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III. Kapitel.
Bismarck

I

Auf der Tribüne des Reichstages, vier Wochen vor des alten Kaisers Tode, steht Bismarck und spricht. Heut kämpft er nicht gegen die Linke, niemand unterbricht ihn, der Gegner ist unsichtbar: Europas erster Staatsmann spricht über Europa. Wir schreiben noch einmal Februar 88: der Friede des Erdteils ist gefährdet, die Staatsmänner wissen es, die Völker fühlens, Deutschland aber steht im Nebelmeer, und hier im Saale gehen alle Blicke, draußen im Lande alle Gedanken zu dem jungen Prinzen, der in der Loge steht, dem Meister zuzuhören. Was wird er sagen?

Zum erstenmal beurteilt er die nahe Möglichkeit, daß Deutschland mit zwei Fronten kämpfen müsse, vom Wunsch nach Frieden spricht er, nicht von Sicherheit, dann geht er die balkanischen Ursachen zu einem Kriege durch und beweist ihre Haltlosigkeit: »Bulgarien, das Ländchen zwischen Donau und Balkan, ist überhaupt kein Objekt von hinreichender Größe, ... um seinetwillen Europa von Moskau bis an die Pyrenäen und von der Nordsee bis Palermo hin in einen Krieg zu stürzen, dessen Ausgang kein Mensch voraussehen kann; man würde am Ende nach dem Kriege kaum mehr wissen, warum man sich geschlagen hat.« Nach diesem großartigen Satz und Nachsatz, in denen er Ursache und Wirkung des Weltkrieges vorwegnimmt, verzeichnet der Bericht »Heiterkeit«.

Plötzlich, in der Mitte dieser zweistündigen Rede, sagt der dreiundsiebzigjährige: »Verzeihen Sie, daß ich mich einen Augenblick setze, ich kann nicht mehr so lange stehn.« Was fühlt in diesem Augenblicke der Erbe in seiner Loge? Die eigne Jugend neben dem zehrenden Alter des Kanzlers, der eben doch, man sieht es ja, zur Generation des Großvaters gehört. Aber bald steht er wieder, vorsichtig wägt er seine Adjektiva, als er das Verhältnis zu den einzelnen Mächten schildert, immer wie einer, der draußen beschwichtigen will. Dann rafft er sich auf alte Art zusammen und ruft in den Saal: »Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts auf der Welt!«

Große Huldigung, Schluß der Sitzung, es war, so schreibt man, ein Moment, groß wie im Juli 70. Andern Tages hallt das Echo durch Europa: seitenlang und überschwenglich drahtet Crispi aus Rom, Wien ist im höchsten Grade befriedigt, der Zar schickt zum Dank ein Faß Kaviar. Nur der Redner selber ist nicht zufrieden: »Ich werde doch alt, die Ideenverbindungen zünden nicht mehr so rasch wie früher.« Sicher kränkt es ihn auch, daß er sich setzen mußte. Sein Bild, an diesem Tage in der Wandelhalle aufgenommen, zeigt keinen Riesen mehr. Es war seine letzte europäische Rede.

Nicht zuletzt hatte er sie für den jungen Mann in der Loge gehalten, seine Heraufkunft stand bevor, sein Mißtrauen gegen den Kanzler stand seit einiger Zeit fest. Wenn dieser sich gerade jetzt entschloß, große Zusammenhänge aufzurollen, so wollte er der Welt, doch auch dem Prinzen zeigen, daß zwischen Kriegsgefahren und Regierungswechseln nur er selber noch den Ausweg fand.

Mit einfachen Zielen, doch mit sehr komplizierten Mitteln hatte Bismarck in den letzten Jahren nach außen regiert, ein System von Verträgen und Abreden geschlossen, vor allem, um sowohl Österreich als Rußland von einseitigem Vorgehen auf dem Balkan abzuhalten, denn »es ist nicht die Aufgabe des Deutschen Reiches, seine Untertanen mit Gut und Blut zur Verwirklichung von nachbarlichen Wünschen herzuleihen«. Um sich vor Österreichs Balkan-Abenteuern zu schützen, hatte er ein Jahr zuvor sich Rußland aufs neue genähert: als 87 Österreich sich weigerte, den Dreikaiservertrag zu erneuern, erfand Bismarck eine neue Form der Sicherung. Rußland wußte, daß es nie gegen Österreich allein zu Felde ziehen, daß es auch Deutschland gewaffnet treffen würde, wenn es Österreich auf dem Balkan schlagen wollte; fing aber umgekehrt der Österreicher auf dem Balkan an, so wollte der Deutsche den angegriffenen Russen unterstützen. Dafür verpflichtete sich dieser Russe, neutral zu bleiben, wenn Frankreich gegen Deutschland zog.

Dies nannte Bismarck seine Rückversicherung gegen Österreich, nachdem er sich bei Österreich gegen Rußland im Dreibund versichert hatte. Vor allem aber wendete der Vertrag die Lebensgefahr von seinem Reiche, daß es jemals zugleich nach Ost und West kämpfen müsse. Am Ausgang einer Epoche, die die Mächte Europas auf geheime Abmachungen verwies, war dieses System ein Meisterstück; hier war der Goldene Schnitt gefunden, mit dem man die Bündnisse teilt.

Als dann im November 87 der Zar nach Berlin kam, um den alten Kaiser noch einmal zu sehen, hat er jede Möglichkeit einer Allianz mit Frankreich vor Bismarck weit von sich gewiesen, aber die Eifersucht auf Österreich stabiliert. Dauernd blieb Österreichs Grenze durch russische Truppen beunruhigt, der deutsche Generalstab hielt damals den Weltkrieg für nahe, Waldersee wünschte den Krieg mit Frankreich sogar zu provozieren (W. 308), die Militärs waren verärgert, weil die Alten Frieden wollten; mit Wien verhandelte man bereits über die Aufstellung der österreichischen Armee.

Bismarck wollte den Krieg, sei es selbst durch Drohungen, vermeiden: er publizierte das Bündnis mit Österreich vom Jahre 79, um Rußland zu erschrecken; er muß es, denn ein neunzigjähriger Kriegsherr ist so unmöglich wie ein sterbender Kronprinz, er will es, denn sein Lebenswerk träte sonst in Gefahren, »deren Ausgang kein Mensch voraussehen kann«. Seine Sorge wächst, nur mit Schlafmitteln kann er sich noch Ruhe verschaffen, sein Hirn ist Feuer. Europas Mächte hat er durch Verträge sich verbündet, neutral oder unschädlich gemacht; nur Eine blieb aus dem Ringe, die Macht, die sich nie finden lassen wollte, war auch in Bismarcks Rechnungen eine unbekannte Größe geblieben. Ein Jahrzehnt lang hatte er immer wieder in London anpochen lassen und zuletzt sogar als »Ziel und Objekt der deutschen Politik seit zehn Jahren« Englands Beitritt zum Dreibund bezeichnet.

Da tut er einen völlig ungewohnten Schritt: mit einem amtlichen Bündnis-Angebot tritt er auf England zu. Jetzt im Alter verläßt er zum erstenmal die Diplomaten-Umwege, die er 25 Jahre gegangen, er kehrt zur Form seiner Jugend zurück, zur unmittelbaren, offnen Anrede und schreibt dem englischen Premier, Lord Salisbury, einen langen Privatbrief, die Vorteile darstellend, die ein Bündnis Englands mit Deutschland, später auch mit Österreich allen drei Reichen böte. Das Bündnis mit England erschien Bismarck zuletzt als Vollendung des Dreibundes zu einem Vierbund.

Vor Absendung zeigte er ihn dem Prinzen Wilhelm und teilt in einem zweiten Schreiben dem Engländer des Prinzen »volle Billigung des ganzen Inhaltes« mit, um anzudeuten, daß auch die Zukunft zu ihm spräche, der künftige Herr, dessen Gesinnungen man anti-englisch nannte. Zwei Monate später, Januar 88, weist er nur seinen Botschafter an (A. 4, 400f.), Salisbury auszusprechen, »daß der Friede, der England und Deutschland gleichmäßig erwünscht ist, oder auch nur die Frist, in welcher sie ihre Bewaffnung der Größe der Gefahren der nächsten Kriege entsprechend herzustellen vermögen, nicht sicherer erreicht werden könne als durch den Abschluß eines Vertrages zwischen Deutschland und England ... Ein geheimer Vertrag, wenn er derart möglich wäre, würde beiden Mächten erhebliche Sicherheit für den Ausgang eines (andern) Krieges gewähren, die Verhinderung desselben aber würde nur von dem öffentlichen Abschluß erwartet werden können.«

Das war Bismarcks Vermächtnis an die nächste deutsche Generation. Salisbury weicht zunächst in einer höflichen Antwort aus: er fürchte, die Mehrheit im Parlamente, dessen Zustimmung Bismarck wünscht, kaum zu gewinnen, aber er werde den Vertrag »auf dem Tische liegen lassen«.

So schwierig ist Deutschlands, so gespannt Europas Lage, als die beiden Kaiser sterben: in Kampfesstimmung empfangen die höchsten Generale, in Sorge die höchsten Beamten den neuen Herrn. Der sagt zwar, »wir müssen uns darauf einrichten, den großen Kampf auch allein durchzuführen« (W. 242), verspricht aber dem Kanzler, nirgends zu provozieren und sucht, da er im Innersten den Krieg durchaus vermeiden will, durch persönliches Auftreten Freunde zu gewinnen: er fängt an zu reisen.

Zuerst zum Zaren, nicht nach England, schon um der Mutter zu trotzen. Jetzt schreibt dem jungen Kaiser die Großmutter, ihr habe sein erster Besuch zu gelten. Als er den Brief Bismarck zeigt und dieser eine Antwort aufsetzen will, sagt Wilhelm: »Ich denke schon selber die mittlere Linie zwischen Souverän und Enkel zu finden.« Staunend schweigt der Alte.

Der erste Besuch in Petersburg scheint günstig zu verlaufen. Alle Welt rühmt seine Artigkeit; was man freilich privatim dort von ihm sagt, wird der Kaiser erst später und wird es in entscheidender Stunde erfahren. Auch die Reisen nach Wien, Rom, London und nach dem Orient tragen zunächst zur Beruhigung bei, überall wendet sich Neugier und Sympathie des Publikums dem impulsiven jungen Manne zu, und wenn man in den Staatskanzleien zuweilen die Köpfe schüttelt, so vertraut man doch auf Bismarck.

 

II

Die Freundschaft zwischen Kaiser und Kanzler schien groß. Der österreichische Botschafter in Berlin spricht von wahren »Flitterwochen der Verehrung und des Verständnisses«, sagt freilich nicht, welches Horoskop er dieser Ehe stellt, doch auch Bismarck selber läßt sich nach dem ersten Kaiserbesuch in Friedrichsruh vernehmen: »Wie rücksichtsvoll ... Er wunderte sich, daß ich ihn bis Elf erwartet hatte ... und stand erst um Neun auf, weil er dachte, ich schliefe so lange.« Auch erzählt Eulenburg, daß der Kaiser dem Kanzler einmal mit artiger Handbewegung den Vortritt durch die Tür anbot. Von den Reisen schickt er freundliche Depeschen, zu Neujahr 89 erfüllt es ihn »mit Freude und Trost, daß Sie mir treu zur Seite stehn und mit frischer Kraft in das neue Jahr eintreten, ... daß es mir noch recht lange vergönnt sein möge, mit Ihnen zusammen zu wirken.«

Doch die Intimen wissen es besser. Im selben Januar sagt sein Onkel von Baden vertraulich, »vorläufig braucht der Kaiser den Fürsten noch zur Militärvorlage« (Ho. 450), und zum Geburtstage des Fürsten holt der Kaiser dessen Feind Waldersee ab, um mit ihm zusammen gratulierend einzutreten. Jetzt ist zum ersten Male Bismarck überrascht. Hat der Scharfäugige, wie Danton, die Gefahr unterschätzt? Gewiß ist, daß er den jungen Mann nicht immer richtig anfaßte.

Als nämlich vom Kaiser Friedrich ein Kriegstagebuch erscheint, ist der Alte außer sich über die große Wirkung, wittert liberale Schlingen, erklärt im Reichsanzeiger die sichtbar echte Schrift für apokryph und läßt zugleich einen scharfen Artikel gegen Friedrich und Victoria erscheinen: der damalige Kronprinz sei über die intimen Vorgänge nicht unterrichtet worden, weil sein Vater Indiskretionen an den englischen Hof befürchtete. »Die Legende,« sagt er zornig, »daß Friedrich ein Liberaler war, muß zerstört werden! Da könnten ja die Demokraten aufstehen und den jungen Sohn verleiten, es nicht anders zu machen als sein Märtyrer-Vater!« Dabei macht er Hohenlohe in seiner Aufregung »den Eindruck eines nicht ganz gesunden Mannes«, und der Großherzog von Baden sagt direkt: »Viele Leute fangen an zu glauben, daß Bismarck nicht mehr recht im Kopfe sei« (Ho. 456).

