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Die Lieblinge des Midas

Wade Atsheler ist tot – von eigener Hand gestorben. Zu sagen, daß es der kleinen Schar seiner Bekannten ganz unerwartet gekommen wäre, hieße lügen; und doch hatten wir, seine nächsten Freunde, nicht einmal die Möglichkeit erwogen. Wir hatten uns eher auf eine andere, unbegreiflichere, halb unbewußte Art darauf vorbereitet. Ehe der Selbstmord selbst stattfand, hatte keiner von uns der Möglichkeit, daß etwas Derartiges geschehen könnte, auch nur einen einzigen Gedanken geschenkt; als wir aber die Nachricht von seinem Tode erhielten, war es doch, als hätten wir es die ganze Zeit geahnt und erwartet. Es ließ sich mittels einer nachträglichen Analyse leicht durch seine schweren Sorgen erklären. Ich gebrauche wohlüberlegt den Ausdruck »schwere Sorgen«. Jung und schön und in sehr sicherer Stellung, als rechte Hand Eben Hales, des großen Straßenbahnkönigs, hatte er keinen Grund, sich zu beklagen, daß das Glück ihm nicht lächelte. Nichtsdestoweniger hatten wir seine glatte Stirn sich wie unter dem Druck irgendeiner nagenden Sorge oder eines verzehrenden Kummers runzeln sehen. Wir hatten gesehen, wie sein dichtes schwarzes Haar dünn wurde und ergraute wie grünes Korn unter heißen Himmelsstrichen und in brennender Trockenheit. Wer kann die tiefe Zerstreutheit und die tiefe Depression vergessen, die inmitten all der Lustigkeit, in die er sich in der letzten Zeit seines Lebens mit einer gewissen Gier hineingestürzt hatte, ihn überkommen konnte? Bei solchen Gelegenheiten, wenn die Lustigkeit wogte und unaufhörlich stieg, konnten seine Augen plötzlich und ohne nachweisbare Ursache glanzlos werden, und seine Stirn konnte sich runzeln, während er mit geballten Fäusten und vor Seelenqual verzerrtem Gesicht mit irgend etwas Unbekanntem, das ihm drohte, am Rande eines Abgrunds rang.

Er sprach nie von seinen Sorgen, und wir waren so diskret, ihn nicht zu fragen. Aber das war auch einerlei, denn hätten wir es getan und hätte er sein Herz erleichtert, so würden unsere Hilfe und unsere Kräfte doch nichts haben verrichten können. Als Eben Hale, dessen vertrauter Sekretär er war – nein, er war eher als sein Adoptivsohn und gleichberechtigter Kompagnon anzusehen –, als er, Hale, starb, kam er nicht mehr mit uns zusammen. Nicht, weil unsere Gesellschaft ihm zuwider gewesen wäre – das weiß ich jetzt –, sondern weil seine Sorgen in dem Maße gewachsen waren, daß er nicht mehr an unseren Freuden teilnehmen und in unserer Gesellschaft Erleichterung finden konnte. Wie es kam, konnten wir damals nicht verstehen, denn als Eben Hales Testament eröffnet wurde, erfuhr die Welt, daß er der einzige Erbe von den vielen Millionen seines Chefs war, und es war ausdrücklich in dem Testament ausgesprochen, daß dieses große Erbe ihm bedingungslos zu freier Verfügung übergeben werden sollte. Nicht eine einzige Aktie, nicht ein Pfennig war den Verwandten des Toten vermacht. Was seine nächste Familie betraf, so besagte eine merkwürdige Klausel des Testaments ausdrücklich, daß Wade Atsheler der Gattin und den Söhnen und Töchtern Eben Hales nur eine Summe geben sollte, die er selbst für passend fände, und zwar zu einem ihm geeignet erscheinenden Zeitpunkt. Hätte sich noch irgendein Skandal in der Familie des Toten ereignet gehabt, wären seine Söhne wilde, ungehorsame Burschen gewesen, so würde noch ein Funken von Vernunft in dieser höchst ungewöhnlichen Bestimmung gewesen sein, aber das häusliche Glück Eben Hales war fast sprichwörtlich gewesen, und man mußte weit reisen, um eine reinere und gesündere Schar von Söhnen und Töchtern zu finden. Und was seine Frau betraf – ja, von denen, die sie am besten kannten, wurde sie mit verliebter Bewunderung »die Mutter der Gracchen« genannt. Es ist unnötig zu bemerken, daß dieses unerklärliche Testament das größte Aufsehen erregte; aber die sensationslüsterne Öffentlichkeit wurde enttäuscht; es kam nicht zu einem Prozeß.

