Jack London
Meuterei auf der Elsinore
Jack London

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Wie herrlich habe ich geschlafen! Und das habe ich Fräulein West zu verdanken! Warum hat weder Kapitän West noch Pike, die doch beide Erfahrung genug haben, herausgefunden, was mit mir los war? Oder Wada? Aber nein, dazu bedurfte es ausgerechnet Fräulein Wests. Wäre sie nicht auf der Elsinore gewesen, der Mangel an Schlaf hätte mich so entnervt, daß ich mir die Pulsadern zerbissen und vor Wahnsinn geheult hätte.

Heute morgen nahm ich meine gewohnte, scherzhafte Unterhaltung mit Mellaire wieder auf:

»Hat O'Sullivan jetzt die Stiefel von Andy Fay bekommen?«

»Noch nicht, Herr Pathurst«, lautete die Antwort, »aber fast hätte er sie heute gekriegt. Kommen Sie mal mit, Herr Pathurst, ich werde Ihnen was zeigen . . .«

Ohne sich auf weitere Erklärungen einzulassen, führte mich der Untersteuermann über die Laufbrücke, am Mittschiffshaus vorbei nach dem Vorderkastell. Als ich vom Rande der Back auf das Kabelgatsluk hinunterblickte, sah ich dort zwei Japaner mit Nadeln und Zwirn sitzen und ein großes Segeltuchbündel zusammennähen, in das offenbar ein menschlicher Körper eingewickelt war.

»O'Sullivan hat sein Rasiermesser gebraucht«, sagte Mellaire.

»Und das ist Andy Fay?« rief ich.

»Nein, Herr Pathurst, nicht Andy Fay, sondern ein Skandinavier. Christian Jespersen laut Musterrolle. Er kam zufällig O'Sullivan in die Quere, als der sich die Stiefel holen wollte, und dieser Zufall hat Andy Fay gerettet. Andy war etwas schneller, Jespersen stolperte schon über seine eigenen Füße, wie konnte er da O'Sullivan ausweichen. Dort sitzt Andy jetzt!«

Ich folgte dem Blick Mellaires und sah den ausgemergelten, alten kleinen Schotten auf einem Reservespier sitzen und seine Pfeife rauchen. Den einen Arm trug er in der Schlinge, und um den Kopf hatte er einen Verband. Neben ihm hockte Mulligan Jacobs. Sie gaben ein hübsches Paar ab – beide hatten sie blaue Augen und einen bösen Blick. Beide waren gleich ausgemergelt. Es war nicht schwer zu erkennen, daß sie schon zu Beginn der Fahrt ihre Verwandtschaft in bezug auf ihre Unzufriedenheit mit dem Leben festgestellt hatten. Andy Fay war, wie ich wußte, dreiundsechzig Jahre alt, und Mulligan Jacobs, der erst gegen Fünfzig war, glich den Altersunterschied durch den Haß aus, der in seinen Augen und seinen Zügen glomm.

Knirps bog soeben um die Ecke des Vorderkastells und begrüßte mich mit seinem gewohnten Clowngrinsen. Seine eine Hand war verbunden.

»Herr Pike muß viel zu tun gehabt haben«, sagte ich zu Mellaire, als ich es sah.

»Während seiner ganzen Wache von vier bis acht hat er Verwundete geflickt.«

»Wieso?« fragte ich. »Sind denn noch mehr verwundet?«

»Noch einer, Herr Pathurst, ein ganz gerissener Kerl: Chantz. Er ist nicht schwer verwundet, aber Sie hätten ihn nur winseln hören sollen.«

»Und wo ist O'Sullivan jetzt?« forschte ich.

»Im Mitschiffshaus bei Davis. Und ohne einen Riß in der Haut. Herr Pike kam dazu und schlug ihn knockout, und jetzt liegt er festgezurrt unten und redet im Fieber. Er hat Davis eine Höllenangst eingejagt. Davis hockt in seiner Koje mit einem Marlpfriem in der Hand und droht O'Sullivan den Schädel einzuschlagen, wenn er loskommt. Ach Gott, ja«, seufzte der Untersteuermann. »Das ist die verrückteste Reise und die verrückteste Mannschaft, die ich je getakelt habe. Sie wird nicht gut enden, diese Fahrt. Das kann jeder mit einem halben Auge sehen. Ehe wir Kap Horn erreichen, haben wir Winter – und dabei das Vorderkastell voll von Verrückten und Krüppeln. Sehen Sie nur den da! Verrückt, wie eine toll gewordene Wanze! Er kann jeden Augenblick wieder über Bord springen!«

Ich folgte seinem Blick und sah den Griechen Tony, der am ersten Tag über Bord gesprungen war. Er schien sich wohl zu befinden, wenn er auch den einen Arm in der Schlinge trug.

Mein Blick kehrte zu der in Segelleinen gehüllten Leiche Christian Jespersens und zu den Japanern zurück, die ihm mit Segelgarn das Leichentuch nähten. Der eine von ihnen trug eine Hand in einem mächtigen Verband aus Watte und Mull.

»Ist der auch verwundet?« fragte ich.

»Nein, das ist ja der Segelmacher, beide übrigens. Der mit der Hand ist recht tüchtig. Yatsuda heißt er. Aber er hat Blutvergiftung gehabt und lag über achtzehn Monate im Krankenhaus in New York. Er wehrte sich mit Händen und Füßen gegen eine Amputation. Jetzt ist er wieder ganz in Ordnung, nur daß die Hand, mit Ausnahme von Daumen und Zeigefinger, gelähmt ist. Er lernt jetzt mit der linken Hand nähen. Er ist einer der besten Segelmacher, die Sie auf See finden können.«

»Ein Verrückter und ein Rasiermesser sind eine gefährliche Verbindung«, bemerkte ich nachdenklich.