Aber der Kaiser, dem solche Urteile zugetragen werden, muß er nicht dennoch Beifall geben?

Im Gegenteil, er wird aufs neue stutzig. Zwar hält auch er die Tagebücher für echt, ja er bezeichnet seine Mutter als Quelle und nennt das Ganze »die Rache einer Frau« (E. 238); trotzdem sieht er die Erbitterung in allen Klassen wachsen, als Bismarck den Herausgeber unter Anklage stellt. Der Kaiser grollt wohl über den Tod hinaus seinem Vater, doch will er, daß sein Volk ihn verehre: so fordert es der monarchische Gedanke. Überhaupt sollen die Untertanen nicht murren lernen. Die Furcht vor Eruptionen hat schon den Prinzen beunruhigt; den Kaiser wird sie beherrschen.

Was ist das für ein dumpfer Ton, der unter den Fanfaren grollt? Wenn es solche gesetzwidrige Bewegungen, wenn es Massen gibt, die den Staat umstürzen wollen, was nützt dann dem König all seine gesetzte Macht? Welches Kraut ist dagegen gewachsen, wenn nicht die Religion? Mit Gott und Güte muß man's versuchen, nicht mit Feuer und Schwert. Kurzsicht und eine Art von kalter Frömmigkeit ließen damals den Hofprediger Stöcker und die Seinigen glauben, nicht die Gesellschaft ist krank und schafft den Sozialismus, um zu gesunden, sondern die Seele des Arbeiters ist es, man muß sie »durch geistliche Versorgung, zusammen mit materieller Hilfe heilen«. Für diesen christlich-sozialen Gedanken war zuerst die fromme Gräfin Waldersee und ihr Mann, durch sie ihre fromme Nichte, die Prinzessin Wilhelm, schließlich der Prinz gewonnen, man hatte Ende 87 im Hause Waldersee Versammlungen abgehalten, um in den einzelnen Städten die »Innere Mission« zu begründen, die Presse schlug Lärm, Bismarck ließ in seinen Blättern warnen, bis ihm der Prinz schrieb, er halte diese Stadtmission »für das wirksamste Mittel zur nachhaltigen Bekämpfung der Sozialdemokratie und des Anarchismus«.

Mit grausamem Lächeln liest es der alte Kämpfer, Volksbeglückung war ihm immer fremd, Pietismus zuwider, die Politik der langen Röcke hat er ein Leben lang verspottet oder bekriegt. Seitenlang warnt er den Prinzen vor der Geistlichkeit, umsonst.

Obwohl schon seit Sommer 85 zum politischen Schweigen verurteilt, wühlte Stöcker später weiter und hatte das Pech, einen intimen Brief, den er als »Seelsorger« einem konservativen Führer schrieb, bald in der Presse seiner Feinde zu sehen: »Man muß rings um das Kartell (mit dem Bismarck regierte) Scheiterhaufen anzünden und sie hell auflodern lassen ... Merkt der (neue) Kaiser, daß man Zwietracht zwischen ihm und Bismarck säen will, so stößt man ihn zurück; nährt man in Dingen, wo er instinktiv auf unserer Seite steht, seine Unzufriedenheit, so stärkt man ihn prinzipiell, ohne persönlich zu reizen.« Nach diesem Rezept suchte die Kreuzzeitung lange Zeit auf den Kaiser zu wirken.

Dem war es bald zum erstenmal möglich, nach seinen humanen Grundsätzen zu handeln: über 100 000 Ruhrarbeiter traten im Mai 89 in den Lohnstreik. Jetzt kommt sein großer Augenblick. Als Bismarck eben im Kabinett verschärfte Ausnahmegesetze vorschlägt, erscheint unangemeldet und plötzlich der Kaiser als Husar, in schneidigem Ton erklärt er: »Unternehmer und Aktionäre müssen nachgeben, die Arbeiter sind meine Untertanen, für die ich zu sorgen habe. Gestern habe ich den Oberpräsidenten am Rheine gewarnt: wenn die Industrie nicht sofort die Löhne erhöht, so ziehe ich meine Truppen zurück. Wenn dann die Villen der reichen Besitzer und Direktoren in Brand gesteckt und ihre Gärten zertreten werden, so werden sie schon klein werden!«

Bismarck: »Ich denke, auch die Besitzenden sind Ihre Untertanen, Majestät.«

Der Kaiser, durch den Einwand irritiert, enthüllt den Grund seiner Unruhe: »Wenn keine Kohle gefördert wird, so ist unsre Marine wehrlos! Wir können nicht mobil machen, wenn Kohlenmangel den Aufmarsch hindert. Wir sind in so prekärer Lage, daß ich als Zar jetzt gleich Krieg erklären würde.«

Anderntags, zur Abordnung der streikenden Bergleute, väterlich: »Jeder Untertan hat selbstverständlich das Ohr des Kaisers ... Ihr habt euch ins Unrecht gesetzt, denn die Bewegung ist eine ungesetzliche, ... weil die Kündigungsfrist nicht eingehalten wurde ... Was die Forderungen selbst betrifft, so werde ich sie prüfen und euch das Ergebnis zugehen lassen. Sollten sich aber ... Zusammenhänge der Bewegung mit sozialdemokratischen Kreisen herausstellen, so könnte ich eure Wünsche in meinem königlichen Wohlwollen nicht mehr erwägen, denn für mich ist jeder Sozialdemokrat ein Reichs- und Vaterlandsfeind. Dann müßte ich mit unnachsichtiger Strenge einschreiten und die volle Gewalt, die mir zusteht, anwenden, und die ist eine große!«

Sodann zu den Arbeitgebern, höflich: »Die Arbeiter haben mir einen guten Eindruck gemacht, sie haben keine Fühlung mit der Sozialdemokratie ... Es ist ja menschlich natürlich, daß jedermann versucht, möglichst viel zu erwerben. Die Arbeiter lesen Zeitungen, sie wissen, wie das Verhältnis des Lohnes zum Gewinn der Gesellschaft steht, und wollen mehr oder weniger daran teilhaben.«

Bismarck, staunend über das direkte Eingreifen des Königs, läßt ihn zunächst gewähren; wenn es sich um Gesetze handeln wird, dann erst wird er zufassen. Und ist denn seine Grundidee von der des Kaisers so weit entfernt? Weder der Alte noch der Junge erkennt den Geist einer neuen Zeit. Sozialisten und Anarchisten sind dasselbe, Reichsfeinde müssen ecrasiert werden: davon gehen beide Männer aus. Dies ist für Bismarck nur eine Steigerung seines antidemokratischen Fühlens, für Wilhelm Gefühlsfolge der Attentate auf seinen Großvater, Doch weltverschieden ist ihre Kampfesart: Bismarck will fechten, wie er es immer tat: Ausnahmegesetze, Ausweise, Wahlrecht entziehen, wenn alles nichts nützt, dann schießen. Der Kaiser will der neuen Lehre die Anhänger wegfangen, indem er den Stand der Arbeiter beschützt; er redet sie mit Ihr und Du an, spielt gern den Landesvater, will Rechte verteilen, ohne selbst welche aufzugeben, er will »populären Absolutismus« nach Art des Großen Friedrich. Nur vergißt er: seitdem verging ein Jahrhundert.

Beide Wege, entschlossen zu Ende gegangen, mußten zur Revolution führen: Bismarcks Weg durch gewaltsame Erhebung, die man ein- und zweimal, doch nicht dauernd niederschießen konnte, Wilhelms Weg durch schnelles Anwachsen einer Bewegung, die sich, vom König ermutigt, von den Gesetzen nicht bekämpft fühlen, die Regierung allmählich überwachsen und sie endlich stürzen mußte.

So entspann sich ein Kampf zwischen zwei falschen Mitteln, von deren Trägern nur der eine genial war. Wäre hier ein moderner, vom Volke kontrollierter Fürst gegen einen altmodischen Kanzler aufgestanden, hätten sich Jung und Alt in den Vertretern zweier Epochen bekämpft, dann folgte man dem Streit in Furcht und Mitleid. Hier aber lehnte gegen überlebte Mittel sich ein nervöser Sinn auf, dem es an Ausdauer und Mut gebrach, selbst nach den eigenen Ideen fortzuschreiten. Der Kaiser wollte es vor seinem Gewissen versucht haben, das war alles; da es mißlang, fühlte er sich frei, zu seinem natürlichen Schutz vor der Gefahr zurückzukehren: zu seinen Garden.

 

III

Bismarck lastete auf seinem Reiche.

Kein politischer Geist durfte sich seit einem Jahrzehnt erheben, es sei denn zum Kampf gegen ihn: so wurden die besten Köpfe in die Opposition gedrängt, statt lernend zum Regieren heranzureifen. Kein Beamter konnte sich unter ihm entwickeln, denn alles fürchtete ihn, der alles an sich zog und dekretierte. Mit Recht konnte der junge Kaiser sagen: »Ich habe keine Minister, es sind ja alles die Minister des Fürsten Bismarck.« Erfragte er dies, regte er jenes an, immer kam die verlegne Antwort, das müßte man zuerst dem Fürsten unterbreiten.

Der hatte keinen Freund mehr, niemand liebte den Alten. Selbst Roon und Moltke, mit denen er in Bild und Bronze vor der Nation zusammenstand, waren ihm fremd geworden. In Spannung mit Bismarck war der Kriegsminister gestorben, Moltke, von Waldersee aufgehetzt, zürnte ihm, als er im Jahre 88 sich eigenmächtig militärische Ratschläge in Wien erlaubte (W. 356). Als er dann doch einmal eine Einladung beim Kanzler annimmt, findet er sich schlecht placiert und die Fürstin so wenig höflich, daß er nach Tisch ohne Adieu verschwindet; im nächsten Jahre, bei seinem Jubiläum, verübelte er dem Kanzler einen kalten, diktierten Glückwunsch.

»Beinah alle hat er eingeschüchtert, so daß niemand wagt, eine eigne Meinung zu äußern. Er kommandiert im Staatsministerium und duldet keinen Widerspruch ... Er will alles beherrschen und hat dazu nicht mehr die Kraft. Er ist Minister des Auswärtigen und greift in jedes der Reichsämter hinein, ohne Rücksicht auf die Ansichten der Chefs, er ist Preußischer Ministerpräsident und Handelsminister und betrachtet die einzelnen Minister als seine Untergebenen dazu sitzt er in Friedrichsruh, ist also schwer zu erreichen ... Alle klagen über Mangel an Instruktionen, Unsicherheit in der Entscheidung, namentlich auch über das Lügen des Kanzlers« (W. 2, 41 f.).

Auch die Seinigen zittern vor ihm, die einzigen, die er liebt und die auch ihn beben. Obwohl ihnen alles schmeichelt, wird der Salon der Fürstin von Freunden immer leerer, in Friedrichsruh vollends, wo sie die Hälfte des Jahres verbringen, führen sie in geschmacklosen Räumen, zwischen bunten Cretonnes und Ehren-Diplomen, in ihrer wenig heiteren oder musischen Art das Leben kleiner Landedelleute. Wenn der alte Fürst, in seinem altmodischen Rocke, das weiße Tuch statt eines Kragens um den Hals geschlungen, auf seiner Chaiselongue liegt, riesig er selber, riesig die schwarze Dogge, riesig der Bleistift, mit dem er in den Akten herumregiert; wenn die kleine Frau, immer blaß, viel hustend, mit dem noch immer halbdunklen Scheitel über den diamantenen Ohrringen daneben sitzt, immer sorgend und soviel hassend wie er selber haßt: dann wehe dem erwachsenen Sohne, der mit einem ungelegnen Wort dazwischenfährt!

Furchtbar hatte der Autokrat seinen Ältesten bedroht, als dieser die schöne Fürstin zu Carolath heiraten wollte, die dem Vater um ihres Anhanges und Rufes willen nicht paßte: er werde, so berichtet Herbert des Vaters Worte seinem Freunde, lieber mit ihm nach Venedig reisen, wo die Dame war, um ihn an einer Eheschließung zu hindern, »denn daran liegt mir mehr als an dem ganzen Reiche, seinen Geschäften und dem Rest meines Lebens!« Da mußte denn in dem Sohn mit seinem vom Vater überschatteten Leben, seinem zerstörten Liebestraum die schon ererbte Menschenfeindschaft noch steigen, seine natürliche Rauheit und wohl auch Roheit wuchs, und da er überall den Vater vertrat, nahm er sich dessen Tyrannis zum Vorbild, ohne die Künste seiner Verführung oder den Nimbus seiner Legende zu besitzen. So wurde auch Herbert verhaßt.