Es ist nur wenige Tage her, daß Eben Hale in seinem pompösen Marmormausoleum beigesetzt wurde, und jetzt ist Wade Atsheler tot. Der Todesfall stand heute in den Morgenblättern. Ich hatte gerade einen Brief von ihm mit der Post erhalten, offenbar nur eine Stunde, ehe er sich selbst in die Ewigkeit beförderte. Dieser Brief, der vor mir liegt, ist ein mit seiner eigenen Handschrift geschriebener Bericht, der zahlreiche Zeitungsausschnitte und Briefkopien zu einem Ganzen verbindet. Die Originalbriefe hat er, wie er mir mitteilt, der Polizei übergeben. Er bittet mich außerdem, um die Gesellschaft vor einer schrecklichen, teuflischen Gefahr, die ihre Existenz bedroht, zu warnen, die vielen furchtbaren Tragödien zu veröffentlichen, in die er ohne Verschulden verstrickt worden war. Ich lege hiermit den ganzen Text vor:

 

Es war im August 1899, gleich nach meiner Rückkehr aus meinen Ferien, als der Schlag fiel. Wir ahnten damals nichts davon; wir hatten unsere Hirne noch nicht darauf eingestellt, so furchtbare Möglichkeiten zu fassen. Herr Hale öffnete den Brief, las ihn und warf ihn mir lachend auf das Pult. Als ich ihn überflogen hatte, lachte ich auch und sagte: »Irgendein unheimlicher Scherz, Herr Hale, und jedenfalls recht geschmacklos.« Du wirst hier eine genaue Kopie des erwähnten Briefes finden, mein lieber John.

 

Bureau der L. d. M.,
den 17. August 1899.

Herrn
Geldbaron Eben Hale.

Sehr geehrter Herr!

Wir ersuchen Sie, von Ihrem ungeheuren Besitz die zur Beschaffung von zwanzig Millionen Dollar in bar nötigen Werte zu realisieren. Diese Summe ersuchen wir Sie, einem unserer Bevollmächtigten auszuzahlen. Sie wollen beachten, daß wir keinen bestimmten Termin angegeben haben, wir wünschen Sie nämlich nicht in dieser Angelegenheit zu drängen. Wenn es Ihnen besser paßt, können Sie uns sogar in zehn, fünfzehn oder zwanzig Raten bezahlen; aber wir können keine Abzahlung von weniger als einer Million annehmen.

Glauben Sie uns, werter Herr Hale, daß, wenn wir uns zu diesem Verfahren entschlossen haben, der Grund dazu keineswegs unfreundliche Gefühle Ihnen gegenüber sind. Wir sind Mitglieder des intellektuellen Proletariats, dessen stete Zunahme so charakteristisch für das letzte Jahr des zwanzigsten Jahrhunderts ist. Nach gründlichen nationalökonomischen Studien haben wir uns entschlossen, dieses Geschäftsverfahren zu benutzen. Es hat viele Vorzüge, in erster Reihe den, daß wir uns auf umfassende und einträgliche Geschäfte einlassen können, ohne Betriebskapital zu benötigen. Wir sind bis heute recht erfolgreich gewesen und hoffen, daß unsere Geschäftsverbindung mit Ihnen angenehm und befriedigend sein wird.

Bitte schenken Sie uns Ihre Aufmerksamkeit, wenn wir Ihnen unsere Anschauungen näher entwickeln. Die Grundlage für das jetzige Gesellschaftssystem ist das Besitzrecht. Und dieses individuelle Recht auf Eigentum beruht, wie in der letzten Analyse nachgewiesen, einzig und allein auf Macht. Die geharnischten Edelleute Wilhelm des Eroberers teilten England mit gezogenem Schwert unter sich. Genau das gleiche kann man, wie Sie uns wohl eingestehen werden, von allem Feudalbesitz sagen. Nach Erfindung der Dampfmaschine wurde die Kapitalistenklasse in der modernen Bedeutung des Wortes geschaffen. Diese Kapitalisten erhoben sich schnell über den alten Adel. Die Feldherren der Industrie haben tatsächlich die Nachkommen des alten Kriegsadels verdrängt. Das Gehirn ist heute im Kampf ums Dasein der Sieger, nicht die Muskeln. Aber dieser Zustand der Dinge beruht ganz entsprechend auf Macht. Die Veränderung ist qualitativ gewesen. Die alten feudalen Barone verheerten die Welt mit Feuer und Schwert, die modernen Geldbarone saugen die Welt aus, indem sie ihre ökonomischen Kräfte beherrschen und benutzen. Das Gehirn schlägt die Muskelkraft aus dem Felde, und am besten gerüstet sind die intellektuellen und kommerziellen Mächtigen.

