Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Ein Taifun vor der japanischen Küste

 

Das erste Geld, das Jack London sich je mit Schreiben verdiente, zahlte ihm »Der Morgenruf« in San Franzisko für den nachstehenden Aufsatz, mit dem er am 12. November 1893 als Sieger aus einem von diesem Blatte veranstalteten Preisausschreiben hervorging. Kurz vor Schluß des Einlieferungstermins brachte seine Mutter das mit der unbeholfenen Handschrift des Siebzehnjährigen geschriebene Manuskript auf die Redaktion mit den Worten: »John hat oft gewünscht, über das, was er erlebt hat, schreiben zu dürfen.« (Jack London hieß mit seinem eigentlichen Vornamen John.)

 

Es war am Morgen. Die Schiffsglocke hatte vier Glasen geschlagen. Wir waren gerade mit dem Frühstück fertig, als die Deckwache den Befehl erhielt, beim Beidrehen des Schiffes zu helfen, und alle Mann an die Boote beordert wurden.

»Hart Backbord! Hart Backbord!« rief der Steuermann. »Geit die Marssegel auf! Fiert Außenklüver. Schiftet Klüver und streicht die Fock!« Und damit war unser Schoner, die »Sophie Sutherland«, beigedreht. Es war der 10. April 1893, in Höhe der japanischen Küste, in der Nähe von Kap Jerimo.

Dann herrschte für einige Augenblicke wildes Getöse und Durcheinander. Es waren achtzehn Mann, die die sechs Boote bemannen sollten. Einige hakten die Falle aus, andere warfen die Zurringe los; Bootssteuerer erschienen mit Kompassen und Wasserfässern und Ruderer mit Proviantkisten. Jeder schwankte unter der Last von zwei bis drei Schrotflinten, einer Büchse und einer schweren Munitionskiste, und bald waren alle mit Ölröcken und Handschuhen in den Booten verstaut.

Der Steuermann erteilte seine letzten Befehle, und wir pullten fort, jedes Boot unter dem Druck von drei Paar Riemen, um unser Jagdgebiet zu erreichen. Wir waren im Luvboot und hatten deshalb weiter zu pullen als die andern. Die drei ersten Leeboote setzten bald alle Segel und liefen südwärts und westwärts mit dem Winde, während der Schoner sich in Lee hielt, damit die Boote im Notfall guten Wind zu ihm zurück hatten.

Es war ein prächtiger Morgen, aber unser Steuermann schüttelte den Kopf in böser Ahnung, als er die aufgehende Sonne betrachtete, und murmelte prophetisch: »Rote Sonne am Morgen bringt dem Seemann Sorgen.« Die Sonne sah böse aus, und einige wenige helle Wolkenballen verschwanden bald beschämt und erschrocken.

Im Norden erhob Kap Jerimo seinen schwarzen, widerwärtigen Kopf wie ein riesiges Ungeheuer, das aus der Tiefe auftaucht. Der Winterschnee, den die Sonne noch nicht ganz geschmolzen hatte, bedeckte ihn in Flecken von glitzerndem Weiß, über die der leichte Wind auf seinem Wege auf die See heraus hinwegfegte. Große Möwen erhoben sich langsam, ließen ihre Flügel in der leichten Brise schwingen und schlugen mit ihren Füßen das Meer fast auf eine halbe Meile, ehe sie sich zu erheben vermochten. Kaum war ihr Plätschern verrauscht, als sich ein Volk von Seewachteln erhob und mit sausenden Flügeln nordwärts flog, wo sich eine große Walheerde tummelte. Ihr Blasen klang wie das Pfeifen von erschöpften Dampfmaschinen. Die rauhen, mißtönenden Schreie eines Schneepapageis kratzten unangenehm im Ohre und weckten ein halbes Dutzend Seehunde vor uns. Spielend und springend zogen sie durch das Wasser ab. Eine Möve umkreiste uns in langsam-bedächtigem Fluge und in langen, majestätischen Kurven, und als Erinnerung an die Heimat setzte sich ein kleiner Sperling frech auf die Back, legte den Kopf auf die Seite und zirpte munter. Die Boote hatten bald die Seehunde erreicht, und von Luv bis Lee konnte man das Bang-Bang der Büchsen hören.

Der Wind hob sich langsam, und um drei Uhr, als wir ein Dutzend Seehunde in den Booten hatten und gerade überlegten, ob wir weiterfahren oder umkehren sollten, ging die Signalflagge am Besanmast des Schoners hoch und rief uns zurück – ein sicheres Zeichen, daß mit dem steigenden Winde das Barometer fiel, und daß unser Steuermann sich um die Boote ängstigte.

