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Das Feuer im Schnee

Der Tag war kalt und grau angebrochen, ungewöhnlich kalt und grau, als der Mann die Hauptschlittenbahn am Yukon verließ und den hohen Hang erkletterte, wo eine undeutliche und sehr wenig benutzte Schlittenbahn ostwärts durch das Land mit den dichten Kiefernwäldern führte. Es war ein sehr steiler Hang, und als er die Kuppe erreichte, blieb er stehen, um Atem zu schöpfen, was er vor sich selber damit entschuldigte, daß er auf die Uhr sah. Es war neun. Es gab weder eine Sonne noch die Andeutung einer Sonne, obwohl nicht eine Wolke am Himmel war. Es war ein klarer Tag, und doch schien ein dunkles Leichentuch über allen Dingen zu liegen, eine Dunkelheit, so unbestimmbar, daß man sie kaum fühlte, die aber doch den Tag dunkel und grau machte. Das kam, weil die Sonne fehlte, aber es störte den Mann nicht. Er war es gewohnt, daß es keine Sonne gab. Viele Tage waren vergangen, seit er die Sonne gesehen, und er wußte, daß noch mehr Tage vergehen würden, ehe der leuchtende Himmelskörper über den südlichen Horizont gucken würde, um gleich wieder seinem Blick zu entschwinden.

Der Mann warf einen hastigen Blick auf den Weg, den er gekommen war. Drunten lag, eine Meile breit, der Yukon, von einer drei Fuß dicken Eisrinde bedeckt. Diese Eisdecke wurde von einer ebenso dicken Schneeschicht bedeckt. Alles war rein und weiß und hob sich in weichen Wellenlinien an den Stellen, wo sich beim Zufrieren des Flusses das Eis gestaut hatte. Nach Norden und Süden, soweit das Auge reichte, erstreckte sich diese ununterbrochene weiße Fläche, nur eine haarscharfe, dunkle Linie wand und schlängelte sich weiter im Norden, bis sie hinter einer mit Kiefern bestandenen Insel verschwand. Diese dunkle, haarscharfe Linie war die Schlittenbahn – die Hauptbahn –, die fünfhundert Meilen südwärts bis zum Chilcootpaß, nach Dyea und dem Salzwasser, und siebzig Meilen nordwärts nach Dawson und weiter tausend Meilen nordwärts nach Nulato und schließlich noch fünfzehnhundert Meilen bis St. Michael an der Beringsee lief.

Aber alles das – die mystische, haarscharfe, weitreichende Schlittenbahn, der Umstand, daß keine Sonne am Himmel stand, die entsetzliche Kälte und das Wundersame und Unwirkliche, das über allem lag –, alles das machte keinen Eindruck auf den Mann. Nicht die Gewohnheit vieler Jahre bewirkte das. Er war erst seit kurzem im Lande, ein Chechaquo, und es war sein erster Winter hier. Ihm fehlte es lediglich an Phantasie. Er hatte eine schnelle und sichere Auffassungsgabe für die Realitäten des Lebens, aber auch nur für eben die Realitäten und nicht für ihre Bedeutung. Fünfzig Grad unter Null bedeuteten für ihn einige achtzig Grad Frost. Es war für ihn gleichbedeutend mit Kälte und Unbehaglichkeit, aber das war auch alles. Es ließ ihn nicht über seine eigene Schwäche als die eines von Temperaturen abhängigen Geschöpfes oder über die Schwäche der Menschen im allgemeinen nachdenken, die ihnen nur erlaubte, innerhalb gewisser Wärme- und Kältegrade zu leben. Und ebensowenig ließ es ihn über die eventuelle Sterblichkeit und den Platz des Menschen im Universum grübeln. Fünfzig Grad unter Null bedeuteten Frostschäden, gegen die man sich durch den Gebrauch von Fäustlingen, Ohrenklappen, warmen Mokassins und dicken Socken schützen mußte. Fünfzig Grad unter Null waren für ihn eben fünfzig Grad unter Null. Daß es etwas mehr bedeuten könnte –, der Gedanke war ihm nie gekommen.

Als er sich anschickte, weiterzugehen, spuckte er nachdenklich aus. Ein knisterndes Geräusch wie von einer kleinen Explosion ertönte, daß er erschrak. Er spuckte nochmals. Und wieder knisterte der Speichel in der Luft, ehe er den Boden erreichte.

Er wußte, daß Speichel auf dem Schnee bei einer Temperatur von fünfzig Grad unter Null knisterte. Aber dieser Speichel hatte in der Luft geknistert. Es war also sicher kälter als fünfzig Grad unter Null – um wie viel kälter, konnte er nicht sagen. Aber die Temperatur war gleichgültig. Er mußte den alten Claim am linken Ufer des Henderson Creek erreichen, wo die Kameraden versammelt waren. Sie waren von jenseits der Wasserscheide aus dem Lande am Indian Creek gekommen, während er diesen Umweg gemacht hatte, um zu sehen, welche Möglichkeiten für einen Transport von Baumstämmen von den Inseln im Yukon im Frühling beständen. Er sollte das Lager gegen sechs erreichen, allerdings erst nach Einbruch der Dunkelheit, aber die andern waren schon dort und empfingen ihn mit einem guten Feuer und warmem Abendbrot. Und was sein Frühstück betraf, so preßte er die Hand gegen den Packen, den er unter der Jacke, ja unter dem Hemd, in ein Taschentuch eingepackt und direkt am bloßen Körper trug. Das war die einzige Möglichkeit, die Keks am Gefrieren zu verhindern. Er lächelte behaglich bei dem Gedanken an diese Keks, die in Fett getaucht und mit einer dicken Scheibe gebratenen Specks belegt waren.

Er lenkte seine Schritte unter die großen Kiefern. Der Pfad war sehr undeutlich. Es war ein ganzer Fuß Schnee gefallen, seit der letzte Schlitten darüber hingefahren war, und er freute sieh, daß er keinen Schlitten hatte, sondern mit leichtem Gepäck reiste. Tatsächlich hatte er nichts zu tragen als das in das Taschentuch eingepackte Frühstück. Aber er war erstaunt über die starke Kälte. Es war grimmig kalt, wie er sich sagte, als er sich die Hand im Fäustling rieb. Er hatte einen dicken, warmen Backenbart, aber der schützte nicht die vorstehenden Backenknochen und die energische Nase, die sich draufgängerisch in die eiskalte Luft streckte.