Wir, die L. d. M., wollen uns nicht damit begnügen, Lohnsklaven zu sein. Die großen Truste und Geschäftsverbände (zu denen wir Sie rechnen müssen) hindern uns, den Platz neben Ihnen und Ihresgleichen zu erreichen, den einzunehmen unsere Intelligenz uns berechtigt. Warum? Weil wir ohne Mittel dastehen. Wir gehören zum Proletariat, unterscheiden uns aber vom Durchschnittspöbel durch folgendes: Unsere Gehirne gehören zu den besten, und wir hegen keinerlei törichte ethische oder soziale Skrupel. Als Lohnsklaven würden wir, selbst wenn wir uns von früh bis spät abrackerten und das kärgste Leben führten, in hundert Jahren – oder in tausend – nicht eine Summe Geldes sammeln können, die hinreichen würde, um erfolgreich mit den jetzt existierenden großen Massen aufgehäuften Kapitals konkurrieren zu können. Trotzdem haben wir uns in die Arena gewagt. Wir werfen jetzt dem Weltkapital den Handschuh hin. Ob es nun den Kampf aufzunehmen wünscht oder nicht – es soll gezwungen werden, zu kämpfen.

Herr Hale, unsere Interessen gebieten uns, zwanzig Millionen Dollar von Ihnen zu fordern. Wenn wir auch so rücksichtsvoll sind, Ihnen eine angemessene Frist einzuräumen, innerhalb deren Sie die erforderlichen Transaktionen ausführen können, so bitten wir Sie doch, nicht zu lange zu zögern. Wenn Sie unsere Bedingungen akzeptiert haben, so rücken Sie eine passende Notiz in die Seufzerspalte der »Morgenröte« ein. Wir werden Sie dann mit unseren Plänen bezüglich der Übernahme der erwähnten Summe bekannt machen. Sie tun das am besten einige Tage vor dem 1. Oktober. Tun Sie es nicht, so töten wir an diesem Tage einen Mann in der neununddreißigsten Straße des Ostviertels, um Ihnen zu zeigen, daß wir es ernst meinen. Es wird ein Arbeiter sein. Sie kennen ihn nicht und wir auch nicht. Sie repräsentieren eine Macht innerhalb der modernen Gesellschaft; das tun wir auch – eine neue Macht. Ohne von Zorn oder Bosheit erfüllt zu sein, haben wir den Krieg begonnen. Wie Sie schnell erkennen werden, sind wir einfach Geschäftsleute. Sie sind der obere Mühlstein, wir der untere. Das Leben dieses Mannes wird zwischen uns zermalmt werden. Sie können ihn retten, wenn Sie zur rechten Zeit auf unsere Bedingungen eingehen und handeln.

Es war einmal ein König, der unter dem Fluche litt, daß alles, was er anrührte, zu Gold wurde. Wir haben seinen Namen angenommen und benutzen ihn als unser offizielles Siegel. Gelegentlich gedenken wir uns den Namen gesetzlich schützen zu lassen, um uns selbst vor eventueller Konkurrenz zu schirmen.

Wir verbleiben Ihre ergebenen
Lieblinge des Midas.

 

Du wirst gestehen, lieber John, daß es unser gutes Recht war, über einen so törichten Brief zu lachen. Der Einfall war, wie wir gestehen mußten, gut, aber zu grotesk, als daß man ihn ernst nehmen mußte. Herr Hale sagte, er wolle den Brief als literarisches Kuriosum aufbewahren, und legte ihn in seinen Schreibtisch, und dann vergaßen wir seine Existenz bald ganz. Aber nicht lange darauf – am ersten Oktober – lasen wir, als wir die Morgenpost durchsahen, folgendes:

*

Bureau der L. d. M.,
den 1. Oktober 1899.

Herrn
Geldbaron Eben Hale.

Geehrter Herr! Ihr Opfer hat sein Schicksal gefunden. Vor einer Stunde wurde ein Arbeiter in der neununddreißigsten Straße im Ostquartier mit einem Messer ins Herz gestochen. Schon ehe Sie diese Zeilen lesen, wird man seine Leiche ins Schauhaus bringen und dort ausstellen. Gehen Sie hin und betrachten Sie Ihr Opfer.

Am vierzehnten Oktober werden wir, um Ihnen zu zeigen, wie ernst wir diese Sache nehmen, einen Schutzmann an der Ecke Polkstraße und Clermontavenue oder in der Nähe töten, vorausgesetzt, daß Sie nicht vorher nachgeben.

Verbindlichst
die Lieblinge des Midas.