Mit alttestamentarischer Heftigkeit grübelt der Alte über die Zukunft seiner leiblichen Kinder, und wenn er Herberts Freundschaft mit dem Thronfolger fördert, so glaubt er, sein Haus auf alle Fälle zu sichern. Denn dies ist ein Hauptmotiv zu seiner Haltung in den letzten Amtsjahren: die Macht zu vererben, die ihm nur geliehen ist, wie es die Hausmaier im Mittelalter taten; das einzige, was ihn vom regierenden Fürsten unterscheidet, durch Klugheit nachzuholen: dem Erstgebornen das mächtige Amt fast mit derselben Sicherheit zu hinterlassen, wie diese Könige tun, die ohne ihn kaum Könige waren.

Dafür müssen die Söhne als Staatssekretär und Präsident parieren, als ob sie Kadetten wären. Das Geringste setzt den Alten in Wut: wenn der Diener meldet, Graf Bill sei nicht zu Hause, und nun findet ihn der Vater doch, schäumt er und schüttelt die Arme: »Komme sofort, ich brauche dich!« (E. 66).

So bereitet sich unter seinen ersten Beamten langsam eine latente Revolte vor: alles lugt aus nach einer Erlösung vom Tyrannen. Wo fände man sie sicherer als in dem neuen Herrn! Es kann nur besser werden, denken die Staatsbeamten, und sind von vornherein bereit, jede Verstimmung zu schüren Und ist es nicht auch genußreicher, an einem neuerstandenen Hofe zu verkehren, Jagden und Bälle, Reisen und Einzüge zu teilen, als immerfort vor dem Wink und Tadel des alten Menschenfeindes zu zittern?

Das Schloß mit seinen glänzenden Fensterreihen, Schloßkompanie, Schutzmannsketten, Leibwache der Kaiserin, Standarten, Wappen, Orden: alles verändert vom neuen Herrn oder erneuert, alles Höchstselbst gezeichnet, bis auf die Haussegen der Dienerschaft. Fort mit dem häßlichen altpreußischen Frack! Wieviel phantastischer sind Eskarpins, Seidenstrümpfe, Schnallenschuhe, Dreimaster! Alles rühmt die neue Kleiderordnung. Was muß der Kaiser dann beim Bericht über eine Sitzung empfinden, in der Bismarck den Plan der neuen Hoftracht zerpflückt und einen Immediat-Bericht dagegen vorschlägt! »Unzeitgemäß, unpopulär, politisch nachteilig, da diese auffallende Tracht eine Grenze zieht zwischen der Hofgesellschaft und allen übrigen Menschen. Diese kostspielige Tracht, bei uns nur für Lakaien üblich, entwürdigt ihre Träger.« Da sieht man, denkt der Kaiser grollend, er ist nur noch ein griesgrämiger alter Mann.

Für die vielen Reisen braucht man einen Hofzug. Zwölf Waggons, Salonwagen in drei Abteilungen: großer Mittelraum, zwei kleinere, blaue Seide, Diwan, Kronleuchter, Wagen für Zivil- und Militärkabinett, Hofküche, Dienerschaft. Bei den Einzügen – denn die großen deutschen Städte müssen ihren Herrn erst alle einmal sehn – Garde du Corps, Goldhelm, immer sehr ernst, ihm folgend im offenen Wagen die Kaiserin, immer lächelnd. So gefällt es dem Deutschen.

Sie zahlen gern, was es kostet. Fünf Monate nach dem Antritt fordert der König Erhöhung seines Gehaltes auf 6 Millionen im Jahr. Schon wieder ein Hindernis beim Kanzler? Dieser ist »sehr beunruhigt, er findet die ganze Forderung unzeitgemäß und zu hoch, er meint, die Verhandlung im Landtag darf nur 5 Minuten dauern, jede Diskussion würde das Ansehen der Krone schädigen, eine Ablehnung das Kabinett zum Rücktritt nötigen« (W. 2, 24). Verschieben? Hat man nicht große Ausgaben für die beiden verwitweten Kaiserinnen, für seine Kinder? Leider weiß alle Welt, was der alte Kaiser erspart hatte.

Im zweiten Jahre Kaiserliche Yacht, 4½ Millionen, im Etat als »Aviso für große Geschwader« declariert, dann zum Staunen der Volksvertreter vom Kaiser bei der Schiffstaufe als Erholungsschiff für ihn und seine Familie bezeichnet, dessen Bestückung »mehr zum Schmucke« dienen soll. Auf die erste Reise nach Wien und Rom nimmt der Kaiser als Geschenke mit: 80 Diamantringe, 150 silberne Orden, 50 Busennadeln, 3 Goldrahmen für Photos, 30 goldene Uhren und Ketten, 100 Dosen und 20 mit Diamanten besetzte Adlerorden. Macht er sich nicht überall beliebt?

Schon im zweiten Jahre, November 89, erklärt sein Freund und Verehrer Waldersee den Höhepunkt für erreicht, »ganz allmählich entwickelt sich eine gewisse Enttäuschung: die vielen Reisen, die rastlose Tätigkeit, die zahlreichen Interessen haben zur natürlichen Folge einen Mangel an Gründlichkeit. Die Kabinettschefs klagen, daß sie nur schwer Vorträge halten können, und daß dann alles zu kurz und zu hastig abgemacht werden muß. Die Minister haben das Gefühl, daß der Kaiser ab und zu über ihre Ressorts gründlich sprechen müsse, er tut es aber fast gar nicht« (W. 2, 67). Selbst Hinzpeter, sein Prophet, ruft über irgendeiner Maßnahme aus: »Was sagen Sie zu dieser Nervosität! Er wird ja immer übereilter!« (W. 2, 88).

Da er länger als die Hälfte des Jahres, meist gegen 30 Wochen von Hause fort ist, gewinnt die Schilderung seines Tageslaufs in den Jagdwochen allgemeinere Bedeutung, zumal sie von seinem Freunde Eulenburg kommt: danach jagt er, Sommer 89 in Pröckelwitz, täglich bis gegen Mittag, schläft dann bis 3, »zwischen 3 und 4 erledigt der Kaiser die persönlichen Regierungssachen, die aus Berlin bei mir eingelaufen sind. Ich bin stets zu dieser Zeit bei ihm, die Eingänge vortragend und Dienstsachen besprechend. Dann Diner. Nachher amüsiert es den Kaiser, im Garten nach Donnerkeilen zu suchen, die sich viel unter den Steinchen des Sandes befinden und die meistens von Eberhard (Dohna) vorher hingestreut werden« (E. 2, 46). Von 3 bis 4 muß also alles erledigt werden. Als Eulenburg ihn im selben Jahre zur Jagd lädt, bittet er ihn, Kreuze auf der Liste der vorgeschlagenen Gäste bei denen zu machen, die er nicht wünscht, und verspricht, »diese Kreuze selbstverständlich in die tiefste Kammer meines reinen Herzens zu verschließen«. Die Liste enthält die Talente der Gäste: »Hochberg: singt. Moltke: spielt. Hülsen: zaubert. Varnbühler: zeichnet Karikaturen. Herbert Bismarck: trinkt. Dohna: schustert (Bezeichnung hervorragend servilen Wesens) ... Dankelmann: schießt Schwalben mit der Kugel« (E. 2, 49).

Dann aber wird am Abend »der Gipfel der Heiterkeit erreicht, wenn Hülsen mit komischen Pantomimen ... Schillers Handschuh vorspielt«. Wie sehr würde die Unschuld dieser studentischen Vergnügungen den Untertan erstaunt haben, der allwöchentlich den diktatorischen Ernst und die pompösen Sätze der Kaiserreden las! Freilich sind das keine romantischen Erholungen im Stile des bayrischen Vetters oder gar gefährliche, denn auch, daß einer Schwalben schießt, fällt in diesem Kreise niemand auf. Aber der schusternde Graf Dohna, der Donnerkeile in den Sand mischt, damit sein Zeus diese olympische Rarität finde, bereitet schon auf gefährlichere Dinge vor.

In diesen Stimmungen, zwischen Pantomimen, Witzen und Heldengesängen wurde der junge Monarch von seinen Jagd- und Zechgenossen leise auf der Bahn seiner Autokratie weitergeführt. In solcher Stimmung war es, daß Waldersee mit glatter Tücke über eine Frühstückstafel hin den Satz zum Kaiser sprach: »Friedrich wäre nie der Große geworden, wenn er bei seinem Antritt einen Minister von Bismarcks Macht und Bedeutung vorgefunden und behalten hätte« (B. 35).

Das war Jagos vergifteter Pfeil nach Othellos Herzen.

 

IV

Kronrat im Schlosse zu Berlin, Januar 90, der Kaiser und Bismarck in Uniform, die Minister in ihren bestickten Fracks, links neben dem Kaiser Bötticher, spitze Züge, Zwicker, zwischen Katze und Bürokrat. Niemand scheint den Grund dieses ungewöhnlichen Conseils zu kennen, wie es die Könige sonst nur in Fällen bedeutender Gefahr oder großer Entscheidungen einberufen haben. Bismarck, aus Friedrichsruh herbeigedrahtet, hat Bötticher vergebens nach dem Thema gefragt, der hat es verschwiegen, obwohl er als einziger es kannte; auch Herbert, der Staatssekretär, war auf seine Frage an den Kaiser ohne Antwort geblieben. Wunderliche Stimmung des Kanzlers: noch nie hat ihn sein König überrascht, zu jeder Sitzung hat er selber das Programm entworfen, beinah 30 Jahre. Was führt der unberechenbare neue Herr im Schilde? Es macht den Eindruck, als ob er »eine für uns freudige Überraschung plane.«

Wirklich, für Wilhelm ist dies ein großer Augenblick. »Des Großen Friedrich Geburtstag habe ich ausgesucht, weil dieser Kronrat einen hochbedeutenden historischen Ausgangspunkt geben soll Quellen für das Folgende in Schüßlers vortrefflichem Buch: Bismarcks Sturz..« Zwei Vorlagen, von denen eine eigenhändig, werden von Bötticher verlesen. – Also ist er doch im Spiel gegen mich, denkt Bismarck von Bötticher, einem der ältesten Mitarbeiter, Freund des Hauses, aus mancherlei Gründen verpflichtet.

Arbeiterschutz, Sonntagsruhe, keine Kinderarbeit: lauter verständige Dinge. Nach der Verlesung spricht der Kaiser:

»Die Arbeitgeber haben die Arbeiter ausgepreßt wie Zitronen und sie dann auf dem Miste verfaulen lassen. So ist im Arbeiter der Gedanke entstanden, er ist nicht nur Maschine, er will am Gewinn beteiligt werden, den er erzeugt hat. Sein Verhältnis zum Arbeitgeber muß aber ein kollegiales werden. Die Streiks beweisen, daß zwischen beiden Parteien jede Fühlung fehlt, darum wächst die Sozialdemokratie. Das Körnchen Wahrheit, das in ihrer Lehre steckt, wird schwinden, die Anarchisten werden die Führung bekommen. Wie eine Kompanie verludert, um die sich der Hauptmann nicht kümmert, so auch in der Industrie. Beim nächsten Streik werden die Arbeiter noch organisierter und verhetzter sein, dann giebt es Aufstände, und wir müssen schießen.