Mit einem Reif in den Segeln liefen wir vor dem Winde. Der Steuermann biß die Zähne zusammen und hielt mit beiden Fäusten die Ruderpinne gepackt, seine Augen schweiften ruhelos von dem Schoner nach der Großschot und dann achtern über das dunkle Gekräusel, das der Wind im Wasser erzeugte, und das den kommenden Sturm verkündete, oder nach einer großen weißen Woge, die uns zu überwältigen drohte. Die Wellen spielten Karneval, sie rissen die seltsamsten Possen und kamen in wilder Freude ungestüm dahergetanzt – aufwärts und abwärts, hier und dort, überall, bis eine große See aus flüssigem Grün mit milchweißem Schaumkamm sich von dem seufzenden Busen des Ozeans hob und uns die Aussicht auf die andern versperrte. Aber das dauerte nur einen Augenblick, dann erschienen sie wieder unter neuen Formen. Den Weg der Sonne wanderten sie, groß und klein, mit Sprühregen und Gischt, geschmolzenem Silber gleichend. Das Wasser verlor seine dunkelgrüne Farbe und wurde eine einzige blendende, silbrige Glut, um wieder zu verschwinden und eine wilde Einöde von grünlichen Wirbeln zu werden, durch die dunkle, drohende Wogen rollten. Das feurige Funkeln und das silbrige Licht verschwanden bald mit der Sonne, die durch schwarze, rasch aus Westen und Nordwesten sich heranwälzende Wolken verdunkelt wurde; sie waren die Herolde des nahenden Sturmes.

Bald hatten wir den Schoner erreicht und gelangten als letzte an Bord. Wenige Minuten später waren die Seehunde abgezogen, Boote und Decks gewaschen, und wir saßen beim prasselnden Feuer in der Back, wuschen uns, zogen uns um und hatten bald ein kräftiges, warmes Abendbrot vor uns stehen. Die Segel des Schoners waren gerefft worden, da wir bis zum nächsten Tage fünfundsiebzig Meilen südwärts kommen mußten, um die Seehunde zu finden, die wir in den beiden letzten Tagen aus den Augen verloren hatten.

Wir hatten die erste Wache von acht bis Mitternacht. Der Wind war zu einer steifen Brise angewachsen, und unser Steuermann schritt auf der Achterhütte hin und her und war sich bewußt, daß er diese Nacht nur wenig Schlaf bekommen würde. Die Topsegel wurden aufgegeit und festgemacht, ebenso der Außenklüver. Hin und wieder brach ein ganzes Meer über das Deck, überflutete es und drohte die Boote zu zerschmettern. Um sechs Glasen wurde uns befohlen, sie umzudrehen und mit Sturmlaschings zu befestigen. Damit hatten wir bis acht Glasen zu tun, als wir durch die Mittelwache abgelöst wurden. Ich war der letzte, der nach unten ging, und zwar gerade, als die Wache an Deck den Besan festmachte. Unten schlief alles außer der Grünen Hand, dem schwindsüchtigen, im Sterben liegenden Maurer. Die wildtanzende Schiffslampe warf ein blasses, flackerndes Licht durch die Back und verwandelte die Wassertropfen auf dem gelben Ölzeug in gelben Honig. In allen Ecken schienen dunkle Schatten zu kommen und zu gehen, verschwanden unter den Pallbits, stiegen von Deck zu Deck und verkrochen sich, in der Dunkelheit wie Drachen in der Unterwelt lauernd. Wenn der Schoner einmal schwerer als gewöhnlich rollte, schien das Licht für einen Augenblick siegen zu wollen, um gleich wieder der Dunkelheit zu weichen, die dann schwärzer als zuvor erschien. Das Rauschen des durchs Tauwerk pfeifenden Windes drang ans Ohr wie das ferne Dröhnen eines Zuges, der über eine Brücke rollt, oder wie die Brandung am Strande, während das laute Krachen der Seen in Luv des Schiffes in der Back widerhallte, als wollte es Deckbalken und Planken auseinanderreißen. Das Knarren und Stöhnen der Spanten, Pfosten und Schotten bei der Kraftprobe, der das Schiff unterzogen wurde, übertönte das Stöhnen des Sterbenden, der sich in seiner Koje hin und her warf. Die Reibung des Fockmastes an den Deckbalken ließ eine Schauer flockigen Pulvers herabfallen und mischte einen neuen Ton in den Lärm des Sturmes. Kleine Wasserbäche strömten aus den Pallbits in die Back herab, vereinigten sich mit dem Wasser auf dem Ölzeug, flossen über den Fußboden und verschwanden hinter der großen Luke im Raum.

