am Fenster den Rufenden erwiderte: »Soll ich etwa reden? Meine Aufgabe ist Schweigen!«, da rief die Stimme eines Unbekannten: »Wenn Sie schweigen, werden die Steine reden!« Ein Wort, pathetisch und kühn, wie es in Preußen vielleicht nie aus einer Volksmenge gedrungen ist.

In Wien: verschloßne Türen! Der Mann, der schon als kleiner hinterpommerscher Junker ein Selbstgefühl im Herzen und auf der Stirne trug, dem jede Bestätigung zu fehlen schien, der Mann, der dann ein Menschenalter lang gewohnt war, Furcht oder Ehrfurcht zu erregen: jetzt, als der 77jährige Bismarck, begegnet er zum erstenmal im Leben verlegenem Nein, man ist aufs Land gereist, kann leider nicht zur Hochzeitstafel kommen, der Botschafter, nicht Manns genug, um von heut auf morgen fortzugehen, hat sich vor Schreck ins Bett gelegt und krank gemeldet. Da endlich verjüngt sich dies alte Herz, der grimme Kämpfer wittert wieder Kampf, aufs neue hat er einen offnen Gegner, und er beginnt seine letzte Epoche mit dem einen Gedanken: Rache! Er findet ihren ersten Ausdruck auf sehr realistischem Wege, er gibt dem Chef der »Neuen Freien Presse« ein Interview, damit man andern Tages in Berlin und in Europa lese:

»Natürlich hat Österreich die Schwäche und Unzulänglichkeit unsrer Unterhändler beim Handelsvertrag ausgenutzt. Dies Resultat schreibt sich daher, daß bei uns Männer in den Vordergrund getreten sind, die ich früher im Dunkeln hielt, weil eben alles geändert und gewendet werden mußte ... Allerdings habe ich gar keine persönlichen Verpflichtungen mehr gegen die jetzigen Persönlichkeiten und gegen meinen Nachfolger. Alle Brücken sind abgebrochen ... In Berlin fehlt die persönliche Autorität und das Vertrauen. Der Draht ist abgerissen, der uns mit Rußland verbunden hat.« So ging es fort.

Die Berliner Regierung war außer sich. Die Bombe war geplatzt, Kaiser und Minister waren diesmal einmütig, man beschloß energische Abwehr, man schrieb in der offiziösen Zeitung: die Äußerungen Bismarcks verletzen das monarchische Gefühl und die Ehrfurcht vor dem Kaiser. In seiner Darstellung gewisser Vorgänge erkenne man solche Fehler, »daß alle, die diesen Dingen nahegestanden, mit Schrecken erkennen werden, daß die Erinnerungen des Fürsten bereits anfangen, sich völlig zu verwirren ... So stehen die Männer, denen die ehrenvolle Berufung zuteil geworden, das Werk des Fürsten Bismarck fortzuführen, vor der Aufgabe, ihre Arbeit vor allem zu schützen vor dem Manne, dessen Schöpfung sie erhalten sollen.«

Zwei Tage später, Bismarcks Erwiderung in seinem Hamburger Blatte: er verwahre sich gegen die Mitverantwortung, die darin läge, daß dies »noch sein Werk« sei.

In Berlin bekommt man das Zittern. Soll der Alte immer das letzte Wort behalten? Fünfstündiger Ministerrat, Beschluß: die Erlasse gegen den Fürsten zu publizieren. Zwar nicht den Kaiserbrief, den niemand kannte, aber den Erlaß an den Prinzen Reuß, den Bismarck bald den Uriasbrief nannte und in dem er vom Verkehr mit amtlichen deutschen Stellen ausgeschlossen wurde: den zu publizieren hatten die Minister in fünfstündigem Für und Wider beschlossen. Sie, die die Seele fremder Völker kennen sollten, um Bündnisse und Freundschaften zum Besten des Reiches zu schließen, diese engbrüstigen, ordenbesternten, goldbefrackten Ritter mit Furcht und Tadel, kannten das Herz des eignen Volkes, das sie lenken sollten, so wenig, daß sie dem Gefürchteten zu schaden hofften, den sie nun zum Geächteten und darum erst zum Liebling der Nation machten!

