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Die »Francis Spaight«

Eine wahre Geschichte

Die Francis Spaight lief vor dem Sturm, nur mit dem Besantopsegel, als es geschah. Der Grund war nicht so sehr Gleichgültigkeit wie die völlige Disziplinlosigkeit der Besatzung, die aus bestenfalls nur mäßigen Seeleuten bestand. Das galt namentlich von dem Mann, der am Ruder stand, einem Limericker, der mit Salzwasser bisher nicht mehr zu tun gehabt hatte, als Holz den Shannon hinab zur Küste zu flößen. Er fürchtete sich vor den gewaltigen Seen, die sich aus dem Dunkel achtern von ihm erhoben und sich auf ihn zuwälzten, und wenn sie ihn zu treffen drohten, hätte er sich lieber verkrochen, als daß er ihrem Angriff mit dem Ruder begegnete und das Auflaufen des Schiffes verhinderte.

Es war drei Uhr morgens, als sein unseemännisches Benehmen die Katastrophe herbeiführte. Beim Anblick einer See, die größer als die andern waren, kroch er ganz zusammen und ließ das Rad los. Die Francis Spaight gierte, als das Achterende sich aus dem Wasser hob, und das ganze Gewicht der See traf ihre Dillen. Im nächsten Augenblick war das Schiff im Wellental, die Leereling völlig unter Wasser, bis das Meer die Lukenrahmen erreichte, während See auf See über die Luvreling brach und ihren eisigen Strom über das Deck sandte, so weit es noch aus dem Wasser emporragte.

Die Männer waren gar nicht zu halten, sie waren hilflos und hoffnungslos, völlig verwirrt und gelähmt, und zielbewußt nur in einem einzigen Punkt – nämlich darin, daß sie nicht gehorchen wollten. Einige jammerten, andere klammerten sich schweigend an die Luvwanten, während wieder andere Gebete murmelten oder heulend die ärgsten Flüche ausstießen, und weder Kapitän noch Steuermann konnte sie dazu bringen, an den Pumpen zu arbeiten oder Segel zu setzen, um das Schiff gegen Wind und See zu drehen. Im Laufe einer Stunde mußte das Schiff gekentert sein, und die ängstlichen Tölpel kletterten an den Seiten hinauf und hingen sich in die Takelung. Als es überkrängte, konnte der Steuermann nicht aus der Kajüte achtern kommen und ertrank, ebenso zwei Matrosen, die in der Back Zuflucht gesucht hatten.

Der Steuermann war der beste Mann an Bord gewesen, und der Kapitän war jetzt beinahe ebenso hilflos wie die Besatzung. Er tat nichts als fluchen, weil sie nichts taugte, und ein Matrose namens Mahoney aus Belfast, sowie ein Junge, O'Brien aus Limerick, mußten Vormast und Großmast kappen. Das taten sie mit großer Gefahr für Leben und Glieder, während das Wrack auf- und niederstieß, und bei der allgemeinen Vernichtung ging auch der Besantopmast über Bord. Die Francis Spaight richtete sich auf, und es war ein Glück, daß sie mit Holz beladen war, denn sie hatte schon ziemlich viel Wasser übergenommen und wäre sonst gesunken. Der Großmast, der nicht von den Wanten klar gekommen war, schlug wie ein mächtiger Hammer gegen die Schiffsseite, und jeder Schlag ließ die Männer jammern und stöhnen.

Der Tag brach über dem wilden Meere an, und in dem kalten, grauen Licht war das einzige, was von der Francis Spaight aus dem Wasser ragte, der Bug, der zersplitterte Besanmast und eine ungleiche Reihe von Streben, wo sich die Reling befunden hatte. Es war mitten im Winter auf dem nördlichen Atlantik, und die elende Besatzung war halbtot vor Kälte. Dennoch hatten sie kein Plätzchen, wo sie Ruhe finden konnten. Jede See brach über das Wrack hinweg, leckte die Salzkruste von ihrem Körper und lagerte neue Salzkrusten ab. In der Kajüte unter dem Hüttendeck reichte das Wasser ihnen bis an die Knie, aber hier fanden sie doch wenigstens Schutz vor dem kalten Winde, und hier versammelten sich die Überlebenden, aufrecht stehend und sich an die Möbel in der Kajüte klammernd oder aneinander stützend.

