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Die Geschichte vom Leopardenmann

Sein Blick war träumerisch und fern, und seine betrübte, zögernde Stimme, die sanft wie die eines Mädchens war, schien eine tiefeingewurzelte Melancholie zu verraten. Er war der Leopardenmann, sah aber nicht danach aus. Sein Beruf war es, in einem Käfig mit dressierten Leoparden aufzutreten und gewisse tollkühne Wagnisse zu unternehmen, daß es den zahlreichen Zuschauern kalt über den Rücken lief. Hierfür erhielt er von seinen Chefs einen Lohn, der im Verhältnis zu dem Nervenreiz stand, den er verursachte.

Wie gesagt, er sah nicht danach aus. Er war schmalhüftig, schmalschulterig und blutarm und machte weniger den Eindruck, daß er an Melancholie litt, als eher den einer sanften, stillen Traurigkeit, deren Druck er entsprechend sanft und still ertrug. Ich habe eine ganze Weile versucht, ihn dazu zu bringen, daß er mir irgendein Erlebnis erzählte, aber es schien ihm überhaupt an Phantasie zu fehlen. Seiner Ansicht nach war ihm auf seiner strahlenden Laufbahn nichts Romantisches begegnet, er hatte kein tollkühnes Wagnis bestanden, nichts Anerkennendes erlebt – nur immer dieselbe graue Einförmigkeit und unendliche Langeweile gefühlt.

Löwen? O ja! Er hatte mit ihnen gekämpft. Aber das war ja nichts. Da galt es nur, ruhig und nüchtern zu sein. Jeder konnte einen Löwen mit einem gewöhnlichen Stock zur Vernunft prügeln. Einmal hatte er eine halbe Stunde mit einem gekämpft. Man mußte ihm nur jedesmal, wenn er zusprang, über die Schnauze schlagen, und wenn er tückisch werden wollte und mit gesenktem Kopfe herumschlich, dann brauchte man nur das Bein auszustrecken.

Schnappte er danach, so zog man es an sich und schlug ihn wieder auf die Schnauze. Das war alles.

Er zeigte mir seine Narben, immer mit dem fernen Blick in den Augen und unter einem sanften, stillen Strom von Worten. Er hatte viele, darunter eine, die verhältnismäßig frisch war, das Andenken an eine Tigerin, die ihm nach der Schulter geschnappt und ihn bis auf den Knochen gebissen hatte. Ich konnte noch die sauber gestopften Risse in dem Rock sehen, den er trug. Sein rechter Arm sah vom Ellbogen abwärts aus, als wäre er in eine Dreschmaschine geraten, so war er von Krallen und Zähnen mißhandelt. Aber das hätte nichts zu sagen, sagte er, die alten Wunden störten ihn nur, wenn Regenwetter käme.

Plötzlich fiel ihm etwas ein, und sein Gesicht verklärte sich, denn in Wirklichkeit war er ebenso versessen darauf, mir eine Geschichte zu erzählen, wie ich es darauf war, eine zu hören.

»Ich nehme an, daß Sie von dem Löwenbändiger gehört haben, den ein anderer Mann haßte?« fragte er.

Er hielt inne und sah nachdenklich auf einen kranken Löwen in einem Käfig gerade vor uns.

»Hat Zahnschmerzen«, sagte er erklärend. »Nun, die große Nummer des Löwenbändigers bestand darin, daß er dem Löwen seinen Kopf ins Maul steckte. Der Mann, der ihn haßte, war bei der Vorstellung dabei, in der Hoffnung, einmal das Zuschnappen der Löwenzähne zu hören. Er reiste mit der Menagerie durch das ganze Land. Die Jahre vergingen, er wurde alt, und der Löwenbändiger wurde alt, und der Löwe wurde alt. Da endlich hörte er eines Tages, als er auf einer der vordersten Reihen saß, das, worauf er gewartet hatte. Die Löwenzähne schnappten zu, und es hatte keinen Zweck mehr, nach dem Arzt zu schicken.«

Der Leopardenmann warf einen flüchtigen Blick auf seine Fingernägel, einen Blick, den man kritisch hätte nennen können, wäre er nicht so traurig gewesen.