Das Volk stand auf. In allen Ländern und Klassen jubelte man, als man in Bismarcks Blatte zur Antwort las, in den auswärtigen Akten einer anderen Großmacht werde sich ein Gegenstück zu diesem Erlaß kaum finden. Nicht bloß die Rückkehr aus Wien, der ganze Sommer wurde zu einer Zeit der Huldigungen, wie sie die Deutschen ihrem Kanzler zur Zeit der Macht nie zugerufen hatten. Pilgerzüge zogen nach Friedrichsruh. Doch Bismarck selber war der erste, der die wunderliche Umkehrung seiner Stellung erkannte, er sprach es in München bei einem Fackelzug aus: »Früher war mein ganzes Bestreben darauf gerichtet, das monarchische Gefühl im Volke zu heben; in der amtlichen Welt wurde ich gefeiert, das Volk aber wollte mich steinigen. Jetzt jubelt mir das Volk zu, während mich andre Kreise ängstlich meiden. Ich glaube, das nennt man Ironie des Schicksals.«

Noch heiterer formte er diese letzte, vielleicht seine tiefste Erfahrung an, als er in Kissingen einem Festzug sagte: »Ich habe mit dem Reichstag jahrelang aufs Blut gekämpft, aber ich sehe, daß diese Institution sich gerade im Kampf mit Kaiser Wilhelm dem Ersten und mir abgeschwächt hat ... Ich war bestrebt, die Krone gegenüber dem Parlament zu stärken, – vielleicht habe ich dabei zu viel getan ... Wir brauchen die frische Luft der öffentlichen Kritik. Wenn die Volksvertretung kraftlos wird und zum Organ des höheren Willens, so kommen wir, wenn das so weitergeht, zum aufgeklärten Absolutismus zurück.«

Groß war der Umweg, schwer das Geschick, die Bismarck diese Erkenntnis erschlossen: aus Königsgefühl war er ein Leben lang gegen die Demokraten, aus Feindschaft gegen seinen vierten und letzten König wurde er im höchsten Alter ein halber Demokrat. Um so weiter wurde seine Partei, nun umfaßte sie zum erstenmal das größere Deutschland. Der Kaiser hatte ihn dem gemeinsamen Feinde buchstäblich zugeführt.

Der Kaiser hatte die große Partie verloren.

 

XI

Und doch war er entschlossen, sie zu gewinnen, sei es auch nur zum Schein. Da war also ein Mann in deutschen Landen, der ihm die Herzen wegfing, da war ein Nebenbuhler ohne Gottes Gnade, da war ein Feind, den sich die immer gefürchtete Revolte sichern konnte. Was tun? Eine Krankheit kam ihm gelegen.

Wochenlang hatte die Bismarck-Fronde im Herbst 93 ihm eine gefährliche Lungenentzündung des Alten verschwiegen, um jede Aussöhnung im Leben auszuschließen; als er sie doch erfuhr, vergaß der Kaiser Grundsätze und Trotz, tat jenen ersten Schritt, den er vom Fürsten verlangt hatte, und drahtete: »... In dem Wunsche, Ihre Genesung zu einer recht vollständigen zu gestalten, bitte Ich E. D., bei der klimatisch weniger günstigen Lage von Varzin und Friedrichsruh für die Winterzeit in Meinen in Mitteldeutschland gelegenen Schlössern Ihr Quartier aufzuschlagen. Ich werde nach Rücksprache mit Meinem Hofmarschall das geeignete Schloß E. D. namhaft machen.« Umgehender Korb: »In tiefster Ehrfurcht für Allerhöchst Dero huldreichen Ausdruck der Teilnahme ... aber am wahrscheinlichsten in der altgewohnten Häuslichkeit die Heilung finden werde.«

Trotz dieses fatalen Rückschlages dachte der Kaiser über neue Mittel nach; denn nichts, das darf man sagen, beunruhigte ihn in jenen Neunziger Jahren mehr als die Existenz Bebels, Eduards und Bismarcks. In diesen drei Männern sah er die einzigen Gefahren: gegen die Sicherheit von Thron, Reich, Popularität.