 

Herr Hale lachte auch diesmal, er war stark von einem Geschäft in Anspruch genommen, das er mit einem Chikagoer Konsortium abzuschließen gedachte und das den Verkauf aller seiner Straßenbahnlinien in dieser Stadt betraf, und er begann daher sofort seiner Stenotypistin zu diktieren und schenkte dem Brief keinen weiteren Gedanken. Aus irgendeinem Grunde aber – ich weiß nicht warum – war ich sehr unangenehm berührt. Wenn es nun doch kein Scherz wäre, sagte ich mir und griff nach der Morgenzeitung. Und da stand es; aber wie es sich für eine unbekannte Person aus den niederen Schichten ziemte, waren der Sache nur ein Dutzend elende Zeilen geopfert, und die Notiz stand in einer Ecke neben der Reklame eines Geheimmittels:

 

Heute morgen etwas nach fünf Uhr wurde in der neununddreißigsten Straße des Ostquartiers ein Arbeiter namens Per Lascalle auf dem Wege zu seiner Arbeit von einem Unbekannten durch einen Stich ins Herz getötet. Der Täter entkam. Die Polizei ist nicht imstande, ein Motiv für den Mord zu finden.

 

»Unmöglich!« rief Herr Hale, als ich ihm die Notiz vorgelesen hatte; aber das Ereignis quälte ihn offenbar, denn spät am Nachmittag bat er mich, über seine eigene Torheit fluchend, die Sache der Polizei zu melden. Ich hatte das Vergnügen, im Privatbureau des Inspektors ausgelacht zu werden, ging aber doch mit einer Versicherung, daß man die Sache näher untersuchen würde; die Gegend um die Ecke der Polkstraße und Clermontavenue sollte an dem betreffenden Abend mit doppelter Mannschaft abpatrouilliert werden. Dann war die Sache abgetan, bis zwei Wochen vergangen waren und wir mit der Post folgende Zeilen erhielten:

 

Bureau der L. d. M.,
den 15. Oktober 1899.

Herrn
Geldbaron Eben Hale.

Geehrter Herr! Ihr zweites Opfer ist zur angegebenen Zeit gefallen. Wir haben keine Eile; um aber unseren Druck auf Sie zu verstärken, gedenken wir von jetzt an jede Woche einen Mord zu begehen. Um uns selbst gegen die Einmischung der Polizei zu schützen, werden wir Sie künftig von dem Geschehenen erst kurz vor dem Ereignis oder gleichzeitig damit unterrichten. In der Hoffnung, daß diese Zeilen Sie bei bester Gesundheit antreffen werden, zeichnen wir ergebenst

die Lieblinge des Midas.

 

Diesmal griff Herr Haie selbst nach der Zeitung und las mir, nachdem er die Stelle gefunden hatte, folgenden Bericht vor:

 

Joseph Donahue, der heute nacht auf einer besonderen Patrouille ins 11. Viertel geschickt worden war, wurde um Mitternacht durch einen Kopfstich getötet. Die Tragödie fand in voller Beleuchtung, beim Schein der Straßenlaternen, an der Ecke der Polkstraße und Clermontavenue statt. Wir sind wirklich sehr schlecht beschützt, wenn selbst die Wächter des Friedens so offen und ohne weiteres niedergemacht werden. Die Polizei ist bisher außerstande gewesen, auch nur die schwächste Spur zu finden.

 

Er hatte es kaum gelesen, als sich auch schon die Polizei einstellte, und zwar der Inspektor selbst und zwei seiner schärfsten Spürhunde. Ihre Gesichter verrieten Unruhe und Nervosität, und sie waren offensichtlich stark eingeschüchtert. Obwohl die vorliegenden Tatsachen so wenig und unkompliziert waren, sprachen wir doch lange miteinander und erörterten immer wieder die Sache in allen ihren Einzelheiten. Als der Inspektor sich verabschiedete, versicherte er uns zuversichtlich, daß alles aufgeklärt und daß man die Mörder ergreifen würde. Unterdessen hielt er es jedoch für das beste, zwei Polizisten zum Schutz für Herrn Hale und mich dazulassen und von mehreren anderen unablässig das Haus und das umliegende Terrain bewachen zu lassen. Eine Woche später lief um ein Uhr mittags folgendes Telegramm ein:

 

Bureau der L. d. M.
den 21. Oktober 1899.

Herrn
Geldbaron Eben Hale.

Sehr geehrter Herr! Zu unserem Bedauern müssen wir feststellen, daß Sie uns völlig mißverstanden haben. Sie haben gemeint, sich und Ihren Hausstand mit einer bewaffneten Wachmannschaft umgeben zu müssen, als ob wir gewöhnliche Verbrecher seien, die imstande wären, bei Ihnen einzubrechen und Ihnen Ihre zwanzig Millionen mit Gewalt zu entreißen. Glauben Sie uns: das ist durchaus nicht unsere Absicht.