»Sehen Sie, das kann man Geduld nennen«, fuhr er fort. »Und die habe ich auch, aber ich kannte einen Burschen, der ganz anders war. Es war ein kleiner, dünner, wie abgenagter französischer Säbelschlucker und Zauberkünstler. Er nannte sich de Ville und hatte eine hübsche Frau. Sie arbeitete am Trapez und pflegte aus der Kuppel in ein Netz zu springen und dabei einen netten Salto zu machen.

De Ville hatte ein schnelles Temperament, fast so schnell wie seine Hand, so schnell wie die Tatze eines Tigers. Als der Oberstallmeister ihn eines Tages einen Froschfresser oder etwas Ähnliches, vielleicht noch Gröberes nannte, drängte er ihn gegen den Hintergrund aus weichem Kiefernholz, den er bei seiner Messerwurfnummer gebrauchte, und zwar so schnell, daß der Oberstallmeister gar nicht erst zur Besinnung kommen konnte. Und dann ließ de Ville vor allen Zuschauern seine Messer durch die Luft blitzen und schleuderte sie zu beiden Seiten des Mannes in das Holz, so nahe, daß sie ihm durch die Kleider gingen, und daß die meisten ihm die Haut streiften.

Die Clowns mußten die Messer herausziehen, um ihn zu befreien, denn er war festgenagelt. Seitdem hieß es, daß man sich vor de Ville hüten müsse, und keiner wagte mehr als eben noch höflich zu seiner Frau zu sein. Sie war übrigens nur ein gerissenes kleines Frauenzimmer, aber alle fürchteten sich vor de Ville.

Nur einer, Wallace, fürchtete sich nicht vor ihm. Er war Löwenbändiger und benutzte auch den Trick, seinen Kopf in den Rachen eines Löwen zu stecken. Er konnte es nicht bei allen tun, sondern nur bei Augustus, einem großen, gutmütigen Vieh, auf das man sich immer verlassen konnte.

Wie gesagt, Wallace – König Wallace, wie wir ihn nannten – fürchtete weder Lebende noch Tote. Er war wirklich ein König, darin konnte man nicht irren. Ich habe ihn berauscht in den Käfig zu einem Löwen gehen sehen, der gereizt worden war; er tat es nur, um eine Wette zu gewinnen, und prügelte ihn, bis er klein war, und das ohne Stock. Er schlug ihn nur mit der bloßen Faust auf die Schnauze.

Frau de Ville –«

Es gab plötzlich Lärm hinter uns, und der Leopardenmann wandte sich schnell um. Hinter uns befand sich ein in mehrere Räume eingeteilter Käfig, und ein Affe, der die Finger zwischen den Stäben des Käfigs hinausgesteckt und um die Scheidewand gegriffen hatte, war jetzt von einem großen, grauen Wolf geschnappt worden, der mit Gewalt versuchte, die Hand zu sich hereinzuziehen. Der Arm gab nach und wurde immer länger wie ein dickes Gummiband, und die Kameraden des Unglücklichen machten einen furchtbaren Spektakel. Es war kein Aufseher zur Stelle, und der Leopardenmann ging hin und versetzte dem Wolf mit dem dünnen Stock, den er in der Hand trug, einen heftigen Schlag über die Schnauze. Dann kam er mit einem traurigen, um Entschuldigung bittenden Lächeln wieder und setzte seinen unterbrochenen Satz fort, als hätte keine Unterbrechung stattgefunden.