»Es wäre aber furchtbar, wenn ich den Anfang meiner Regierung mit dem Blute meiner Untertanen färben müßte. Wer es redlich mit mir meint, muß alles aufbieten, um solches Unglück zu verhüten. Ich will der roi des gueux sein! Meine Untertanen müssen wissen, daß sich ihr König um ihr Wohl bekümmert! ... Der internationalen Sozialdemokratie muß man eine internationale Übereinkunft entgegensetzen. Die Schweiz ist damit gescheitert. Beruft aber der Deutsche Kaiser eine solche Konferenz, dann ist das eine andre Sache ... Meine Wünsche beruhen auf Informationen und Ratschlägen von Autoritäten: Geheimrat Hinzpeter, Graf Douglas, von Heyden ... Darum habe ich in zwei Nächten diese Entwürfe verfaßt. Auf Grund derselben wünsche ich Vorlage eines in begeisterter Sprache gehaltenen Erlasses, um ihn übermorgen, zu meinem Geburtstage, zu veröffentlichen.«

Ist er nicht ein moderner Monarch? Nicht ein Volksfreund, der weder nach Klassen fragt noch nach Besitz? Ein Feind der Bürokraten, der sein Ohr jedem Bettler öffnet? Die Zeit der Gewalt und der Waffen ist vorüber, Vernunft und Überredung müssen die Klassen annähern. An der Spitze der Zivilisation, Präsident eines Europäischen Kongresses, marschiert der Deutsche Kaiser ins 20. Jahrhundert. Wie sind seine ersten Wirkungen? Hat er die Minister hingerissen? »Mit steigendem Erstaunen«, sagt Lucius, »saßen wir dabei: wer diese Ideen ihm eingeblasen habe?«

Bismarck weiß es. Die »Autoritäten«, die der Kaiser soeben seinen verfassungsmäßigen Beratern gepriesen, sind, nach seinem Kommentar, Hinzpeter, »mit Überhebung und Ungeschick unter sorgfältiger Vermeidung jeder Verantwortung«. Douglas, »ein reicher und glücklicher Spekulant, der sich ... durch freundlichen Verkehr mit den kaiserlichen Kindern ... eine einflußreiche Stellung beim Souverän zu erhalten suchte«, eine begeisterte Schrift über ihn geschrieben, vor dem Druck ihm gezeigt, daher auch den Grafentitel erhalten hat. Heyden, früher Bergwerksbeamter, jetzt Maler, der seine Kenntnisse »auf seinen Verkehr mit einem alten Arbeiter aus dem Wedding gründet, welchen er als Modell für Bettler und Propheten benutzte, und aus dessen Unterhaltungen er zugleich Material für legislatorische Anregungen an höchster Stelle schöpfte«.

Aus solchen Gedanken wird er durch die Frage des Kaisers um seine Meinung in den Dienst zurückgeführt. Langsam, wie er die Riesengestalt erhebt, so spricht er, verhalten, mit Gegenfragen: Gegen wen sollte eigentlich der Arbeiter geschützt werden, dem man Sonntags- und Nachtarbeit verbietet? Gegen die Arbeitslust? Sein Lohn wird kleiner werden, also seine Unzufriedenheit größer. Die deutsche Industrie wird durch den Ausfall um 14 % herabgesetzt, kann also mit der fremden nicht mehr konkurrieren. »Nachgiebigkeit wird die Begehrlichkeit der Massen ins Unendliche steigern. Überhaupt ist der Arbeiter nie zufrieden zu stellen. Das könnte nicht einmal der Zar von Rußland erreichen mit all seiner Macht! Diese Aufgabe könnte nach dem Wunsche der Arbeiter der Hebe Gott allein lösen! Denken wir aber zunächst an die jetzigen Wahlen: die Besitzenden werden verärgert sein, die Sozialisten ermuntert ... Wir verwirren die Wähler, denen wir grade den inneren Feind vor Augen stellen müßten. So kommen wir ins Gleiten. Ich sehe Gefahren für das Königtum.«

Peinliches Schweigen. Hat man die Stimme vernommen? Ist dies nur der alte Streit zwischen Alter und Jugend, Erhaltung und Entwicklung? Führt nicht wirklich der Kaiser die Stichworte der neuen Epoche im Munde, der Kanzler die alten? Weiß er nichts Besseres gegen die drohende Gefahr, als den Zaren anzurufen und den lieben Gott? Oder will vielleicht der junge Herr sich auch nur in volksbeglückenden Redensarten berauschen, während er von seinen Ministern begeisterte Sprache einfordert? Zunächst bezwingt er sich, sehr höflich sagt er:

»Ich bin ja weit davon entfernt, meine geringe Erfahrung gegen die reiche E. D. in die Wagschale zu werfen.« Auch sähe er ein, daß man die Erlasse erst im Staatsministerium durchberaten, nicht übereilen solle. Was er aber fordert, ist Abschwächung des Sozialistengesetzes, das soeben im Reichstag erneuert werden soll, vor allem Verzicht auf das furchtbare Recht der Regierung zur Ausweisung. »Königs- und regierungstreue Männer haben mich darum gebeten, in diesem Sinn meinen Einfluß geltend zu machen.«

– Königstreu? denkt Bismarck. Und was bin ich? Mit solchen Einflüssen wird ja die Neutralität des Thrones erschüttert! Wenn er mir so die Wahlen unterhöhlt, so stürzt mein Kartell zusammen. Jetzt wird er grimmig: »Ich würde es für einen schweren Fehler halten, nur den Schein von Nachgiebigkeit im Reichstage zu zeigen. Erst beharren, dann überlegen, was der Reichstag bietet. Hier nachgeben, hieße den ersten verhängnisvollen Schritt tun, hieße, sich ins Schlepptau des Reichstages begeben ... Ich kann nicht beweisen, daß solche Nachgiebigkeit E. M. verhängnisvoll würde, aber ich glaube es aus langer Erfahrung ... Kommt das Gesetz gar nicht zustande, so können wir auflösen, ein Vakuum kann eintreten, dann gehen die Wogen noch höher: dann mag es zu Zusammenstößen kommen.«

– Blut und Eisen? denkt der Kaiser. Spricht dieser alte Mann nicht wie vor 30 Jahren? Hat er nichts Neues hinzugelernt? Nun wird auch er erregt: »Solchen Katastrophen will ich durch Präventive eben vorbeugen, anstatt meine ersten Regierungsjahre mit dem Blute meiner Untertanen zu färben!« Das zweitemal: dies Bild scheint seiner Phantasie zu schmeicheln. Doch der Alte versteift sich:

»Wenn es Aufruhr und Blutvergießen gibt, Majestät, ist das nicht Ihre Schuld, sondern die der Revolutionäre. Ohne Blut wird es schwerlich abgehn, wenn man zurückweicht. Je später der Widerstand einsetzt, um so gewaltsamer wird er sein müssen.«

Kaiser: »Auf alle Fälle muß man dem Reichstag entgegenkommen!«

Bismarck: »Das heißt kapitulieren. Auf Grund meiner Sachkenntnis habe ich die Pflicht, davon abzuraten. Seit meinem Eintritt in die Regierung ist die Königsmacht ständig gewachsen. Ein solcher Rückzug aber wäre der erste Schritt vom Wege, und zwar in der Richtung einer augenblicklich bequemen, aber gefährlichen Parlamentsmacht ... Wenn E. M. kein Gewicht auf meinen Rat legen, so weiß ich nicht, ob ich auf meinem Platze bleiben kann.«

So stolz hat Bismarck zu seinem alten Herrn nie gesprochen. Indem er das Steigen der Königsmacht als sein Verdienst beansprucht, betont er seine eigne Macht und weigert sich, eins durch das andre zu schwächen. Dann bietet er seinen Rücktritt an. Niemals! hatte der alte Kaiser auf eins dieser Gesuche geschrieben, mit denen Bismarck doch am Ende alles durchgesetzt hat. Wird ihm der Enkel das gleiche Wort erwidern?

Der schweigt, beißt die Lippen, bezwingt sich aufs neue, nur halblaut sagt er zu Bötticher, mit dem er offenbar vorher alles besprochen: »Dadurch werde ich in eine Zwangslage versetzt.« Pause. »Ich bitte die Herren um ihre Meinung.«

Vor dem gesamten Kabinett hat also der Alte seine Entlassung angeboten, vor dem gesamten Kabinett hat der Junge ihn ohne Antwort gelassen und sich an die andern Minister gewandt; er konnte nicht geschickter, Bismarck nicht unvorsichtiger handeln.

Schweigend sitzen die acht Männer um den ovalen, grünen Tisch, keiner fühlt mit dem Alten, den sie hassen, jeder fühlt mit dem Kaiser, dessen gute Absicht, dessen feuriger Wunsch durch jenen Wasserstrahl aufzischend enden mußte. Dennoch wagt keiner, hier, direkt befragt, für den jungen Herrn zusprechen. Er ist es, der die Macht im Staate darstellt, er allein vergibt und nimmt das Portefeuille, sogar den Kanzler kann er entlassen und hat soeben auf seine Drohung nicht Nein gesagt. Aber Bismarcks Gestalt, die Furcht vor seinem Zorn ist so groß, daß alle sich auf seine Seite stellen, selbst Bötticher wagt nur einen schwach vermittelnden Versuch.

Der Kaiser ist außer sich: in offner Sitzung ist er unterlegen! Trotzdem bezwingt er sich und schüttelt beim Gehen dem Fürsten die Hand.

Bismarck, als er nach Hause fährt, ist noch erregter. Jetzt erst erkennt er seine Fehler. Mehr als drei Monate hat er den jungen Herrn seinen neuen Freunden allein überlassen, die alle des Kanzlers Feinde sind. Böttichers vorsichtig tastender Frage hat er im Herbst das stolze Wort entgegengehalten: »Bei meiner Vergangenheit und Stellung brauche ich nicht zu fürchten, jemals gegen meinen Willen zu gehen.« Und nun müßte er es dennoch fürchten? Hat nicht der Kaiser auf seine Bedingungen geschwiegen? Heut gab er noch nach, weil die Minister vor ihrem Meister einschwenkten, doch morgen? Bötticher, der ihn in Berlin vertrat, hat diese Monate für sich genützt: sein Nachfolger wollte er werden. »Die Versuchung,« schreibt Bismarck später in einem seiner überfüllten Sätze, »in der sich Bötticher befand, den Reiz der Neuheit, welchen die monarchische Aufgabe für den Kaiser hatte, und meine vertrauensvolle Müdigkeit in Geschäften zum Nachteil meiner Stellung auszubeuten, wurde, wie ich höre, durch weibliches Rangstreben gesteigert ... Seine Amtspflicht war nicht, an der Unterwerfung eines erfahrenen Kanzlers unter den Willen eines jugendlichen Kaisers zu arbeiten, sondern den Kanzler in seinen verantwortlichen Aufgaben beim Kaiser zu unterstützen.«

Weiter denkt der Alte zurück.

Mit Groll erfährt er erst jetzt, was sich in diesen drei Monaten zugetragen: Bötticher hat dem Kaiser erzählt, Bismarck erhalte sich nur noch durch Morphium. Jetzt erst ermißt er auch die Bedeutung aller Reibungen, die voraufgegangen sind. Als Eulenburg im Sommer seinem Freund Herbert winkte, dem Kaiser sei die Politik zu russenfreundlich, sagte Herbert grob: »Das hat mein Vater als ein Ganzes durchdacht, Amateure und Militärs verstehen das nicht. Paßt es ihm nicht, so gehen wir beide.« Damals lenkte Eulenburg ein, wollte nichts gesagt haben, hinterbrachte aber Wort für Wort dem kaiserlichen Freunde. Der schimpfte bald gegen Herbert über die russische Anleihe, Bismarck Solle die Bankiers einschüchtern, besonders Bleichröder sei gefährlich. »Ich habe keine Beziehungen zu ihm«, sagte Herbert erregt.

»Das ist mir ganz gleichgültig,« rief der Kaiser, »er geht bei Ihrem Vater aus und ein!«

Am schlimmsten war die letzte Begegnung abgelaufen. Der Zar war nach seinem Besuche abgefahren, auf dem Heimweg von der Bahn erzählte der Kaiser dem Kanzler: »In Hubertusstock habe ich mich auf den Bock des Pirschwagens gesetzt und meinem Gast das ganze Jagdvergnügen überlassen.« In voller Freude über seine kluge Liebenswürdigkeit erwartet er Applaus, den er gewohnt ist. Bismarck aber, der die Gedanken eines würdigen, menschenfeindlichen Zaren über diese Allüren eines deutschen Kaisers auf dem Bocke und ihre Wirkungen berechnet, verhält sich schweigend.

Kaiser: »Nun, so loben Sie mich doch!«

Was bleibt dem Alten nun übrig. Darauf der Kaiser:

»Ich habe mich beim Zaren zu längerem Besuch nach Spala angemeldet.«

Bismarck: »Das könnte gewisse Nachteile mit sich bringen. Der Zar liebt Ruhe, Familienleben, Spala ist nur ein kleines Jagdschloß«, so häuft er äußere Bedenken, weil er die inneren verschweigen muß: »Ich erwog dabei in Gedanken, daß die beiden hohen Herren zu einem sehr engen Verkehr miteinander genötigt sein würden ... und hielt für bedenklich, die mißtrauische Defensive des Zaren mit der aggressiven Liebenswürdigkeit unseres Herrn ohne Not in enge und lange Berührung zu bringen.«

Das alles ahnte der Kaiser nicht, sein guter Wille war, sich mit dem Zaren zu stellen, obwohl er ihn nicht leiden konnte, aufs neue fühlte er sich nun in seinen besten Einfällen gehemmt, aufs neue war es der alte Mann, der ihm alles verderben wollte, und in einem plötzlichen Gefühle des Widerwillens setzte er den Kanzler vor seiner Wohnung ab und fuhr weiter, statt zur verabredeten Konferenz bei ihm einzutreten.