Im selben Winter, beim Ordensfeste 94, erscheint zum ersten Male Herbert Bismarck wieder im Schloß und wird nach dem Diner »durch seine Freunde vom Hof in die Nähe des Kaisers gedrängt. Der Kaiser sprach aber nicht mit ihm, darüber große Entrüstung unter den Bismarckianern ... Man hatte gehofft, eine Annäherung zu bewerkstelligen und damit Caprivis Stellung zu erschüttern« (Ho. 509). So, aus der Sphäre der Hofpolitik, entstand die neue Begegnung, denn nun konnte man dem Kaiser das Übergehen des Sohnes als Affront auslegen und einen neuen Schritt zum Vater hin anraten.

Der Kaiser beißt die Lippen zusammen, schlingt seine Feindschaft herunter und schickt einen zweiten Gruß, diesmal in Gestalt jener persönlichen Einladung, die Bismarck gefordert hatte. Gleich nach dem Ordensfeste trifft in Friedrichsruh ein Adjutant mit einer Flasche alten Steinberger Cabinets ein und mit einem Handschreiben, das den Fürsten zur Genesung beglückwünscht und für nächste Woche zum Geburtstag lädt. Man einigt sich, da Bismarck das Fest vermeiden will, auf den 26., doch ohne eine neue Kränkung des Gegners läßt er auch diesen Augenblick nicht vorbei: er lädt des Kaisers bedeutendsten Feind, Maximilian Harden, zu sich ein, von dem er weiß und wünscht, daß er's verbreite, und gießt ihm von dem Weine mit den Worten ein: »Sie meinen's doch ebenso gut mit dem Kaiser wie ich.« Dann reist er nach Berlin.

In die Wilhelmstraße ist der gellende Ruf gefahren: ›Der Löwe kommt!‹ Mit tödlichem Schreck purzelt alles durcheinander, und da nun das Furchtbare, was man 4 Jahre zu verhindern wußte, in 4 Tagen Ereignis werden soll, haben die Hauptakteure nur noch Zeit, zu chiffrieren, Holstein, Kiderlen, Marschall drahten an Eulenburg in langen Depeschen, Briefe fliegen nach, um das Schlimmste: die Wiederkehr zu hindern. Caprivi gesteht, daß er nicht informiert war, »klagt mit Resignation«, seine Gegner triumphieren, Hohenlohe sagt eine Schädigung der Monarchie voraus, bis am letzten Tage Holstein mit dem seekranken Satze untertaucht: »Wenn Bismarck selber oder durch seine Kreaturen zur Macht gelangt, dann gibt es ein Blutbad, dem wohl keiner von uns allen entrinnt!«

Noch übler fühlt sich der Kaiser. Sollte der Alte nicht peccavi sagen? War er nicht der Reichsfeind? Trotzdem ist Wilhelms Neigung zu Regie und Prunk viel zu groß, als daß er nicht selbst aus dieser Niederlage ein Schauspiel machen müßte. Um aber der Welt zu zeigen, daß morgen nur ein »Generaloberst im Range eines Generalfeldmarschalls« zu Besuch kommt, wird alles militärisch befohlen, Gefolge im Dienstanzug mit Achselstücken und hohen Stiefeln. Er selber – den hier der jüngere Moltke vortrefflich beschreibt (M. 166 f.) – läuft von früh an in voller Nervosität herum, verfehlt die richtige Treppe, läßt dienstliche Anfragen ohne Bescheid, wandert eine Stunde lang ruhelos durch die für den Fürsten bestimmten Zimmer, während die Mädchen noch Staub wischen, stellt die Blumenvasen um, nun zur Ehrenkompanie hinaus, abgeschritten, nach jedem einzelnen gefragt, ob er schon da sei: lauter Zeichen der Verlegenheit und einer Angst, um die man ihn bedauern möchte. An diesem Vormittage büßt der Kaiser wirklich ab, was er vor zwei Jahren dem Alten angetan.