Mahoney versuchte vergebens, sie dazu zu bringen, Ausguck von der Mastspitze zu halten, für den Fall, daß sie ein Schiff treffen sollten. Der eiskalte Wind war ihnen zu viel, und sie zogen es vor, in der Kajüte Schutz zu suchen. Der junge O'Brien, der nur fünfzehn Jahre alt war, besetzte abwechselnd mit Mahoney den eiskalten Ausguckposten. Der Junge war es, der um drei Uhr nachmittags hinunterrief, daß ein Segler in Sicht war. Das brachte alle aus der Kajüte heraus, und sie scharten sich an der Reling und kletterten in die Luvbesantakelung, um das fremde Schiff zu beobachten. Aber dessen Kurs führte nicht in die Nähe der Francis Spaight, und als es hinter dem Horizont verschwand, kehrten die Leute zitternd vor Kälte in die Kajüte zurück, und nicht ein einziger erbot sich, den Ausguckmann auf dem Mast abzulösen.

Nach dem zweiten Tage hatten Mahoney und O'Brien genug von ihrem Ausguckposten, und von diesem Augenblick an trieb das Schiff im Sturm, ohne daß jemand es manövriert hätte, und ohne Ausguckmann. Es waren noch dreizehn Mann am Leben, und zweiundsiebzig Stunden lang standen sie bis zu den Knien im Wasser in der Kajüte, fast steif gefroren, ohne Essen und nur mit drei Flaschen Wein zum teilen. Alles, was es an Proviant und Trinkwasser gab, war unten, und so voll Wasser war das Wrack, daß sie nicht zu den Vorräten gelangen konnten. Nicht einen einzigen Bissen bekamen sie in den nächsten Tagen. Frisches Wasser konnten sie sich in ganz kleinen Rationen verschaffen, wenn sie den Deckel einer Suppenterrine unter die Mars des Besanmastes hielten, aber es regnete nicht viel, und sie litten große Not. Wenn es regnete, fingen sie auch die Tropfen mit ihren Taschentüchern auf und preßten sich das Wasser in den Mund oder in ihre Schuhe. Als Wind und See sich allmählich legten, konnten sie auch das Wasser von den Teilen des Decks aufwischen, die das Salzwasser nicht erreicht hatte, und auf diese Weise ihren Wasservorrat vermehren. Aber zu essen hatten sie nichts und konnten sich nichts verschaffen, obwohl häufig Seevögel über ihren Köpfen hinwegflogen.

In dem stillen Wetter, das den Sturm ablöste, trockneten einzelne Planken in der Kajüte, so daß sie sich hinlegen konnten. Aber sie hatten vier Tage lang gestanden, und die langen Stunden im Salzwasser hatten ihnen überall an den Beinen Wunden verursacht. Diese Wunden waren furchtbar schmerzhaft. Die geringste Berührung oder Schramme verursachte ihnen die fürchterlichsten Qualen, und bei ihrer Schwäche und in der überfüllten Kajüte stießen sie sich beständig. Nicht einer konnte sich rühren, ohne daß eine Salve von Schimpfworten, Flüchen oder Klagerufen folgte. So groß war ihr Elend, daß die Starken die Schwachen unterdrückten und von den trockenen Planken wegstießen, so daß sie sehen mußten, sich mit Kälte und Wasser abzufinden. Namentlich der junge O'Brien war ihren Mißhandlungen ausgesetzt. Obwohl noch drei andere Jungen da waren, wurde O'Brien am meisten ausgescholten. Es gab keinen besonderen Grund dazu, außer, daß er stärker und unerschütterlicher als die anderen Jungen war, mehr auf seinem Recht bestand und sich gegen die kleinliche und ungerechte Behandlung der Männer wehrte. Jedesmal, wenn O'Brien in die Nähe der Männer kam, um sich eine trockene Stelle zu suchen, wo er schlafen konnte, oder wenn er sich nur bewegte, wurde er mit Schlägen und Stößen fortgetrieben. Dafür verfluchte er sie in ihrer Selbstsucht und Brutalität, und dann regneten Ohrfeigen, Tritte und Flüche auf ihn herab. So elend auch alle waren, war er doch bei weitem der elendeste, und nur, weil die Lebensflamme ungewöhnlich kräftig in ihm brannte, hielt er überhaupt aus.

