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4. Kapitel. Die Fahrt der Götter

Als die Tage im Herbst immer kürzer wurden, und häufige Fröste die Luft abkühlten, machte Wolfsblut einen Versuch, seine Freiheit wieder zu erlangen. Seit einigen Tagen herrschte im Dorfe großes Leben und Treiben. Das Sommerlager wurde abgebrochen, und der Stamm schickte sich an, mit Sack und Pack nach den herbstlichen Jagdgründen abzuziehen. Wolfsblut beobachtete alles mit aufmerksamem Auge, und als die Wigwams sich senkten und die Boote am Ufer beladen wurden, da verstand er, was das bedeutete. Schon fuhren einige Boote stromabwärts und waren bald dem Auge entschwunden.

Er beschloß mit voller Überlegung, zurückzubleiben. Er wartete auf eine günstige Gelegenheit, um aus dem Lager und in den Wald zu schleichen. Hier angekommen, verbarg er im Wasser, das schon zu gefrieren begann, seine Spur, kroch dann ins Dickicht und wartete. Die Zeit verging, dann und wann schlief er ein paar Stunden, endlich weckte ihn die Stimme des Grauen Biber, der seinen Namen rief. Auch andere Stimmen wurden laut; er unterschied die der Frau des Grauen Biber und die Mitsahs, des Sohnes des Grauen Biber, die ebenfalls an der Suche teilnahmen.

Wolfsblut zitterte teils vor Angst, teils vor Verlangen, das Versteck zu verlassen, aber er widerstand diesem Verlangen. Nach einer Weile wurden die Stimmen schwächer, und er kroch ins Freie, um den Erfolg seiner Taten zu genießen. Die Dunkelheit brach herein, und eine Zeitlang spielte er unter den Bäumen umher und freute sich der wiedergewonnenen Freiheit. Dann wurde ihm plötzlich seine Einsamkeit klar. Er setzte sich nieder, um nachzudenken, er lauschte auf das Schweigen im Walde, das ihm drückend erschien. Es war so unheimlich, daß nichts sich bewegte, daß kein Ton laut wurde. Er fühlte, wie etwas Furchtbares unsichtbar um ihn lauerte. Er ängstigte sich vor den hohen Bäumen, vor den dunklen Schatten, hinter denen allerlei Gefahren sich verstecken konnten.

Auch fing es an kalt zu werden. Hier war nicht die warme Wand eines Wigwams, an die er sich schmiegen konnte. Die Füße froren ihm, und er hob bald den einen, bald den andern Vorderfuß empor, um ihn zu erwärmen, und deckte den buschigen Schwanz darüber. Zugleich zogen vor seinem innern Auge die Bilder der Erinnerung vorüber. Er sah wieder das Lager, die Zelte, den Schein der Feuer. Er hörte die hohen, schrillen Stimmen der Weiber, die Baßtöne der Männer, das Knurren der Hunde. Ihn hungerte, und ihm fielen die Stücke Fleisch und Fisch ein, die ihm hingeworfen worden waren. Hier gab es nichts zu essen, nichts als drohendes Schweigen, das nicht satt machte.

Die Knechtschaft hatte ihn verweichlicht, die Fürsorge anderer ihn schwach gemacht. Die Nacht rings umher gähnte ihn an. Seine an den Lärm und Tumult des Lagers, an fortwährende Eindrücke auf Seh- und Hörnerven gewöhnten Sinne waren müßig. Hier war nichts zu sehen, nichts zu hören oder zu tun. Er strengte sich an, einen Laut in der Stille zu vernehmen, einen Gegenstand in der Dunkelheit zu unterscheiden. Die Untätigkeit ängstigte ihn, das Gefühl, daß etwas Furchtbares ihm bevorstände. Er fuhr vor einem unförmigen Dinge, das sein Auge traf, entsetzt zurück, doch war es nur der Schatten eines Baumes, als der Mond aus den Wolken hervortrat. Als er sich beruhigt hatte, winselte er leise, aber er unterdrückte sogleich diesen Laut aus Furcht, die Aufmerksamkeit der um ihn lauernden Gefahren auf sich zu ziehen.