»Die fünf Mann außer Gefecht gesetzt hat«, seufzte Mellaire. »Erstens O'Sullivan selbst; Christian Jespersen ist schon abgemustert, und dann Andy Fay, Knirps und Chantz, und die Reise hat kaum angefangen. Und dazu Lars mit dem gebrochenen Bein und Davis, der endgültig erledigt ist . . . ja, ja, Herr Pathurst, wir werden bald so wenig Arbeitskräfte haben, daß wir beide Wachen brauchen, um ein Stagsegel zu setzen.«

Als ich später mit Possum an Deck umherschlenderte, kam ich auch an der Tür des Mannschaftslazaretts vorbei und hörte das eintönige Vor-sich-Hinsingen O'Sullivans. Ich guckte hinein. Da lag er festgeschnürt auf dem Rücken in seiner Koje und rollte mit den Augen. In der Oberkoje über ihm lag Charles Davis und rauchte ruhig seine Pfeife. Der Marlpfriem lag griffbereit auf dem Bettrand neben dem Patienten.

»Die reine Hölle, nicht wahr?« begrüßte mich Davis. »Und wie soll ich pennen, wenn der Pavian da unten liegt und ich sein verfluchtes Geschnatter anhören muß? Nicht eine Minute hält er den Rand; wenn er mit den Zähnen knirscht, ist es zum Davonrennen. Und nun sagen Sie selbst, Herr, ob es recht ist, so einen verrückten Kerl mit einem Kranken zusammenzulegen? Oder bin ich vielleicht nicht krank?«

Während er noch sprach, tauchte der Steuermann neben mir auf und stellte sich so, daß Davis ihn nicht sehen konnte. Der sprach weiter:

»Wenn alles hier seine Richtigkeit hätte, sollte ich die Unterkoje haben. Es tut verflucht weh, wenn ich hier heraufklettern muß. Aber das Gesetz schützt Seeleute an Bord besser als an Land. Ich werde Sie als Zeugen vor Gericht laden, wenn wir erst in Seattle sind.«

Pike stellte sich in den Türrahmen.

»Halt die Fresse, verdammter Seerechtsverdreher«, fauchte er. »Hast du uns nicht schon genügend reingelegt, als du dich in dem Zustand heuern ließest? Und wenn du noch einmal . . .«

Pike war so wütend, daß er seine Drohung nicht zu Ende sprechen konnte.

»Ich kenne das Gesetz, Herr«, antwortete Davis unverzüglich. »Ich tue meine Arbeit als befahrener Seemann an Bord dieses Schiffes. Alle können es bestätigen. Ich war Toppsgast vom ersten Tage an. Jawohl, Herr, und ich stand Tag und Nacht bis zum Hals im Salzwasser, Herr. Und Sie schickten mich nach unten, um Kohle zu trimmen. Und ich hab' immer meine Pflicht getan und mehr als das, bis die Krankheit kam, Herr.«

»Du warst ein stinkendes und verwestes Aas, ehe du an Bord kamst«, brauste Pike auf.

»Das wird das Gericht schon entscheiden, Herr«, antwortete Davis, den nichts aus der Ruhe bringen konnte.

»Und wenn du jetzt nicht deine verdammte Fresse hältst«, fuhr Pike fort, »dann schmeiß' ich dich hier hinaus und zeige dir, was arbeiten heißt.«

»Und dann werden die Reeder mir eine tüchtige Entschädigung zu zahlen haben, wenn wir wieder im Hafen sind«, knurrte Davis.

»Nicht wenn ich dich begrabe, ehe wir einlaufen, Davis«, lautete die barsche Antwort. »Du wärst nicht der erste Seerechtsverdreher, den ich mit einem Sack Kohlen an den Füßen über Bord gehen ließe.«

Pike wandte sich ab und setzte dann seinen Rundgang an Deck fort. Ich ging ihm nach, als er plötzlich stehenblieb.

»Herr Pathurst!«

Er sprach nicht wie ein Schiffsoffizier zu einem Passagier – sein Ton war befehlend. Ich fuhr zusammen.

»Herr Pathurst, von jetzt ab lassen Sie sich am besten so wenig wie möglich an Deck dieses Schiffes sehen. Danke.«

Und wieder machte er kehrt und ging seines Weges.

 

Zwei Wochen auf einer wundervollen See unter einem Himmel mit weißen Wölkchen vor einer leichten östlichen Kühlte, die uns mit Leichtigkeit acht Knoten die Stunde treibt. Kapitän West sagt, daß es der Nordostpassat sei. Ich erfuhr auch, daß die Elsinore, um nicht bei Kap San Roque an der brasilischen Küste aufzulaufen, erst ostwärts bis fast zur afrikanischen Küste steuern müßte. Bei diesem Koppelkurs könnten sogar die Kapverdischen Inseln in Sicht kommen.

Als ich heute morgen an Deck kam, fand ich den Selbstmörder Tony am Steuerrad. Er schien jetzt ganz vernünftig zu sein und grüßte mich auch freundlich, als ich ihm einen guten Morgen bot. Die verwundeten Matrosen scheinen jetzt übrigens alle in der Besserung zu sein, mit Ausnahme natürlich von Charles Davis und O'Sullivan. Der liegt noch immer festgezurrt in seiner Koje, und Davis wird von Pike gezwungen, seinen Kameraden zu bedienen und zu pflegen. Die Folge ist leider, daß Davis sich hin und wieder an Deck zeigt, wenn er Essen und Wasser aus der Kombüse holen muß. Dann nimmt er jedesmal die Gelegenheit wahr, um den anderen Seeleuten das ihm angetane Unrecht vorzukäuen.

Wada berichtete mir heute morgen übrigens eine sehr merkwürdig anmutende Geschichte. Er scheint sich mit dem Steward und den beiden Segelmachern, die ja alle auch Asiaten sind, allabendlich in der Kabine des Kochs, der ebenfalls Asiat ist, zu einem kleinen Klatsch zu treffen, wobei sie sämtliche Schiffsgerüchte gründlich und eifrig durchhecheln. Nur wenig entgeht ihrer Aufmerksamkeit, und ich erfahre dann von dem treuen Wada immer alles, was sie beredet haben. Und eben jetzt berichtete er mir etwas ganz Seltsames von dem Untersteuermann Mellaire. Sie hatten von ihm gesprochen und waren sich alle einig, daß seine Vertraulichkeit mit den drei Verbrechern im Vorderkastell höchst unpassend sei.

