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Der Abtrünnige

Wenn du jetzt nicht aufstehst, Johnny, gebe ich dir keinen Bissen zu essen!« Die Drohung übte keine Wirkung auf den Knaben aus. Er klammerte sich immer noch an den Schlaf und kämpfte um das Vergessen, das er schenkt, wie der Träumende um seinen Traum kämpft. Der Knabe ballte die schwachen Fäuste und schlug kraftlos, aber krampfhaft mit ihnen um sich. Die Schläge waren gegen die Mutter gerichtet, aber sie hatte offenbar durch lange Übung gelernt, ihnen auszuweichen, und sie faßte ihn an der Schulter und schüttelte ihn tüchtig.

»Laß mich!«

Es war ein Schrei, der, halb erstickt in der tiefsten Tiefe des Schlafes, begann und hastig wie eine Klage zu heftiger Streitbarkeit stieg, dann legte sich auch die, und der Schrei wurde zu einem unartikulierten Wimmern. Es war ein tierischer Schrei, den eine Seele in Qual ausstieß, voll von unendlicher Erbitterung und von Schmerz.

Aber das machte keinen Eindruck auf die Frau mit den traurigen Augen und dem müden Gesicht, denn sie war diese Arbeit gewohnt und mußte sie jeden Tag von neuem tun. Sie versuchte, die Bettdecke wegzuziehen, aber der Knabe schlug weiter nach seiner Mutter und klammerte sich mit dem Mut der Verzweiflung an die Decke, während er, immer noch von ihr bedeckt, ganz am Fußende des Bettes zusammenkroch. Sie versuchte, die Bettdecke auf den Fußboden zu ziehen, aber der Knabe wehrte sich. Da machte sie eine äußerste Anstrengung. Sie war die schwerere von den beiden, und der Knabe und die Bettdecke lagen auf dem Fußboden, denn er klammerte sich instinktiv fest, um sich gegen die Kälte in der Stube zu schützen, die seinen ganzen Körper durchschauerte.

Als er über den Bettrand taumelte, sah es fast aus, als sollte er kopfüber hinstürzen. Aber da erwachte ein Schimmer von Bewußtsein in ihm. Er versuchte das Gleichgewicht zu bewahren, und wenn die Situation auch einen Augenblick drohend aussah, so landete er doch mit den Füßen zuerst auf dem Fußboden. Im selben Augenblick packte seine Mutter ihn an den Schultern und schüttelte ihn. Wieder begann er die Fäuste zu gebrauchen, diesmal aber mit größerer Kraft und Sicherheit. Gleichzeitig öffnete er die Augen. Sie ließ los. Er war wach.

»Schon recht«, murmelte er.

Sie nahm die Lampe, eilte hinaus, und er blieb allein im Dunkeln zurück.

»Du kommst zu spät!« rief sie ihm zu.

Er kümmerte sich nicht um die Dunkelheit. Als er sich angezogen hatte, ging er in die Küche. Sein Gang war sehr schwer für einen so zarten, dünnen Knaben. Er schleppte die Beine nach, was ganz unwahrscheinlich wirkte, da sie fast nur aus Haut und Knochen bestanden. Er zog einen Stuhl mit durchlöchertem Sitz an den Tisch.

»Johnny!« rief die Mutter scharf.

Er stand schnell wieder vom Stuhl auf und ging, ohne ein Wort zu sagen, zur Aufwasch. Es war eine fettige, schmutzige Aufwasch, und ein arger Gestank stieg aus dem Rohr auf, aber er beachtete es nicht. Für ihn war es selbstverständlich, daß eine Aufwasch schlecht roch, wie es auch selbstverständlich war, daß die Seife fettig von Aufwaschwasser war und nicht ordentlich schäumen wollte. Er gab sich auch keine besondere Mühe, sie zum Schäumen zu bringen. Ein paar Spritzer kaltes Wasser aus dem Hahn – und der feierliche Akt war beendet. Die Zähne putzte er sich nicht. Was das betrifft, so hatte er nie eine Zahnbürste gesehen und ahnte nicht, daß es Menschen gab, die so töricht waren, sich die Zähne zu putzen.

»Das eine Mal am Tage könntest du dich nun wirklich gern waschen, ohne daß ich es dir immer zu sagen brauchte«, klagte seine Mutter.

Sie hielt den zerbrochenen Deckel auf der Kanne fest, während sie zwei Tassen Kaffee einschenkte. Er sagte nichts, denn das war eine ewige Streitfrage zwischen ihnen und der einzige Punkt, in dem seine Mutter vollkommen unerbittlich war. »Einmal am Tage« war es durchaus notwendig, daß er sich das Gesicht wusch. Er trocknete sieh mit einem fettigen Handtuch ab, das feucht und schmutzig und so zerfetzt war, daß sein Gesicht, als er fertig war, mit Fasern bedeckt war.

»Ich wünschte, wir wohnten nicht so weit weg«, sagte sie, sich setzend. »Ich tue ja gern, was ich kann. Das weißt du doch. Aber wenn wir einen Dollar an der Miete sparen, so ist das nicht wenig, und dazu haben wir hier mehr Platz. Das weißt du auch.«

Er hörte kaum, was sie sagte. Er hatte das alles schon früher gehört – viele Male. Ihr Gedankenkreis war sehr eng, und sie kehrte immer wieder darauf zurück, wie schwer es für sie war, so weit von der Fabrik zu wohnen.

»Ein Dollar heißt mehr Essen«, sagte er kurz. »Ich will lieber das Ende laufen und mehr zu essen kriegen.«

Er aß schnell, kaute das Brot nur halb und spülte die ungekauten Bissen mit dem Kaffee hinunter. Die warme, trübe Flüssigkeit hieß Kaffee. Johnny glaubte selbst, daß es Kaffee sei, – und zwar ausgezeichneter Kaffee. Das war eine von den wenigen Illusionen, die ihm noch geblieben waren. Nie in seinem Leben hatte er richtigen Kaffee getrunken. Außer dem Brot gab es ein kleines Stück kalten Speck. Seine Mutter füllte ihm die Tasse wieder mit Kaffee. Als er sein Stück Brot beinahe aufgegessen hatte, begann er sich umzusehen, in der Hoffnung, mehr zu bekommen. Sie fing seinen forschenden Blick auf.

»Du mußt nun auch nicht gefräßig sein, Johnny!« sagte sie. »Du hast dein Teil bekommen. Deine Geschwister sind kleiner als du.«

Er antwortete nicht auf ihre Vorwürfe – er war kein Mensch, der viel sagte –, aber er beschied sich. Er beklagte sich nie und zeigte eine Geduld, die ebenso furchtbar war wie die Schule, in der er sie gelernt hatte. Er leerte seine Tasse, wischte sich den Mund mit dem Handrücken und machte Miene, aufzustehen.