Seit diesem verstimmten Adieu im Oktober hatten die Beiden sich bis zum heutigen Kronrat nicht gesehn.

 

V

Nach dem Kronrat fühlen beide Kämpfer sich geschlagen. Der Kaiser, in seiner Eitelkeit verletzt, droht dem Kriegsminister mit der Faust ins Gesicht: »Warum haben Sie mich im Stich gelassen! Sie haben ja alle ganz verprügelt ausgesehen! Was hat er Ihnen denn vorher gesagt?« Bismarck hegt leidend auf seinem Sofa, klagt über Entfremdung der Minister, spricht jedem, der es hören will, von diesen Dingen; den männlichen Rat seines zweiten Sohnes, gleich abzudanken, lehnt er aufgrollend ab, dann schimpft er wieder auf Bötticher. In diesen Wochen hat er Stimmungen und Launen, nicht anders als sein Gegner, der Monarch.

Zwei Tage nach dem Kronrat erklärt er plötzlich sehr loyal im Kabinett: »Launen eines Monarchen sind wie gut und schlecht Wetter, man nimmt einen Regenschirm und wird doch naß. Ich verehre im Kaiser den Sohn seiner Vorfahren und meinen Souverän ... Eine Kamarilla unverantwortlicher Berater dürfen wir nicht dulden ... Ich denke also, wir machen mit.«

Inzwischen rücken unsichtbar die Minister von ihm ab, und als er in der nächsten Woche, am 31., eine neue Sitzung eröffnet, haben alle ihre Stellungen bezogen: heut ist Bismarck im Grunde schon verloren. Als er die Umarbeitung der Erlasse vorschlägt, findet er Widerspruch. Das hatte im Kronrat noch niemand gewagt, obwohl die Augen des Kaisers um den ovalen Tisch herum nach Hilfe suchten; jetzt, ohne den Monarchen, erklären Bötticher und der vom Kaiser bedrohte Kriegsminister: »Wir dürfen dem Kaiser nicht mißfallen ... Wir müssen etwas zustande bringen, um S. M. zu befriedigen.« Dies Votum, das wissen sie, wird dem Kaiser bekannt und sichert ihre Karriere.

Offner Widerspruch? Und dies ohne sachliche Gründe? Da wettert der Alte los: »Wenn ein Minister seinem Souverän verschweigt, daß er nach seiner Ansicht sich auf staatsgefährlichem Wege befindet, so ist das Übergang zum Landesverrat! Wollen wir nur immer dem Kaiser zu Willen tun, so sind acht Subalterne hier ebensogut am Platze wie das gegenwärtige Staatsministerium!« Schweigen. Abstimmung. Fast allgemeine Stimmenthaltung. Furchtbarer Augenblick! Wirft er nicht jetzt sofort in seinem Zorn die erschütterte Stellung dem Kaiser vor die Füße?

Bewegung, Adjutant, zum zweitenmal erscheint unangemeldet und sporenklirrend der Monarch in der Sitzung, sie wird bald geschlossen. Bismarck nachher zum Kaiser: »Nur aus Gehorsam gegen Ihren Befehl habe ich diese Erlasse entworfen, aus dem Pflichtgefühl eines noch im Dienste stehenden Beamten. Ich widerrate entschieden diesen Schritt und möchte bitten, die Papiere gleich hier ins Kaminfeuer zu werfen.« Niemals hat er so gesprochen, auch nicht, als er, ein unbekannter, unerprobter Fremder in den Dienst trat, damals am wenigsten.

»Nein nein!« ruft der Kaiser und unterzeichnet »mit einer gewissen Hast«. Der Kanzler verweigert die Gegenzeichnung.

In dem ersten Erlaß wurde eine soziale Konferenz der Mächte angekündigt, im zweiten wurden gesunde und sittliche Grundsätze der Arbeit in einem Gesetz versprochen, nach dem die Arbeiter »durch eigne Vertreter an der Regelung gemeinsamer Dinge beteiligt wurden, zur Wahrnehmung ihrer Interessen bei Verhandlungen mit den Arbeitgebern und den Organen der Regierung, ... um ihnen den freien und friedlichen Ausdruck ihrer Wünsche zu ermöglichen.«

Mit diesem Aufruf hat sich der allein unterzeichnete Kaiser das Verdienst gesichert, den Gedanken des Betriebsrates als erster Fürst, 30 Jahre vor seiner Begründung, vor aller Welt fixiert zu haben. Hier sah er entschieden richtig, Bismarck entschieden falsch.

Stolz zeigt er am Abend seinen Gästen die Erlasse, enthüllt aber seine persönlichen Motive in den naiven Worten: »Die Arbeiter müssen wissen, daß Ich für sie denke!« Anderntags applaudieren die demokratischen Blätter, daß der Kaiser endlich andere Ratgeber höre. Die erste Folge ist dennoch Verwirrung: in mehreren Städten fordern die Arbeiter unter Berufung auf das Kaiserwort sofortige Lohnerhöhung, am Rhein fordert der Bergarbeiter-Verband sogleich Enteignung aller Bergwerke zugunsten der Arbeiter.

Trotzdem fühlt sich der Kaiser gehoben: »Der Alte kriecht zu Kreuze! Noch ein paar Wochen lasse ich ihn verschnaufen, dann regiere Ich!« Bismarck, der diese Worte zu den Vertrauten nicht erfährt, spürt ihre Stimmung, er sagt bei einem Vortrag Ende Februar:

»Ich fürchte, daß ich E. M. im Wege bin.«

Der Kaiser schweigt, das heißt, er bejaht.

Darauf entwickelt Bismarck à l'aimable die Möglichkeit, zunächst aus den preußischen Ämtern zu scheiden und sich auf das Altenteil des Auswärtigen zurückzuziehen. Der Kaiser nickt, dann fragt er unbefangen: »Aber – die Militär-Vorlage werden Sie mir doch noch durch den Reichstag bringen?«

Mit verwundetem Gefühle verläßt der Kanzler das Schloß. Als er andern Tages den Kollegen seinen halben Rücktritt andeutet, sieht er sie »mit verschiedenem Gesichtsausdruck schweigen«; nur Bötticher, der die Nachfolgeschaft in Preußen schon halb in der Tasche hat, stellt eine staatsmännische Frage: »Würde ich wohl als Präsident bei Hofe den Rang vor dem Generaloberst von Pape oder hinter ihm haben?«

Später sagt der Alte müde seinem Sohne: »Der Kaiser will mich los sein ... und meine Kollegen sagen bei diesem Gedanken alle Uff!, erleichtert und befriedigt.«

Während der Kaiser triumphiert, versinkt der Kanzler in neue Depressionen. Das Unerhörte geschieht: Bismarck macht mehreren Räten im Amte seinen Besuch, setzt sich zu den Überraschten, schimpft auf den Kaiser. Es ist, als irrte er umher in seiner Festung. Dann macht er Besuche bei Moltke, bei Waldersee, läßt sich am Ende gar bei der Kaiserin Friedrich melden und schüttet der Feindin sein Herz aus über den gemeinsamen Gegner.

Erst der Wahltag reißt ihn zu alter Tapferkeit zusammen. Jetzt zittert der Kaiser. Um zu demonstrieren, alarmiert er an diesem Morgen die Truppen und hält in Tempelhof Parade ab: nur hier, inmitten seiner Garden, fühlt er sich sicher vor diesen unheimlich herausströmenden Bürgermassen, denen er mißtraut. Resultat am andern Morgen: anderthalb Millionen roter Stimmzettel, die Sozialisten verdreifacht.

Während nun wieder der Kaiser in Depression versinkt, wappnet sich der Alte. Der Kaiser hat seine ersten Wahlen verloren: dieser Gedanke verjüngt den großen Hasser, zugleich spornt ihn die neue Lage zu neuem Kampf. Jetzt könne er nicht gehen, erklärt er dem Kaiser, »nach diesen Wahlen, den Folgen Ihrer Erlasse, muß man das Sozialistengesetz verschärfen, die große Heeresvorlage bringen, wenn nötig, das Wahlrecht ändern, den Sozialisten entziehen, weil sie Staatsfeinde sind.«

Der Kaiser, in seinen letzten Gewissensnöten: »Ich kann doch nicht die Wünsche meiner Untertanen mit Schnellfeuer beantworten! Ich will nicht Kartätschenprinz heißen wie mein Großvater!«

Bismarck, erregt: »Lieber bald als später. Man kann die Sozialdemokratie nicht totreformieren, man wird sie eines Tages doch totschießen müssen.«

Kaiser, in voller Verwirrung: »Ich will nicht im Blute waten!«

Bismarck, eisern: »Majestät werden noch tiefer hinein müssen, wenn Sie jetzt zurückweichen. Ich könnte jedenfalls die Verantwortung nicht weiter tragen.«

Zu dieser dritten Drohung fühlt sich der Alte stark, weil er das Herz des Kaisers durchschaut. Hier sieht er keinen Philanthropen vor sich, nur ein Gewissen, das sich durch seine erste vergebliche Geste schon beruhigt fühlt. Sprach nicht der Kanzler von der Militärvorlage? denkt der Kaiser und fühlt sich aufs neue im Kreise seiner Garden. 80 000 Mann! Und er ergreift seine Hand zum Abschied und wiederholt Bismarcks Lieblingswort: »No surrender!« Jetzt, weil er starke Hände braucht, hält der Kaiser an Bismarck fest. Lieben wird er ihn freilich nicht, im Gegenteil: da er ihn nun zu brauchen glaubt, fängt er an, ihn zu hassen.

»Es ist kaum mit ihm auszukommen! klagt er jetzt dem Freunde. Er kann es nicht ertragen, daß ich auch einmal etwas wünsche und will. An alles habe ich ihn erinnert, was ich ihm geopfert habe, mein Elternhaus ... Um meines Vertrauens willen habe ich bei dem Gegensatz zwischen meinen Eltern und ihm die schrecklichsten Zeiten durchleben müssen!« (E. 229). Dies alles glaubt der Kaiser; obwohl er jahrelang für Bismarck war, weil seine Eltern ihn bekämpften, glaubt er an sein »Opfer« für den Fremden.

Zugleich reizt ihn das Schwanken des Kanzlers, ihm will er Stimmungen und Überraschungen nicht gestatten: »Er hat gehen wollen und dann ... sein Gesuch wieder zurückgezogen, solches Spiel lasse ich mir nicht gefallen. Jetzt werde Ich den Termin bestimmen ... Sein Unglück ist seine maßlose Herrschsucht, allmählich hat er alles untergekriegt und ist verwöhnt. Bei mir ist er an den Falschen gekommen!« (W.2, 105).

Zugleich mit ihm ist Bismarck bereit zu fechten: zusammen gegen die Sozialisten, einzeln jeder gegen den andern. Während sich alles zusammentut, im Amt, bei Hof, im Generalstab, um ihn nun endlich zu stürzen, nimmt Bismarck selber, im Gefühl, unentbehrlich zu sein, den unsichtbar-sichtbaren Kampf auf und läßt, um sich aufs neue die Minister zu unterwerfen, an jeden Abschrift einer alten Kabinettsordre gehen, mit der im Jahre 1852 Friedrich Wilhelm IV. den Ministern den amtlichen Verkehr mit dem König ohne Beisein des Ministerpräsidenten verbot. So kämpfen beide Männer um die Macht.

Doch Bismarck kämpft zugleich um sein Werk. »In schlaflosen Nächten«, sagte er später, »hat mich damals die Frage beschäftigt, ob ich unter ihm aushalten könne. Meine Liebe zum Lande sagte mir, du darfst nicht gehen. Du bist der einzige, der diesem Willen noch das Gleichgewicht halten kann. Aber ich kannte auch die Geistesverfassung des Monarchen, die mir die traurigsten Verwickelungen möglich erscheinen ließ. Das Schauspiel, das sich in Bayern mit Ludwig II. ziemlich glatt abgespielt hat, würde in einem Militärstaat wie Preußen einen verhängnisvolleren Charakter annehmen.«

Mit dieser Darstellung geht Bismarck fehl: der Kaiser ist niemals geisteskrank wie Ludwig von Bayern gewesen; er hatte nur gewisse Zeiten periodischer Aufregung, der dann die typische Verzagtheit immer folgte, man mochte freilich zuweilen erschrecken. So machte er auch jetzt seiner Wut gegen den Kanzler in einer Rede Luft, am 5. März: »Diejenigen, die mir behilflich sein wollen, sind mir von Herzen willkommen. Wer sich mir aber bei meiner Arbeit entgegenstellt, den zerschmettre ich!« Und als er einige Tage später vergeblich versuchte, Bismarck gegen Bötticher freundlich zu stimmen, gab er am selben Abend diesem durch keine Verdienste geschmückten Beamten den Schwarzen Adler-Orden, den Bismarck erst nach seinem ersten siegreichen Frieden empfangen.