Wenn Sie ein wenig nüchtern nachdenken, werden Sie schnell verstehen, daß Ihr Leben uns teuer ist. Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Um alles in der Welt wollen wir Ihnen nichts tun. Unsere Politik ist, Sie sorgfältig zu beschirmen und vor allem Schaden zu bewahren. Wir haben kein Interesse an Ihrem Tod. Hätten wir das, so würden wir – dessen seien Sie sicher – keinen Augenblick gezögert haben, Sie aus dem Wege zu räumen. Denken Sie hierüber nach, Herr Hale. Wenn Sie uns unseren Preis bezahlt haben, werden Sie genötigt sein, sich einzuschränken. Entlassen Sie daher sofort Ihre Wache und setzen Sie Ihre Ausgaben herab.

Zehn Minuten, nachdem Sie diese Zeilen empfangen haben, wird ein Kindermädchen im Brentwoodpark erwürgt werden. Die Leiche wird im Gebüsch an dem Wege zu finden sein, der links vom Musikpavillon abbiegt.

Ihre ergebenen
Lieblinge des Midas.

 

Herr Hale schoß ans Telephon und unterrichtete den Inspektor von dem bevorstehenden Mord. Der Inspektor unterbrach die Unterredung mit einer Entschuldigung, um sofort die Vorstadtwache anzurufen und Mannschaften zum Tatort zu schicken. Eine Viertelstunde später rief er uns an, daß die Leiche, noch warm, an der angegebenen Stelle gefunden worden sei. An diesem Abend waren die Zeitungen mit schreienden, fetten Überschriften von »Jack dem Würger« gespickt, sie verurteilten die brutale Untat und beklagten sich über die Schlaffheit der Polizei. Wir hatten eine Unterredung unter vier Augen mit dem Inspektor, der uns bat, die Sache um jeden Preis geheimzuhalten. Der glückliche Ausgang hinge, wie er sagte, von völligem Stillschweigen ab.

Du weißt, John, daß Herr Hale einen eisernen Willen besaß. Er wollte nicht nachgeben, aber, ach, John, es war schrecklich, nein, entsetzlich – dieses Furchtbare, das man nicht kannte, diese geheime Macht im Dunkel. Wir konnten sie nicht bekämpfen, wußten uns keinen Rat, konnten nichts tun, als die Hände in den Schoß legen und warten. Und Woche auf Woche wußten wir, daß wir so sicher, wie die Sonne aufgehen würde, die Mitteilung vom Tode einer Frau oder eines Mannes erhalten würden, eines Menschen, der nichts Böses getan, aber gewissermaßen von uns getötet war, ganz, als ob wir ihn mit eigenen Händen gemordet hätten. Ein Wort von Herrn Hale, und das Morden hätte aufgehört. Aber er machte sich hart und wartete, und dabei wurden die Furchen in seiner Stirn tiefer, der Mund, die Augen strenger und fester, und sein Gesicht alterte mit jeder Stunde, die verging. Ich brauche nicht davon zu reden, in wie hohem Maße ich selbst in dieser ganzen furchtbaren Periode litt. Lies die Briefe der L. d. M., die Telegramme, Zeitungsberichte und so weiter über die verschiedenen Morde. Beachte auch die Briefe, in denen Herr Hale vor gewissen Intrigen seitens geschäftlicher Feinde und vor heimlichen Börsenmanövern gewarnt wird. Die L. d. M. schien ihre Hand am geheimsten Puls der Geschäfts- und Finanzwelt zu haben. Sie wußten sich in den Besitz von Auskünften zu setzen, die unsere Agenten nicht zu verschaffen vermochten, Auskünften, die sie uns weitergaben. Ein Brief, den wir zur rechten Zeit erhielten, rettete Herrn Hale in einem kritischen Augenblick in einem Geschäft ganze fünf Millionen. Ein andermal schickten sie uns ein Telegramm, das aller Wahrscheinlichkeit nach einen irrsinnigen Anarchisten verhinderte, meinen Chef zu ermorden. Als der Mann sich einstellte, griffen wir ihn und übergaben ihn der Polizei, die einen solchen Vorrat eines neuen kräftigen Explosivstoffes bei ihm fand, daß er genügt hätte, ein Schlachtschiff zu versenken. Wir gaben nicht nach. Herr Hale entfaltete eine rastlose Tätigkeit. Er bezahlte der Geheimpolizei etwa hunderttausend wöchentlich. Pinkerton und unzählige andere Privatdetektivbureaus wurden zu Hilfe gerufen, und außer ihnen standen tausende auf unseren Lohnlisten. Unsere Agenten waren überall in allen möglichen Verkleidungen, bohrten sich in alle Kreise der Gesellschaft hinein. Sie verfolgten tausend Spuren; Hunderte von Verdächtigen wurden eingesperrt, und zu verschiedenen Zeiten standen Tausende von Verdächtigen unter Polizeiaufsicht, aber nichts Handgreifliches kam an den Tag.