»Wart einen Augenblick!« sagte sie hastig. »Ich glaube doch, daß ich dir noch ein Stück geben kann – ein kleines Stück!«

Mit der Gewandtheit eines Taschenspielers tat sie, als schnitte sie eine Scheibe Brot für ihn ab, legte dann aber den Laib in den Brotkasten zurück und gab ihm statt dessen eine ihrer eigenen zwei Scheiben. Sie glaubte, sie hätte ihn angeführt, aber er hatte das Kunststück gesehen. Dennoch nahm er ganz schamlos das Brot. Er hegte die unerschütterliche Überzeugung, daß seine Mutter wegen ihrer chronischen Schwächlichkeit nie Appetit hätte.

Sie sah, wie er auf dem trockenen Brot herumkaute, beugte sich vor und goß den Inhalt ihrer Kaffeetasse in die seine.

»Es schmeckt mir heute nicht so recht«, erklärte sie.

In der Ferne ertönte ein langgezogenes, schrilles Pfeifen, und beide kamen auf die Füße. Sie sah nach der billigen Weckuhr auf dem Regal. Die Zeiger standen auf halb sechs. Die anderen Fabrikarbeiter wachten jetzt auf. Sie warf sich einen Schal über die Schulter und setzte sich einen schmutzigen Hut auf, der uralt und völlig formlos war.

»Wir werden wohl laufen müssen«, sagte sie, indem sie den Docht herunterschraubte und die Lampe ausblies.

Im Dunkeln tappend, verließen sie die Stube und gingen die Treppe hinab. Es war klar und kalt, und Johnny schüttelte sich bei der ersten Berührung mit der Morgenluft. Die Sterne hatten noch nicht am Himmel zu verblassen begonnen, die Stadt lag im Dunkeln. Johnny sowohl wie seine Mutter schleppten die Füße beim Gehen nach – es war nicht Ehrgeiz genug in ihren Beinmuskeln, um die Füße vom Boden zu heben.

Als sie eine Viertelstunde gegangen waren, ohne etwas zu sagen, bog seine Mutter rechts ab.

»Komm nicht zu spät!« ertönte ihre letzte Warnung aus dem Dunkel, ehe es sie verschlang.

Er antwortete nicht, sondern ging ruhig und besonnen weiter.

Überall im Fabrikviertel öffneten sich die Türen, und er war bald mitten in einer ganzen Schar, die durch das Dunkel vorwärts eilte. Als er das Tor der Fabrik erreichte, ertönte die Pfeife wieder. Er sah nach Osten. Über der langen Reihe ungleicher Hausdächer begann sich ein blasses Licht zu zeigen. Das war alles, was er vom Tage sah, ehe er ihm den Rücken kehrte und mit seinen Arbeitsgenossen hineinging.

Er nahm seinen Platz an einer der vielen langen Reihen von Maschinen ein. Vor ihm, über einem mit kleinen Spulen gefüllten Kasten waren einige sich schnell drehende große Spulen angebracht, und auf sie spann er Jutefäden von den kleinen Spulen. Die Arbeit war ganz einfach. Alles, was sie erforderte, war Schnelligkeit. Die kleinen Spulen mehrten sich so schnell, und es gab so viele große Spulen, um sie zu leeren, daß nie Zeit zum Nichtstun blieb.

Er arbeitete ganz mechanisch. Wenn eine kleine Spule leer war, benutzte er seine linke Hand als Bremse, um die große Spule anzuhalten, während er gleichzeitig mit Daumen und Zeigefinger das lose Fadenende der großen und mit der rechten Hand das lose Fadenende einer kleinen Spule faßte. Diese zwei verschiedenen Bewegungen mit beiden Händen führte er gleichzeitig und sehr schnell aus. Dann knüpfte er mit einer blitzschnellen Bewegung beider Hände einen Weberknoten und ließ die Spule los. Es war keine Kunst, einen Weberknoten zu knüpfen. Er hatte einmal damit geprahlt, daß er es im Schlaf könnte. Und das tat er übrigens auch hin und wieder, wenn er in einer einzigen Nacht Jahrhunderte damit verbrachte, eine endlose Reihe von Weberknoten zu knüpfen.

Einige von den Knaben waren faul und vergeudeten Zeit und Maschinenkraft, indem sie kleine Spulen, wenn sie leer waren, nicht durch neue ersetzten, und ein Vorarbeiter hatte das zu verhindern. Er ertappte Johnnys Nachbar auf frischer Tat und verabreichte ihm ein paar Ohrfeigen.

»Sieh dir Johnny an – warum ist der nicht so wie du?« sagte der Aufseher.

Johnnys Spulen schnurrten aus voller Kraft, aber das indirekte Lob machte keinen Eindruck auf ihn. Es hatte eine Zeit gegeben ..., aber das war lange her, sehr lange her. Sein schlaffes Gesicht war völlig ausdruckslos, während er anhörte, wie er als leuchtendes Beispiel hingestellt wurde. Er war ein ausgezeichneter Arbeiter. Das wußte er sehr gut – er hatte es so oft gehört. Es war etwas ganz Alltägliches, und ihm schien zudem, als ob es nichts mehr für ihn bedeutete. Vom vollkommenen Arbeiter hatte er sich zur vollkommenen Maschine entwickelt. Ging seine Arbeit nicht glatt, so kam es wie bei der Maschine daher, daß das Material nichts taugte. Ein vollkommener Nagelstempel hätte ebensogut schlechte Nägel verfertigen, wie er einen Fehler begehen können.

Und das war auch nicht so merkwürdig. Nie hatte es eine Zeit gegeben, da er nicht in enger Verbindung mit Maschinen gestanden hatte. Er war unter Maschinen geboren und unter ihnen aufgewachsen. Vor zwölf Jahren war in der Webstube in eben dieser Fabrik eine Störung eingetreten. Johnnys Mutter war ohnmächtig geworden. Sie legten sie flach auf den Fußboden zwischen den lärmenden Maschinen. Ein paar ältere Frauen wurden von ihren Webstühlen hinzugerufen, der Vorarbeiter half, und im Laufe weniger Minuten gab es in der Webstube eine Seele mehr, als zur Tür hereingekommen waren. Das war Johnny, der mit dem Poltern und Krachen der Maschinen in den Ohren geboren war und zum erstenmal in der warmen feuchten Luft atmete, die dick von Leinenflocken war. Er hatte an jenem ersten Tage gehustet, um sich die Lunge von den Leinenflocken zu befreien, und aus demselben Grunde hustete er seitdem immer.

Der Knabe neben Johnny wimmerte und schnaufte. Sein Gesicht war von Haß auf den Vorarbeiter verzerrt, der ihn drohend aus der Ferne im Auge behielt, aber jede Spule lief in voller Fahrt. Der Junge heulte furchtbare Flüche in die sich hastig drehenden Spulen hinein, aber das Geheul drang keine sechs Fuß weit in den Raum, denn der Lärm stemmte sich wie eine Mauer dagegen.