Dem Manne dicht auf den Fersen trottete ein großer Eskimohund, ein richtiger, grauer Wolfshund, der sich weder dem Äußern, noch dem Wesen nach von seinem Bruder, dem wilden Wolf, unterschied. Der Hund war ganz niedergeschlagen von der entsetzlichen Kälte. Er wußte, daß jetzt nicht die richtige Jahreszeit zum Reisen war. Was sein Instinkt ihm sagte, war zuverlässiger als das, was der Verstand des Mannes ihm sagte. Tatsächlich war es nicht nur kälter als fünfzig Grad unter Null, es war kälter als sechzig Grad unter Null, kälter als siebzig Grad unter Null. Es waren fünfundsiebzig Grad unter Null, und da der Gefrierpunkt zweiunddreißig Grad über Null liegt, so bedeutete das hundertundsieben Grad Kälte. Der Hund wußte nichts vom Thermometer. Es war möglich, daß in seinem Gehirn kein klares Bewußtsein von sehr starker Kälte wie in dem des Mannes bestand. Aber der Hund hatte seinen Instinkt. Er fühlte eine unbestimmte, nagende Furcht, die ihn unterjochte und zwang, auf den Fersen des Mannes zu schleichen und jeder ungewohnten Bewegung, die der Mann machte, mit großem Interesse zu folgen, als erwarte er, daß er irgendwo Lager oder Schutz suchen oder auch nur Feuer machen sollte. Der Hund hatte gelernt, was Feuer war, und er wollte Feuer haben oder sich unter dem Schnee vergraben und die eigene Körperwärme bewahren dürfen.

Die gefrorene Feuchtigkeit seines Atems hatte sich als feiner Reif auf seinen Pelz gelegt, und namentlich. Fang, Schnauze und Augenbrauen waren ganz weiß von seinem kristallisierten Atem. Der rote Schnurrbart und Backenbart des Mannes waren gleichfalls mit Reif bedeckt, aber hier hatte die Ablagerung die Form einer ganzen Eisschicht angenommen, die jedesmal, wenn der warme, feuchte Atem der kalten Luft begegnete, schwerer wurde. Der Mann kaute auch einen Priem, und so dicht waren seine Lippen von dem Maulkorb aus Eis zusammengepreßt, daß er nicht imstande war, das Kinn sauber zu halten, wenn er den Tabaksaft ausspie. Die Folge war, daß sich auf seinem Kinn ein durchsichtiger Bart von der Farbe und beinahe der Festigkeit von Bernstein gebildet hatte, der immer länger wurde. Wenn er fiel, mußte er wie Glas zersplittern. Aber dem Mann war dieser Zuwachs gleichgültig. Es war die Buße, die alle, welche Tabak kauten, in diesem Lande bezahlen mußten, und er hatte schon zweimal richtige Kälte erlebt. Es war zwar nicht so kalt gewesen wie jetzt, das wußte er gut, aber er hatte das Alkoholthermometer in Sixty Mile gesehen und wußte, daß es fünfzig und fünfundfünfzig Grad unter Null gezeigt hatte.

Ein paar Meilen wanderte er weiter durch das flache Waldland. Dann schritt er über eine breite Ebene mit Grashügeln, und von hier aus ließ er sich einen Hang hinab bis auf den gefrorenen Wasserlauf gleiten. Es war der Henderson Creek, und er wußte, daß er zehn Meilen von der Stelle entfernt war, wo er sich verzweigte. Er sah auf die Uhr. Es war zehn. Er konnte vier Meilen die Stunde gehen, und er berechnete, daß er die Stelle, wo der Bach sich verzweigte, um halb eins erreichen würde. Er beschloß, das Ereignis zu feiern, indem er dort frühstückte.

Als der Mann dem gefrorenen Bach zu folgen begann, trabte der Hund wieder dicht hinter ihm her, und seine hängende Rute zeigte deutlich, wie verzagt er war. Die alte Schlittenbahn war sichtbar, aber über den Fährten der letzten Schlittenkufen lagen mehrere Zoll Schnee. Einen ganzen Monat lang war keiner diesen stillen, bis auf den Grund gefrorenen Wasserlauf hinauf- oder herabgereist. Der Mann ging weiter. Er war keine nachdenkliche Natur, und im Augenblick gab es für ihn nichts zu denken, als daß er dort, wo der Bach sich verzweigte, frühstücken, und daß er um sechs Uhr bei den Kameraden im Lager sein wollte. Es gab niemand, mit dem er hätte reden können, und selbst, wenn es einen solchen Menschen gegeben hätte, wäre es unmöglich gewesen wegen des eisigen Maulkorbs, der sich um seinen Mund gebildet hatte. Und deshalb fuhr er ganz ruhig in seiner einförmigen Beschäftigung fort: Tabak zu kauen und seinen bernsteinfarbigen Bart immer mehr zu verlängern.

Jeden Augenblick meldete der Gedanke sich wieder, daß es kalt und daß er nie in einer solchen Kälte draußen gewesen war. Im Gehen rieb er sich die Backenknochen und die Nase mit der Rückseite seiner im Fäustling steckenden Hand. Er tat es ganz mechanisch, bald mit der einen Hand, bald mit der andern. Aber so sehr er auch rieb, wurden seine Backenknochen doch im selben Augenblick, wenn er mit Reiben aufhörte, gefühllos, und im nächsten Augenblick wurde auch die Nasenspitze gefühllos. Er konnte ein Erfrieren der Backen nicht vermeiden und bedauerte, daß er sich nicht einen Nasenriemen angeschafft hatte, wie Bob ihn bei richtig kaltem Wetter trug. Ein solcher Riemen schützte und bedeckte auch die Backen. Im übrigen hatte das jedoch nichts zu sagen. Was machte es, wenn er Frost in die Backen bekam? Es war ein bißchen unangenehm, das war alles. Aber es war nichts Ernstes.

So gedankenlos das Hirn des Mannes auch war, so war er doch ein scharfer Beobachter, und er bemerkte alle Veränderungen des Baches, seine Krümmungen und Biegungen und die Stellen, wo die Baumstämme sich aufgehäuft hatten, und besonders achtete er darauf, wo er seine Füße hinsetzte.