Ein Baum, dessen Holz sich in der kalten Nacht zusammenzog, knarrte laut. Es war dicht über ihm, und er schrie vor Angst auf. Es ergriff ihn Entsetzen und er rannte wie toll nach dem Dorfe hin. Er hatte ein überwältigendes Verlangen nach dem Schutz und der Gesellschaft der Menschen. Er glaubte den Rauch der Lagerfeuer zu riechen, das Geschrei und die Rufe im Lager zu vernehmen. Er lief aus dem Walde und auf die vom Mondschein beschienene Fläche zu, wo es keine Schatten, keine Dunkelheit gab. Allein kein Dorf begrüßte sein Auge; er hatte vergessen, daß es fort war.

Er hielt in seinem tollen Lauf inne. Wohin sollte er auch fliehen? Er schlich verlassen über den öden Lagerplatz, beschnupperte die Kehrichthaufen und weggeworfenen Lumpen seiner Götter. Er würde über einen Steinhagel, womit eine ärgerliche Indianerin ihn begrüßt hätte, erfreut gewesen sein, er wäre froh gewesen, wenn der Graue Biber ihn zornig geprügelt hätte, und mit Entzücken würde er Liplip und das ganze kläffende, feige Rudel begrüßt haben.

Er kam zu der Stelle, wo der Wigwam des Grauen Biber gestanden hatte. Mitten auf dem Platze setzte er sich nieder und hob den Kopf zum Monde empor. Es zuckte krampfhaft in seiner Kehle, er öffnete den Mund, und in herzbrechendem Geheul stieg seine Verlassenheit, seine Furcht seine Sehnsucht nach Kische, ja, all der Jammer und das Elend der Vergangenheit und die Angst vor der Zukunft in langgezogenen, lauten, traurigen Tönen empor, dem ersten Wolfsgeheul, das er ausgestoßen hatte.

Das Licht des anbrechenden Tages verjagte seine Furcht, zeigte aber seine Verlassenheit noch deutlicher. Die kahle Erde, die noch vor kurzem so dicht bevölkert gewesen war, führte sie ihm noch mehr zu Herzen. Doch nun schwankte er nicht lange in dem, was er zu tun habe. Er rannte durch den Wald und am Flußufer stromabwärts. Er lief den ganzen Tag, ohne auszuruhen, als wollte er immer laufen. Sein eiserner Körper kannte keine Ermüdung, und selbst als diese kam, machte seine ererbte Ausdauer ihn zu endloser Anstrengung fähig, die den schmerzenden Körper rastlos vorwärtstrieb.

Wo der Fluß sich um steile Ufer krümmte, kletterte er die Anhöhen, wo Bäche und Nebenflüsse in den Hauptstrom mündeten, schwamm er hinüber und durchwatete sie. Oft lief er auf dem Eise am Rande, und mehr als einmal brach er ein und kämpfte in der eiskalten Flut um sein Leben. Immer aber schaute er nach der Spur seiner Götter aus, wenn er den Strom verlassen und landeinwärts biegen mußte.

Zwar war er klüger als der Durchschnitt seiner Gattung, doch sein geistiges Auge schaute nicht weit genug, um an das andere Ufer des Mackenzie zu denken. Wie, wenn die Fährte der Götter auf jener Seite lief? Das fiel ihm nicht ein. Später, als er auf seinen Fahrten mehr Flüsse kennen gelernt, hätte er eine solche Möglichkeit begriffen, aber im Augenblick rannte er blindlings vorwärts, da ihm nur dies Ufer des Mackenzie in den Sinn kam.