Von alledem nahm Johnny keine Notiz. Er pflegte die Dinge zu nehmen, wie sie kamen. Zudem wurde alles in der Welt so eintönig, wenn es sich immer wiederholte, und dieses bestimmte Geschehnis hatte er viele Male erlebt. Sich gegen den Vorarbeiter aufzulehnen, erschien ihm ebenso zwecklos, wie dem Willen einer Maschine zu trotzen. Maschinen waren so gemacht, daß sie auf eine bestimmte Art und Weise wirkten und eine bestimmte Arbeit verrichteten. Und dasselbe galt von dem Vorarbeiter.

Um elf Uhr aber gab es plötzlich eine Störung, und wie durch Zauberei verpflanzte sich die Erregung augenblicklich bis in die entferntesten Winkel. Der einbeinige Knabe, der an der anderen Seite von Johnny arbeitete, schoß zu einem leeren Spulkasten und verschwand mit Krücke und allem darin. Der Fabrikverwalter kam durch das Lokal gegangen, in Begleitung eines jungen Mannes, der gut gekleidet war und ein gestärktes Hemd trug – ein feiner Herr nach Johnnys Einteilung der Menschheit, aber es war ja auch der »Inspektor«.

Er sah die Knaben scharf forschend an, während er an den Webstühlen vorbeiging. Hin und wieder blieb er stehen und fragte nach diesem oder jenem. Wenn er das tat, mußte er laut rufen, und in solchen Augenblicken verzerrte die Anstrengung, sich Gehör zu verschaffen, sein Gesicht geradezu lächerlich. Die leere Maschine neben Johnny entging seinem scharfen Blick nicht, aber er sagte nichts. Johnny zog sich seine Aufmerksamkeit auch zu, und er blieb plötzlich stehen. Er faßte Johnny am Arm, um ihn ein wenig von der Maschine zurückzuziehen, ließ ihn aber mit einem erstaunten Ausdruck wieder los.

»Da sitzt nicht viel Fleisch«, sagte der Verwalter mit verlegenem Lachen.

»Die reinen Pfeifenrohre«, lautete die Antwort. »Sehen Sie die Beine! Der Junge hat die Englische Krankheit – nicht gerade sehr schlimm, aber er hat sie. Wenn er nicht eines schönen Tages Epileptiker wird, dann kommt es daher, weil die Tuberkulose ihn schon vorher geholt hat.«

Johnny lauschte, verstand aber nicht, was der Mann sagte. Dazu kam, daß er sich nicht für die Übel der Zukunft interessierte. Ein gegenwärtigeres und ernsteres Übel drohte in der Gestalt des Inspektors.

»Hör, mein Junge, jetzt mußt du die Wahrheit sprechen«, sagte oder vielmehr rief der Inspektor, indem er sich zu dem Ohr des Jungen beugte, damit er ihn hören konnte. »Wie alt bist du?« »Vierzehn Jahre«, log Johnny, und er log aus voller Kraft seiner Lungen. So laut log er, daß er husten mußte – einen trockenen, quälenden Husten, der die Flocken, die den ganzen Morgen seine Lungen gereizt hatten, löste.

»Er sieht aus, als wäre er wenigstens sechzehn«, sagte der Verwalter.

»Oder sechzig«, erwiderte der Inspektor zornig.

»Er hat immer so ausgesehen.«

»Seit wann?« fragte der Inspektor hastig.

»Seit Jahren. Er wird nie älter.«

»Nein, und jünger auch nicht. Er hat wohl die ganzen Jahre hier gearbeitet.«

»Hin und wieder – aber das war, ehe das neue Gesetz kam«, fügte der Verwalter schnell hinzu.

»Steht die Maschine leer?« fragte der Inspektor und zeigte auf die verlassene Maschine neben der Johnnys, auf der die halbvollen Spulen mit rasender Schnelligkeit herumschnurrten.

»Es sieht so aus.« Der Verwalter machte dem Vorarbeiter ein Zeichen, daß er herkommen sollte, und rief ihm ins Ohr, während er auf die Maschine zeigte. »Die Maschine steht leer«, meldete er dem Inspektor.

Sie gingen weiter, und Johnny kehrte zu seiner Arbeit zurück, erleichtert, weil das große Übel abgewendet war. Aber der einbeinige Knabe war nicht so glücklich. Der Inspektor, der alles sah, zog ihn aus dem Spulkasten hervor und hielt ihn mit ausgestrecktem Arm von sich ab. Die Lippen des Knaben zitterten, und er hatte einen Ausdruck, als wäre er von einem furchtbaren und nicht wieder gut zu machenden Unglück betroffen worden. Der Vorarbeiter sah äußerst verblüfft aus, als hätte er zum erstenmal den Knaben vor Augen gesehen, während das Gesicht des Inspektors sowohl Erstaunen wie Wut ausdrückte.

»Ich kenne ihn«, sagte er. »Er ist zwölf Jahre alt. Ich habe ihn im letzten Jahre aus drei Fabriken hinausgeworfen. Dies ist die vierte.«

Dann wandte er sich zu dem einbeinigen Knaben. »Du hast mir doch versprochen, zur Schule zu gehen.«

Der einbeinige Knabe brach in Tränen aus. »Bitte, Herr Inspektor, uns sind zwei Kinder gestorben, und wir sind so schrecklich arm.«

»Warum hustest du so?« fragte der Inspektor, als klagte er ihn eines Verbrechens an.

Und als wäre es eine Beschuldigung, von der er sich reinwaschen müßte, antwortete der einbeinige Knabe: »Es ist nichts. Ich habe mich nur vorige Woche erkältet, Herr Inspektor, das ist alles.«

Es endete damit, daß der einbeinige Knabe den Saal mit dem Inspektor verlassen mußte, und hinterher kam der besorgte und protestierende Verwalter. Dann senkte sich die Einförmigkeit wieder über die Webstühle. Der lange Vormittag und der noch längere Nachmittag vergingen, und die Pfeife ertönte als Signal, daß es Zeit war, heimzugehen. Es war schon dunkel geworden, als Johnny das Fabriktor verließ. In der Zwischenzeit hatte die Sonne ihren goldenen Bogen am Himmel beschrieben, die Welt mit ihrer milden Wärme übergossen und war untergegangen und im Westen hinter der unebenen Reihe der Dächer verschwunden.

Das Abendessen war die Familienmahlzeit des Tages – die einzige Mahlzeit, bei der Johnny mit seinen jüngeren Geschwistern zusammentraf. Es war immer eine halb feindselige Begegnung, denn er war sehr alt, während sie so verzweifelt jung waren. Er hatte keine Geduld mit ihrer überströmenden, verblüffenden Jugendlichkeit. Er verstand sie nicht. Seine eigene Kindheit lag allzu weit zurück. Er war wie ein alter, reizbarer Mann, der sich über ihre jugendliche Ausgelassenheit ärgerte, die ihm als vollkommene Torheit erschien. Er verzehrte sein Essen unter düsterem Schweigen und fand Trost in dem Gedanken, daß auch sie bald anfangen müßten zu arbeiten. Das würde sie abschleifen und sie gesetzt und würdig machen – wie er es geworden. Nach menschlichem Brauch machte Johnny sich zu der Elle, mit der er das ganze Universum maß.