»Aber Wada«, sagte ich, »der ist doch gar nicht so! Im Gegenteil, er ist immer sehr grob und hart zu sämtlichen Matrosen. Er behandelt sie einfach wie Hunde. Das wissen Sie doch.«

»Ganz recht«, stimmte Wada mir zu. »Die andern Matrosen er behandelt so. Aber diese drei bösen Männer seine guten Freunde geworden sein. Louis sagen, Untersteuermann gehören hinter Mast wie Steuermann und Kapitän. Nicht gut für Untersteuermann, als Freund mit Matrosen sprechen. Nicht gut für Schiff. Sie werden sehen!«

Wadas Worte bewogen mich immerhin, der Sache nachzugehen. Es sieht wirklich so aus, als ob die drei Banditen, Bub Twist, Nasen-Murphy und Bert Rhine, sich zu Herrschern der Back aufgeworfen hätten. Die drei halten immer zusammen, und so ist es ihnen gelungen, im Vorderkastell ein Schreckensregiment zu errichten. In New York hatten sie vermutlich die Rohlinge des Verbrecherviertels zu beherrschen verstanden, und das ist eine gute Schule gewesen. Soweit ich aus den Worten Wadas klug werden konnte, scheinen sie den Anfang mit den beiden Italienern in ihrer Wache, Guido Bombini und Mike Cipriani, gemacht zu haben. Durch Mittel, die ich nicht erraten kann, haben sie diese beiden Wracks zu ihren zitternden Sklaven gemacht.

Chantz steht ebenfalls unter dem Terror der Banditen, wenn er auch etwas besser behandelt wird. Hermann Lunkenheimer, ein an sich gutmütiger, aber nicht sehr begabter Deutscher, bekam eine tüchtige Tracht Hiebe von den dreien, weil er es abgelehnt hatte, Nasen-Murphys schmutzige Kleider zu waschen. Die beiden Bootsleute haben eine wahre Todesangst vor dieser Bande, und nicht ohne Grund, denn der Kreis der Banditen erweitert sich immer mehr. Auch Steve Roberts, der Excowboy, und der frühere Sklavenhändler haben sich ihm jetzt angeschlossen.

Ich bin der einzige hinter dem Mast, dem das alles bekannt ist, und ich gestehe offen, daß ich nicht recht weiß, was ich mit diesem Wissen anfangen soll. Pike wird mir einfach sagen, daß ich mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern solle. Mellaire kommt selbstverständlich nicht in Frage. Kapitän West hat ja sozusagen keine Mannschaft. Und Fräulein West? Ja, die würde mich, glaube ich, wegen meiner Ängste nur auslachen. Außerdem sehe ich ja auch ein, daß jedes Vorderkastell seinen Raufbold oder seine Bande von Raufbolden haben muß. Folglich ist das eine Sache, die nur die Back selbst und nicht die Kajüte angeht. Die Arbeit auf dem Schiff wird ja getan. Die einzige Folge einer Einmischung meinerseits wäre also, daß es den Unglücklichen, die sich der Schreckensherrschaft im Vorderkastell beugen müssen, noch schlimmer erginge als bisher.

Und noch etwas erzählte mir Wada. Die Banditenclique hat sich das Vorrecht angemaßt, sich die besten Stücke aus den Fleischschüsseln herauszufischen. Was sie übriglassen, erhalten dann die andern. Ich muß jedoch zugeben, daß die Mannschaft der Elsinore sehr gutes Essen erhält. Die Leute bekommen so viel, wie sie nur mögen. Auf der Back steht auch stets eine Tonne mit gutem Schiffszwieback zu freier Benutzung. Louis backt außerdem dreimal wöchentlich frisches Brot für die Mannschaft. Das Essen ist abwechslungsreich und in jeder Beziehung einwandfrei. Nicht einmal das Trinkwasser ist Einschränkungen unterworfen. Das Aussehen der Matrosen bessert sich in dieser Zeit des guten Wetters auch mit jedem Tage.

Es ist ein seltsames Leben, das man hier auf der Elsinore führt. Obgleich ich das Gefühl habe, schon monatelang an Bord zu sein, weil ich die geringste Einzelheit dieser unserer kleinen Welt kenne, muß ich doch gestehen, daß ich mich noch durchaus unsicher fühle. Mein Gehirn pendelt hin und her zwischen Dingen, die es begreift, und solchen, die ihm ganz unverständlich sind – von unserm Samurai-Kapitän mit der wunderbaren Erzengelstimme, die man nur im Getöse des Sturmes zu hören bekommt, bis zu dem schwachsinnigen Faun mit den klaren, schmerzerfüllten Augen, bis zu den drei Banditen, die das Vorderkastell beherrschen und den Untersteuermann in Versuchung führen, bis zu O'Sullivan im stählernen Loch des Mannschaftslazaretts und dem ewig jammernden Davis, der in seiner Oberkoje liegt und den Marlpfriem nicht aus der Hand läßt, ja bis zu Christian Jespersen, der irgendwo in der unendlichen Weite des Meeres mit seinem Kohlensack an den Füßen liegt. In solchen Augenblicken erscheint einem das Leben an Bord der Elsinore ganz unwirklich.

 

Hat es je eine solche Fahrt gegeben?

Als ich heut morgen an Deck kam, sah ich niemand am Steuerrad. Es kam mir ganz unheimlich vor: die gewaltige Elsinore mit allen Segeln beim Winde über See gleitend . . . und keine Hand, die sie lenkte.

Kein Mensch auf der Kampanje! Es war die Wache des Steuermanns, und ich eilte über die Laufbrücke, um ihn zu suchen. Er stand beim Kabelgatsluk, wo er dem Segelmacher Anweisungen erteilte. Als er fertig war, bemerkte er mich und grüßte.