Als sie mit den Tagen immer schwächer wurden, nahm ihre Reizbarkeit und schlechte Laune zu, und das bewirkte wieder, daß O'Brien noch ärger mißhandelt und geplagt wurde. Am sechzehnten Tage waren sie alle furchtbar vom Hunger mitgenommen, und sie flüsterten in kleinen Gruppen, wobei sie hin und wieder Blicke auf O'Brien warfen. Zur Mittagszeit gelangten ihre Beratungen zu einem Ergebnis, und der Kapitän trat als ihr Wortführer auf. Alle waren auf dem Hüttendeck versammelt.

»Leute«, begann der Kapitän, »wir haben jetzt lange nichts zu essen bekommen – es ist zwei Wochen und zwei Tage her, aber es kommt uns eher wie zwei Jahre und zwei Monate vor. Wir können nicht mehr lange aushalten. Wir können nicht mit leerem Magen leben. Es ist eine große Frage, die wir erwägen müssen, und zwar, ob es besser ist, daß wir alle sterben, oder daß einer von uns stirbt. Wir stehen mit einem Fuß im Grabe. Wenn einer von uns stirbt, können die übrigen vielleicht am Leben bleiben, bis wir ein Schiff in Sicht bekommen. Was meint ihr?«

Michael Behane, der Mann, der am Ruder gestanden hatte, als die Francis Spaight zum Wrack wurde, rief, das sei das einzig Richtige, und die andern stimmten zu.

»Es soll einer von den Jungens sein!« rief Sullivan, der in Tarbert zu Hause war, und sandte gleichzeitig O'Brien einen vielsagenden Blick zu.

»Ich meine«, fuhr der Kapitän fort, »daß es eine gute Tat wäre, wenn einer von uns den Tod für alle andern erlitte.«

»Eine gute Tat! Eine gute Tat!« stimmten die Männer zu.

»Und ich meine auch, es wäre am richtigsten, wenn einer von den Jungens den Tod erlitte. Sie haben keine Familie zu versorgen, und es wäre kein so großer Verlust für ihre Angehörigen wie bei denen, die Frau und Kinder haben.«

»Richtig!« »Sehr richtig!« »Ja, so soll es sein!« murmelten die Leute.

Aber die vier Jungens riefen, das sei sehr ungerecht.

»Wir hängen genau so am Leben wie ihr andern«, protestierte O'Brien. »Und wenn ihr von Frau und Kindern redet – wer sonst als ich soll meine alte Mutter versorgen, die Witwe ist – ja, und das weißt du auch sehr gut, Michael Behane, denn du bist aus Limerick? Das ist nicht gerecht. Laßt uns alle losen – Erwachsene sowohl wie Jungens.«

Nur Mahoney sprach sich zugunsten der Jungens aus und erklärte, es sei das einzig Gerechte, wenn sie alle die gleiche Chance bekämen. Aber Sullivan und der Kapitän bestanden darauf, daß das Losen auf die Jungens beschränkt werden sollte. Ein großer Streit entstand, und mitten darin wandte Sullivan sich brummend zu O'Brien:

»Es wäre eine gute Tat, dich aus dem Wege zu räumen. Du verdienst es. Es würde dir recht geschehen, und wir wollen dich schon lehren!«

Er machte eine Bewegung, als wolle er Hand an O'Brien legen und ihn gleich totschlagen, und mehrere taumelten auch auf ihn zu und streckten die Hände nach ihm aus. Er wankte rückwärts, um ihnen zu entgehen, und rief, daß er auf das Losen unter den Jungens einginge.

Der Kapitän verfertigte vier Holzstücke von verschiedener Länge und reichte sie Sullivan.

»Du meinst, es ginge beim Losen nicht ehrlich zu«, sagte er spöttisch zu O'Brien. »Dann mußt du lieber selber ziehen.«

Darauf ging O'Brien ein. Ihm wurde ein Taschentuch vor die Augen gebunden, so daß er nichts sehen konnte, und dann kniete er, den Rücken gegen Sullivan, auf dem Deck nieder.

»Wer den kürzesten zieht, soll sterben«, sagte der Kapitän.

Sullivan hielt das eine Holzstück hoch. Die übrigen hielt er in seiner Hand versteckt, so daß keiner sehen konnte, ob es das kurze war oder nicht.

»Wer soll das haben?« fragte Sullivan.