Während des Essens erklärte seine Mutter auf verschiedene Art und Weise und mit unendlichen Wiederholungen, daß sie wirklich versuchte, es so gut zu machen, wie sie konnte, und mit einem Gefühl der Erleichterung schob Johnny, als die karge Mahlzeit beendet war, seinen Stuhl fort und stand auf. Er schwankte einen Augenblick zwischen dem Bett und der Haustür und wählte endlich letztere. Er ging nicht sehr weit. Er setzte sich auf die Treppe, zog die mageren Knie ganz hoch, bog die schmalen Schultern nach vorn und stützte die Ellbogen auf die Knie und das Kinn in die Hände.

Er dachte nicht. Er ruhte sich nur aus. Seine Gedanken schliefen schon. Seine Brüder und seine Schwestern kamen heraus und begannen um ihn her ein lärmendes Spiel mit anderen Kindern. Eine elektrische Laterne an der Ecke beleuchtete die muntere Versammlung. Er war reizbar und verdrießlich, das wußten sie gut; aber ihre Abenteuerlust verleitete sie, ihn zu necken. Sie faßten sich einander an den Händen, bewegten die Körper rhythmisch und sangen ihm ein sehr wenig schmeichelhaftes Kinderlied ins Gesicht.

Sein Bruder Will, der Zehnjährige, der ihm im Alter am nächsten kam, war der Anführer der Bande. Johnny hegte keine sehr freundlichen Gefühle für ihn. Sein Dasein war zeitig verbittert worden durch die ewige Rücksicht, die er auf Will nehmen mußte. Er hatte das ganz klare Gefühl, daß Will ihm allerhand verdankte und recht undankbar war. In der fernen, dunklen Vergangenheit, als er selbst noch spielte, war er vieler seiner Spielstunden beraubt worden, weil er auf Will aufpassen mußte. Damals war Will ganz klein, und damals wie heute hatte seine Mutter ihren Tag in der Fabrik verbracht. Johnny hatte seinem Bruder Väterchen und Mütterchen sein müssen.

Es war, als könnte man Will ansehen, daß alles sich ihm fügen und nach ihm richten mußte. Er war ziemlich kräftig und schwer gebaut, ebenso groß wie sein älterer Bruder und wog noch mehr als er. Es sah fast aus, als wäre das Lebensblut des einen in die Adern des andern übertragen. Und dasselbe galt von ihrem Temperament. Johnny war müde und abgehetzt, ohne die Fähigkeit, sich aufzurichten, während sein jüngerer Bruder einen unbeugsamen, überströmenden Lebensmut zu besitzen schien.

Das Necklied erklang immer lauter. Im Tanze beugte Will sich vor und streckte die Zunge aus. Johnnys linker Arm fuhr hastig vor und packte den Hals des Bruders, während seine knochige Faust gleichzeitig dessen Nase traf. Es war eine traurig knochige Faust; daß sie aber etwas ausrichten konnte, zeigte deutlich der Schmerzensschrei, den der Schlag hervorrief. Die anderen Kinder schrien laut vor Schreck, während Johnnys Schwester Jenny ins Haus lief.

Er stieß Will von sich, gab ihm einen verbitterten Fußtritt gegen das Schienbein, packte ihn dann wieder und stieß sein Gesicht gegen die Erde. Er ließ ihn auch nicht los, ehe er ihm das Gesicht ein paarmal in den Schmutz gestoßen hatte. Dann erschien die Mutter, ein blutarmer Sturmwind von Kummer und Mutterzorn.

»Warum kann er mich nicht in Frieden lassen«, lautete Johnnys Antwort auf ihre Vorwürfe. »Kann er denn nicht sehen, daß ich müde bin?«

»Ich bin ebenso groß wie du«, rief Will wütend in den Armen der Mutter, und sein Gesicht war von Tränen, Schmutz und Blut beschmiert. »Ich bin schon ebenso groß wie du, – und ich werde noch größer. Und dann verkeile ich dich – darauf kannst du dich verlassen!«

»Wenn du so ein großer Junge bist, solltest du wirklich schon arbeiten!« sagte Johnny ärgerlich. »Das ist es eben mit dir, – du solltest etwas tun. Und dafür sollte deine Mutter sorgen – dich arbeiten lassen ...«

»Aber er ist doch noch zu jung«, wandte sie ein. »Er ist doch noch ein kleiner Junge.«

»Ich war jünger als er, als ich zu arbeiten anfing.« Johnny wollte noch mehr sagen, um seinen Gefühlen Luft zu machen, dann aber biß er hastig die Zähne zusammen, machte kehrt, schlürfte ins Haus und ging zu Bett. Die Tür zu seinem Zimmer stand offen, damit er ein bißchen Wärme aus der Küche bekam. Als er sich im Halbdunkel entkleidete, konnte er seine Mutter mit einer Nachbarin sprechen hören, die zu Besuch gekommen war. Seine Mutter weinte, und ihre Worte wurden hin und wieder von einem verzagten Schnaufen unterbrochen.

»Ich kann nicht begreifen, was mit Johnny los ist«, konnte er sie sagen hören. »So ist er noch nie gewesen. Er war immer ein geduldiger kleiner Engel. – Und er ist auch ein guter Junge«, fügte sie schnell zu seiner Verteidigung hinzu. »Er hat brav gearbeitet, und er hat auch zu früh damit angefangen. Aber es war nicht meine Schuld. Ich versuche es so gut zu machen, wie ich kann – das weiß Gott!«

Ein langandauerndes Schnaufen ertönte aus der Küche, und Johnny murmelte bei sich, wahrend seine Augen sich schlossen: »Ja, du kannst dich drauf verlassen, ich habe brav gearbeitet!« Am nächsten Morgen riß seine Mutter ihn buchstäblich aus den Armen des Schlafes. Dann kamen das sparsame Frühstück, die schwere Wanderung durch die Dunkelheit und der bleiche Schimmer des Tages über den Dächern, dem er, durch das Fabriktor schreitend, den Rücken kehrte. Es war ein neuer Tag, ein Tag wie viele andere, denn seine Tage waren alle gleich.

Und doch hatte es Abwechselung in seinem Dasein gegeben – wenn er von einer Arbeit zur anderen übergegangen, oder wenn er krank gewesen war. Mit sechs Jahren war er Väterchen und Mütterchen für Will und die andern, noch kleineren Kinder gewesen. Mit sieben Jahren hatte er angefangen, in den Fabriken zu arbeiten – Garn aufzuspulen. Mit acht Jahren hatte er in einer anderen Fabrik Arbeit bekommen. Seine neue Arbeit war wunderbar leicht. Alles, was er zu tun hatte, war, daß er mit einem kleinen Stock in der Hand einen Strom von Tuch lenken mußte, der an ihm vorbeifloß. Dieser Tuchstrom kam aus einer mächtigen Maschine, ging über eine warme Trommel und dann weiter in andere Gegenden. Johnny saß immer an derselben Stelle, wo das Tageslicht nie hingelangte, und wie er unter einer Gasflamme dasaß, war es, als bildete er selbst einen Teil der Maschinerie.