Der Bruch war da, es fehlte nur der Krach. »Ich tue so«, sagte der Kaiser am 9. zu Waldersee, »als bemerkte ich seine Schlechtigkeit nicht, ich werde auch nächstens wieder bei ihm essen, damit die Leute denken, wir ständen gut.« Statt ihn mit einem Lanzenwurfe zu erlegen, sucht er den Löwen mit kleinen Stichen zu schwächen. So hat er es auch später mit kleinen Gegnern gemacht. Er war kein Kämpfer.

 

VI

Bismarck ist es.

Er kann nicht aus dem Feuer fliehen. Um seines Feindes nochmals Herr zu werden, spannt er alle Kräfte der Kombination, damit ihm nach der Niederlage seines Kartells in den Wahlen eine neue Mehrheit draußen die Stütze gäbe, die er drinnen, im Schlosse, nicht mehr besitzt. Den Reichstag und den König zu besiegen, einen durch den andern an sich zu fesseln: das spornt seine Krieger-Instinkte. Nach einer Feindschaft von einem Jahrzehnt und länger betritt sogar der alte Feind, Windhorst zum ersten Male Bismarcks Haus: der Katholik zählt seine Bedingungen auf, um das Zentrum zur Bildung einer neuen Mehrheit herzuleihen.

Der Kaiser kann Windhorst nicht leiden: da ist ihm der Lärm über diesen Besuch grade recht, er ignoriert des Kanzlers Meldung auf morgen, sagt sich (durch einen Boten, der nie ankam) selber bei ihm an, erscheint nach seinem Morgenritt gegen 9 in Herberts Amtswohnung, läßt seinen Vater bitten. Dieser, schon in ruhigen Zeiten schwer und spät einschlafend, muß den Besuch zu dieser Stunde als Überfall empfinden und tritt ihm mit zur Schau getragenem Erstaunen in schroffer Haltung gegenüber. Da der Kaiser in seiner Erregung fast die ganze Zeit steht, muß es auch der Kanzler: so halten sie einander in dieser halben Stunde fest im Auge.

Bismarck: »Ich kann E. M. mitteilen, daß Windhorst aus seiner Zurückhaltung herausgetreten und bei mir gewesen ist.«

Kaiser: »Nun, Sie haben ihn natürlich hinauswerfen lassen!« (Bei diesen drohenden Worten verläßt Herbert das Zimmer).

Bismarck: »Ich habe ihn natürlich empfangen, wie ich ... das mit jedem wohlerzogenen Abgeordneten zu tun verpflichtet bin.«

Kaiser: »Sie hätten vorher bei mir anfragen müssen!«

Bismarck: »In meinem Hause muß ich jeden empfangen dürfen, der mir paßt, besonders zu amtlichen Besuchen.«

Kaiser: »Sie haben sich Windhorst durch Bleichröder zuführen lassen. Natürlich, Juden und Jesuiten gehören zusammen.«

Bismarck: »Viel Ehre für mich, daß E. M. über die inneren Vorgänge meines Hauses so genau informiert sind. Es ist richtig, nur ist die Wahl des Vermittlers von Windhorst ausgegangen, nicht von mir, kümmert mich übrigens nicht. In der neuen Lage des Reichstages muß ich den Feldzugsplan vom Führer der stärksten Fraktion kennenlernen, es war mir also willkommen, daß er mich sprechen wollte. Ich weiß jetzt, seine Bedingungen sind unannehmbar. Wenn Sie mir dies zum Vorwurf machen, so könnten Majestät ebensogut Ihrem Generalstabschef im Kriege verbieten, den Feind zu rekognoszieren. Solcher Kontrolle der Einzelheiten und meiner persönlichen Bewegung im eignen Hause kann ich mich keineswegs unterwerfen.«

Kaiser: »Auch nicht, wenn Ihr Souverän es befiehlt?«

Bismarck: »Auch dann nicht, Majestät!«

Bis hierher war der Streit in wenigen Minuten mit frischen Atemzügen auf seine Höhe geführt, der Groll des Alten, die Aufregung des Jungen schließlich zu einem Punkte gediehen, wo der Herr und Souverän befiehlt, der Beamte und Untertan sich weigert. Dies ist der Punkt, an dem der Offizier, nicht nur an Bord, vor dem revoltierenden Untergebenen den Degen zieht, um ihn zu durchbohren, gleichviel, ob jener zu recht oder zu unrecht den Gehorsam verweigert.

Da der Kaiser vom Unrecht seines Beamten durchdrungen war, mußte er nach seinen Offiziersgefühlen in dem besonderen Falle nach Bismarcks letztem Wort mit oder ohne Gruß das Haus verlassen. War's Furcht oder Ehrfurcht, er tat es nicht, sondern lenkte ein, unsicher in der Haltung heut wie immer, nahm er den schneidigen Satz vom Befehl zurück. Nicht weil er verfassungswidrig war, nur weil der blaue Blitz dieser umbuschten Augen ihn getroffen hatte, fuhr er nach einer Pause plötzlich verlegen fort:

»Es – handelt sich nicht um Befehle, nur um Wünsche. Es kann doch nicht Ihre Absicht sein, das Volk derartig aufzustöbern, wie es die heutigen Zeitungen zeigen!«

Bismarck, siegesbewußt: »Das eben ist meine Absicht! Solche Verwirrung muß im Lande herrschen, ein solches Tohu-Wabohu, daß kein Mensch mehr weiß, wo der Kaiser mit seiner Politik hinauswill!« Mit diesem gepolterten Unsinn verläßt der Alte seine Stellung und macht dem Kaiser seine Antwort leicht:

»Umgekehrt! Offen und klar muß meine Politik vor den Augen meiner Untertanen liegen! Konflikt mit dem Reichstag will ich nicht. Die Militärvorlage muß so beschnitten werden, daß sie bestimmt durchkommt. Ich habe Falkenstein beauftragt, das Höchstmaß des Erreichbaren durch Verhandlungen festzustellen.« Welcher Fehler, dem Leiter der Politik einen General vorzuführen, der mit dem Reichstag verhandelt! So verletzt, kann Bismarck es wagen, aufs neue seine Demission zu geben; nur will er auch diesmal dem Kaiser die Verantwortung zuschreiben:

»Ich bin in Ihren Diensten nur geblieben, Majestät, weil ich das meinem alten Herrn versprochen habe. Wenn Majestät es wünschen, ich gehe gern.«

Zum zweiten Male weicht der Kaiser aus. Warum geht er an diesem aufgeregten Morgen nicht auf die Frage ein? Fürchtet er sich noch immer? Da er nach seiner Natur nie einen offnen Angriff wagt, sucht er ihm von der Seite beizukommen: »Ich – bekomme gar keine Vorträge mehr von meinen Ministern. Man hat mir erklärt, Sie hätten das verboten. E. D. sollen sich dabei auf alte, vergilbte Verordnungen stützen, die längst vergessen waren. Ich muß bitten, sie unverzüglich aufzuheben.«

Bismarck erklärt die Ordre vom Jahre 52 für unentbehrlich, bezieht sich auf alte Zeiten und sagt: »Kein Premier kann verantwortlich bleiben, wenn der Monarch mit jedem Ressort allein Beschlüsse faßt.« Nochmals widerspricht der Kaiser, doch wieder, ohne entschlossen zu fordern, immer etwas verlegen: immer im Bann. Zum zweiten Male bleibt die Machtfrage ungelöst zwischen ihnen liegen. Bismarck ist entschlossen, sich lieber fortjagen zu lassen, als nach allem, was geschehn, durch sanfte Rücksicht auf seine »Gesundheit« den Gegner zu befreien. Was aber tun, um sich statt dessen für alle Unbill zu entschädigen? Sieht er ihn heute nicht vielleicht zum letzten Mal? Wie kann man diesen jungen Menschen demütigen? Rache für Undank und Untreue!

Und ohne Anlaß wendet er das Gespräch auf den Zaren, warnt aufs neue vor dem geplanten Besuch und nimmt, wie um nur diese Warnung zu bekräftigen, aus einer verschlossenen Mappe Berichte, in denen neulich der Londoner Botschafter Äußerungen des Zaren über den Kaiser wiedergegeben hat, die an den englischen Hof gedrungen sind. Mit Behagen hatte der Alte kürzlich die Blätter gelesen, seinem Sohne darin Bosheiten gezeigt, gewiß auch seiner Frau davon erzählt, die länger als er von Mißtrauen gegen den Kaiser erfüllt war. Jetzt nimmt er einen, wahrscheinlich den schlimmsten dieser Berichte in die Hände, lockend blättert er langsam darin. Der Kaiser, immer unruhig, wenn es den Eindruck seiner Person, vollends, wenn es englische Stimmen betrifft, fühlt in den Händen des Kanzlers Dinge schweben, die er nicht kennt, nicht kennen sollte. Ungeduldig sagt er:

»Nun also, bitte, lesen Sie vor!«

Bismarck stellt sich erschrocken: »Dazu kann ich mich unmöglich entschließen. Der Wortlaut müßte E. M. verletzen.«

Jetzt greift der Kaiser hinüber: mit stiller Wonne läßt sich Bismarck das Schriftstück entreißen. Der Kaiser liest für sich. Er liest zum ersten Male Wahrheiten über sich, vielleicht zum letzten. Er liest, der Zar habe unter anderem von ihm gesagt: »Il est fou. C'est un garçon mal élevé« et de mauvaise foi.«

Wieder aber wird er nicht wütend, er wird verlegen. Vor sich sieht er, während er liest, den Zaren und seinen Hof, die englische Großmutter und ihren Sohn; seine eigne Mutter, alle seine Gegner kennen diese schmählichen Worte über ihn, – und neben ihm der Mann, der ihm die Blätter so verführerisch zuspielte, er, Bismarck, wagt es und läßt seinen Souverän solche Gemeinheiten lesen! Schwerer ist des Kaisers Eitelkeit vor- oder nachher nie getroffen worden. Er zittert. Schweigend beobachtet ihn der Feind.

Er wendet sich zum Gehen. Kann er dem Alten die Hand noch reichen? Wieder eine halbe Maßregel: er nimmt den Helm in die Rechte, so daß nur zwei Finger freibleiben, diese reicht er dem Kanzler. Bismarck begleitet ihn bis zur Freitreppe vor der Haustür. Hier fällt dem Kaiser die Taktik wieder ein, die er gegen den Kanzler übt: im Begriff, unter den Augen der Dienerschaft in den Wagen zu steigen, springt er die Stufen wieder hinauf und schüttelt Bismarck vor den Zeugen lebhaft die Hand. –

Im Schloß erzählt er die Geschichte Waldersee, der nichts unterläßt, ihn vollends aufzuhetzen. Der Kaiser ist froh, daß man ihn reizt, resümiert, wie um sich zu rechtfertigen, die üble Lage des Reiches und schließt: »Wo bleibt da der Große Kanzler? Wo sind seine Verdienste?« Jetzt wagt sich Waldersee ganz vor und rät, rasch zu handeln; als er geht, sagt der Kaiser nachdenklich, etwas bedrückt: »Ich denke, es wird schon gehen.« Dann rafft er sich zusammen und ruft in seiner Art: »Waidmanns Heil!«

Seinen Piqueuren scheint er zuzurufen: Aufgepaßt! Den Achtzehnender bring' ich zur Strecke!

 

VII

Wie um noch einmal zu warnen, läßt eine Fügung in der nächsten Nacht den Grafen Schuwalow aus Petersburg in Berlin eintreffen: die russischen Verträge mit Deutschland soll dieser Botschafter erneuern, das ist sein Auftrag. An dieser Versicherung hängt das Schicksal des Reiches. In den nächsten drei Tagen wird es entschieden.

Der Kaiser, doppelt gereizt durch die eben gelesenen Bosheiten des Zaren, jagt nach irgendeinem Mittel, sich an ihm, zugleich an dem grausamen Mittler zu rächen. Sind keine Schleicher da, ihm eins zu reichen? Waldersee, immer erfinderisch, zieht es im psychologischen Moment aus der Tasche: Berichte des deutschen Konsuls aus Kiew, alarmierend über russische Truppenbewegungen, hundert Seiten zusammen eingesandt, die ältesten mehrere Monate alt; von diesen Berichten hatte Bismarck vor kurzem einige an den Generalstab, andere an den Kaiser geschickt. Waldersee, dem mächtigen und gefährlichen Geheimrat von Holstein befreundet, seit dieser gegen den Kanzler wühlt, hat von ihm die Zusammenhänge, deckt sie dem Kaiser auf, schürt seine Kränkung: Vorenthaltung wichtiger Nachrichten, dann fügt er hinzu: »In dieser Richtung ist massenhaft gesündigt worden, hier Hegt eine der Ursachen, daß der Kanzler seine Stellung nicht verlassen kann. Er hat zu viel ...«, soll heißen »betrogen«.