»Guten Morgen«, gab ich seinen Gruß zurück. »Sagen Sie, wer steht denn heute am Rad?«

»Der verrückte Griechen-Tony«, antwortete er.

»Ich setze ein Monatsgehalt gegen ein Pfund Tabak, daß er nicht da ist.«

Pike sah mich mit einem schnellen scharfen Blick an.

»Wer steht denn am Rad?«

»Kein Mensch«, antwortete ich.

Da explodierte er. Das Alter war mit einem Schlage verschwunden, und er sprang mit einer Schnelligkeit über das Deck, die wohl kaum ein anderer an Bord hätte erreichen können. Er verschwand hinter dem Navigationshaus in der Richtung des Steuerhauses.

Dann wurde mit rasender Schnelligkeit eine Reihe von Befehlen gebrüllt. Die ganze Wache wurde an die Geitaue gestellt, und alles wurde bereit gemacht, um zu brassen – dann wurde gefiert und angehalt – ich kannte bereits das Manöver . . . das Schiff sollte vor dem Winde wenden.

Als ich wieder achteraus ging, kamen Mellaire und der Zimmerbaas aus der Kajüte – sie schienen in ihrem Frühstück gestört worden zu sein, denn sie wischten sich noch den Mund. Pike trat an den Rand der Kampanje, erteilte dem Untersteuermann einige Befehle, die sofort voraus weitergegeben wurden, und stellte den Zimmermann ans Rad.

Als die Elsinore abgefallen war, so daß sie den Wind von achtern bekam, ließ der Steuermann sie anluven, bis sie über Backbordbug am Winde lag und denselben Weg, den sie gekommen war, wieder zurücklief. Dann zeigte Pike mit dem Finger auf das Achterluk, das zu dem großen Heckraum führt. Die Leiter war von dort verschwunden.

»Er muß die Lazarettleiter mitgenommen haben«, sagte Pike.

Kapitän West kam aus dem Navigationshaus. Er grüßte ganz wie sonst, und bot mir und dem Steuermann Guten Morgen. Dann ging er ruhig über die Kampanje bis zum Steuerrad, wo er einen Augenblick stehenblieb, um sich das Kompaßhäuschen anzusehen. Langsam kehrte er um und blieb vorn am Bogen stehen. Wieder kam er zu uns zurück. Zwei volle Minuten vergingen, ehe er sprach.

»Was ist los? Mann über Bord?«

»Jawoll, Käpt'n!«

»Und die Lazarettleiter hat er mitgenommen?« fragte Kapitän West.

»Jawoll, Käpt'n! Es ist der Grieche, der schon in Baltimore über Bord gesprungen ist.«

Die Sache war offenbar nicht bedeutungsvoll genug, um Kapitän West in einen Samurai zu verwandeln. Er zündete sich eine Zigarre an und nahm seinen gewöhnlichen Spaziergang auf. Und dennoch war nichts seiner Aufmerksamkeit entgangen, nicht einmal das Fehlen der Lazarettleiter.

Pike schickte Leute in alle Bramrahen, um Ausschau zu halten, und die Elsinore glitt wieder durch die See. Jetzt kam auch Fräulein West auf die Kampanje und stellte sich neben mich. Sie zeigte keine Aufregung und beruhigte mich auf ihre Art, indem sie mir erzählte, wie schwer es sei, einen Selbstmörder von der Art Griechen-Tonys loszuwerden.

»Ihre Verrücktheit hat nämlich die Eigentümlichkeit, die Leute immer zu überfallen, wenn schönes Wetter oder andere besonders günstige Umstände herrschen«, sagte sie lächelnd. »Zum Beispiel, wenn man leicht ein Boot aussetzen kann, oder wenn ausgerechnet ein Schlepper längsseits liegt. Zuweilen nehmen sie sogar ein Rettungsgerät mit, wie jetzt die Leiter.«

Nach einer guten Stunde ließ Herr Pike die Elsinore wieder halsen, und jetzt liefen wir wieder denselben Kurs, den wir gelaufen waren, als der Grieche über Bord sprang. Kapitän West promenierte immer noch rauchend auf der Kampanje. Andy Fay wurde ans Rad gestellt, und der Zimmermann begab sich wieder nach unten, um sein Frühstück zu beenden.

Mir kam ja das ganze Benehmen der Leute reichlich herzlos vor. Kein Mensch kümmerte sich wirklich um den unglücklichen Mann, der über Bord gesprungen war. Und doch mußte ich gestehen, daß man zu seiner Rettung alles getan hatte, was überhaupt möglich war.

In diesem Augenblick wurde vom Ausguck auf der Kreuzbramrahe gepreit. Der Steuermann spähte nach Luv aus, ließ plötzlich das Glas sinken, rieb sich die Augen und sah dann wieder hinaus. Da ließ Fräulein West, die ein anderes Glas benutzte, einen überraschten Ausruf hören und begann zu lachen.

»Was meinen Sie dazu, Fräulein West?« fragte der Steuermann.

»Er scheint gar nicht im Wasser zu liegen. Er steht.«

Pike nickte. »Auf der Leiter«, sagte er. Er wandte sich an den Untersteuermann. »Herr Mellaire, lassen Sie das große Boot aussetzen und bemannen. Ich gehe selbst mit. Aber nehmen Sie Männer, die einen Riemen handhaben können.«

»Gehen Sie doch auch mit«, sagte Fräulein West zu mir. »Dann haben Sie einmal Gelegenheit, die Elsinore unter vollen Segeln zu sehen.«

Pike nickte mir sein Einverständnis zu, und so ging ich mit ins Boot, wo ich mich auf die Achterducht neben den Mann setzte, der das Ruder nahm, während ein halbes Dutzend Hände uns zu dem Selbstmörder pullten, der so wunderbar auf der Oberfläche der See stand. Der Malteser-Londoner führte den Schlagriemen. Unter den andern Seeleuten befand sich einer, dessen Namen ich wenige Tage zuvor erfahren hatte – Ditman Olansen, ein Norweger. Ein guter Seemann, der aber, wie Mellaire mir gesagt hatte, ganz plötzlich ohne ersichtlichen Grund in wahnsinnige Wut geraten konnte. Ditman Olansen war der reine Berserker. Als ich ihn aber mit seinen großen hellblauen, etwas blöden Augen dasitzen und in stetigem Takt pullen sah, schien er mir der letzte Mensch auf Erden, der zu Berserkerwut neigte.