Er lief die ganze Nacht hindurch, stolperte über Hindernisse, die ihn zwar aufhalten, doch nicht abschrecken konnten. In der Mitte des zweiten Tages war er dreißig Stunden lang gelaufen, und selbst seine eisernen Muskeln gaben nach. Nur seine Ausdauer und sein Mut trieben ihn weiter. Er hatte seit vierzig Stunden nichts gefressen, und der Hunger machte ihn schwach; auch war das wiederholte Untertauchen in dem kalten Wasser nicht ohne Wirkung auf ihn geblieben. Sein glattes Fell war besudelt und die breiten Sohlen seiner Füße waren zerrissen und wund. Er hatte zu hinken angefangen, was von Stunde zu Stunde zunahm. Das Schlimmste aber war, daß das Tageslicht dunkel wurde, denn es begann Schnee zu fallen, ein nasser, schmelzender, zusammenklebender Schnee, der glatt unter den Füßen war, die Gegend verhüllte und die Unebenheiten des Bodens verdeckte, so daß das Gehen schwer und schmerzhaft wurde.

An jenem Abend hatte der Graue Biber beabsichtigt, am andern Ufer zu übernachten, da die Jagdgründe in jener Richtung lagen. Allein kurz vor dem Dunkelwerden war ein Elch auf dieser Seite zum Flusse herabgekommen, um zu saufen, und Klukutsch, die Frau des Grauen Biber, hatte ihn gesehen. Wäre der Elch nicht zum Trinken gekommen, hätte Mitsah, durch den Schnee geblendet, nicht beim Steuern die Richtung verloren, Klukutsch das Tier nicht gesehen, und der Graue Biber mit einem glücklichen Schuß aus seiner Büchse es nicht erlegt, so wäre alles anders gekommen. Der Graue Biber hätte nicht am diesseitigen Ufer des Mackenzie übernachtet, und Wolfsblut wäre weitergelaufen und entweder gestorben oder zu den wilden Brüdern gerannt und wie sie bis an sein Lebensende ein Wolf geblieben.

Die Nacht brach herein. Der Schnee fiel immer dichter, und leise vor sich hin wimmernd stolperte und hinkte Wolfsblut vorwärts, als er auf eine frische Spur im Schnee traf. So frisch war dieselbe, daß er sie sofort erkannte. Eifrig winselnd verfolgte er sie vom Flußufer rückwärts bis unter die Bäume. Die Töne des Lagers trafen sein Ohr. Er sah den Schein des Feuers, sah, wie Klukutsch kochte und der Graue Biber auf dem Boden hockte und ein Stück Talg verzehrte. Also gab es frisches Fleisch im Lager.

Wolfsblut machte sich auf Schläge gefaßt. Er duckte sich bei dem Gedanken daran und sträubte das Haar, allein er ging vorwärts. So sehr er auch die Prügel fürchtete, so angenehm war doch wieder der Gedanke an das Feuer, das ihn erwartete, an den Schutz der Menschen, ja, selbst an die Gesellschaft der Hunde, so feindselig sie ihm auch waren. Auf dem Bauche kriechend kam er dicht an das Feuer. Der Graue Biber erblickte ihn und hörte auf zu kauen. Langsam kroch Wolfsblut näher, demütig und unterwürfig, geradewegs auf den Grauen Biber zu, indem er jeden Zollbreit der Entfernung immer langsamer und mühseliger zurücklegte. Endlich lag er zu den Füßen des Herrn, um freiwillig sich ihm zu unterwerfen. Zitternd wartete er auf die Strafe, die ihm bevorstand, und schon bewegte sich die Hand über ihm. Unwillkürlich duckte er sich noch tiefer, um den Schlag zu empfangen – aber es kam keiner. Verstohlen blickte er empor. Da brach der Graue Biber das Stück Talg entzwei und reichte es ihm hin. Vorsichtig und argwöhnisch beroch es Wolfsblut, dann erst fing er an, es zu verzehren. Darauf ließ der Graue Biber Fleisch bringen und wehrte, so lange Wolfsblut fraß, die andern Hunde ab, worauf Wolfsblut dankbar und zufrieden sich zu den Füßen des Herrn niederlegte und zwinkernd in das wärmende Feuer schaute, bis er einschlummerte, sicher, daß der Morgen ihn nicht mehr einsam im öden Walde antreffen würde, sondern bei den Menschen im Lager, bei den Göttern, denen er sich mit Leib und Seele hingegeben hatte, und denen er nun untertänig war.


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