Der Kaiser strahlt auf. Mit diesem Papier kann er den Alten schlagen, hier ist die Rache für den Londoner Bericht! Rasch einen Zettel, und ohne Überschrift legt er ihn den ins Auswärtige Amt zurückgehenden Akten offen bei, sichtbar für alle Büros, denen der Dienstweg solche Papiere öffnet: »Die Berichte lassen auf das Klarste erkennen, daß die Russen im vollsten strategischen Aufmarsch sind, um zum Kriege zu schreiten – und muß ich es sehr bedauern, daß ich so wenig von den Berichten erhalten habe. Sie hätten mich schon längst auf die furchtbar drohende Gefahr aufmerksam machen können! Es ist die höchste Zeit, die Österreicher zu warnen und Gegenmaßregeln zu treffen ... W.«

Die Erregung über seine dicht bevorstehende Befreiung, man sieht es, hat also Furcht und Schneidigkeit in ihm verdoppelt, sein Haß gegen Bismarck sucht große historische Gründe, seine Rache will theatralisch sein: ein Krieg muß vor der Tür stehn – und dieser Alte hat nichts davon bemerkt! Das Reich in Gefahr! Alte Berichte eines Konsuls, deren Einzelheiten dem Generalstab durch seine Spione längst bekannt sind, müssen zur Enthüllung drohenden Krieges werden. Dies offen dem Kanzler zu sagen, damit es seine Leute vor ihm lesen, schmunzeln und den jungen König verehren lernen: welch ein Moment für ihn!

Denn heut, er weiß es, er allein von den Millionen allen, heute wird Bismarck fallen. Vergebens hat er ihm gestern den General Hahnke geschickt, um Rücknahme der ominösen alten Ordre zu befehlen. »Das ist unmöglich«, sagte Bismarck. »Will der Kaiser die Ordre kassieren, so muß er auch das Präsidium des Staatsministeriums aufheben. Dagegen habe ich nichts.«

»Es wird sich sicher ein Ausweg finden lassen«, hatte Hahnke geschmeidig erwidert. Aber nach dieser ironischen Ablehnung, die man dem Kaiser brachte, riß diesem, so erzählt er später, die Geduld: »Mein alter Hohenzollerscher Familienstolz bäumte sich auf. Jetzt galt es, den alten Trotzkopf zum Gehorsam zu zwingen oder die Trennung herbeizuführen, jetzt hieß es, der Kaiser oder der Kanzler bleibt oben.«

In Wahrheit hatte ihn die »russische Kriegsgefahr« so in Feuer gesetzt: nun faßt er sich ein Herz, heut schickt er den General ein zweites Mal, 17. März morgens. Der tritt beim Kanzler ein, reißt allen seinen Schlachtenmut zusammen und bringt korrekt heraus:

»S. M. bestehen auf der Rücknahme der bekannten Ordre. Nach dem Bericht, den ich über unser gestriges Gespräch erstattet habe, kann S. M. nur erwarten, daß E. D. sofort Ihren Abschied einreichen. E. D. belieben um 2 Uhr aufs Schloß zu kommen, um ihn dort entgegenzunehmen.«

Wie lange die Pause war, die Bismarck nun machte, ist nicht überliefert. Dann sagt er sehr ruhig: »Ich bin nicht wohl genug, um aufs Schloß zu kommen. Ich werde schreiben.«

Als eine Stunde später der Kaiser beim Großen Generalstab vorfährt, sagt er im Aussteigen zu Waldersee: »Die Sache ist in Ordnung. Hahnke ist beim Kanzler gewesen, er schickt keine Ordre, aber seine Entlassung.« Dann betritt er den Saal, in dem man heut Kritik an den taktischen Aufgaben des Generalstabs abhalten soll; vom Druck ist er erlöst, hier überall ist des Königs Rock, nur königstreue und gehorsame Männer sind zu sehn. Hier wird er glänzen.

In der Tat erhebt er sich nach dem Vortrag des Chefs und teilt seine eigne, von der offiziellen abweichende Lösung der Hauptaufgabe mit. »Leider machten«, berichtet Waldersee, »seine Ausführungen einen sehr dürftigen Eindruck. Jeder der zahlreichen Anwesenden empfand die Unrichtigkeit und Unreife dieser Ansichten; es war daher sehr bedauerlich, daß der Kaiser in Überschätzung seines Wissens sich so bloßstellte ... Ich erwiderte kein Wort« (W. 2, 119).

Da niemand erwidert, kann er mit Hochgefühlen ins Schloß zurückkehren. Noch nichts vom Kanzler? Und mit der Begründung, er fürchte von ihm »Schritte, die unsre auswärtige Politik beunruhigen könnten«, schickt er am Abend ein drittes Mal zu ihm, diesmal Lucanus, den trocken kühlen Chef seines Zivilkabinetts.

Bismarck ist eben von Tische aufgestanden, manches ist seit heut morgen mit ihm und durch ihn geschehn. Während der Kaiser überraschende Lösungen kriegerischer Aufgaben seinem Generalstab theoretisch vortrug, hat Bismarck sie praktisch hinauszuschieben versucht: er hat den Grafen Schuwalow empfangen, der seine Vollmachten zur Erneuerung der russischen Rückversicherung darlegte. Der schrak zusammen, als er von seinem alten Freund erfuhr, er werde morgen nicht mehr Kanzler sein. Dann hat Bismarck seinen Ministern die Lage erklärt und mit ingrimmigem Behagen ihre kalte Passivität konstatiert: niemand dachte an gemeinsame Demission des Kabinetts, die doch das gegebene war.

Jetzt steht Lucanus schmächtig vor dem Riesen. Weit zögernder als heute früh der General, und ohne jede Motivierung bringt er's heraus: »S.M. lassen anfragen, weshalb das am Morgen erforderte Abschiedsgesuch noch nicht eingegangen sei?«

Bismarck, noch immer ruhig: »Der Kaiser kann mich ja jeden Augenblick entlassen; meine Absicht kann nicht sein, gegen seinen Willen zu bleiben. Ich erkläre mich bereit, meine schlichte Entlassung sofort durch Gegenzeichnung gültig zu machen. Dagegen gedenke ich nicht, dem Kaiser die Verantwortung für meinen Rücktritt abzunehmen, werde vielmehr in öffentlicher Klarstellung die Genesis festlegen. Nach 28jähriger Amtstätigkeit, die für Preußen und für das Reich nicht ohne Einfluß geblieben ist, brauche ich Zeit, um mich in einem Abschiedsgesuch auch vor der Geschichte zu rechtfertigen.«

Lucanus hat Zivil-Courage: er wagt's und bestreitet dem Kanzler das Recht, die Dinge öffentlich darzustellen. Was Bismarck ihm dann noch erwidert haben mag, hat er nicht überliefert und Lucanus allen Grund zu verschweigen; seine gleichmütige Stimmung, schreibt Bismarck, wich in diesem Gespräch einem Gefühl der Kränkung.

Während er abends das Dokument entwirft, sitzt Eulenburg, seit Jahren Freund des Bismarckischen Hauses, beim Kaiser: »Es waren Stunden großer Erregung.« Diner mit einem Herzog. Darauf der Kaiser: »So, nun ist es genug. Jetzt wird musiziert, jetzt werden Sie singen ... Wir wollen uns den Kopf wieder klarmachen und an andere Dinge denken.« Darauf singt Eulenburg seine Balladen, die der Kaiser auswählt und deren Noten er umblättert. »Er war ganz bei der Sache, in unbefangener Freude. Sein merkwürdig schnell wechselndes Temperament ließ ihn selbst in diesen peinlichen Stunden nicht im Stich. Nur einige Minuten wurde die Musik durch die brennende politische Frage unterbrochen: der Kaiser, herausgerufen, um Hahnkes Antwort zu hören, setzt sich bald wieder ans Klavier und sagt leise: »Jetzt ist der Abschied da.« Hierauf wird weiter gesungen (E. 238).

Was ihn an diesem Tage beherrscht, ist die tödliche Angst, der Alte könnte ihn vor der Nation zu gewaltsamer Exmittierung zwingen; daß er die Aufregung in Tönen begräbt, ist gar nicht übel. Aber noch einen halben Tag läßt ihn der Alte warten, bis er, »bleich und erregt« endlich das Papier in seinen Händen fühlt. Sechs Druckseiten lang, in allem dem Kaiser Grund und Anlaß zum Rücktritt zuschiebend, ist es erst spät der Nation bekannt geworden. Schnell schreibt der Kaiser, als könnte er etwas versäumen, darunter: »Genehmigt. W.«

Hierauf verbietet er Publikation dieser Darstellung, veröffentlicht aber seine eigne, die in zwei Handschreiben von Bismarcks kostbarer Gesundheit spricht, von der Hoffnung, seinen Rat und seine Tatkraft auch fernerhin nützen zu können, und von der Überzeugung, »daß weitere Versuche, Sie zur Rücknahme Ihres Antrages zu bestimmen, keine Aussicht auf Erfolg haben«. So fälscht er vor der Welt die wahren Gründe, schiebt dem gewaltsam Entlassenen Wunsch und Verantwortung für seine letzten Schritte zu und sucht durch Herzogstitel, Ernennung zum Generaloberst, sogar durch Angebot einer Dotation, d. h. einer Geldabfindung den Eindruck eines Entschlusses auszugleichen, den er den Mut nicht hat, auf sich zu nehmen. Wunderliche Figuren: wie sich nun in Bismarcks Salon die Türe öffnet und vor ihm und seinem alten Freunde Kardorff, erscheinen mit glatten Mienen und verbindlichen Verbeugungen nochmals Hahnke und Lucanus, gestern Totengräber, heute Kondolierende, denn jeder hält in Händen einen ziemlich großen blauen Brief; Bismarck aber unterdrückt Bosheit und Witz und nimmt die Kaiserlichen Schreiben mit schuldigem Respekt entgegen.

Als andern Tags der Kaiser mit unverhohlener Genugtuung seinen Generalen den Rücktritt des Kanzlers kundgegeben hat, ist keiner betroffen, außer dem alten Kampfgenossen: auf der Treppe beim Gehen bleibt Moltke stehen, die neunzigjährigen, immer verschlossenen Lippen öffnen sich, er sagt: »Das ist eine bedauerliche Geschichte. Der junge Herr wird uns noch vor manches Rätsel stellen.«

Indessen erhebt der Kaiser vor der Nation die Stimme, und zwar im Volksliedtone, den sie hören möchte. In einer Depesche: »Mir ist so weh ums Herz, als hätte ich noch einmal meinen Großvater verloren. Aber von Gott Bestimmtes ist zu ertragen, auch wenn man daran zugrunde gehen sollte. Das Amt des wachthabenden Offiziers auf dem Staatsschiff ist mir zugefallen. Der Kurs bleibt der alte. Volldampf voraus!« Sehr fein wird hier die Seele der Deutschen getroffen: sie hören, daß dies alles Fatum war, und da sie eine Schwäche für das Tragische haben, zugleich für den starken Mann in Offiziersstellung, erkennen sie in einer von Gott gesetzten Prüfung den jungen Herrn am Steuer willig an, und niemand stutzt, daß sich der Kaiser hier öffentlich als sein eigner Kanzler bezeichnet.

Auch ist der Eindruck viel geringer, als der Kaiser befürchten mußte. Das Abgeordnetenhaus nimmt die Mitteilung vom Rücktritt seines Ministerpräsidenten nach 28-jähriger Tätigkeit in vollem Schweigen auf. Laut begrüßen die liberalen Blätter den Fortfall eines »seit Jahren unüberwindlichen Hindernisses ... Die Nation wird den 18. März 1890 bald zu den Tagen zählen, deren man mit Freude gedenkt.« Unter den hohen Beamten herrscht das Gefühl der Erlösung, von einem berichtet Hohenlohe, er war »froh wie ein Schneekönig, daß er jetzt offen reden konnte. Dies behagliche Gefühl ist hier vorherrschend«.