Als er einmal um eine Ecke bog, blieb er plötzlich wie ein erschrockenes Pferd stehen, sprang hastig zurück und machte ein paar Schritte auf der Schlittenbahn rückwärts. Er wußte, daß der Bach bis zum Grunde gefroren war – kein Bach enthielt im arktischen Winter Wasser, aber er wußte auch, daß es Quellen gab, die am Hange hervorquollen und unter dem Schnee über das Eis in den Bach liefen. Er wußte, daß diese Quellen selbst im kältesten Winter nie zufroren, und er wußte auch, wie gefährlich sie waren. Sie waren Fallen. Unter ihnen waren große Wasserpfützen im Schnee, die drei Zoll bis drei Fuß tief sein konnten. Zuweilen waren sie von einer halbzölligen Eisrinde bedeckt, die wiederum unter dem Schnee lag. Zuweilen waren es abwechselnd Schichten von Wasser und Eis, so daß man, wenn man einbrach, immer tiefer sackte und zuweilen bis zum Gürtel naß wurde.

Deshalb war er in großem Schrecken zurückgesprungen. Er hatte gefühlt, daß das Eis unter seinen Füßen nachgab, und hatte das knisternde Geräusch einer mit Schnee bedeckten Eisrinde gehört. Und bei einer solchen Temperatur nasse Füße zu bekommen, hieß Mühe und Gefahr. Auf jeden Fall bedeutete es eine Verspätung, denn dann mußte er ein Feuer machen und mit bloßen Füßen daran sitzen, während Socken und Mokassins trockneten. Er studierte den Lauf des Baches und der Hänge an seinen Seiten und gelangte zu dem Ergebnis, daß das Wasser von rechts kam. Er dachte eine Zeitlang nach, rieb sich Nase und Backen und umging dann die Stelle nach rechts. Er trat sehr vorsichtig auf und tastete sich mit dem Fuß auf dem Eise vorwärts, und erst, als er außer Gefahr war, nahm er sich einen neuen Priem und wanderte weiter mit seiner früheren Viermeilengeschwindigkeit.

Im Laufe der nächsten zwei Stunden stieß er auf mehrere ähnliche Fallen. In der Regel war der Schnee über den verborgenen Pfützen kristallisiert und zusammengesunken, so daß er die Gefahr leicht erkennen konnte. Einmal aber wäre er doch beinahe durchgebrochen, und einmal, als er eine Gefahr fürchtete, zwang er den Hund, voranzugehen. Der Hund wollte nicht. Er sträubte sich, bis der Mann ihn schob, und dann lief er hastig über die weiße, ungebrochene Fläche. Plötzlich brach er ein, warf sich nach der einen Seite hinüber und hatte bald wieder festen Boden unter den Füßen. Er hatte sich die Vorderbeine naßgemacht, und fast augenblicklich wurde das Wasser, das von ihm herabtroff, zu Eis. Er bemühte sich aus allen Kräften, das Eis von den Beinen zu lecken, warf sich dann in den Schnee und begann, das Eis wegzubeißen, das sich zwischen den Zehen gebildet hatte. Er tat das rein instinktiv. Wenn er das Eis sitzen ließ, war das gleichbedeutend mit wunden Füßen. Das wußte er nicht, er folgte nur der geheimnisvollen Stimme, die aus der tiefsten Tiefe seines Wesens zu ihm sprach. Aber der Mann wußte es, seinem Verstand zufolge, und er zog sich den Fäustling von der rechten Hand und half, die Eisstücke abzureißen. Seine Finger waren nur eine Minute lang entblößt, und er war erstaunt, wie schnell er das Gefühl darin verlor. Ja, es war wirklich sehr kalt. Hastig zog er den Fäustling wieder an und schlug die Hand kräftig gegen die Brust.

Um zwölf war das Wetter so klar, wie es werden konnte, aber die Sonne befand sich jetzt auf ihrer Winterreise zu weit südlich, um den Horizont erreichen zu können. Die Krümmung der Erde lag zwischen ihr und dem Henderson Creek, wo der Mann unter einem wolkenlosen Mittagshimmel ging und doch keinen Schatten warf. Genau um halb eins erreichte er die Stelle, wo der Bach sich verzweigte. Er war zufrieden mit der eingehaltenen Schnelligkeit. Wenn er so weiterging, war er sicher um sechs bei den Kameraden. Er knöpfte sich Mantel und Rock auf und zog sein Frühstück heraus. Das dauerte nur eine Viertelminute, aber in diesem kurzen Augenblick waren seine entblößten Finger ganz gefühllos geworden. Er zog sich nicht die Fäustlinge an, sondern schlug statt dessen die Finger ein dutzendmal hart gegen die Beine. Dann setzte er sich auf einen verschneiten Baumstamm, um zu essen. Der brennende Schmerz, den er, als er die Finger gegen das Bein geschlagen, gefühlt hatte, verzog sich so schnell, daß er erschrak. Er ließ sich nicht einmal Zeit, einen Bissen zu essen, sondern schlug die Finger ein über das andere Mal gegen das Bein und zog sich dann wieder den Fäustling an, während er die andere Hand entblößte, um mit ihr zu essen. Er versuchte, von dem Keks abzubeißen, aber sein eisiger Maulkorb hinderte ihn daran. Er hatte es versäumt, ein Feuer zu machen und sich selber aufzutauen. Er lachte über seine eigene Torheit, und während er lachte, bemerkte er, wie die Gefühllosigkeit sich seiner entblößten Finger bemächtigte. Er merkte auch, daß der stechende Schmerz in den Zehen, den er beim Niedersetzen gefühlt hatte, sich schon verzog. Er dachte nach, ob die Zehen warm oder gefühllos waren. Er bewegte sie in den Mokassins und kam zu dem Ergebnis, daß sie gefühllos waren.

Da zog er sich schnell den Fäustling an und stand auf. Er war ein wenig erschrocken. Stampfend ging er auf und nieder, bis er das alte Stechen in den Füßen wieder fühlte. Es ist wirklich sehr kalt, dachte er. Der Mann vom Sulphur Creek hatte also doch die Wahrheit gesprochen, als er erzählte, wie kalt es zuweilen hier im Lande werden könnte. Und damals hatte er ihn ausgelacht. Das zeigte, daß man keiner Sache zu sicher sein konnte. Ein Irrtum war unmöglich – es war kalt. Er wanderte auf und ab, stampfte mit den Füßen auf und schlug die Arme zusammen, bis er zu seiner Beruhigung merkte, daß seine Glieder wieder warm wurden. Dann nahm er die Streichhölzer heraus und begann, Feuer zu machen. Er holte Brennholz aus dem Busch, wo sich beim Hochwasser des letzten Frühlings eine Menge trockener Zweige aufgehäuft hatten. Er begann ganz vorsichtig, und bald hatte er ein mächtiges Feuer, an dem er sein Gesicht auftaute und seine Keks aß. Er hatte die Kälte gefoppt, – so lange es dauerte. Der Hund genoß das Feuer, legte sich der Länge nach so nahe an die Flammen, daß er Wärme von ihnen bekam, und doch so weit entfernt, daß sie ihm den Pelz nicht versengten.