»Der kleine Johnny Sheehan«, antwortete O'Brien. Sullivan legte das Hölzchen beiseite. Die Zuschauer konnten nicht sagen, ob es das verhängnisvolle war. Dann hielt Sullivan ein anderes hoch.

»Wer soll das bekommen?«

»George Burns«, lautete die Antwort.

Das Holzstück wurde zum ersten gelegt und ein drittes hochgehalten.

»Und wer soll das haben?«

»Ich selber«, sagte O'Brien.

Sullivan nahm hastig die vier Holzstücke auf. Keiner hatte sie gesehen.

»Du hast selbst das kürzeste gezogen«, erklärte Sullivan.

»Eine gute Tat«, murmelten mehrere von den Männern.

O'Brien erhob sich ganz ruhig, nahm sich die Binde von den Augen und sah sich um.

»Wo ist es?« fragte er. »Das kurze Holz? Das ich bekam?«

Der Kapitän zeigte auf die vier Hölzer, die auf dem Deck lagen.

»Wie könnt ihr wissen, daß es mein Holz war?« fragte O'Brien. »Hast du es gesehen, Johnny Sheehan?«

Johnny Sheehan, der jüngste von den Jungens, antwortete nicht.

»Hast du es gesehen?« wandte O'Brien sich jetzt zu Mahoney.

»Nein, ich habe es nicht gesehen.«

Die Männer knurrten und fauchten.

»Es ging ganz ehrlich zu«, sagte Sullivan. »Du hattest deine Chance und hast sie verspielt – das ist alles.«

»Es ging ehrlich zu«, sagte der Kapitän. »Hab' ich es nicht selbst gesehen? Das Holz war deines, O'Brien, und du kannst dich ebensogut gleich bereitmachen. Wo ist der Koch? Gorman, komm her. Holt den Terrinendeckel – einer von euch! Gorman, sei jetzt ein Mann und tue deine Pflicht!«

»Ja, aber wie soll ich es machen?« fragte der Koch. Er war ein unentschlossener Mensch mit schwachen Augen und einem schwachen Kinn.

»Das ist verruchter Mord!« rief O'Brien.

»Ich will nichts davon haben«, erklärte Mahoney. »Nicht ein Bissen soll über meine Lippen kommen.«

»Dann gibt es bessere Männer als du, die deinen Anteil haben können«, spottete Sullivan. »Tue jetzt deine Pflicht, Koch.«

»Es ist nicht meine Pflicht, Jungens totzuschlagen«, protestierte Gorman unentschlossen.

»Wenn du uns nichts zu essen verschaffst, nehmen wir dich selber«, sagte Behane drohend. »Einer von uns muß sterben, und ob du es bist oder ein anderer, ist gleich.«

Johnny Sheehan begann zu weinen. O'Brien lauschte in großer Angst. Sein Gesicht war blaß. Seine Lippen bebten, und zeitweise zitterte er am ganzen Körper.

»Ich habe als Koch angeheuert«, erklärte Gorman, »und ich würde auch schon kochen, wenn es eine Kombüse gäbe. Aber bei einem Mord mache ich nicht mit. Davon steht nichts in der Musterungsrolle. Ich bin Koch hier –«

»Du bist bald Koch gewesen«, sagte Sullivan finster, indem er den Kopf des Kochs packte und hintenüber bog, bis Kehle und Halsader straff gespannt waren. »Wo ist dein Messer, Mann? Her damit!« Als Gorman den Stahl an seiner Kehle fühlte, begann er zu jammern.

»Ich werde es schon tun, wenn ihr den Jungen halten wollt.«

Es war, als ob die klägliche Haltung des Kochs O'Brien in gewissem Grade ermutigte.

»Mach dir nichts daraus, Gorman«, sagte er. »Nur los! Ich weiß gut, daß du es nicht tun magst. Nein, ich danke –«, letzteres zu dem Kapitän gewandt, der ihm die Hand schwer auf den Arm legte. »Sie brauchen mich nicht zu halten, ich werde schon stillstehen.«

»Hör jetzt auf mit dem Heulen und hol den Terrinendeckel«, sagte Behane zu Johnny Sheehan und gab ihm gleichzeitig eine tüchtige Ohrfeige.

Der Junge, der kaum mehr als ein Kind war, holte den Deckel. Er wankte und kroch über das Deck, so erschöpft war er vor Hunger. Die Tränen liefen ihm beständig über die Backen. Behane nahm ihm den Deckel ab und gab ihm gleichzeitig eine neue Ohrfeige.