Um zwei Glasen in der Mittelwache – also um ein Uhr morgens – wurde der Befehl in die Back hereingerufen: »Alle Mann an Deck; Segel reffen!«

Die schläfrigen Matrosen taumelten aus ihren Kojen und in Kleider, Ölzeug und Seestiefel und eilten an Deck. Solche kalten Sturmnächte sind es, die bei diesem Befehl »Jack« grimmig murmeln lassen: »Wer würde nicht seinen Hof verkaufen und zur See gehen?«

An Deck lernte man jetzt, die Kraft des Windes voll zu würdigen, namentlich, wenn man aus der stickigen Back kam. Der Wind schien sich wie eine Mauer gegen einen zu stemmen und machte es fast unmöglich, sich zu bewegen oder auch nur zu atmen, wenn die starken Regenschauer herabgeschossen kamen. Unter Klüver, Fock und Grollsegel drehte der Schoner bei. Es gelang uns, die Fock zu streichen und festzumachen. Die Nacht war dunkel, was uns sehr in der Arbeit behinderte. Dennoch half uns die Natur in gewisser Weise, obwohl weder Stern noch Mond die schwarzen Massen der Sturmwolken, die über den Himmel fegten und ihn verdunkelten, zu durchbrechen vermochte. Der bewegte Ozean strahlte ein sanftes Licht aus. Jede der mächtigen Seen phosphorisierte und leuchtete mit den winzigen Lichtern von Myriaden mikroskopischer Tierchen und drohte uns mit einer Sintflut von Feuer zu überwältigen. Immer höher, immer schmäler wurde der Wogenkamm, bis er sich wölbte, bog und tosend über Deck, Bollwerk und Reling eine Masse sanftglühenden Lichtes und viele Tonnen Wasser ergoß, daß die Matrosen nach allen Seiten krochen. In jedem Winkel, jeder Ritze hinterließ die Flut kleine Lichtflecken, die leuchteten und zitterten, bis die neue Woge sie fortwusch und neue an ihrer Statt hinterließ. Manchmal folgten sich die Seen mit großer Schnelligkeit und donnerten auf das Deck herab, füllten es bis zur Reling, um durch die Speigatten in Lee wieder abzufließen.

Um das Großsegel retten zu können, waren wir gezwungen, unter dem einmal gerefften Klüver vor dem Sturm zu laufen. Ehe wir noch mit der Arbeit fertig waren, hatte der Wind die See so aufgewühlt, daß es unmöglich war, beizudrehen. Dahin schossen wir auf den Schwingen des Sturmes durch Gischt und Sprühregen. Wir gierten scharf nach Steuerbord, dann wieder nach Backbord, wenn die ungeheuren Wogen den Schoner achtern trafen und das Schiff beinahe zerbrachen. Bei Tagesanbruch strichen wir den Klüver. Jetzt waren alle Segel festgemacht. Seit wir angefangen hatten zu lenzen, nahm das Schiff vorn kein Wasser mehr über, aber mittschiffs kamen die Seen stark und wild über uns hereingebraust. Es regnete nicht, aber die Kraft des Sturmes erfüllte die Luft mit einem feinen Sprühregen, der bis zu den Dwarssalingen flog und das Gesicht wie mit einem Messer schnitt. Dabei machte er es einem unmöglich, auch nur fünfzig Meter aufwärts zu sehen. Das Meer hatte eine dunkle Bleifarbe angenommen, und der Wind türmte flüssige Schaumberge auf, die sich mit langsamem majestätischen Rollen vorwärtsdrängten. Der Schoner wurde so herumgeworfen, daß man krank wurde.

Wenn das Schiff einen Wogenberg erklomm, machte es jedesmal fast halt, um dann, wenn es den Gipfel erreicht hatte, mit furchtbarer Geschwindigkeit rechts und links zu rollen; dann beruhigte es sich und für einen Augenblick trat eine Pause ein, als erschräke es vor dem gähnenden Abgrunde. Wie eine Lawine schoß es dann hinab, sobald die See es achtern mit einer Kraft von tausend Rammböcken traf. Der Bug wurde bis zu den Kranbalken im milchigen Gischt begraben, der von allen Seiten, vorn, achtern, backbord und steuerbord, durch die Speigatten und über die Reling brach.

Endlich ließ der Wind nach, und um zehn wurde von Beidrehen geredet. Wir passierten einen Dampfer, zwei Schoner und eine Viermastbark, die so wenig Leinwand wie möglich gesetzt hatten, und um elf setzten wir Besan und Klüver und drehten bei, um eine Stunde später unter vollen Segeln nach dem Robbengrund zurückzukehren.

Unten nähten ein paar Männer die Leiche des Maurers in Segelleinen ein, bereit, ihn in ein Seegrab zu senken. Die Seele des Maurers war mit dem Sturm dahingegangen.

 


 << zurück