Sogar die Diplomatenkreise begreifen nur im Ausland, nicht in Berlin, was in Europa passiert ist: »Gestern (18.) war Dilettantentheater beim sächsischen Gesandten«, schreibt der österreichische Botschafter nach Haus, »und ich konnte mich nicht genug darüber wundern, wie man fast nirgends Gruppen wahrnehmen konnte, die das große Tagesereignis besprachen. Die Eindrücke der Abendunterhaltung standen den Leuten viel näher.« Dieser Österreicher konnte im voraus nicht wissen, daß in der Tat an diesem Abend das Dilettantentheater in Berlin begann, aber er hatte genug historische Ironie, um nach ein paar Tagen eine Visitenkarte nach Wien zu senden, auf der Bismarck bei seinem Abschiedsbesuche das Wort Reichskanzler mit Bleistift gestrichen hatte.

Der Kaiser triumphiert: sein Volk hat ihn verstanden. Um vollends zu beruhigen, sucht er Herbert im Amte zu halten.

Er appelliert an seine alte Freundschaft, die längst morsch war, er schickt sogar nochmals zu seinem Vater, er möge auf Herbert einwirken; der aber sagt dem Vermittler nichts als Piccolominis Wort: »Mein Sohn ist mündig«. Wehe Herbert, wenn er geblieben wäre! Dem Sohn das Amt zu sichern, war immer sein Streben gewesen, nun aber, im Streite, geht Ehre über Sicherheit. Dennoch läßt er den Sohn noch eine Woche im Amt, um den russischen Vertrag doch noch zu retten, gegen den sich Bismarcks Feinde sogleich verschwören. Als Herbert dem Kaiser mitteilt, Schuwalow weigere sich, mit Bismarcks Nachfolger den Vertrag zu erneuern, schreibt der Kaiser daneben: »Warum?« In diesem Einen Worte liegt alle Verkennung von Bismarcks europäischer Macht, doch auch die ganze Naivität, mit der ein junger Fürst glaubt, bei gutem Willen alles allein zu erreichen. Warum? Das ist das Wort, mit dem er noch nach dreißig Jahren im sicheren Gefühl des guten Willens sich über eine böse Welt verwundern wird.

Erstaunt und unruhvoll erkennt er doch die Wichtigkeit des Vertrages: auch deshalb will er Herbert halten, um den Eindruck einer Schwenkung in den auswärtigen Fragen zu verhüten. Nun überfällt ihn plötzlich Angst: nachts läßt er den russischen Grafen wecken, er möge um 8 Uhr früh zu ihm kommen. Schuwalow erschrickt, er denkt, der Zar ist ermordet. Am Morgen versichert ihm der Kaiser: »Durch den Abgang des Fürsten hat sich nichts verändert, ich wünsche den Vertrag durchaus, bitte Sie, mit dem Grafen Herbert Bismarck abzuschließen und den Zaren meiner steten Freundschaft zu versichern.« Als dieser die Worte einige Stunden später drahtlich erfahren, hält er Ministerrat, es folgt Rückfrage, neue Überlegung in Petersburg; es scheint, man wird einig.

Aber inzwischen stürzen die Epigonen sich auf das vom Meister verlassene Werk, um es nur rascher wieder zu zerstören.

Caprivi, der neue Kanzler, General, politisch unbewandert, wird von dem dunkel bewegten Alten in einem Gartengespräch auf den russischen Vertrag angesprochen. »Bismarck«, so erzählt Caprivi, »fragte mich, ob ich den geheimen Vertrag von 87 nicht erneuern wollte. Ich gab ihm zur Antwort: »Ein Mann wie Sie kann mit fünf Bällen gleichzeitig spielen, während andere Leute gut tun, sich auf einen oder zwei Bälle zu beschränken.« Zu weiterer Aussprache kam es nicht, weil Caprivi der Aufforderung, bis zum Auszuge der Bismarcks täglich bei ihnen zu frühstücken, nur einmal nachkam, »da ich Zeuge von Äußerungen über den Kaiser, und zwar solcher aus weiblichem Munde geworden war, die ich anständigerweise nicht zum zweitenmal anhören durfte« (v. Eckardt, Caprivis Kampf, 59.)

Warum auch Bismarck? Caprivi hat sich indessen Rat bei andern Autoritäten geholt: vor allem beim Geheimrat von Holstein, dem besten Kenner aller auswärtigen Geschäfte, dessen Gutachten gegen die Erneuerung ausfiel: »Etwas Greifbares ist davon nicht zu erwarten, kommt es aber heraus, so sind wir als falsche Kerle blamiert.« Von Frankreich werde der Zar durch den Vertrag doch nicht getrennt, dagegen könne der Verrat des Geheimnisses in London oder Wien den Dreibund sprengen und uns dann ganz auf Rußland verweisen. Weder Holstein noch dem jüngeren Kiderlen-Wächter, der ähnlich schloß, weder ihrem Zuhörer Caprivi noch dessen Zuhörer, dem Kaiser, dem der neue Kanzler diese Gegengründe vortrug, ist eingefallen, daß Bismarck nicht aus einem schlechten Gewissen, das er nicht zu haben brauchte, sondern nur auf des Zaren Wunsch den Vertrag vor Wien geheimgehalten hat; auch ist keinem eingefallen, daß Bündnisse auf Interessen beruhen und nicht dadurch gesprengt werden, daß ein Verbündeter auch anderswo Friedensbürgschaften sucht.

Etwas anderes war es, das dem Baron von Holstein für sein entscheidendes Votum einfiel: »So hingen wir«, schrieb er einem Vertrauten, »von Rußlands Diskretion ab, es könnte uns dann seine Bedingungen für den ferneren Umgang machen. Die erste würde sein: ich will mit dem bisherigen Geschäftsfreund B. verkehren, und zwar nur mit ihm. Verstehen Sie jetzt die Lage? Daher der krankhafte Eifer!«

Daher der Eifer Holsteins und der Seinigen! Jetzt, wo die Krisis Freund und Feind vor Bismarcks Augen deutlich geschieden, mußte jeder, der ihn verlassen, vor seiner Wiederkehr erzittern. Schon harken mit geschwinden Händen die Zwerge das Loch zu, in dem sie hausen, damit der Bär nicht wieder bei ihnen einbricht. In diesen Tagen, als das Auswärtige Amt die Entscheidung: mit oder ohne Rußland, schwanken sieht, und jeder zieht an seiner Schnur, wird selbst ein Registrator von Bedeutung. Als Herbert, noch Staatssekretär, die ganze Verhandlung nach Petersburg verlegen will, um sie den Berliner Rankünen zu entziehen, will er aus der Geheimen Kanzlei die Akten für den deutschen Botschafter holen.

»Die Akten«, sagt der alte Registrator, »die hat der Herr Baron von Holstein mitgenommen.«

Zu spät. Mit Umgehung seines Vorgesetzten hatte Holstein die Akten selber geholt und dem neuen Kanzler gebracht. Jetzt fällt Herbert mit aller Brutalität über den alten Beamten her: »Wie können Sie sich erlauben, ohne Genehmigung des Staatssekretärs geheime Akten herauszugeben!« Darauf kam es »zu einem Auftritt rohester Art, in den Holstein hineingezogen wurde«. Diesen ältesten Vertrauten, dessen heimlichen Abfall Herbert schon lange spürte, fährt dieser vor Zeugen wütend an: »Sie scheinen mich etwas früh für einen toten Mann zu halten!« (Eckart, Caprivi, 51.)

Am nächsten Tage geht auch er; der Kampf ist aufgegeben.

Der Kaiser allein entschied zuletzt nach freiem Ermessen das Problem, in ihm zum erstenmal eine deutsche Lebensfrage. Keineswegs hätte der unpolitische neue Kanzler nach der ersten Amtswoche eine Kabinettsfrage aus einer Entscheidung gemacht, zu der er sich selber sachlichen Rates bedienen mußte. Warum hat also der Kaiser die Meinung gewechselt?

Die Russen waren bereit, sogar auf sechs Jahre den bisher dreijährig kündbaren Vertrag zu erneuern, und hatten erklärt, mit diesen sechs weiteren Jahren das Verhältnis in ein dauerndes überzuleiten. Das bedeutete nichts weniger als die Sicherheit des Reiches gegen den Krieg mit zwei Fronten. Das hatte der Kaiser eingesehn und deshalb die Erneuerung gewünscht, obwohl er diesem Zaren persönlich grollte. Doch nun, da endlich der morsche Block aus der Aussicht geschleppt ist, ist die Bahn frei, neue Gesichter umgeben den Herrn, jeder führt sich mit einem Spruche gegen Bismarck ein, nun, zum erstenmal von einem Mann beraten, den er selber herausgefunden, der also vortrefflich sein mußte, gespeist mit Scheingründen der Loyalität gegen Verbündete, zugleich am delikatesten Punkte gefaßt, an seiner Furcht, er könnte ganz vereinsamt werden: nun folgt er Caprivis Rat um so lieber, als dieser Bismarcks angebliche Fehler aufdeckt.

»Ruhig, klar und offen vorzugehen, ohne diplomatische Wagnisse«: diese Sprache Caprivis trank der Kaiser ein; schlicht und deutsch, nicht wie der alte Fuchs: das entsprach auch der gottesfürchtigen Geste, die er überall zeigte, so sprach zu ihm eben nur ein Soldat, der nichts von jenen Federkünsten wußte. Der ehrliche Caprivi freilich hatte in seinem eignen Verzicht auf das diplomatische Ballspiel seine Eignung offen negiert; er wußte kaum, daß Holstein, der entscheidende Ratgeber nicht für das Reich besorgt war, nur für sich, als er von einer Politik abriet, die Bismarck wiederbringen konnte. Und wenn es durch ihn der Kaiser wußte, so mochte dies Motiv den Herrn erst recht vor der Erneuerung warnen.

Wie um den neuen Kurs vor aller Welt zu betonen, den der Kaiser noch eben abgewehrt, erscheint er, beim Besuch des Onkels Eduard am 21. an glänzender Tafel zum erstenmal im Leben als Engländer: zum Admiral der Britischen Flotte ernannt, erhebt er in dieser neuen Uniform das Glas, trinkt auf die alte Waffenbrüderschaft von Waterloo, hoffend, »die englische Flotte wird zusammen mit der deutschen Armee den Frieden wahren«. Noch einmal öffnen sich Moltkes schmale Lippen zu den erschreckten Worten: »Hoffentlich kommt diese Rede nicht in die Presse« (Ho. 463).

Jetzt nützte es nichts mehr, daß Schuwalow sich konsterniert zeigte, neue Verhandlungen anbot, sogar den Kaiser an sein kürzlich gegebenes Wort erinnern ließ. Es nützte nichts, daß der deutsche Botschafter warnte, Rußland könnte »die Anlehnung, die es bei uns nicht findet, anderswo suchen«. Eben weil man in den letzten Jahren die Pariser Agitation für Rußland in Berlin verfolgt hatte, mußte man sich jetzt mehr als je davor sichern. Umsonst! Der Kaiser hatte entschieden.

Drei Monate darauf, Juni 90, schloß der Zar, durch den deutschen Rücktritt vom Vertrage vereinsamt, das erste Abkommen zur Alliance mit der Französischen Republik, gegen die sich seine absoluten Gedanken bisher immer gewehrt hatten, und der russische Ministerpräsident sagte bald darauf zum deutschen Botschafter: »Mit unserem Vertrage war die Barriere gefallen, die Rußland von Frankreich getrennt hatte.«

Auf diese Art, durch Unkenntnis Europas, durch eingestandenes Unvermögen des ersten Reichsbeamten, vor allem durch eine Intrige gegen Bismarck: ausschließlich also durch die vorzeitige Entlassung des Meisters ging der Vertrag zugrunde, an den seine Staatskunst die Sicherheit des Reiches geknüpft hatte. Mit seherischer Wahrheit schrieb Bismarck etwas später, 20 Jahre vor dem Weltkrieg, von dem Zusammentreffen beider Ereignisse: »Ich mußte dies als eine Laune des Zufalls ansehen, und die Geschichte wird es vielleicht verhängnisvoll zu nennen haben.«

Der alles entschied, war der Kaiser. Als er in denselben Tagen den Kanzler zum Abschied empfing und nach seiner Gesundheit fragte, um derentwillen er ihn angeblich ziehen ließ, sagte Bismarck gelassen: »Die ist gut, Majestät.« Hierauf übergab ihm die Kaiserin einen Rosenstrauß. Er selber legte drei Rosen auf Kaiser Wilhelms Grab. Als er Berlin verließ, brach die Menge auf den Perron des Lehrter Bahnhofes vor. Hier standen die Minister und ihr neuer Führer. Die Menge hatte den Kaiser erwartet. Weder er noch sein Bruder noch einer der Bundesfürsten war erschienen. Der einzige Fürst, der hier erschien, war Prinz Max von Baden.

Im Wartesaal, zwischen Blumen, hatten unbekannte Hände einen umflorten Erdball aufgestellt.


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