Als der Mann fertig war, stopfte er sich die Pfeife und ließ sich Zeit, sie zu rauchen. Dann zog er sich die Fäustlinge an, befestigte die Ohrenklappen gut um die Ohren und begann, dem linken Arm des Baches zu folgen. Der Hund war enttäuscht; er sehnte sich nach dem Feuer zurück. Dieser Mann kannte die Kälte nicht. Vielleicht hatten alle die Generationen, die hinter ihm lagen, nichts von Kälte, von wirklicher Kälte, von hundertundsieben Grad unter dem Gefrierpunkt gewußt. Aber der Hund wußte es. Alle seine Vorfahren hatten es gewußt und ihm dieses Wissen vererbt. Und er wußte, daß es nicht gesund war, in so schrecklicher Kälte draußen zu sein. Dann mußte man warm und geborgen in einem Schneeloch liegen und darauf warten, daß eine Wolkendecke den großen leeren Raum, aus dem die Kälte kam, überzog. Andererseits herrschte kein wirkliches Vertrauen zwischen dem Hund und dem Mann. Der eine war der Sklave des andern, er mußte sich für ihn abrackern, und die einzigen Liebkosungen, die ihm je zuteil wurden, waren die mit der Peitschenschnur und die harten Kehllaute, die die Peitschenschnur androhten. Und deshalb gab der Hund sich keine Mühe, seine Sorge dem Manne mitzuteilen. Die Wohlfahrt des Mannes interessierte ihn nicht. Um seiner selbst willen sehnte er sich nach dem Feuer zurück. Aber der Mann pfiff und sprach zu dem Hunde mit dem Laut, der an die Peitschenschnur gemahnte, und er lief ihm nach und trabte weiter dicht hinter ihm her.

Der Mann nahm einen Priem und hatte bald wieder einen neuen bernsteinfarbenen Bart, während sein feuchter Atem weißen Reif auf Schnurrbart, Augenbrauen und Wimpern legte. Es schienen nicht so viele Quellen am linken Arm des Henderson zu sein, und eine halbe Stunde lang sah der Mann keine Spur von ihnen. Dann aber geschah es. An einer Stelle, wo nichts eine Gefahr andeutete, wo es war, als gäbe die weiße, ungebrochene Schneefläche volle Sicherheit für festen Boden unter den Füßen, brach der Mann ein. Es war nicht tief, aber er war bis an die Waden durchnäßt, ehe er wieder das feste Eis erreichte.

Er war zornig und fluchte laut über sein Pech. Er hatte gehofft, Lager und Kameraden bis sechs Uhr zu erreichen, und das verspätete ihn jetzt um eine ganze Stunde, denn er war gezwungen, ein Feuer zu machen, um sein Fußzeug zu trocknen. Das war durchaus notwendig bei der niedrigen Temperatur – soviel wußte er, und er ging ans Ufer und begann, den Hang hinaufzuklettern. Auf der Kuppe hatte sich in dem niedrigen Busch um ein paar kleine Kiefern viel trockenes Brennmaterial abgelagert, namentlich Zweige und Äste, aber auch trockener Rasen vom vorigen Jahr. Er warf ein paar große Rasenstücke auf den Schnee. Das war eine gute Unterlage und hinderte die zarte Flamme, im Schnee, der sonst schmelzen würde, zu ertrinken. Die Flamme erzeugte er, indem er ein Streichholz an ein graues Stück Birkenrinde hielt, das er aus der Tasche zog, und das schneller als Papier brannte. Er legte es auf die Unterlage und nährte die zarte Flamme mit trockenen Grasbüscheln und winzigen, trockenen Zweigen.

Er arbeitete langsam und vorsichtig mit einem lebhaften Gefühl für die Gefahr, in der er schwebte. Als die Flamme allmählich stärker wurde, warf er immer größere Zweige hinein. Er hockte im Schnee, riß die Zweige aus dem Busch, in den sie verfilzt waren, und warf sie auf das Feuer. Er wußte, daß es nicht mißglücken durfte. Wenn die Temperatur fünfundsiebzig Grad unter Null beträgt, darf der erste Versuch, ein Feuer zu machen, nicht mißglücken – das heißt, wenn man nasse Füße hat. Hat man trockene Füße und es mißglückt, so kann man ein Stückchen laufen, um den Blutumlauf auf diese Weise in Gang zu bringen. Aber der Blutumlauf in nassen steifen Füßen kann nicht durch Laufen in Gang kommen, wenn die Temperatur fünfundsiebzig Grad unter Null beträgt. So rasch man auch läuft, werden die nassen Füße doch noch rascher erfrieren.

Alles das wußte der Mann. Der alte Goldgräber am Sulphur Creek hatte es ihm im Herbst erzählt, und jetzt merkte er, daß das ein guter Rat gewesen war. Er hatte schon jedes Gefühl in den Füßen verloren. Um das Feuer anzuzünden, war er gezwungen, die Fäustlinge auszuziehen, und die Finger waren schnell gefühllos geworden. Solange er vier Meilen die Stunde hatte gehen können, hatte sein Herz das Blut an die Oberfläche seines Körpers und in alle Poren gepumpt. In dem Augenblick aber, als er stillstand, hörte diese Pumptätigkeit zum Teil auf. Die Kälte im Weltraum traf die unbeschützte äußerste Spitze des Planeten, und er, der sich auf der äußersten Spitze befand, wurde in vollem Maße von dem Schlage getroffen. Das Blut in seinem Körper floh davor zurück. Das Blut war lebendig wie der Hund, und wie der Hund wünschte es, sich zu verbergen und Schutz vor der fürchterlichen Kälte zu suchen. Solange er vier Meilen die Stunde ging, pumpte er es ganz unwillkürlich an die Oberfläche, jetzt aber verebbte es und zog sich in die fernsten Winkel des Körpers zurück. Die Außenpunkte waren es, die den Verlust zuerst fühlten. Seine nassen Füße erfroren desto schneller, und seine Finger, die der Kälte ausgesetzt waren, verloren desto schneller das Gefühl, wenn sie auch noch nicht zu erfrieren begonnen hatten. Nase und Backen wollten schon erfrieren, die Haut war an seinem ganzen Körper so kalt, als hätte alles Blut ihn verlassen.