Trotz der feuchten Wärme war er sehr glücklich bei der Arbeit, denn er war noch jung und hatte seine Träume und Illusionen. Und er träumte wundersame Träume, während er auf das dampfende Tuch sah, das immer weiter an ihm vorbeiströmte, als sollte es kein Ende nehmen. Aber seine Arbeit erforderte keine Bewegung, nichts, was seine Gedanken erregte, und er träumte immer weniger, während seine Seele träge und schläfrig wurde. Dennoch verdiente er zwei Dollar wöchentlich, und die zwei Dollar trennten ihn von akutem Hunger und chronischer Unterernährung. Mit neun Jahren aber verlor er diese Stellung. Die Masern waren schuld daran. Als er wieder gesund war, erhielt er Arbeit in einer Glasfabrik. Der Lohn war höher, und die Arbeit erforderte eine gewisse Tüchtigkeit. Es war Akkordarbeit, und je tüchtiger er war, um so höher war sein Lohn. Hier hatte er einen Ansporn zur Arbeit, und unter diesem Ansporn entwickelte er sich zu einem ausgezeichneten Arbeiter. Es war eine einfache Arbeit – die Befestigung von Glaspfropfen auf kleinen Flaschen. Am Gürtel trug er eine Rolle Bindfaden. Die Flaschen hielt er zwischen den Knien, so daß er mit beiden Händen arbeiten konnte, und in dieser Stellung saß er zehn Stunden täglich, die mageren Schultern hochgeschoben und die Brust eingeengt. Es war nicht gesund für die Lunge, aber er schaffte dreihundert Dutzend Flaschen täglich.

Der Fabrikleiter war sehr stolz auf ihn und benutzte ihn als Schauobjekt für Besucher. Im Laufe von zehn Stunden gingen dreihundert Dutzend Flaschen durch seine Hände. Das heißt, daß er tatsächlich die Vollkommenheit einer Maschine erlangt hatte. Alle Bewegungen, die eine Vergeudung von Kräften bedeuteten, waren beseitigt. Jede Bewegung der mageren Arme, jede Bewegung in den Muskeln der dünnen Finger war schnell und genau. Er arbeitete unter beständigem Hochdruck, und das Ergebnis war, daß er nervös wurde. Nachts arbeiteten seine Muskeln weiter, und am Tage konnte er sich nie von der inneren Erregung befreien und sich ausruhen. Er blieb dauernd bis zum äußersten angespannt, und seine Muskeln arbeiteten weiter. Er wurde gelb und blaß, sein Husten verschlimmerte sich. Da packte Lungenentzündung die schwache Lunge in der eingeengten Brust, und er verlor seine Arbeit in der Glasfabrik.

Hierauf war er zur Jutefabrik zurückgekehrt, wo er zuerst gespult hatte. Aber er sollte bald befördert werden. Der nächste Schritt war die Stärkerei, und dann kam die Webstube. Dann gab es nichts weiter, außer erhöhter Fertigkeit.

Die Maschine lief schneller als zu der Zeit, da er mit der Arbeit begonnen hatte, und sein Gehirn ging langsamer. Jetzt träumte er überhaupt nicht mehr, obwohl er früher viele Träume geträumt hatte. Einmal war er verliebt. Das war in der ersten Zeit, als er begonnen hatte, das Tuch über die warmen Trommeln zu führen, und es war die Tochter des Betriebsleiters, in die er verliebt war. Sie war sehr viel älter als er, ein erwachsenes junges Weib, und er hatte sie nur fünf- oder sechsmal aus der Ferne gesehen. Aber das machte nichts. In dem Tuchstrom, der an ihm vorbeiglitt, sah er beständig strahlende Bilder einer Zukunft, in der er eine phänomenale Arbeit leistete, wunderbare Maschinen erfand, Besitzer der Fabrik wurde und zuletzt die Geliebte in seine Arme schloß und ehrbar auf die Stirn küßte.

Aber das gehörte alles jener fernen Vergangenheit an, ehe er zu alt und müde geworden war, um zu lieben. Im übrigen hatte sie sich auch verheiratet und war weggezogen, und sein Gehirn hatte zu schlafen begonnen. Und doch war es ein wundersames Gefühl gewesen, und er dachte daran zurück, wie Männer und Frauen an die Zeit zurückdenken, da sie an Elfen glaubten. Er hatte nie an Elfen oder den Weihnachtsmann, felsenfest aber an die lächelnde Zukunft geglaubt, die seine Phantasie in den dampfenden Tuchstrom verwebt hatte.

Er war sehr jung ein erwachsener Mensch geworden – ja, tatsächlich war er es von dem Tage an, als er seinen ersten Wochenlohn erhielt. Da hatte er begonnen, sich unabhängig zu fühlen, und das Verhältnis zwischen ihm und seiner Mutter hatte sich verändert. Jetzt, da er selbst Geld verdiente und durch seine eigene Arbeit in der Welt zum Unterhalt der Familie beitrug, war er mehr ihresgleichen. Ein Mann, ein vollentwickelter Mann, war er im Alter von elf Jahren geworden, als er ein halbes Jahr in der Nachtschicht gearbeitet hatte. Kein Kind arbeitet in der Nachtschicht und bleibt dabei Kind.

Es hatte mehrere große Ereignisse in seinem Leben gegeben. Eines davon war gewesen, wie seine Mutter einige kalifornische Pflaumen kaufte. Die beiden anderen Male hatte sie Creme für die Kinder bereitet. Das waren wirklich Ereignisse gewesen. Er erinnerte sich ihrer mit Freundlichkeit. Und einmal hatte seine Mutter ihm von einem ganz wunderbaren Gericht erzählt, das sie ihnen einmal machen wollte – »Götterspeise« hatte sie es genannt – etwas, das »viel besser als Creme« war. Mehrere Jahre lang hatte er sich auf den Tag gefreut, da er sich an den Tisch setzen und Götterspeise essen sollte – bis er schließlich den Gedanken als eines der unerreichbaren Ideale beiseite schob.

Einmal fand er fünfundzwanzig Cent auf dem Bürgersteig. Das war auch ein großes Ereignis in seinem Leben – aber ein tragisches. Im selben Augenblick, als er die Silbermünze erblickte, noch ehe er sie aufgehoben hatte, wußte er, was seine Pflicht war. Zu Hause hatten sie wie gewöhnlich nichts zu essen, und er hätte das Geld heimbringen sollen, wie er es an jedem Sonnabend mit seinem Wochenlohn tat. Was in diesem Fall das richtige war, stand fest, aber er hatte sein Geld nie selbst verbrauchen dürfen, und ihn quälte ein wütender Drang, sich Bonbons zu kaufen. Er konnte seine Sehnsucht nach Süßigkeiten, die er bisher nur bei sehr feierlichen Gelegenheiten geschmeckt hatte, kaum beherrschen.