Während sich das Hauptquartier im Vorzimmer aufstellt und man hier ein Album mit Bildern aus dem Stück »Der neue Herr« findet, das eine boshafte Fee hier und heut vor Bismarcks Augen breiten möchte und das Moltke rasch verschwinden läßt, läuft der Kaiser nebenan in seinem Zimmer auf und nieder, denn er will den Fürsten allein empfangen. Ist er so unsicher? Sucht er, der aller Augen auf sich zu ziehen nicht müde wird, sich in dem Augenblicke dieser Kapitulation einem Dutzend Zeugen zu entziehen, die eine Blässe, ein Zucken der Lippen merken und erzählen könnten? Zwischenfall: Meldung von der Bahn, der eben eingetroffene Fürst hat seinen Sohn mitgebracht. Eine neue kleine Bosheit des Alten: man empfängt die Firma Bismarck oder keinen. »Das Hofmarschallamt war in großer Aufregung, wie man sich mit diesem unerwarteten fait accompli abfinden solle.« Störung des einsamen kaiserlichen Wanderers, der sein Gespräch memoriert. Der Kaiser, verdutzt, befiehlt, Graf Herbert soll im Vorzimmer bleiben und nicht mit dem Fürsten hereinkommen.

Doch da rollt schon das Hurra die Linden herauf, mit großer Bedeckung hat man den Staatsgefangenen vor und hinter dem Wagen eingeschlossen, neben ihm sitzt Prinz Heinrich, das Brausen schwillt an, der Wagen kommt in Sicht, alles eilt an die Fenster, den Fürsten aussteigen, die Front abschreiten zu sehen. Nur der Kaiser steht in seinem geschlossenen Zimmer allein, ans Fenster traut er sich noch nicht, er traut wohl auch den Ohren kaum, denn wann hat er in diesem 35jährigen Leben das Hurra seines Volks gehört, ohne die Wollust zu fühlen: Dies alles gilt Mir! Wenn es zuerst seinen Vätern galt, so stand er doch dabei, als kleiner, dann als großer Prinz. Heut aber kommt er sich ausgeschlossen vor, sein Volk, sein eigner Hof spannt alle Blicke nach dem einzigen Mann, den er nicht überwinden kann in seinem Reiche, und er, der Herr, den unter den Millionen allein Gottes Gnade erleuchtet, er steht, den Schmerz dieses Freudenrufes einzusaugen, mit vorgebeugtem Kopfe mitten im Zimmer, wie einer, der die zwei Meter zum Fenster mit seinen Hörnerven überwinden will. In diesen Minuten rettet ihn nur der eine Gedanke: um drei komme Ich dran!

Als Bismarck in Kürassier-Uniform am Arm des Prinzen Heinrich das Vorzimmer betritt, überragt er diesen Führer um Haupteslänge. Vorstellung mit Zwischenfall. Oberst von Kessel. »Kessel? Mir scheint, Sie sind kleiner geworden seit damals.« Sie kommen ihm nämlich alle viel kleiner vor, aber das sagt er nicht. Fermate. Der Lakai nimmt den Mantel ab, Handschuhe, große Fermate. »Wollen E. D. nun zu S. M. hineintreten?« Stumme Verbeugung. Flügeltüren. »Der Kaiser, der mitten im Zimmer stand, trat ihm rasch mit ausgestreckter Hand entgegen, die der Fürst, sich tief verneigend, mit beiden Händen ergriff. Da beugte sich der Kaiser vor und küßte ihn auf beide Wangen. Die Türen schlossen sich, die beiden waren allein.«

War das ein Judaskuß? Durchaus nicht. Es war nur ein Kuß aus dem Schauspielhaus.

Draußen rief die Menge Hurra und Hoch, »Deutschland, Deutschland« wurde gesungen, nach zehn Minuten ließ der Kaiser die Prinzen holen, dann Frühstück allein mit Kaiser, Kaiserin und Heinrich.

Drei Uhr: Ausritt des Kaisers mit Gefolge: das war seine Revanche. Also kannte er doch seine Untertanen? Sie schienen toll: Durch Linden und Tiergarten wälzte sich zu Fuß und Wagen, quer durch die Schutzleute ein dankbares Volk, das seinem Heldenkaiser Bewunderung, Verehrung, Liebe selbst zuschrie: »Hoch der geliebte Kaiser! Der edle Kaiser! Unser großmütiger Kaiser!« Lauter schriftdeutsche Worte aus goldgeränderten Büchern, Platitüden des Herzens, das seinem angestammten Herrn die Krone des Volkes zu Füßen legen wollte. Der Kaiser schlürft es ein, er kann nicht genug davon haben, reitet bis in die volle Dunkelheit, bis sechs.