Aber es war keine Gefahr. Zehen, Nase und Backen wurden nur eben vom Frost berührt, denn das Feuer hatte jetzt begonnen, richtig zu brennen. Er warf Zweige darauf, die doppelt so groß wie sein Finger waren. In einer Minute konnte er Zweige von der Dicke seines Handgelenks darauf werfen, und dann konnte er sich das nasse Fußzeug ausziehen und sich, während es trocknete, die nassen Füße am Feuer wärmen – selbstverständlich erst, nachdem er sie mit Schnee gerieben hatte. Es war ein gutes Feuer, und er fühlte sich ganz sicher. Er erinnerte sich des Rates, den der alte Goldgräber am Sulphur Creek ihm erteilt hatte, und er lächelte. Der alte Goldgräber hatte mit großer Sicherheit behauptet, daß in Klondike niemand allein reisen dürfte, wenn die Temperatur niedriger als fünfzig Grad unter Null wäre. Nun ja, hier saß er nun. Er hatte einen Unfall gehabt, er war allein, und er hatte sich selbst gerettet. Die alten Goldgräber waren im Grunde oft alte Weiber, dachte er. Alles, was man zu tun hatte, war, dafür zu sorgen, daß man nicht den Kopf verlor. Dann ging alles übrige von selber. Man konnte gut allein reisen – wenigstens, wenn man ein Mann war. Aber es war erstaunlich, wie schnell Backen und Nase einem erfroren. Er hatte sich auch nicht gedacht, daß seine Finger in so kurzer Zeit leblos werden könnten. Leblos waren sie, denn er konnte sie kaum dazu bringen, sich auf einmal zu bewegen, um einen Zweig zu greifen, und es war, als hätten sie jede Verbindung mit seinem Körper und ihm selber verloren. Wenn er einen Zweig berührte, mußte er nachsehen, ob er ihn gefaßt hatte oder nicht. Die telegraphische Verbindung zwischen ihm und seinen Fingerspitzen war wie abgebrochen.

Alles das bedeutete nun tatsächlich nichts. Hier war das Feuer, das prasselte und knisterte und mit jeder hüpfenden Flamme Leben verhieß. Er begann, die Mokassins aufzuschnüren. Sie waren mit einer Eisrinde überzogen; die dicken Wollsocken waren bis zu den Knien so steif wie eine Platte, und die Mokassinschnüre waren wie verbogene Eisenstangen, die im Feuer gewesen waren. Einen Augenblick riß und zerrte er mit seinen gefühllosen Fingern an ihnen, bis ihm aufging, wie töricht das war, und er seinen Dolch zog.

Ehe er aber die Schnüre zerschnitten hatte, geschah es. Es war sein eigener Fehler. Er hätte das Feuer nicht unter der Kiefer machen sollen. Er hätte es im Freien machen sollen. Aber es war leichter gewesen, die Zweige aus dem Unterholz zu ziehen und sie direkt auf das Feuer zu werfen. Der Baum, unter dem er das Feuer gemacht hatte, trug indessen eine gewisse Schneeschicht auf seinen Zweigen. Seit Monaten hatte kein Wind geweht, und jeder Zweig war voller Schnee. Jedesmal, wenn er einen Zweig losgerissen, hatte er den Baum ein klein wenig in Bewegung gesetzt – eine Bewegung, die er selber nicht merkte, die aber genügte, um das Unglück zu bewirken. Hoch oben am Baum befand sich ein Zweig, der seine Schneelast abwippte. Die fiel auf die Zweige darunter und ließ auch sie den Schnee abwippen. Die Bewegung setzte sich fort, und bald machte der ganze Baum sie mit. Es war wie eine Lawine, und sie stürzte ohne Warnung auf Mann und Feuer herab, und das Feuer erlosch! Wo es zuvor gebrannt hatte, lag jetzt eine unebene Schicht neuen Schnees.

Der Mann erschrak. Es war, als hätte er soeben sein eigenes Todesurteil gehört. Einen Augenblick starrte er auf die Stelle, wo das Feuer gewesen war, und dann wurde er sehr ruhig. Der alte Goldgräber am Sulphur Creek hatte also doch recht gehabt. Hätte er nur einen Gefährten gehabt, so wäre keine Gefahr gewesen. Der andere hätte das Feuer gemacht. Nun ja, jetzt mußte er also das Feuer noch einmal machen, und diesmal durfte es nicht mißglücken. Selbst wenn es glückte, verlor er, aller Wahrscheinlichkeit nach, ein paar Zehen. Seine Füße mußten schon sehr erfroren sein, und es würde eine Weile dauern, ehe er das andere Feuer gemacht hatte.

So waren seine Gedanken, aber er blieb nicht sitzen, während er dachte. Er war die ganze Zeit beschäftigt, während die Gedanken ihm durch den Kopf flogen. Er machte eine neue Unterlage für ein Feuer und diesmal im Freien, wo kein verräterischer Baum es verlöschen konnte. Dann sammelte er wieder trockenes Gras und winzige Zweige, die beim Hochwasser angespült waren. Er konnte die Finger nicht zusammenbringen, um die Zweige herauszuziehen, aber er fegte sie mit der ganzen Hand zusammen. Auf die Weise kamen auch viele verfaulte Zweige und Büschel grünen Mooses mit, was ihm nicht lieb war, aber er konnte es nicht hindern. Er arbeitete ganz systematisch und sammelte sogar einen Armvoll von den großen Zweigen, die er später gebrauchen wollte, wenn das Feuer etwas stärker wurde. Und unterdessen saß der Hund dabei und sah ihn mit erwartungsvollem Ausdruck in den Augen an, denn der Mann war für ihn der, welcher das Feuer schaffen sollte, und es dauerte etwas lange, bis das Feuer kam.