Was die Ablieferung der Briefe betraf, so wechselten die Lieblinge des Midas beständig die Methode, jeder Bote, den sie uns schickten, wurde augenblicklich verhaftet. Aber sie entpuppten sich stets als ganz unschuldige Menschen, und ihre Beschreibung der Individuen, die sie für den Botendienst engagiert hatten, stimmte nie überein. Am letzten Dezember empfingen wir folgende Meldung:

 

Bureau der L. d. M.,
den 31. Dezember 1899.

Herrn
Geldbaron Eben Hale.

Sehr geehrter Herr! Im Verfolg unserer Politik, die Ihnen, wie wir uns schmeicheln, bereits wohlbekannt ist, erlauben wir uns, Ihnen mitzuteilen, daß wir gedenken, dem Polizeiinspektor Bying, mit dem Sie, dank der Ihnen von uns erwiesenen Aufmerksamkeit, auf einen so vertrauten Fuß gekommen sind, eine Fahrkarte aus diesem Jammertal auszustellen. Er pflegt sich um diese Zeit in seinem Privatbureau aufzuhalten. In dem Augenblick, da Sie diese Zeilen lesen, ist er im Begriff, den letzten Atemzug zu tun.

Ihre ergebenen
Lieblinge des Midas.

 

Ich warf den Brief hin und sprang ans Telephon. Ein Stein fiel mir vom Herzen, als ich die kräftige Stimme des Inspektors hörte. Aber im selben Augenblick, als er zu sprechen begann, erstarb seine Stimme im Hörer in einem Röcheln, und ich konnte schwach das krachende Geräusch eines fallenden Körpers hören. Eine Sekunde später rief eine fremde Stimme mir ein Hallo zu, sandte mir einen Gruß von den L. d. M. und hängte an. Sofort rief ich das Bureau der Zentralpolizei an und bat, daß gleich jemand dem Inspektor in seinem Privatbureau zu Hilfe eilen möchte. Ich blieb am Telephon und erhielt wenige Minuten später die Mitteilung, daß man ihn in seinem Blute schwimmend gefunden hatte, als er gerade seinen letzten Seufzer tat. Es war kein Augenzeuge zugegen gewesen, und der Mörder hatte keine sichtbaren Spuren hinterlassen.

Jetzt erweiterte Herr Hale sofort den Geheimdienst, so daß schließlich eine viertel Million wöchentlich aus seiner Kasse bezahlt wurde. Er war fest entschlossen zu siegen. Die von ihm ausgesetzten größeren und kleineren Belohnungen betrugen zusammen mehr als zehn Millionen. Du weißt ja ungefähr, wie bedeutend seine Mittel waren, und du verstehst, warum er sie in Anspruch nahm. Er kämpfte, wie er behauptete, für das Prinzip, nicht für das Geld. Und man muß einräumen, daß sein ganzes Benehmen keinen Zweifel an seinen uneigennützigen, edlen Motiven ließ. Alle Polizeibehörden der großen Städte arbeiteten Hand in Hand; sogar die Regierung der Vereinigten Staaten schloß sich an, und die ganze Angelegenheit entwickelte sich zu einem der wichtigsten Staatsprobleme. Gewisse nationale Hilfsfonds wurden für den Feldzug gegen die Lieblinge des Midas zur Verfügung gestellt, und jeder Beamte war auf dem Posten. Aber alles war vergebens. Die Lieblinge des Midas setzten ungestört ihr verabscheuungswertes Tun fort. Sie hatten ihre Methode und arbeiteten mit unfehlbarer Sicherheit.

Während Herr Hale jedoch bis aufs äußerste kämpfte, vermochte er nicht das Blut abzuwaschen, das an seinen Händen klebte. Ohne eigentlich Mörder zu sein, und obwohl keine aus seinesgleichen zusammengesetzte Jury ihn schuldig erkannt haben würde, war er doch die Ursache zum Tode all dieser Menschen. Wie gesagt: Ein Wort von ihm, und das Morden hätte aufgehört. Aber er weigerte sich, dieses Wort zu sprechen. Er behauptete, daß die Integrität der Gesellschaft angegriffen, daß er nicht so feige wäre, seinen Posten zu verlassen, und daß es offenbar recht und billig sei, einige wenige zu Märtyrern werden zu lassen, wenn man dadurch nur zuletzt Glück und Wohlfahrt aller erreichen könnte. Nichtsdestoweniger kam dieses Blut über sein Haupt, und er versank in Melancholie. Mich überwältigte ein ähnliches Gefühl der Mitschuld. Neugeborene wurden unbarmherzig getötet, Kinder und alte Leute; und diese Morde geschahen nicht nur in unserer Stadt, sondern verteilten sich über das ganze Land. Als wir eines Abends Mitte Februar in der Bibliothek saßen, klopfte es hart an die Tür. Als ich öffnete, fand ich folgenden Brief auf dem Teppich im Korridor liegen:

*

Bureau der L. d. M.,
den 15. Februar 1900.