Darauf kleines Diner in den Zimmern des Fürsten, mit Herbert und Gefolge, ungeniert, herrliche Weine, der Alte erzählt »mit seiner leisen Stimme« Geschichten von der Kaiserin Augusta, und wie Tyras einmal beinah den Großherzog von Weimar angepackt hätte, alles lacht, man spielt Heitere Geschichten aus Deutschlands großer Zeit, bis die Familie Bismarck zum zweitenmal auf unhöfische Weise sich meldet: beim Braten heißt es, Graf Wilhelm sei draußen, der Kaiser will für ihn nachdecken lassen, doch Bill ist schon wieder fort, wird verfolgt, trifft schließlich zum Kaffee ein, so daß der Alte am Ende doch eine halbe Stunde zwischen seinen Söhnen sitzt, im Schloß der Hohenzollern. Ja, an diesem Siegestage tut er sogar, was er nie getan, er raucht, vielleicht um den Witz von der Friedenspfeife auszuschließen, mit seinem Kaiser eine Zigarette.

Da sitzt er, an die Achtzig, von einem unausstehlichen Kragen geplagt, schwer in einen Sessel geworfen, durch die kleine Papierzigarette komisch entstellt, und blickt, vom Wein belebt, aus den oft etwas tränenden Augen mit faustischem Blick und Mephistos Gedanken in die Runde: drei Fuß von ihm der schmale Kaiser als Husar, mit nervösen Fingern an seinem Schnurrbart zupfend, viel lachend, etwas jungenhaft, und der da drüben, das ist Moltke, der sieht auch nicht aus wie sein großer Onkel. Jener dort, das ist der kleiner gewordene Kessel, der Lange ist Plessen: lauter Betrüger!, denkt der Alte. Gut, daß Herbert und Bill mit ihrem Atem die Hofluft reinigen! Sind es wirklich erst vier Jahre? Haben sie nicht inzwischen mehr ruiniert, als man in zwanzig aufbauen konnte? Gute Absicht freilich hat der Kaiser, es ist ja sein Haus und Erbe, wie sollte er da nicht gute Absicht haben! Nur wie man es machen soll, weiß er nicht, und heute, wo er nur von Pferden, Wetter und Uniformen sprach, heut konnte er für sein Sinnen in diesen Stunden mehr gewinnen als in des Jahres Einerlei.

Meldung, Wagen, Rückfahrt mit dem Kaiser zur Bahn, Bismarck sitzt rechts. Abfahrt. Der Kaiser, erleichtert: »So. Jetzt können sie ihm Ehrenpforten bauen, ich bin ihnen immer eine Pferdelänge voraus!«

Der Besuch hatte 8 Stunden gedauert, die Feindschaft 8 Jahre, heut war kurze Waffenruhe, noch volle vier Jahre hat der Alte vor sich. Man war noch nicht am Ende.

 

XII

»Jupiter Ammon! An der Last der dämonischen Natur Bismarcks trägt Deutschland schwer ... alles verdunkelnd oder das Land durch Flammen erhellend, die nicht die Sonne sind. Sein Bleiben unmöglich, sein Gehen unmöglich!« In diesem schönen Bilde gibt Eulenburg sich Rechenschaft über die Gestalt des verzauberten Alten.

Der Kaiser stöhnte. Er sah nicht, auf welch einzigem Wege er den Fürsten gewinnen konnte: durch vertrauliche Fragen, durch Bitte um sachlichen Rat, den niemand in der Welt ihm besser zu geben wußte. Doch dieser Weg war ihm versperrt, er hätte so dem andern eine Überlegenheit zuerkannt, deren Bewußtsein ihn umbrachte; also tut er das Umgekehrte, bleibt unpolitisch, beim Gegenbesuch im Februar führt er dem Fürsten zwei Grenadiere vor, einen in der bisherigen, einen in der neuen Gepäcksausrüstung, und nun erbittet er wirklich einen Rat: »Welche Ausrüstung halten Durchlaucht für praktischer?« Kann man ihn ärger reizen? Bismarck fährt fort zu kritisieren.