Als wir uns dem Griechen näherten, begann er uns drohend anzubrüllen und sein großes Scheidemesser zu schwingen. Unter seinem Gewicht sank die Leiter immer tiefer, bis das Wasser seine Knie umspülte, und so balancierte er nun, während er wilde Grimassen schnitt und mit den Armen fuchtelte. Sein Gesicht, verzerrt wie eine Affenfratze, bot keinen angenehmen Anblick. Und als er nicht aufhören wollte, mit seinem Messer herumzufuchteln, dachte ich, wie es wohl überhaupt gelingen sollte, den Mann heil an Bord zu bekommen.

Aber die Sorge hätte ich ruhig Pike überlassen können. Er nahm den Fußstock, der unter den Füßen des Malteser-Londoner lag, und legte ihn auf die Achterducht, so daß er ihn zur Hand hatte. Pike wich dem drohenden Messer geschickt aus und wartete ruhig ab, bis eine Welle dem Spiegel des Bootes hob und der Grieche in das Wellental sank. Jetzt war der Augenblick gekommen, und wieder hatte ich Gelegenheit, die Körpergewandtheit dieses alten Mannes zu bewundern. Er paßte die Zeit genau ab und ließ den Fußstock blitzschnell und mit gewaltiger Kraft auf den Kopf des Griechen sausen. Dem fiel das Messer aus der Hand, während der arme Kerl selbst bewußtlos zusammenbrach und ins Wasser fiel. Anscheinend ohne die geringste Mühe holte Pike ihn dann aus dem Wasser und warf ihn in das Boot. Es war ein tüchtiger Hieb, den er dem Griechen mit dem Fußstock versetzt hatte. In dünnen Bächen rieselte das Blut durch das feuchte Haar.

Im nächsten Augenblick holten die Matrosen weit aus, und Pike steuerte das Boot zur Elsinore zurück. Da hob ich zufällig den Kopf, und das wundervolle Bild, das die Elsinore darbot, überwältigte mich. In der langen Zeit, die ich schon an Bord war, hatte ich ganz vergessen, daß sie außen weißgestrichen war. So tief lag sie im Wasser, so anmutig und schlank war ihr Rumpf, daß die hohen Spieren und Masten, die bis in die Wolken zu ragen schienen, und die gewaltigen Flächen ihrer Segel mir fast übertrieben und unmöglich, ja wie eine Herausforderung an das Gesetz der Schwere erschienen. Und wie ein Wunder erschien es mir, daß dieses winzige Ungeziefer, das wir Menschen doch einmal sind, einen so prachtvollen Mechanismus erfunden und konstruiert hatte, der den gewaltigsten Elementen Trotz zu bieten wagte.

Als wir das Boot hochheißten, sah ich, daß Fräulein West nach unten gegangen war. Im Navigationshaus stand Kapitän West und zog die Chronometer auf. Mellaire war schon hineingetörnt, um noch ein paar Stunden zu schlafen, bevor er seine Wache um zwölf Uhr übernahm – ich habe übrigens vergessen mitzuteilen, daß Mellaire nicht achtern schläft. Er teilt eine Kabine im Mittschiffshaus mit Nancy, dem Bootsmann Pikes.

Keiner an Bord bezeigte Mitgefühl für den unglücklichen Griechen. Er wurde wie ein Aas auf das Großluk geworfen. Dort konnte er liegenbleiben, bis er es für gut befand, wieder zum Bewußtsein zu kommen. Ach ja . . . ich gestehe es offen und ehrlich – so abgehärtet bin ich jetzt auch, daß ich weder Mitleid noch Sympathie für ihn empfand. Meine Augen waren zudem immer noch von der Schönheit der Elsinore erfüllt. Man wird hart auf See.

 

Schon viele Tage sind wir im Nordostpassat, und eine Meile nach der anderen rollt sich mechanisch hinter uns ab. Gestern waren wir, laut Log und Observation, zweihundertzweiundfünfzig Meilen gelaufen, vorgestern zweihundertvierzig und am Tage vorher zweihundertsechzig. Aber man merkt gar nicht, wie stark der Wind eigentlich ist. Es ist herrlich, ihm seine Lungen und seine Poren zu öffnen. Nachts, wenn die ganze Kajüte schläft, liebe ich es, das Buch wegzulegen und in den dünnsten meiner Tropenpyjamas auf die Kampanje zu gehen.

Ich habe nie geahnt, was der Passat ist. Und jetzt hat er mich verzaubert. Ich spaziere zu dieser nächtlichen Zeit eine ganze Stunde auf und ab mit dem Steuermann, der gerade die Wache hat. Mellaire ist immer vollkommen angezogen, aber Pike trägt in diesen wunderbaren Nächten nur seinen Pyjama, wenn er die Wache nach Mitternacht übernimmt. Er ist einfach unheimlich muskulös. Eine wundervolle Männergestalt! Wie muß er in den strahlenden Tagen seiner Jugend vor mehr als einem Menschenalter ausgesehen haben!

Die Tage, die nur von einfacher Gewohnheitsarbeit erfüllt sind, gleiten wie im Traum dahin. Hier, wo die Zeit peinlich genau eingeteilt ist und jede Stunde und jede halbe Stunde einem unweigerlich durch die Schiffsglocken vorn und achtern zum Bewußtsein gebracht wird, hört trotzdem jeder Zeitbegriff auf. Die Tage gleiten ineinander über, die Wochen lösen sich unmerklich ab, und ich meinerseits erinnere mich nicht, welchen Tag der Woche oder des Monats wir haben.