»– hatte mit König Wallace kokettiert und König Wallace mit ihr, und de Ville warf finstere Blicke. Wir warnten Wallace, aber es nutzte nichts. Er lachte uns aus, ganz wie er eines Tages de Ville auslachte, ja, er drückte de Villes Kopf in einen Kleistertopf, weil er gern mit ihm anbinden wollte. De Ville sah schrecklich aus – ich half ihm, sich zu reinigen; aber er blieb vollkommen ruhig und stieß keine Drohung aus. Ich sah jedoch einen Schimmer in seinen Augen, wie ich ihn oft in den Augen von Raubtieren gesehen hatte, und ich ging zu Wallace, um ihn zu warnen. Er lachte, sah aber Frau de Ville nicht mehr so viel an.

Mehrere Monate vergingen. Es war nichts geschehen, und ich begann zu glauben, daß Friede war und keine Gefahr bestand. Wir waren damals im Westen und gaben unsere Vorstellungen in Frisco.

Eines Tages ging ich bei der Nachmittagsvorstellung – das große Zelt war voll von Frauen und Kindern – hinaus, um den roten Denny, den Führer der Truppe, zu suchen, der fortgegangen war und mein Taschenmesser mitgenommen hatte. Als ich an einem der Garderobenzelte vorbeikam, guckte ich durch ein Loch in der Zeltwand, ob ich ihn nicht erblicken könnte. Er war nicht da, aber vor mir stand König Wallace im Trikot und wartete darauf, daß er mit seinen Löwen an die Reihe käme. Er amüsierte sich über einen Streit zwischen zwei Trapezkünstlern. Alle andern im Garderoben zeit waren beschäftigt, mit Ausnahme von de Ville, und ich bemerkte, wie er Wallace mit einem unverkennbar haßerfüllten Blick anstarrte. Wallace und die andern waren zu sehr von dem Streit in Anspruch genommen, um das, was jetzt folgte, zu beobachten.

Aber ich sah es durch das Loch in der Zeltwand. De Ville zog sein Taschentuch heraus, machte eine Bewegung, als wollte er sich den Schweiß vom Gesicht wischen (es war ein heißer Tag), ging gleichzeitig an Wallace vorbei und trat hinter ihn. Er blieb nicht stehen, sondern ging weiter und wedelte dabei mit dem Taschentuch in der Richtung der Tür. Im Hinausgehen wandte er den Kopf und warf einen schnellen Blick zurück. Der Blick beunruhigte mich gleich, denn ich las nicht nur Haß, sondern auch Triumph darin.

De Ville will sich auf die Lauer legen, sagte ich bei mir und atmete wirklich erleichtert auf, als ich ihn durch den Zirkuseingang gehen und auf eine elektrische Bahn springen sah, die nach der Stadt fuhr. Einige Minuten später stand ich in dem großen Zelt, wo es mir glückte, den roten Denny zu erwischen. König Wallace führte seine Nummer aus, und das Publikum saß in atemloser Spannung da. Er war besonders boshaft und hetzte unaufhörlich die Tiere, so daß sie schließlich alle knurrten, das heißt, alle außer dem alten Augustus, der zu fett, zu faul und zu alt war, um sich über irgend etwas aufzuregen.

Zuletzt schlug Wallace den alten Augustus mit einem Stock über die Knie und brachte ihn in Stellung. Der alte Augustus blinzelte gutmütig, öffnete den Rachen, und Wallace steckte den Kopf hinein. Plötzlich klappten die Kiefer zusammen, es knirschte, weiter nichts.«

Der Leopardenmann lächelte sanft und nachdenklich, und seine Augen nahmen den gewohnten fernen Ausdruck an.

»Das war das Ende von König Wallace«, fuhr er in seinem traurigen leisen Ton fort. »Als die Aufregung sich ein bißchen gelegt hatte, nahm ich die Gelegenheit wahr, beugte mich zu Wallaces Kopf und roch. Und im selben Augenblick mußte ich niesen.«

»Es ... es war ...«, forschte ich, vor Spannung stotternd.

»Schnupftabak – den de Ville ihm im Garderobenzelt ins Haar gestreut hatte. Der alte Augustus tat es nicht absichtlich. Er nieste nur.«


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