Als alles bereit war, steckte der Mann die Hand in die Tasche, um ein neues Stück Birkenrinde herauszuholen. Er wußte, daß die Rinde da war, und wenn er sie auch nicht mit seinen Fingern fühlen konnte, so hörte er sie doch knistern, während er nach ihr suchte, so sehr er sich aber auch anstrengte, konnte er sie doch nicht fassen. Und in all der Zeit hatte er das klare Bewußtsein, daß seine Füße mit jedem Augenblick mehr erfroren. Dieser Gedanke erfüllte ihn mit Schrecken. Er zog sich die Fäustlinge mit den Zähnen an und schwang die Arme hin und her, während er die Hände mit aller Macht gegen die Seiten schlug. Er hatte gesessen und stand jetzt auf, um es zu tun; unterdessen saß der Hund im Schnee, hatte sich den buschigen Wolfsschwanz um die Vorderfüße geschlungen, spitzte aufmerksam die Wolfsohren und beobachtete den Mann. Und während der Mann Arme und Hände schlug und schwang, erwachte in ihm ein heftiger Neid beim Anblick dieses Geschöpfes, das warm und sicher in seiner natürlichen Kleidung neben ihm saß.

Nach einiger Zeit merkte er, wie das zitternde Gefühl von Leben in seine Finger kam. Das schwache Zittern nahm zu, bis es zu einem stechenden, fast unerträglichen Schmerz wurde, den der Mann jedoch mit Befriedigung begrüßte. Er riß sich den Fäustling von der rechten Hand und zog die Birkenrinde heraus. Die entblößten Finger wurden sehr schnell wieder gefühllos. Dann zog er ein Streichholzpäckchen heraus, aber die entsetzliche Kälte hatte seine Finger schon wieder ganz leblos gemacht. Bei der Anstrengung, ein Streichholz von den andern zu trennen, fiel das ganze Päckchen in den Schnee. Er versuchte, es aufzulesen, aber es mißglückte. Die toten Finger konnten weder fühlen noch greifen. Er war sehr vorsichtig. Er verscheuchte den Gedanken an die unvermeidlichen Erfrierungen in Füßen, Nase und Backen und legte seine ganze Seele in die Arbeit mit den Streichhölzern. Er paßte auf, verwendete den Gesichtssinn statt des Gefühls, und als er seine Finger auf beiden Seiten des Päckchens sah, schloß er sie – das heißt, er hatte den Willen, sie zu schließen, aber die telegraphische Leitung war zerschnitten, und die Finger wollten nicht gehorchen. Er zog sich den Fäustling auf die rechte Hand und schlug sie wie ein Rasender gegen sein Knie. Dann legte er mit beiden Händen, die in den Fäustlingen steckten, die Streichhölzer zusammen mit einem ganzen Haufen Schnee auf seinen Schoß. Aber damit hatte er noch nichts gewonnen.

Mit großer Mühe glückte es ihm, das Päckchen in das gebeugte Handgelenk zu klemmen und es dann zum Munde zu führen. Das Eis knirschte und krachte, als er mit gewaltiger Kraftanstrengung den Mund öffnete. Er zog die Unterlippe ein, hob die Oberlippe, daß sie nicht im Wege stand, und ließ die Schneidezähne über das Päckchen gleiten, um ein Streichholz von den andern zu trennen. Es glückte ihm, eines zu fassen, das er in den Schoß fallen ließ. Aber das machte es um nichts besser, denn er konnte es nicht aufheben. Da fand er einen Ausweg. Er nahm das Streichholz mit den Zähnen auf und strich es gegen seine Beine. Zwanzigmal mußte er streichen, ehe es ihm glückte, es anzuzünden. Als es schließlich brannte, hielt er es mit den Zähnen an die Birkenrinde. Aber der brennende Schwefel biß ihn in die Nase und drang ihm in die Lungen, so daß er krampfhaft husten mußte, das Streichholz fiel in den Schnee und erlosch.

Der alte Goldgräber vom Sulphur Creek hat recht gehabt, dachte er in dem Augenblick beherrschter Verzweiflung, der diesem mißglückten Versuch folgte; bei mehr als sechzig Grad unter dem Gefrierpunkt muß man mit einem Kameraden reisen. Er schlug die Hände gegeneinander, konnte das Gefühl aber nicht wieder in ihnen erwecken. Plötzlich riß er sich mit den Zähnen die Fäustlinge von den Händen. Dann nahm er das ganze Streichholzpäckchen zwischen sein gebeugtes Handgelenk, und da seine Armmuskeln nicht von der Kälte erstarrt waren, glückte es ihm, das Handgelenk hart um die Streichhölzer zusammenzupressen. Dann strich er das ganze Päckchen gegen das Bein. Es gab ein ganzes Feuer – siebzig Streichhölzer auf einmal! Und kein Wind wehte sie aus. Er beugte den Kopf seitwärts, um dem erstickenden Rauch zu entgehen, und hielt das flammende Bündel gegen die Birkenrinde. Während er das tat, merkte er, daß plötzlich Gefühl in seine Hand kam. Sein Fleisch brannte. Er konnte es riechen. Tief unter der Oberfläche konnte er es fühlen. Das Gefühl wurde zu einer Qual, die fast unerträglich war. Und doch hielt er unbeholfen die brennenden Streichhölzer an die Rinde, die nicht Feuer fangen wollte, weil seine eigenen verbrannten Hände im Wege standen und den größten Teil der Flamme fortnahmen.

Als er es schließlich nicht mehr aushalten konnte, riß er die Hände auseinander. Die brennenden Streichhölzer fielen mit einem zischenden Geräusch in den Schnee, aber die Birkenrinde brannte. Er begann, die Flamme mit trockenem Gras und den winzigsten Zweigen zu nähren. Er konnte nicht wählen, denn er war gezwungen, das Brennholz zwischen seinen gebeugten Handgelenken zu heben. Kleine Stücke fauler Zweige und grünen Mooses kamen mit, und er biß sie, so gut er konnte, mit den Zähnen ab. Schrecklich unbeholfen, aber zugleich mit ungeheurer Sorgfalt nährte er die Flamme. Sie bedeutete für ihn das Leben selbst, und sie durfte nicht sterben. Er hatte angefangen, Kälteschauer zu bekommen, weil das Blut sich von der Oberfläche seines Körpers zurückgezogen hatte, und seine Bewegungen wurden immer unbeholfener. Ein großes Stück Moos fiel mitten in das kleine Feuer. Er versuchte, es mit den Fingern herauszuholen, zitterte aber so stark, daß er es auseinander riß und den Kern des Feuers zersplitterte. Das brennende Gras und die winzigen Zweige wurden nach allen Seiten verstreut, er versuchte, sie wieder zu sammeln, aber trotz äußerster Anspannung aller seiner Kräfte war es ihm unmöglich, seine zitternden Glieder zu beherrschen, und die Zweige waren und blieben verstreut. Jeder Zweig sandte eine graue Rauchwolke aus und erlosch dann. Er sah sich schlaff und gleichgültig um, und zufällig fiel sein Blick auf den Hund, der ihm gerade gegenüber auf der anderen Seite des verunglückten Feuers saß, unruhig im Schnee hin und her rückte und bald das eine, bald das andere Vorderbein ein klein wenig hob, während er ihn erwartungsvoll ansah.