Wie ich in diesem wunderbaren Wetter lese! Ich habe so wenig körperliche Bewegung, daß mein Bedarf an Schlaf nur sehr gering ist. Und es gibt hier so wenig von den Unterbrechungen im Lesen, von denen es so viele an Land gibt, daß ich mich fast stumpfsinnig lese. Ich hole in dieser Beziehung das Versäumte vieler Jahre nach. Es ist eine wahre geistige Schlemmerei, und ich bin überzeugt, daß unsere hohlköpfigen Matrosen mich für den Allerverrücktesten an Bord halten.

Bisweilen werde ich von dem vielen Lesen so wirr im Kopf, daß ich für jede Zerstreuung geradezu dankbar bin. Wenn wir in den stillen Gürtel zwischen Nordost- und Südostpassat kommen, werde ich mir von Wada meinen kleinen zweiundzwanzigkalibrigen Rekülstutzen an Deck bringen lassen und versuchen, schießen zu lernen. Als kleiner Junge pflegte ich gern zu schießen. Ich erinnere mich, daß ich, wenn ich ins Gebirge ging, immer eine Schrotflinte mit mir schleppte.

Während die Kampanje reichlich Raum zum Spazierengehen bietet, kann man die Deckstühle nur unter den Sonnensegeln aufstellen, die zu beiden Seiten des Navigationshauses ausgespannt sind. Dieser Raum wird aber wiederum dadurch begrenzt, daß man je nach der Stellung der Sonne, der Frische des Windes, immer nur die eine oder die andere Seite benutzen kann. Deshalb kommt es von selbst, daß Fräulein Wests Stuhl fast immer neben dem meinen steht. Kapitän West hat natürlich auch einen Deckstuhl, er benutzt ihn aber nur sehr selten. Das Manövrieren des Schiffes und die täglichen Beobachtungen machen ihm so wenig Arbeit, daß er selten mehr als eine Stunde im Navigationshaus verweilt. Er sitzt lieber in der großen Kajüte, ohne etwas anderes zu tun, als mit offenen Augen zu träumen, während der frische Wind durch die offenen Lichtpforten hereinweht.

Fräulein West sehe ich jetzt sehr viel. Ich lese ihr oft vor – natürlich namentlich aus Büchern, die mir Gelegenheit geben, sie etwas auszuforschen. Dieses Vorlesen führt außerdem zu längeren Diskussionen, und ich muß betonen, daß sie bisher nichts geäußert hat, was meine ursprüngliche Auffassung von ihr irgendwie geändert hätte.

Sie ist eine reife Frau, mit der ganzen äußeren Sicherheit einer solchen, hat aber die Frische des jungen Mädchens. Sie ist großzügig, zuverlässig, verständig, ja, und auch empfindungsfähig. Aber ihre überströmende Lebenskraft widerspricht der Reife ihres Wesens. Bisweilen kommt es mir vor, als müßte sie schon in den Dreißigern sein. Dann aber wieder, wenn ihre Lebensgeister und ihre Lachlust angeregt sind, scheint sie kaum dreizehn.

Und . . . ja, das darf ich nicht vergessen: ich weiß jetzt, daß nicht das Interesse für einen fremden Mann – mit anderen Worten für mich – sie bewogen hat, die Reise mitzumachen. Sie hat es nur ihres Vaters wegen getan. Irgend etwas stimmt nicht bei ihm. Hin und wieder habe ich bemerkt, daß sie ihn mit Blicken betrachtet, die eine unbeschreibliche Sorge, eine rührende Liebe offenbaren. Gestern erzählte ich bei Tisch eine lustige Geschichte, als mein Blick zufällig auf Fräulein West fiel. Sie hatte gar nicht zugehört. Die Hand, mit der sie ihre Gabel zum Munde führte, blieb einen Augenblick unbeweglich in der Luft, während sie ihren Vater mit Augen anstarrte, die nichts sahen als ihn. Es war ein Blick voll tiefer Angst. Als sie merkte, daß ich sie beobachtete, ließ sie mit wundervoller Selbstbeherrschung die Hand ganz langsam und natürlich sinken, aber ihr Blick wich nicht vom Gesicht ihres Vaters.

Aber ich hatte es doch gesehen, ja, ich sah noch mehr: Ich sah, wie Kapitän Wests Gesicht durchsichtig bleich wurde, wie seine Augenlider sich langsam schlossen und seine Lippen flüsterten, ohne einen Laut von sich zu geben. Dann öffneten sich die Augen wieder, seine Lippen gewannen die gewohnte Selbstbeherrschung wieder, und langsam kehrte die Farbe in seine Wangen zurück.

Und doch war das derselbe Kapitän West, der sieben Stunden später die hochmütige Seemannsseele des Steuermanns züchtigte. Es war am selben Abend; es war sehr dunkel, und die Mannschaft stand auf dem großen Deck und halte aus. Ich kam eben aus dem Navigationshaus und sah Kapitän West mit den Händen in den Taschen an mir vorbeigehen. Er ging bis zur Kampanje. Plötzlich hörte man vom Besanmast den scharfen Ton von reißendem Tauwerk und das Krachen von zerbrechendem Holz. Im selben Augenblick fielen die Matrosen rücklings auf das Deck und kollerten dort herum.

Es folgte ein kurzes Schweigen. Dann hörte ich die Stimme Kapitän Wests: »Was war denn das, Steuermann?«

»Das Fall, Käpt'n«, kam eine Antwort aus dem Dunkel.