Im nächsten Jahre: 80. Geburtstag. Großer Besuch mit Truppen in Friedrichsruh. Großer Auftritt des Kaisers zu Pferde, der auf diese Art zu Bismarck heruntersprechen kann. Goldener Ehrenpallasch als »Deutschlands Dank«. Statt jeder Gegenrede ironische Antwort: »Meine militärische Stellung E. M. gegenüber gestattet mir nicht, meine Gefühle weiter auszusprechen. Ich danke E. M.« Was er in solchen pseudo-historischen Momenten empfand, schildert er andern Tages: »Während der Kaiser gestern im Küraß hoch zu Roß vor mir hielt und mich anredete, mußte ich immer einen Regentropfen betrachten, der langsam über seinen blanken Küraß herunterlief.«

Als bei einem späteren Besuch in größerem Kreise Bismarck vom dritten Napoleon, von seinen Verfassungsplänen erzählt und grundsätzlich die Garde anführt, auf deren Schutz er Napoleon für alle Fälle hingewiesen, fragt der Kaiser, der von dem im Lehnstuhl sitzenden Alten entfernt sitzt, über den Tisch weg dazwischen: »Wer kommandierte denn damals das Pariser Gardekorps?« Bismarck, den jede schiefe Frage nervös macht: »Darauf kommt es gar nicht an. Napoleon konnte sich unter allen Umständen auf sie verlassen. Wer sie kommandierte, das ist ganz gleichgültig. Ich erinnere mich ...« und erzählte weiter (M. 203).

Solche Akte der Erziehung vor Zeugen vergißt ihm der Kaiser nie.

Mit steigender Sorge blickt der Achtzigjährige in das Getriebe. In Hamburg sagt er, einen neuen Überseedampfer betrachtend, zu Ballin: »Sie sehen mich ergriffen und bewegt. Ja, das ist eine neue Zeit – eine ganz neue Welt.« Verkannte er die Expansion dieser neuen Welt, so erkannte er zugleich ihre Gefahren für Deutschland, immer dunkler wurden seine Vorgefühle, er sagte zu Radowitz: »Ich sehe, wie meine Sache durch ungeschickte und kurzsichtige Leute dem Verfall zugeführt wird« (W. 2, 357).

In solchen Stimmungen liest er Oktober 96 bei einer Krisis scharfe Angriffe in liberalen Blättern, warum er sich damals mit Rußland nicht vertragen habe: da reißt ihm die Geduld, und er läßt in einem Artikel drucken: »Bis zum Jahre 90 waren beide Reiche in vollem Einverständnis darüber, daß, wenn einer von ihnen angegriffen würde, der andere wohlwollend neutral bleiben sollte. Das Einverständnis ist nach dem Ausscheiden des Fürsten Bismarck nicht erneuert worden ... Es war Graf Caprivi, der die Fortsetzung jener gegenseitigen Assekuranz ablehnte, während Rußland dazu bereit war ... So entstand Kronstadt mit der Marseillaise und die erste Annäherung zwischen dem absoluten Zarentum und der französischen Republik, unsrer Ansicht nach ausschließlich durch Mißgriffe der Caprivischen Politik herbeigeführt.«

Er kennt den Kampf, den er mit dieser Enthüllung heraufbeschwört, er bricht ihn vom Zaune, im 82. Jahre. Holstein bebt: Vor aller Welt will er uns blamieren? Er setzt einen Artikel im Reichsanzeiger durch über »Verletzung strengster Staatsgeheimnisse und Erschütterung des Vertrauens der Mächte in die deutsche Vertragstreue«. Ein taktischer Fehler: denn eben damit gestand man eine Intrige zu, die gar nicht existierte, Wien wußte alles längst, und nun rief man durch ganz Deutschland: Warum wart ihr Nachfolger so dumm?