Herrn
Geldbaron Eben Hale.

Sehr geehrter Herr! Weint Ihre Seele nicht über die rote Ernte, die heranreift? Vielleicht sind wir in unserer Geschäftsführung zu abstrakt gewesen. Lassen Sie uns jetzt konkret werden. Fräulein Adelaide Laidlow ist eine begabte junge Dame, und soviel wir wissen, ebenso gut wie schön. Sie ist die Tochter Ihres alten Freundes, Richter Laidlow, und es ist uns nicht unbekannt, daß Sie sie als Kind auf Ihren Armen getragen haben. Sie ist die beste Freundin Ihrer Tochter und augenblicklich zu Besuch bei ihr. Wenn Sie bis hierher gelesen haben, wird ihr Besuch beendet sein.

Ihre ergebenen
Lieblinge des Midas.

 

Weiß Gott, wir verstanden sofort den furchtbaren Sinn! Wir stürmten durch das Wohnzimmer und die Salons – hier war sie nicht – und weiter in ihr eigenes Zimmer. Die Tür war verschlossen, aber wir drückten sie ein, indem wir uns dagegen warfen. Da lag sie, soeben für die Oper angekleidet, erstickt mit Kissen, die vom Diwan gerissen waren; die Rosen des Lebens blühten noch auf ihren Wangen, und ihr Körper war noch schmiegsam und warm. Laß mich von dem Schrecken schweigen. Du erinnerst dich sicher noch der Zeitungsberichte, John.

Sehr spät am selben Abend schickte Herr Hale nach mir und bat mich, ihm feierlich vor Gottes Angesicht zu geloben, ihm zur Seite zu stehen und nicht nachzugeben, selbst wenn Familie und Freunde bis zum letzten Mann aus dem Wege geräumt würden.

Am nächsten Tage war ich erstaunt über seine Heiterkeit. Ich hatte geglaubt, daß er tief erschüttert über die letzte Tragödie sein würde – wie tief er es war, sollte ich bald erfahren. Er war den ganzen Tag heiter und gut gelaunt, als hätte er endlich einen Weg aus dem Furchtbaren gefunden. Am nächsten Morgen fanden wir ihn tot in seinem Bett, mit einem friedlichen Lächeln auf seinem vergrämten Gesicht. – Er hatte selbst Hand an sich gelegt. Mit Erlaubnis der Polizei und der Behörden wurde offiziell mitgeteilt, daß sein Tod durch einen Herzschlag verursacht wäre. Wir hielten es für das Klügste, die Wahrheit zu verschweigen; aber wir hatten keinen Nutzen davon, uns hat überhaupt nichts genutzt.

Kaum hatte ich das Sterbezimmer verlassen, als – jedoch zu spät – folgender Brief einlief:

 

Bureau der L. d. M.
den 17. Februar 1900.

Herrn
Geldbaron Eben Hale.

Sehr geehrter Herr! Wir hoffen, Sie werden uns unsere Zudringlichkeit verzeihen, daß wir uns so schnell nach dem traurigen Ereignis von vorgestern melden. Aber das, was wir Ihnen mitteilen wollen, ist möglicherweise von der allergrößten Bedeutung für Sie. Wir sind uns darüber klar, daß Sie möglicherweise einen Versuch machen werden, uns zu entkommen. Zweifellos haben Sie schon lange erkannt, daß es offenbar nur einen Weg gibt. Aber wir möchten Sie davon unterrichten, daß auch dieser eine Weg versperrt ist. Sie können sterben, aber Sie sterben als ein Geschlagener und erkennen selbst, daß Sie das Spiel verloren haben. Merken Sie sich: Wir bilden einen integrierenden Teil Ihres Besitzes. Wir gehen für immer, zusammen mit Ihren Millionen, an ihre Erben oder an jeden über, dem Sie Ihren Besitz übertragen werden.

Wir sind das Unvermeidliche. Wir sind die Kulmination von industriellem und sozialem Unrecht. Wir wenden uns gegen die Gesellschaft, die uns geschaffen hat. Wir sind das verfehlte, aber erfolgreiche Produkt des Zeitalters, wir sind die Geißeln einer erniedrigten Zivilisation.