Beim Anblick des Hundes tauchte eine wilde Idee in seinem Kopfe auf. Er erinnerte sich der Geschichte von dem Mann, der von einem Schneesturm überrascht worden war und einen Stier totgeschlagen hatte, in den Kadaver gekrochen und auf diese Weise gerettet worden war. Er wollte den Hund erschlagen und seine Hände in den warmen Körper tauchen, bis die Gefühllosigkeit verschwand. Dann wollte er ein neues Feuer machen. Er sprach mit dem Hunde und rief ihn zu sich. Aber es war ein seltsamer Klang in seiner Stimme, der den Hund, welcher den Mann noch nie so hatte reden hören, ängstlich machte, etwas stimmte nicht, seine mißtrauische Natur ahnte die Gefahr – er wußte nicht, welche Gefahr, aber irgendwo in seinem Hirn erwachte Furcht vor dem Manne. Beim Geräusch der Stimme des Mannes legte er die Ohren flach an den Kopf, hob und bewegte die Vorderbeine immer unruhiger, wollte sich aber dem Manne nicht nähern. Der erhob sich halb und kroch auf Händen und Knien zu dem Hunde hin. Diese ungewöhnliche Stellung erregte dessen Mißtrauen aufs neue, und er zog sich mit affektierten, koketten Bewegungen seitwärts zurück.

Der Mann setzte sich einen Augenblick in den Schnee und kämpfte, um seine Ruhe wiederzugewinnen. Dann zog er sich mit Hilfe der Zähne die Fäustlinge an und kam auf die Beine. Zuerst sah er an sich hinab, um sich zu überzeugen, daß er wirklich aufrecht stand, denn der Umstand, daß kein Gefühl in seinen Füßen war, machte, daß er gleichsam keine Verbindung mit der Erde hatte. Seine aufrechte Stellung verscheuchte gleich etwas von dem Mißtrauen des Hundes, und als er jetzt gebieterisch, mit einer Stimme, die wieder an die Peitschenschnur gemahnte, sprach, zeigte der Hund seinen gewöhnlichen Gehorsam und näherte sich. Als der Mann den Hund so nahe sah, daß er ihn erreichen konnte, verlor er ganz jede Selbstbeherrschung. Seine Arme streckten sich nach dem Hunde aus, und er war aufrichtig erstaunt, als er merkte, daß seine Hände nicht greifen konnten, und daß die Finger weder Biegsamkeit noch Gefühl besaßen. Er hatte im Augenblick vergessen, daß sie steifgefroren waren, und daß sie mit jedem Augenblick gefühlloser wurden. Alles das dauerte nur einen Augenblick, und ehe der Hund entschlüpfen konnte, hatte er die Arme um ihn geschlungen. Er setzte sich in den Schnee und hielt den Hund fest, der kämpfte und sich winselnd wehrte.

Aber das war auch alles, was er tun konnte: den Hund mit seinen Armen zu umschließen und sitzenzubleiben. Es war ihm klar, daß er das Tier nicht töten konnte. Er sah keine Möglichkeit, es zu tun. Mit seinen hilflosen Händen konnte er weder seinen Dolch ziehen und halten, noch das Tier an der Kehle packen und erwürgen. Er ließ den Hund los, der in wilder Flucht, die Rute zwischen den Beinen und beständig knurrend, davonschoß. In einer Entfernung von vierzig Fuß blieb er stehen und sah ihn mit gespitzten Ohren neugierig an. Der Mann betrachtete seine Hände, um sich darüber klarzuwerden, wo sie waren, und er sah, daß sie immer noch an den Armen hingen. Es kam ihm höchst sonderbar vor, daß man gezwungen sein konnte, seine Augen zu gebrauchen, um festzustellen, wo die Hände waren. Er begann, die Arme hin und her zu schwingen, während er gleichzeitig die Hände gegen die Seiten schlug. Er tat das fünf Minuten lang mit großer Kraft, und sein Herz pumpte genügend Blut an die Oberfläche seines Körpers, um die heftigen Kälteschauer zum Stillstand zu bringen. Aber es kam kein Gefühl in die Hände, und er hatte den Eindruck, daß sie wie ein totes Gewicht am Ende der Arme hingen; als er aber versuchte, diesen Eindruck bis zu seinem Ursprung zu verfolgen, konnte er ihn nicht finden.

Ein sicheres Gefühl, daß dies der Tod war, überkam ihn, ein überwältigendes, angstvolles Gefühl, das immer nagender wurde, je mehr ihm aufging, daß es sich nicht nur um das Erfrieren von Händen und Füßen, sondern um Tod und Leben handelte, und daß er keine Chance mehr hatte. Ein wahnsinniger Schrecken packte ihn, und er kehrte um und lief den Bach entlang auf der alten undeutlichen Schlittenbahn zurück. Der Hund lief dicht hinter ihm her. Er lief blind weiter, ziellos, so ängstlich, wie er nie im Leben gewesen war. Und wie er so durch den Schnee taumelte, begann er allmählich wieder die Dinge zu erblicken, die ihn umgaben – die Hänge zu beiden Seiten des Baches, die Stellen, wo die Baumstämme sich aufgehäuft hatten, die blattlosen Eschen und den Himmel. Ihm war schon wohler nach dem Laufen. Die Kälteschauer hatten sich verzogen; wenn er weiterlief, tauten seine Füße vielleicht auf, und wenn er nur lange genug lief, erreichte er jedenfalls das Lager und die Kameraden. Er verlor wohl ein paar Finger und Zehen und etwas vom Gesicht, aber die Kameraden würden schon für ihn sorgen und retten, was von ihm übrig war, wenn er hinkam. Gleichzeitig aber sagte ihm etwas anderes in seinem Hirn, daß er nie den Zeltplatz und die Kameraden erreichen würde, daß es viele Meilen bis dorthin sei. Und daß er bald steif und tot wäre. Diesen Gedanken hielt er indessen zurück und weigerte sich, mit ihm zu rechnen. Zuweilen drängte der Gedanke sich vor und forderte Gehör, aber er zog ihn immer wieder zurück und bemühte sich, an andere Dinge zu denken.