Abermals herrschte einen Augenblick allgemeines Schweigen. Dann hörte ich wieder die Stimme Kapitän Wests: »Ein andermal fieren Sie zuerst Ihre Schot!«

Nun ist Pike zweifellos ein glänzender Seemann, aber in diesem »Fall« hatte er tatsächlich einen Fehler gemacht. Ich kann mir vorstellen, welchen Schlag diese Rüge für seinen Stolz bedeutete, um so mehr, als er durchaus keinen guten Charakter hat, sondern rachsüchtig und primitiv ist, und wenn er auch mit dem gebotenen Respekt: »Jawohl, Käpt'n«, antwortete, so war ich doch überzeugt, daß die armen Teufel, die ihm unterstellt sind, im Laufe der Nacht seinen Zorn zu fühlen bekamen.

Es kam auch, wie ich erwartet hatte – denn heute morgen bemerkte ich, daß John Hackey, ein Friscoer Strolch, ein blaues Auge hatte, und daß Guido Bombini mit einem geschwollenen Kinn herumlief, das nicht von schlechten Eltern war. Ich fragte Wada, und er lieferte mir prompt die neuesten Nachrichten. Es hatte eine gehörige Tracht Hiebe auf der Back gesetzt, während wir achtern in unseren Betten schlummerten. Auch heute noch geht Pike mürrisch und verärgert herum. Er schnauzt die Männer noch mehr an als sonst und ist nur eben höflich gegen Fräulein West und mich. Er grunzt seine einsilbigen Antworten in den Bart, während sein Gesicht den Superlativ von Ärger ausdrückt. Fräulein West, die von der Geschichte gestern nichts weiß, lacht und sagt, er sei »seesauer«, eine Erscheinung, die sie öfters erlebt zu haben behauptet, und die sie so getauft hat.

Aber ich kenne Pike, diesen prächtigen, eigensinnigen alten Seebären jetzt gründlich. Es wird genau drei Tage dauern, ehe er wieder der alte ist. Er ist nämlich sehr stolz auf seine seemännische Tüchtigkeit, und am meisten an der ganzen Geschichte kränkt ihn das Bewußtsein, einen Bock geschossen zu haben.

 

Heute, genau achtundzwanzig Tage nach unserer Abfahrt, passierten wir in früher Morgenstunde die Linie. Ich trank gerade meinen Kaffee, als es geschah. Und Charles Davis feierte die Begebenheit, indem er O'Sullivan ermordete. Bonny, ein langaufgeschossener dünner Bengel von Mellaires Wache, brachte uns die Nachricht. Der Untersteuermann und ich hatten eben den Lazarettraum betreten, als Pike selbst kam.

O'Sullivans Sorgen sind jetzt überstanden. Der andere in der Oberkoje hat sein trauriges Irrendasein mit dem Marlpfriem zu einem würdigen Abschluß gebracht.

Ich begreife diesen Charles Davis nicht! Er saß seelenruhig in seiner Koje und rauchte ebenso ruhig seine Pfeife, während er Mellaire seine Antworten gab. Und dabei ist er durchaus nicht verrückt. Mit voller Überlegung und kalten Blutes hat er den Wehrlosen ermordet.

»Warum hast du es getan?« fragte Herr Mellaire.

»Weil . . . weil, Steuermann«, sagte Davis und paffte weiter. »Weil . . .« paff, paff . . . »weil er meinen Schlaf störte. Weil . . .« paff, paff . . . »weil er mich langweilte. Nächstes Mal« . . . paff, paff . . . »werden gewisse Herren, hoffe ich, vorsichtiger sein, wenn sie jemand zu mich hereinstecken. Es tut mir weh, wenn ich hier herauf klettern muß . . .« paff, paff . . . »und jetzt kriege ich wieder die Unterkoje.«

»Aber warum hast du es getan?« fauchte Pike.

»Ich sage es Ihnen ja, Steuermann, weil er mich langweilte. Ich hatte genug davon, und da befreite ich ihn heut morgen von seinem Elend. Der Mann ist verreckt. Da ist nichts zu machen. Es war Notwehr. Ich kenne das Gesetz. Mit welchem Recht haben Sie einen Verrückten zu mir gelegt?«

»Bei Gott, Davis«, rief der Steuermann, »du wirst nie deinen Abmusterungstag in Seattle erleben. Du wirst schon deinen Lohn kriegen. Einen harmlosen Verrückten zu morden! Du wirst ihm über Bord folgen, Freundchen.«

»Wenn das geschieht, werden Sie aufgehängt, Steuermann«, antwortete Davis. Er richtete seine kalten Augen auf mich und rief: »Und Sie, Herr, ruf ich zum Zeugen an! Sie hören, daß er mich bedroht! Und Sie werden vor Gericht beeiden, daß der Steuermann mein Leben bedroht hat. Er soll aufgeknüpft werden, und das von Rechts wegen.«

»Halt deine dreckige Fresse, oder ich schlage sie dir zu Brei, du verfluchter Bengel!« brüllte Pike und sprang mit geballter Faust auf ihn los.

Davis wich unwillkürlich zurück. Sein Fleisch war schwach, aber seine Seele nicht. Bald hatte er sich wieder in der Gewalt und zündete sich ruhig ein Streichholz an.

»Mir machen Sie keine Angst, Steuermann«, knurrte er. »Ich habe keine Angst zu verrecken. Früher oder später muß der Mensch ja doch dran glauben. Und im übrigen werde ich jetzt nicht sterben, ich werde diese Reise zu Ende machen und die Reeder vor Gericht laden.«

Tatsächlich kämpften in mir zwei Empfindungen miteinander – eine gewisse Bewunderung für diesen Matrosen, der krank und doch so mutig war, und die Sympathie für Pike, der sich so beleidigen lassen mußte, ohne es über sich zu bringen, den Kranken zu schlagen.

Dennoch sprang er in kalter Wut auf den Mann los, packte ihn mit seinen knochigen Händen am Hals und schüttelte ihn eine ganze Minute lang. Es war ein Wunder, daß er dem Mann nicht einfach das Genick brach.

»Ich lade Sie als Zeugen vor«, wandte Davis sich keuchend an mich, sobald der Steuermann ihn wieder losgelassen hatte.

Er röchelte und räusperte sich, befühlte seine Kehle und drehte den Kopf, um zu zeigen, wie schlimm er behandelt worden war.