Er versuchte nicht, sich etwas vorzumachen. Er wußte, daß es Sünde war, und er sündigte mit voller Überlegung, als er ganze fünfzehn Cent für Bonbons gebrauchte. Zehn Cent bewahrte er für eine spätere Ausschweifung auf, da er aber nicht gewohnt war, Geld bei sich zu haben, verlor er es. Das geschah zu dem Zeitpunkt, da er alle Qualen eines schlechten Gewissens litt, und war für ihn der Ausdruck göttlicher Vergeltung. Er hatte das ängstliche Gefühl von der Nähe eines furchtbaren, erbitterten Gottes. Gott hatte es gesehen, und Gott hatte ihn schnell gestraft, indem er ihm einen Teil des Sündenlohnes vorenthielt.

In der Erinnerung erschien ihm dieses Ereignis immer noch als die einzige große verbrecherische Tat seines Lebens, und wenn er daran dachte, erwachte stets sein Gewissen wieder und quälte ihn. Es war der einzige dunkle Punkt seines Lebens. Seine Veranlagung ließ ihn stets mit Bedauern auf diese Tat zurückblicken. Er war unzufrieden mit der Art und Weise, wie er die fünfundzwanzig Cent verbraucht hatte. Er hätte sie besser ausgeben können, und von der Kenntnis aus, die er später von dem schnellen Eingreifen Gottes erlangte, würde er Gott genarrt haben, wenn er alles Geld auf einmal verbraucht hätte. In Gedanken verbrauchte er die fünfundzwanzig Cent mindestens tausendmal, und jedesmal bekam er mehr dafür.

Es gab noch eine Erinnerung an die Vergangenheit, unklar und verblichen, aber für alle Ewigkeit seiner Seele durch die grausamen Füße seines Vaters eingehämmert. Es war mehr ein böser Traum als die Erinnerung an etwas wirklich Erlebtes – mehr wie die Rassenerinnerungen der Menschheit, die sich melden, wenn man einschläft, und die zu den Tagen zurückgehen, da die ersten Vorfahren in den Baumwipfeln lebten.

Diese eine Erinnerung kam Johnny nie in vollem Tageslicht, wenn er ganz wach war. Sie kam des Nachts, wenn er im Bett lag, in dem Augenblick, da sein Bewußtsein ihn verlassen und sich im Schlaf verlieren wollte. Der Schreck machte ihn stets ganz wach, und in dem Augenblick, wenn das erste würgende Gefühl von Angst ihn überkam, war ihm, als läge er quer über dem Fußende des Bettes. Im Bett konnte er undeutlich die Umrisse seines Vaters und seiner Mutter unterscheiden. Er wußte nicht, wie sein Vater ausgesehen hatte. Er hatte nur einen einzigen Eindruck von seinem Vater, und der war, daß er sehr harte und schonungslose Füße hatte.

Er bewahrte alle Erinnerungen aus seinen frühesten Jahren, aus seinen späteren aber besaß er keine. Ein Tag war wie der andere. Gestern oder vorgestern war dasselbe wie tausend Jahre – oder eine Minute. Es geschah nie etwas. Es gab keine Ereignisse, die den Flug der Zeit angegeben hätten. Die Zeit flog überhaupt nicht. Sie stand immer still. Nur die wirbelnden Maschinen bewegten sich, und die kamen nicht vorwärts – obgleich sie sich mit immer größerer Schnelligkeit bewegten.

Als er vierzehn Jahre alt war, wurde er in die Stärkerei versetzt. Das war ein ungeheures Ereignis. Jetzt war doch endlich etwas geschehen, dessen man sich länger erinnern konnte, als eine Nacht Schlaf und der Tag, an dem man seinen Wochenlohn ausbezahlt bekam. Es war eine ganz neue Zeitrechnung. Es war eine Epoche in seinem Dasein. »Als ich in der Stärkerei zu arbeiten begann«, oder »nachdem«, oder »bevor ich in der Stärkerei zu arbeiten begann« waren Sätze, die er häufig anwendete.

Seinen sechzehnten Geburtstag feierte er damit, daß er in die Webstube versetzt wurde, wo man ihn an einen eigenen Webstuhl setzte. Hier hatte er wieder einen Ansporn zur Arbeit, denn es war Akkordarbeit. Und er zeichnete sich aus, weil der Lehm, aus dem er gemacht war, von den Fabriken zur vollkommenen Maschine umgebildet worden war. Und als drei Monate vergangen waren, hatte er zwei Webstühle zu besorgen und später drei und vier.

Er war noch nicht zwei Jahre in der Webstube, als er schon mehr Ellen produzierte als jeder andere Weber und mehr als doppelt so viel wie die weniger tüchtigen. Zu Hause begannen sich die Verhältnisse auch zu bessern, da er ungefähr den Wochenlohn eines Erwachsenen verdiente. Nicht, daß sein größerer Verdienst ihm je mehr als das Notwendigste verschafft hätte. Die Kinder wuchsen heran. Sie aßen mehr. Sie gingen zur Schule, und Schulbücher kosten Geld. Und wie dem nun war oder nicht war, je mehr er arbeitete, desto höher stiegen die Preise von allem. Selbst die Miete stieg, obwohl das Haus immer mehr verfiel.

Er war jetzt ausgewachsen, aber er sah magerer aus als je. Er wurde auch nervöser, und seine Reizbarkeit und Verdrießlichkeit nahmen mit seiner Nervosität zu. Aus langer, bitterer Erfahrung hatten die Kinder gelernt, sich in hinreichendem Abstand von ihm zu halten. Seine Mutter achtete ihn, weil er Geld verdiente, aber ihre Achtung vor ihm war gleichsam mit Furcht gemischt.

Das Leben enthielt keine Freuden für ihn. Er bemerkte nicht, daß die Tage vergingen. Die Nächte verschlief er in zitternder Bewußtlosigkeit. Die übrige Zeit arbeitete er, und in seinem Bewußtsein gab es nichts als Maschinen. Darüber hinaus war sein Hirn ein unbeschriebenes Blatt. Er hatte kein Ideal und nur eine einzige Illusion – nämlich, daß er ausgezeichneten Kaffee bekam. Er war ein Arbeitstier. Er hatte keinerlei Seelenleben, und doch erfolgte in den geheimsten Winkeln seines Hirns ein Abwägen und Sichten jeder einzigen Arbeitsstunde, jeder Bewegung seiner Hände, jeden Rucks in seinen Muskeln, womit der Grund zu der Tat gelegt wurde, die dereinst ihn selbst und seine ganze Kleinwelt verblüffen sollte. Es war eines Abends im Spätfrühling, als er heimkam und sich ungewöhnlich müde fühlte. Es lag etwas in der Luft, als er sich zu Tisch setzte, aber er beachtete es nicht. Er saß finster und schweigend da und aß ganz mechanisch, was ihm vorgesetzt wurde. Die Kinder machten »hm« und »ah« und schmatzten vor Wohlbehagen. Aber er hörte es nicht.

»Weißt du, was du da ißt?« fragte seine Mutter schließlich mit dem Mut der Verzweiflung.

Er sah verständnislos auf den Teller vor sich und dann ebenso verständnislos auf sie.