Wir sind das Ergebnis einer falschen sozialen Auswahl. Wir begegnen Gewalt mit Gewalt. Nur der Starke wird überleben. Wir glauben an das Überleben des Geeigneten. Sie haben Ihre Lohnsklaven in den Schmutz getreten und waren selbst der Überlebende. Auf Ihren Befehl hat das Militär Ihre Arbeiter in Dutzenden blutiger Streiks wie die Hunde zusammengeschossen. Mit Hilfe solcher Mittel haben Sie sich oben gehalten. Wir wollen nicht über das Ergebnis klagen, denn wir erkennen selbst dasselbe Naturgesetz an und verdanken ihm unser Dasein. Jetzt aber erhebt sich folgende Frage: Wer von uns wird unter den jetzigen sozialen Verhältnissen der Überlebende sein? Wir glauben selbst, daß wir die Geeignetsten sind. Sie halten sich für den Geeignetsten. Die Entscheidung überlassen wir der Zeit und dem Gesetz.

Stets Ihre ergebenen
Lieblinge des Midas.

John, Du wunderst Dich, daß ich Vergnügungen verabscheute und meine Freunde mied? Aber es hat ja im übrigen keinen Zweck, Erklärungen zu geben. Dieser Bericht wird sicher alles sagen. Es ist drei Wochen her, seit Adelaide Laidlow starb. Seit damals habe ich mit Furcht und Beben gewartet. Gestern wurde das Testament eröffnet und veröffentlicht. Heute erhielt ich einen Drohbrief, daß eine Frau der Mittelklasse im Goldenen Tor-Park in San Franzisko getötet werden würde. Die Telegramme in den Abendblättern bringen Einzelheiten über die brutale Untat – Einzelheiten, die ganz denen entsprechen, welche mir vor dem Morde mitgeteilt worden waren.

Es ist zwecklos. Ich kann nicht gegen das Unvermeidliche ankämpfen. Ich bin in meinem Verhältnis zu Herrn Hale treu und loyal gewesen und habe schwer gearbeitet. Warum meine Treue so belohnt worden ist, verstehe ich nicht. Gleichwohl kann ich nicht unzuverlässig sein oder mein Wort brechen, indem ich nachgebe. Und doch habe ich beschlossen, daß keines Menschen Tod mehr auf mein Haupt kommen soll. Ich habe die vielen Millionen ihren rechtmäßigen Besitzern vermacht. Laßt die starken Söhne Eben Hales selbst für ihre Rettung kämpfen. Ehe Du diese Zeilen liest, bin ich heimgegangen. Die Lieblinge des Midas sind allmächtig. Die Polizei ist machtlos. Ich habe durch die Polizei erfahren, daß auch andere Millionäre in ähnlicher Weise zur Zahlung großer Summen verurteilt und verfolgt worden sind – wie viele, weiß man nicht, denn wenn ein Mann sich erst den L. d. M. beugt, ist sein Mund von dem Augenblick an mit sieben Siegeln verschlossen. Wer nicht nachgegeben hat, bringt schon jetzt seine purpurne Ernte in die Scheuer. Der unheimliche Kampf ist durchgeführt. Die Regierung der Vereinigten Staaten kann nichts tun. Soviel ich verstehe, sind ähnliche Organisationen in Europa aufgetaucht. Die Gesellschaft ist in ihren Grundfesten erschüttert, Fürstentümer und Staaten sind wie dürre Reisighaufen, die nur darauf warten, in Brand gesteckt zu werden. Statt der Massen gegen die Klassen steht hier eine einzige Klasse gegen alle andern. Wir, die wir den Fortschritt der Menschheit behüten, sind herausgesucht und niedergemacht worden. Gesetz und Ordnung existieren nicht mehr.

Die Behörden haben mich gebeten, dies alles geheimzuhalten. Ich habe es auch getan, kann es aber nicht länger tun. Es ist eine Frage von öffentlicher Bedeutung geworden, die die schrecklichsten Folgen in sich trägt, und ich will, ehe ich diese Welt verlasse, meine Pflicht tun, indem ich die Gefahr, die sie bedroht, aufdecke. John, meine letzte Bitte an Dich ist, daß Du dieses veröffentlichst. Laß Dich nicht einschüchtern. Das Schicksal der Menschheit ruht in Deinen Händen. Laß die Presse es millionenweise ausspeien; laß die elektrischen Ströme es um die Erde tragen; sorge dafür, daß, wo Menschen sich treffen und miteinander reden, mit Angst und Beben davon gesprochen wird. Und laß dann die Gesellschaft, wenn sie erst hinreichend wachgerüttelt ist, sich in all ihrer Macht erheben und diesen Greuel abschütteln.

Leb' wohl auf lange

Dein
Wade Atsheler.


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