Ihm erschien es selber merkwürdig, daß er laufen konnte, obwohl seine Füße so steifgefroren waren, daß er nicht fühlte, wenn sie den Boden berührten und das Gewicht seines Körpers trugen. Es war ihm, als flöge er über die Oberfläche der Erde dahin und hätte keine Verbindung mit ihr. Irgendwo hatte er einmal einen geflügelten Merkur gesehen. Er dachte, ob Merkur wohl dasselbe Gefühl hätte, wenn er über die Erde flog.

Seine Theorie vom Weiterlaufen, bis er Zeltplatz und Kameraden erreichte, hatte einen argen Fehler – ihm fehlte es an der nötigen Ausdauer. Ein paarmal stolperte er, und zuletzt wankte er, brach zusammen und fiel. Als er sich zu erheben versuchte, mißglückte es. Ich muß ein wenig sitzenbleiben und mich ausruhen, sagte er sich, das nächste Mal gehe ich einfach. Und während er dasaß und Luft schöpfte, merkte er, daß er sich ganz warm und wohl fühlte. Er zitterte nicht mehr, und es war gleichsam, als hätte er ein angenehmes Gefühl von Wärme in Brust und Körper. Und dennoch, als er an Nase und Backen faßte, war kein Gefühl darin. Die konnte er durch das Laufen nicht auftauen, und seine Hände und Füße auch nicht. Da kam ihm der Gedanke, daß die Erfrierung in seinem Körper sich ausbreiten würde. Er versuchte, den Gedanken zu unterdrücken, ihn zu vergessen, an etwas anderes zu denken, denn er war sich darüber klar, daß er ihn mit einem vollkommen panischen Schrecken erfüllte. Aber der Gedanke tauchte immer wieder auf und wurde immer unabweisbarer, bis er zuletzt seinen eigenen Körper ganz steifgefroren vor sich sah. Das war zuviel, und wieder lief er in wilder Flucht die Schlittenbahn entlang. Einmal verlangsamte er den Lauf und begann zu gehen, aber der Gedanke daran, daß die Erfrierung sich ausbreitete, ließ ihn wieder laufen. Und unterdessen lief der Hund immer dicht hinter ihm her. Als der Mann zum zweitenmal stürzte, schlang der Hund die Rute um die Vorderpfoten und sah ihn mit einem merkwürdig forschenden, aufmerksamen Blick an. Es machte ihn rasend, zu sehen, wie warm das Tier sich fühlte, wie sicher es war, und er verfluchte es, bis es die Ohren dicht an den Kopf legte, um sich bei ihm einzuschmeicheln. Diesmal wurde der Mann schneller von Kälteschauern gepackt. Er mußte bald seinen Kampf mit der Kälte aufgeben. Die überfiel ihn von allen Seiten. Der Gedanke an sie trieb ihn vorwärts, aber er war nicht mehr als hundert Fuß gelaufen, als er auch schon taumelte und der Länge nach hinfiel. Es war das letztemal, daß der Schrecken Macht über ihn gewann. Als er Luft geschöpft und die Herrschaft über sich wiedergewonnen hatte, setzte er sich auf und begann zu denken, daß er dem Tod würdig begegnen wollte. In dieser Form kam ihm der Gedanke jedoch nicht. Er sagte sich, daß er sich hier lächerlich gemacht hätte, daß er wie ein Huhn mit abgeschlagenem Kopf herumgelaufen wäre – das war das Gleichnis, das ihm einfiel. Nun ja, er sollte also erfrieren, und da konnte er sich ebensogut ordentlich benehmen. Und die Folge dieses neuen Seelenfriedens war ein erstes Gefühl von Schläfrigkeit. Eine gute Idee, dachte er, in den Tod hinüberzuschlafen. Das war, wie betäubt zu werden. Erfrieren war nicht so schlimm, wie die Leute glaubten. Es gab manche Todesart, die schlimmer war.

Er sah im Geiste, wie die Kameraden am nächsten Tage seine Leiche fanden. Plötzlich befand er sich unter ihnen und ging die Schlittenbahn entlang, um sich selbst zu suchen. Und immer in ihrer Gesellschaft erreichte er die Stelle, wo die Schlittenbahn abschwenkte und fand sich im Schnee liegen.

Er gehörte sich nicht mehr selber, denn in eben diesem Augenblick war er außerhalb seiner selbst, stand mit den Kameraden da und betrachtete sich, wie er im Schnee lag. Es ist wirklich kalt, dachte er. Wenn er wieder nach den Staaten kam, konnte er den Leuten erzählen, was wirkliche Kälte hieß. Dann verschwand die Vision, und er meinte, den alten Goldgräber am Sulphur Creek zu sehen. Er konnte ihn ganz deutlich sehen, wie er warm und behaglich dasaß und seine Pfeife rauchte.

»Du hattest recht, Alter; du hattest recht«, sagte der Mann murmelnd zu dem alten Goldgräber am Sulphur Creek.

Und dann schlief er ein, und es war der herrlichste, angenehmste Schlaf, den er je gehabt. Der Hund saß da, sah ihn an und wartete. Der kurze Tag wollte einer langen Dämmerung weichen. Nichts deutete darauf hin, daß ein Feuer gemacht werden sollte, und außerdem hatte der Hund nie erlebt, daß ein Mann so im Schnee saß, ohne Feuer zu machen. Und als die Dämmerung allmählich immer tiefer wurde, überwältigte ihn fast die Sehnsucht nach dem Feuer, und während er eifrig seine Vorderpfoten hob, winselte er still und legte die Ohren ganz zurück in der Erwartung, daß der Mann ihn ausschelten sollte. Aber der Mann saß immer noch schweigend da, und der Hund heulte laut. Etwas später kroch er zu dem Manne hin und spürte den Leichengeruch, die Haare sträubten sich ihm, und er kroch rückwärts fort. Eine kurze Weile noch zögerte er. Er saß da und heulte die Sterne an, die an dem kalten Himmel hüpften und tanzten und hell schienen. Dann wandte er sich um und trottete die Schlittenbahn entlang in der Richtung des Zeltplatzes, den er kannte, und wo andere waren, die ihm Nahrung und Wärme verschaffen konnten.


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