»Götterspeise«, erklärte sie triumphierend.

»Oh«, sagte er.

»Götterspeise!« riefen alle Kinder im Chor.

»Oh«, sagte er. Und nachdem er ein paar Löffel voll gegessen hatte, fügte er hinzu: »Ich glaube, ich habe heute abend keinen Hunger.«

Er legte den Löffel nieder, schob seinen Stuhl zurück und erhob sich müde vom Tisch.

»Und ich denke, jetzt gehe ich zu Bett.«

Er schleppte die Füße noch mehr als gewöhnlich nach, als er durch die Küche ging. Sich zu entkleiden, bedeutete eine Titanenarbeit, eine ungeheure Abrackerei für ihn, und er weinte vor Schrecken, als er, noch mit einem Schuh, ins Bett kroch. Er hatte das Gefühl, als erhöbe und schwölle etwas in seinem Kopf und machte sein Hirn dickflüssig. Seine mageren Finger fühlten sich ebenso dick an wie sein Handgelenk, und in den Fingerspitzen hatte er ein Gefühl, als gingen sie ihn nichts an, und als wären sie ebenso unbestimmt und dickflüssig wie sein Hirn. Seine Lenden schmerzten unerträglich. Jeder Knochen in seinem Körper schmerzte. Und in seinem Kopfe begann es zu kreischen und zu klopfen, zu knarren und zu poltern wie von Millionen Webstühlen. Der ganze Raum war wie von fliegenden Weberschiffchen erfüllt. Sie schossen wirr zwischen den Sternen ein und aus. Er hatte selbst tausend Webstühle zu besorgen, und sie liefen immer schneller und schneller, und sein Hirn wickelte sich, schneller und schneller, ab und wurde zu dem Faden, der die tausend fliegenden Schiffchen tötete.

Am nächsten Morgen ging er nicht zur Arbeit. Er war zu beschäftigt mit dem ewigen Gesurr der tausend Webstühle in seinem Kopfe. Seine Mutter ging zur Arbeit. Vorher aber schickte sie nach dem Arzt. Es sei ein ernster Anfall von Grippe, meinte der. Jenny machte die Krankenschwester nach den Anweisungen des Arztes.

Es war ein sehr ernster Anfall, und es dauerte eine ganze Woche, bis Johnny sich ankleidete und kraftlos durch die Zimmer wankte. Es würde noch eine Woche dauern, sagte der Arzt, ehe er gesund genug sei, zu seiner Arbeit zurückzukehren. Der Vorarbeiter der Webstube besuchte ihn am Sonntag, dem ersten Tage, als er wieder ein wenig zu Kräften gekommen war. Der beste Weber im ganzen Raum, sagte der Vorarbeiter zu seiner Mutter. Seine Stellung würde ihm freigehalten werden; er könnte am Montag in acht Tagen wieder anfangen.

»Warum bedankst du dich nicht, Johnny?« fragte seine Mutter bekümmert.

»Er ist so krank gewesen, daß er noch nicht wieder recht zu sich gekommen ist«, entschuldigte sie sich bei dem Gast.

Johnny saß mit hochgezogenen Schultern da und sah unabgewandt zu Boden. Noch lange, nachdem der Vorarbeiter gegangen war, saß er in derselben Stellung da. Es war ein warmer Tag und am Nachmittag saß er draußen auf der Treppe. Ab und zu bewegte er die Lippen. Es war, als sei er ganz in endlose Berechnungen verloren.

Am nächsten Tage setzte er sich, sobald es warm wurde, wieder auf die Treppe. Diesmal hatte er einen Bleistift und Papier mitgenommen, um weiter an seinen Berechnungen zu arbeiten, und er rechnete mühselig mit verblüffend hohen Zahlen.

»Was kommt nach Millionen?« fragte er mittags, als Will aus der Schule kam. »Und wie rechnet man damit?«

Am selben Nachmittag wurde er mit seiner Rechnung fertig. Jeden Nachmittag setzte er sich wieder auf die Treppe, aber ohne Papier und Bleistift. Er beschäftigte sich eifrig mit dem einsamen Baum, der auf der anderen Seite der Straße wuchs. Er studierte ihn jedesmal stundenlang und beobachtete mit größtem Interesse, wenn der Wind die Zweige bewegte und die Blätter rasselnd aneinanderschlagen ließ. Die ganze Woche schien er in Gedanken versunken. Am Sonntag, als er auf der Treppe saß, lachte er mehrmals laut, was seine Mutter, die ihn viele Jahre lang nicht lachen gehört hatte, in hohem Maße beunruhigte.

Am nächsten Morgen trat sie, ehe es hell geworden war, an sein Bett, um ihn zu wecken. Er hatte sich diese Woche richtig ausgeschlafen und wachte sehr leicht auf. Er wehrte sich nicht und versuchte auch nicht, sich am Deckbett festzuhalten, als sie es abriß. Er blieb ganz ruhig liegen und sagte:

»Es hat keinen Zweck, Mutter!«

»Du kommst zu spät«, sagte sie im Glauben, daß er immer noch halb im Schlaf wäre.

»Ich bin wach, Mutter, und ich sage, daß es keinen Zweck hat Du kannst mich ebensogut in Ruhe lassen. Ich gedenke nicht aufzustehen.«

»Aber du verlierst deine Stelle!« rief sie.

»Ich denke nicht daran, aufzustehen«, wiederholte er mit seltsam leidenschaftsloser Stimme.

Sie ging selber an diesem Morgen nicht zur Arbeit. Das war eine weit schlimmere Krankheit als jede, die sie je gekannt hatte. Fieber und Fieberphantasien konnte sie verstehen, aber das war ja der reine Wahnsinn. Sie deckte ihn wieder zu und schickte Jenny nach dem Arzt.

Als er kam, schlief Johnny ruhig, und er wachte friedlich auf und ließ es sich gefallen, daß der Arzt seinen Puls fühlte.

»Es ist nichts mit ihm«, erklärte der. »Schrecklich entkräftet – das ist alles. Er hat nicht viel Fleisch auf dem Leibe.«

»So ist er immer gewesen«, warf seine Mutter ein.

»So, geh nun, Mutter, und laß mich ausschlafen.« Johnny sprach sanft und ruhig, und sanft und ruhig drehte er sich auf die Seite und schlief ein.

Um zehn wachte er auf und kleidete sich an. Er ging in die Küche, wo seine Mutter mit erschrockenem Gesicht herumhantierte.

»Ich will dir nur Lebewohl sagen, Mutter«, sagte er, »denn jetzt gehe ich.«

Sie schlug sich die Schürze vors Gesicht, setzte sich plötzlich und weinte. Er wartete geduldig.

»Ich hätte es mir sagen können«, schluchzte sie.

»Wohin?« fragte sie schließlich, nahm die Schürze herab und sah ihn an, neugierig, aber mit einem Ausdruck, als ob sie völlig gelähmt wäre.