O'Brien zog sich den Rock aus und entblößte seinen rechten Arm. Seine Unterlippe bebte immer noch, sonst aber war er sehr ruhig. Der Kapitän öffnete sein Taschenmesser und reichte es Gorman.

»Mahoney, du wirst meiner Mutter erzählen, wie es mir ergangen ist, wenn du je heimkommst«, sagte O'Brien.

Mahoney nickte.

»Es ist Mord, verfluchter, dreckiger Mord!« sagte er. »Wir werden keine Freude von dem Fleisch des Jungen haben, keiner von euch.«

»Macht jetzt, daß ihr fertig werdet!« kommandierte der Kapitän. »Sullivan, du hältst den Deckel – so – dicht an ihm. Es darf nichts verlorengehen. Alles ist kostbar.«

Gorman nahm sich zusammen. Das Messer war stumpf, und er war schwach. Zudem zitterte ihm die Hand so heftig, daß er das Messer beinahe fallen ließ. Die drei Jungens krochen zusammen, weinten und schluchzten laut. Mit Ausnahme Mahoneys hatten sich alle um das Opfer geschart und steckten die Köpfe vor, um besser sehen zu können.

»Sei jetzt ein Mann, Gorman«, sagte der Kapitän drohend.

Der unglückliche Koch wurde von einer krampfhaften Entschlossenheit gepackt und begann mit der Klinge an O'Briens Handgelenk herumzufeilen. Die Adern waren jetzt durchgeschnitten. Sullivan hielt den Terrinendeckel dicht unter das Messer. Ein tiefer Schnitt war über das Handgelenk gemacht, aber kein rotes Blut strömte heraus. Es kam überhaupt kein Blut. Die Adern waren völlig ausgetrocknet. Keiner sagte etwas. Die finster schweigenden Gestalten schwankten hin und her im Takt, so oft das Schiff sich hob. Alle Augen richteten sich auf dies Unfaßbare und Naturwidrige – auf diese ausgetrockneten Adern eines lebendigen Geschöpfes.

»Das ist eine Warnung!« rief Mahoney. »Laßt den Jungen. Ich habe es euch gesagt – ihr werdet keine Freude von seinem Tod haben – nein, das werdet ihr nicht!«

»Versucht es am Ellbogen – am linken Ellbogen –, der ist näher am Herzen«, sagte der Kapitän schließlich mit leiser, heiserer Stimme, die seiner gewöhnlichen nicht glich.

»Gib mir das Messer«, sagte O'Brien hart, indem er es dem Koch aus der Hand nahm. »Ich kann es nicht mitansehen, wie ihr an mir herumsäbelt.«

Er schnitt sich ganz ruhig die Adern am linken Ellbogen durch, aber auch hier kam kein Blut.

»Es hat keinen Zweck«, sagte Sullivan. Wir müssen seinem Leiden lieber ein Ende machen und ihm die Kehle abschneiden.«

Aber die Spannung war zu viel für den Jungen gewesen.

»Das tut ihr nicht!« rief er. »In meiner Kehle ist auch kein Blut. Laßt mir Zeit. Ich bin verfroren und verkommen. Ich will mich hinlegen und ein bißchen schlafen. Dann werde ich warm, und dann kommt wohl schon Blut.«

»Was hätte das für einen Sinn?« sagte Sullivan. »Als ob du jetzt schlafen könntest! Du wirst nicht schlafen, und du wirst nicht wärmer werden. Du solltest dich nur selber ansehen. Du hast Schüttelfieber.«

»Ich war mal krank in Limerick«, sagte O'Brien. »Das war am Abend, und der Doktor konnte mich nicht zur Ader lassen. Als ich aber ein paar Stunden geschlafen hatte und richtig warm geworden war, begann das Blut zu fließen. Es ist wahr, was ich euch erzähle – weiß Gott! Ihr dürft mich nicht ermorden!«

»Jetzt sind deine Adern durchgeschnitten«, sagte der Kapitän. »Es hat keinen Zweck, ihn so lange leiden zu lassen. Macht der Geschichte jetzt ein Ende.«

Sie streckten die Hände nach O'Brien aus, aber er zog sich zurück.