Aber der Kaiser! War das die Antwort auf seine Gnade? Will denn der Alte ewig leben? »Nur mit Mühe ist der Kaiser von übereilten Maßregeln zurückzuhalten«, dem Zaren schreibt er: »Ich nehme an, daß durch diesen letzten Streich des Fürsten und bei der schamlosen Art, in der er mich in seiner Presse behandelt ... die klareren Köpfe zu verstehen beginnen werden, daß ich Grund hatte, diesen unbotmäßigen Mann mit seinem gemeinen Charakter aus dem Amt zu entfernen.« Nach der Vereidigung von Rekruten aber spricht er vor einigen hundert Leutnants von seinen schweren Sorgen und fügt hinzu, »daß hochgestellte Personen gegen Mich Hoch- und Landesverrat treiben.«

Wie er rast, wie gern er rasen möchte! Am 100. Geburtstag des alten Kaisers wird Bismarck zur Strafe nicht erwähnt, und seine Teilnahme an einer Hochzeit macht der Kaiser von der Rücknahme der Einladung an Herbert Bismarck abhängig. Es nützt ihm nichts: in magischem Netze fühlt er sich immer wieder zu diesem unbotmäßigen Greise hingezogen, ihn kann er nicht besiegen noch gewinnen, und deshalb läßt er nicht ab von ihm. Mit jedem Jahr, in dem er das biblische Alter übersteigt, wächst die Gestalt ins Legendäre auf: das Volk glaubt doch am Ende nur, was Bismarck beglaubigt. Die Flotte! Wenn er die junge Flotte rühmte, dem Volke als notwendig priese! Ein Wort des Alten macht hundert Stimmen beim Flottenetat! Überwinden wir uns im Dienste des Vaterlandes, nennen wir das nächste Schiff nach ihm: das muß ihm schmeicheln!

Sommer 97, Einladung zum Stapellauf des Panzerkreuzers »Bismarck«. Ablehnung wegen hohen Alters. Brief von Tirpitz, er möchte bei ihm Vortrag halten. Uneröffnet zurück mit dem Vermerk, der Fürst nehme keine Briefe ohne Angabe des Absenders an. Zweiter Brief. Er möge kommen. Tirpitz findet die Familie bei Tisch, der Fürst steht auf, bleibt stehen, bis der Gast sitzt, große Kühle. Nach Tisch ohne Damen, Pfeife, Chaiselongue. Da faßt Bismarck – wie Tirpitz erzählt – ihn ohne Einleitung oder Übergang mit einem vernichtenden Blick ins Auge und sagt: »Ich bin kein Kater, der Funken gibt, wenn man ihn streichelt.«

Schrecklicher Moment, jetzt müßte der Admiral seine Mappe nehmen, aufstehen, aber er findet eine geschickte Antwort und legt seine Blätter und Zahlen vor. »Ich weiß, daß wir mehr Schiffe brauchen, knurrt der Alte, aber keine Schlachtschiffe.« Auf alle Darlegungen erwidert er zornig, abweisend. Dann im Wagen, ohne Verdeck im Regen fahrend, Bierflaschen rechts und links, spricht er so schonungslos gegen den Kaiser, daß Tirpitz bittet, als Offizier für ihn eintreten zu dürfen. »Sagen Sie dem Kaiser, ich wünsche nichts, als allein gelassen zu werden und in Frieden zu sterben. Meine Aufgabe ist getan, für mich gibt es keine Zukunft mehr und keine Hoffnung.« Ein Jahr vorher war die Fürstin gestorben.

Wenn er nur ein Viertel von dem erfährt, was er erfahren sollte, so ist das für den Kaiser schon kaum tragbar. Trotzdem besucht er ihn noch ein viertes Mal, Ende 97, das war ihre letzte Begegnung (T. 93f).