»Das weiß ich nicht – und es ist auch einerlei.«

Während er sprach, stand plötzlich der Baum auf der anderen Seite der Straße mit blendender Klarheit vor ihm. Es war, als wäre er immer da, so daß er ihn jederzeit sehen konnte, wenn er es wünschte.

»Und deine Stelle?« sagte sie mit zitternder Stimme.

»Ich will nie mehr etwas tun!«

»O Gott, Johnny«, klagte sie. »Das darfst du nicht sagen.«

Was er sagte, war ja die reine Gotteslästerung für sie. Wie eine Mutter, die ihr Kind Gott verleugnen hört, so entsetzte sich Johnnys Mutter über seine Worte.

»Was ist denn nur in dir vorgegangen?« sagte sie mit einem lahmen Versuch, gebieterisch aufzutreten.

»Zahlen«, antwortete er. »Nur Zahlen. Ich habe mich die ganze Woche mit einer Menge Zahlen beschäftigt, und das ist sehr merkwürdig.«

»Ich sehe nicht ein, was das damit zu tun hat«, seufzte sie.

Johnny lächelte geduldig, und es gab seiner Mutter gleichsam einen Ruck, als sie plötzlich erkannte, wie vollkommen seine Verdrießlichkeit und Reizbarkeit verschwunden waren.

»Jetzt will ich es dir zeigen«, sagte er. »Ich bin todmüde. Was ist es, was mich so müde macht? Bewegungen. Ich habe mich bewegt, seit ich geboren wurde. Ich bin es müde, mich zu bewegen, und ich will mich nicht mehr bewegen. Weißt du noch, wie ich in der Glasfabrik arbeitete. Da konnte ich dreihundert Dutzend Flaschen jeden Tag fertigmachen. Sieh, ich rechne nun, daß ich ungefähr zehn verschiedene Bewegungen mit jeder Flasche machte. Das macht sechsunddreißigtausend Bewegungen am Tage. Etwas über eine Million Bewegungen im Monat. Rechnen wir rund eine Million –«, er sprach so milde und ruhig wie ein Wohltäter der Menschheit – »rechnen wir rund eine Million, so macht das zwölf Millionen Bewegungen im Jahr.

In der Weberei bewege ich mich doppelt so viel. Das macht fünfundzwanzig Millionen Bewegungen jährlich, und ich habe ein Gefühl, als hätte ich mich auf die Art fast eine Million Jahre bewegt.

Sieh, diese Woche habe ich mich gar nicht bewegt. Ich habe viele, viele Stunden lang nicht eine einzige Bewegung gemacht. Ich sage dir, es war ein Fest, viele, viele Stunden lang dazusitzen und nichts zu tun. Ich bin noch nie glücklich gewesen. Ich habe nie Zeit gehabt. Ich habe mich die ganze Zeit bewegt. Auf die Weise wird man nicht glücklich. Und ich tue es nicht mehr. Ich will nur ruhen und ruhen und immer ruhen.«

»Aber was soll denn aus Will und den Kindern werden?« fragte sie verzweifelt.

»Ja, da haben wir's – Will und die Kinder«, wiederholte er.

Aber es war keine Bitterkeit in seiner Stimme. Er kannte längst die ehrgeizigen Pläne, die seine Mutter für ihren Jüngsten hegte, aber er spürte keine Bitterkeit mehr bei dem Gedanken. Er machte sich aus nichts mehr etwas. Nicht einmal daraus.

»Ich weiß gut, Mutter, woran du mit Will gedacht hast – ihn zur Schule gehen und Buchhalter werden zu lassen. Aber daraus wird nichts – ich bin fertig. Jetzt muß er zupacken.«

»Und das, nachdem ich dir so in der Welt vorwärtsgeholfen habe«, sagte sie weinend und machte Miene, das Gesicht in der Schürze zu bergen.

»Du hast mir nie vorwärtsgeholfen«, antwortete er freundlich, aber betrübt. »Ich habe mir selbst vorwärtsgeholfen, und ich habe Will vorwärtsgeholfen. Er ist größer als ich, dicker und größer. Ich glaube, ich habe als kleiner Bengel nicht genug zu essen bekommen. Als kleiner Bengel arbeitete ich und verdiente das Essen für ihn mit. Aber das Spiel mache ich nicht mehr mit. Will kann zupacken und etwas tun wie ich, oder er kann zum Teufel gehen – mir ist es verflucht gleichgültig. Ich bin müde. Und jetzt gehe ich. Willst du mir nicht Lebewohl sagen?«

Sie antwortete nicht. Sie hatte sich wieder das Gesicht mit der Schürze bedeckt und weinte. Er blieb einen Augenblick in der Tür stehen.

»Ich tat, was ich konnte – weiß Gott, das tat ich!« schluchzte sie.

Er verließ das Haus und trat auf die Straße. Ein blasses Lächeln glitt über sein Gesicht bei dem Anblick des einsamen Baumes. »Nichts tun!« trällerte er vor sich hin. Träumerisch sah er zum Himmel empor, aber die Strahlen der Sonne blendeten ihn, und er mußte die Augen schließen.

Es war ein weiter Weg, den er ging, und er ging nicht schnell. Der Weg führte an der Jutefabrik vorbei. Das gedämpfte Poltern in der Weberei klang zu ihm heraus, und er lächelte. Es war ein sanftes, zufriedenes Lächeln. Er haßte keinen, nicht einmal die hämmernden, kreischenden Maschinen. Es war keine Bitterkeit in ihm – nichts außer einem unwiderstehlichen Drang, zu ruhen.

Häuser und Fabriken wurden spärlicher, und die unbebauten Grundstücke zahlreicher und größer, als er sich dem freien Lande näherte. Schließlich lag die Stadt hinter ihm, und er ging einen Feldweg am Bahndamm entlang. Er ging nicht wie ein Mann. Er sah nicht wie ein Mann aus. Er war die Parodie eines menschlichen Wesens. Es war ein verzerrtes, verkümmertes und namenloses Stück Leben, das wie ein kranker Affe dahintrottete, mit hängenden Armen und gebeugten Schultern, engbrüstig, komisch und entsetzlich.

Er ging an einem kleinen Bahnhof vorbei und legte sich unter einen Baum ins Gras. Den ganzen Nachmittag lag er dort. Zuweilen schlief er ein wenig, und jedesmal, wenn er schlummerte, ruckte es in seinen Muskeln. Wenn er wach war, lag er ohne sich zu rühren da und beobachtete die Vögel oder sah zwischen den Zweigen hindurch zum Himmel empor. Ein paarmal lachte er laut, aber ohne daß er etwas gesehen oder gefühlt hätte.

Als der Dämmerung die erste Dunkelheit der Nacht folgte, kam ein Güterzug auf den Bahnhof gerumpelt. Während die Lokomotive einige Wagen auf ein Seitengleis fuhr, kroch Johnny am Zug entlang. Er riß die Tür eines leeren Packwagens auf und kletterte schwer und mühselig hinein. Er schloß die Tür. Die Maschine pfiff. Johnny hatte sich niedergelegt und lächelte im Dunkeln.


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