»Ich werde euch allen das Leben nehmen!« schrie er. »Laß mich, Sullivan! Ich werde wiederkommen! Ich werde euch erscheinen! Im Schlafen und Wachen werde ich euch erscheinen –, und zwar bis zu euerm Tode!«

»Es ist eine Schande!« heulte Behane. »Wenn ich das kurze Holz gezogen hätte, würde ich mir von meinen Kameraden den Kopf abhauen lassen – mit größtem Vergnügen!«

Sullivan machte einen Sprung und packte den unglücklichen Jungen am Haar. Die andern Männer folgten seinem Beispiel, während O'Brien um sich trat und sich wehrte, knurrte und nach den Händen schnappte, die sich von allen Seiten nach ihm ausstreckten. Der kleine Johnny Sheehan begann zu rufen und zu schreien, als sei er von Sinnen, aber die Männer beachteten ihn nicht. O'Brien wurde hintenüber auf das Deck gebeugt, und sie hielten ihm den Terrinendeckel unter den Hals. Gorman wurde hingepufft. Einer hatte ihm einen großen Dolch in die Hand gesteckt.

»Tu deine Pflicht! Tu deine Pflicht!« riefen die Männer.

Der Koch beugte sich vor, aber sein Blick begegnete dem des Knaben, und er zögerte.

»Wenn du es nicht tust, schlage ich dich mit meinen Fäusten tot«, brüllte Behane.

Von allen Seiten regneten Schimpfworte und Drohungen auf den Koch herab. Aber er zauderte immer noch.

»Vielleicht ist in seinen Adern mehr Blut als in denen O'Briens«, bemerkte Sullivan drohend.

Behane packte Gorman am Haar und zwang seinen Kopf zurück, während Sullivan sich in den Besitz des Dolches zu setzen versuchte. Aber Gorman klammerte sich mit dem Mut der Verzweiflung an sie.

»Laßt mich los – ich tue es schon!« heulte er wie ein Irrsinniger. »Ihr dürft mir den Hals nicht abschneiden! Ich tue es schon! Ich tue es schon!«

»Dann sieh zu, daß du es tust!« sagte der Kapitän drohend.

Gorman ließ sich hinziehen. Er sah den Jungen an, schloß die Augen und murmelte ein Gebet. Dann – immer noch mit geschlossenen Augen – tat er, was er tun sollte. O'Brien stieß einen Schrei aus, der schnell in ein gurgelndes Röcheln überging. Die Männer hielten ihn, bis der Todeskampf zu Ende war, dann legten sie ihn auf das Deck. Sie waren eifrig und ungeduldig und trieben Gorman mit Flüchen und Drohungen an, daß er ihnen die Mahlzeit so schnell wie möglich zubereiten sollte.

»Laßt ihn liegen, ihr blutigen Schlachter!« sagte Mahoney ruhig. »Laßt ihn liegen, sage ich euch. Jetzt braucht ihr nichts mehr davon. Ich habe es euch ja die ganze Zeit gesagt – wir werden keine Freude von dem Blut des Jungen haben. Wirf ihn über Bord, Behane! Wirf ihn über Bord!«

Behane, der immer noch, den Terrinendeckel in beiden Händen, dastand, sah nach Lee hinüber. Er trat an die Reling und warf Deckel und Inhalt ins Meer. Ein Vollschiff hielt, eine Meile fort, gerade auf sie zu. So beschäftigt waren sie mit der Tat gewesen, die sie soeben vollbracht hatten, daß keiner daran gedacht hatte, Ausguck zu halten. Alle sahen sie, wie das Schiff näher kam – der kupferbekleidete Steven, der das Wasser wie ein goldenes Messer spaltete, schimmerte, während die Vorsegel jedesmal, wenn es in ein Wellental ging, hin und her klatschten, und die turmhohen Segelreihen hinabtauchten und sich neigten. Keiner sagte etwas.

Als es eine Kabellänge von der Francis Spaight beidrehte, nahm der Kapitän sich zusammen und gab Befehl, eine Persenning über O'Briens Leiche zu werfen. Ein Boot wurde von dem fremden Schiff heruntergelassen und begann zu ihnen hinzurudern. John Gorman lachte. Zuerst lachte er ganz leise, aber er begleitete jeden Riemenschlag mit krampfhaft zunehmender Heiterkeit. Sein wahnsinniges Lachen war es, das das Rettungsboot begrüßte, als es an der Seite vertäute und der erste Steuermann an Bord kletterte.


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