Im Rollstuhl sitzt der Alte am Eingang seines Hauses, als der Kaiser mit seinen Herren kommt; man muß vor ihm defilieren, ebenso wieder beim Gehen. Als hierbei sich Lucanus nähert, der ihm vor sieben Jahren den Abschied überbracht hat, und versucht, ihm die Hand zu reichen, »da entwickelte sich ein merkwürdiges Schauspiel, das von gewaltigem Eindruck war: der Fürst saß da wie eine Statue, kein Muskel rührte sich, er sah ein Loch in die Luft, und vor ihm zappelte Lucanus, bis er begriff und sich entfernte.«

Bei Tische aber, mit fremder Unterstützung placiert, war er vom Sekt wieder frisch geworden. Jetzt sieht er den Kaiser neben sich sitzen, blühend, noch nicht 40, – und man ist selber märchenhaft alt. Er fühlt's: er wird ihn nicht mehr sehn. Vergeben? Nie! Aber was soll der Haß, wenn man in der Unruhe des Hirns um die Sache zittert, die man gemacht hat und die man gefährdet verlassen soll! Seit 8 Jahren, inmitten bedeutender Wendungen Europas, haben sie kein politisches Wort getauscht, seit 4 Jahren, da sie einander wiedersahen, hat ihm der Kaiser nie eine Frage gestellt, und doch, wie viele Fragen liegen ungelöst! Da gibt der Alte seinem Stolz einen Stoß, mag er ein einziges Mal im Leben in die Ecke fliegen, er sieht vor sich das Grab und hinter sich das Reich: nun fängt er selber an, von Politik zu sprechen.

Aber der Kaiser weidet sich nur an solchen Versuchen des Alten, wieder zu Einfluß zu kommen, und um es allen an der Tafel kundzutun, daß Er der Herr sei und jener nur ein vieux radoteur, läßt er ihn ohne Antwort und erzählt Witze:

»Wissen Sie schon den Unterschied zwischen einer Schwiegermutter und einer Zigarre?« Der Fürst, erschüttert, hört zu, dann fängt er aufs neue an: jetzt kommt er auf Deutschlands Stellung zu Frankreich zu sprechen. Der Kaiser hört aufs neue nicht: er erzählt einen zweiten Witz. Schweigend sitzen die Herren. »Immer wenn Bismarck von Politik anfing, vermied es der Kaiser, darauf zu achten.« Moltke flüsterte Tirpitz zu: »Es ist furchtbar!« »Wir fühlten es als Mangel an Ehrfurcht vor einem solchen Mann.«

Da wendet Bismarck seine Gedanken: Will der Kaiser durchaus nichts wissen oder lernen, so soll er eine Warnung hören, wie von einem Sterbenden, – doch wird sie mit einer Leichtigkeit gegeben, als säßen wir noch in Biarritz wie heut vor 30 Jahren, und es gelte, Napoleon bei Tische leise mit Preußen zu bedrohen. Denn plötzlich spricht er »aus irgendeinem Zusammenhang heraus ein Wort, das sich uns in seiner prophetischen Schwere eingrub:

»Majestät! Solange Sie dies Offizierskorps haben, können Sie sich freilich alles erlauben. Sollte das nicht mehr der Fall sein, so ist es ganz anders.«

»An der scheinbaren Nonchalance,« schreibt Tirpitz, »mit der das herauskam, als ob nichts darin läge, zeigte sich eine große Geistesgegenwart; daran konnte man den Meister erkennen.« Der Kaiser bemerkte es kaum. Und wenn er es erfaßt hat, so wollte er diese letzte Warnung des sterbenden Feindes überhören.

Ein halbes Jahr später stand er an seinem Sarge. Für den Besuch in Friedrichsruh hatte das Hofmarschallamt 28 Minuten, einschließlich Gebet und Ergriffenheit vorgesehen. Da steht der Kaiser, er denkt:

Wo ist jetzt deine ewig störende Kritik? Du liegst im Kasten, ich aber stehe hier mit meinem Kranze, gesund und blühend, in unbestrittner Macht. Neid und Rache war alles, womit du in diesen acht Jahren mein Volk zu beunruhigen suchtest. Und was sollte dein letztes Mahnwort, damals bei Tische, dort nebenan? Blüht nicht mein Reich? Sind meine Untertanen nicht glücklich? Ungefährdet steigt mit jedem Jahr die Königsmacht, Europa fürchtet das größte Heer der Welt. Du fährst in die Grube. Ich habe gesiegt!


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