»Die Spuren von den Fingern werden schon in ein paar Minuten zu sehen sein«, murmelte er mit hörbarer Zufriedenheit, sobald er wieder zu Atem kam.

Das war zuviel für Pike. Er machte kehrt und verließ fluchend den Raum. Als ich mich einige Minuten später ebenfalls entfernte, stopfte Davis sich wieder seine Pfeife. Dabei erzählte er Mellaire, daß er auch ihn als Zeugen vorladen wolle.

Auf diese Weise bekamen wir unser zweites Begräbnis an Bord. Pike ärgerte sich, weil die Elsinore so schnell lief, daß man keine ordentliche Zeremonie vornehmen konnte. Unter diesen Umständen verlor man nur wenige Minuten, indem man das große Marssegel der Elsinore backbraßte, um ihr die Fahrt zu nehmen, während O'Sullivan mit dem unvermeidlichen Sack Kohlen an den Füßen über Bord geschoben wurde.

»Ach, das ist ja alles nur Kinderspiel«, meinte Mellaire gemütlich, als wir während der ersten Wache die Kampanje auf und abgingen. »Ich machte mal eine Fahrt mit einem Lastdampfer, der vierhundert Chinesen an Bord hatte, Kulis, die nach Beendigung ihrer Vertragszeit heimkehrten. Da brach die Cholera aus. Wir warfen dreihundert von ihnen über Bord, Herr, dazu die beiden Bootsmänner, den größten Teil der Laskaren, die unsere Mannschaft bildeten, den Steuermann, den dritten Steuermann, den ersten und dritten Meister und schließlich den Kapitän selbst. Der zweite Meister und der weiße Heizer waren die einzigen, die unten übrigblieben, und ich selbst führte das Kommando an Deck, bis wir den Hafen erreichten. Die Ärzte wollten gar nicht an Bord kommen – sie ließen uns auf der Außenreede ankern und befahlen mir, unsere Toten über Bord zu werfen. Ich mußte selbst die Leichen einwickeln und mit der Donkeymaschine an Deck heißen, und nach jeder Leiche, die ich über Bord warf, nahm ich einen Schnaps. Als ich mit der Arbeit fertig war, hatte ich einen tüchtigen sitzen.«

»Und Sie selbst bekamen keine Cholera?« fragte ich.

Mellaire zeigte mir seine linke Hand – ich hatte schon bemerkt, daß der Zeigefinger fehlte.

»Das ist alles, was mir passierte. Der Alte hatte einen Foxterrier wie Sie. Und als der Alte über Bord gegangen war, wurden der Hund und ich die besten Freunde. Als ich aber eben die letzte Leiche an Deck heißte, was tat das kleine Biest da? Sprang an meinen Beinen hoch und schnüffelte an meiner Hand. Ich drehte mich um und wollte ihn streicheln, aber im selben Augenblick war meine andere Hand zwischen die Räder gekommen, und der Finger war weg.«

»Herrgott!« rief ich. »Welch ein Pech, den Finger zu verlieren, wenn man durch eine so gräßliche Geschichte glücklich hindurchgekommen ist.«

»Ja, das dachte ich auch«, pflichtete Mellaire mir bei.

»Aber was taten Sie dann?« fragte ich.

»Na, ich guckte mir den Finger an, sagte ›Lieber Gott!‹ oder so was und nahm noch einen Schnaps. Ich glaube, ich war so voll von Alkohol, daß die Bakterien tot umfielen, sobald sie nur den Geruch spürten.« Er überlegte einen Augenblick. Dann fügte er hinzu: »Offen gestanden, Herr Pathurst, ich weiß nicht, ob diese Alkoholtheorie ganz richtig ist, denn der Alte und die beiden Bootsmänner waren auch besoffen, als sie starben, und der dritte Meister auch.«

Ich werde mich nie mehr wundern, daß das Leben auf See hart macht!

 

Es ist etwas geschehen. Aber keiner weiß, was, weder vorn noch achtern – natürlich mit Ausnahme der Beteiligten, die aus verständlichen Gründen den Mund halten. Aber das Schiff ist mit Gerüchten und Vermutungen geladen.

Aber eines ist sicher: Pike hat einen furchtbaren Schlag auf den Kopf bekommen. Gestern kam ich wieder verspätet zum Lunch, und als ich hinter seinem Stuhl vorbeiging, sah ich eine furchtbare Beule an seinem Kopf. Als ich mich ihm gegenüber gesetzt hatte, bemerkte ich, daß seine Augen ganz betäubt aussahen, ja, ich konnte sogar Schmerz darin lesen. Er beteiligte sich nicht an der Unterhaltung, aß nachlässig und benahm sich, als ob er nicht ganz bei sich wäre. Es war ganz deutlich, daß er sich mit eiserner Kraft zusammennahm.

Und keiner hat den Mut, ihn zu fragen. Ich weiß jedenfalls, daß ich nicht den Mut dazu aufbringen konnte. Dieser furchtbare Überrest aus vergangenen Tagen des Seemannslebens hat mir einen Respekt eingeflößt, der zur Hälfte aus Furcht, zur anderen Hälfte aus wirklicher Hochachtung gemischt ist. Er benimmt sich, als litte er an den Folgen einer Gehirnerschütterung. Daß er Schmerzen hat, ist unzweifelhaft, sein ganzes Benehmen, wenn er sich unbeobachtet glaubt, beweist es. Als ich heute nacht die Kajüte verließ, um einen Augenblick frische Luft zu schnappen und mir die Sterne anzusehen, stellte ich mich auf das große Deck unterhalb der Kampanje. Unmittelbar über meinem Kopfe hörte ich ein leises Stöhnen, das nicht aufhören wollte. Lautlos schlich ich mich näher. Jetzt sah ich, daß es Pike war, der gestöhnt hatte – er lehnte sich ganz zusammengebrochen an den Kampanjebogen und stützte den Kopf in die Hände. Ungesehen von andern, machte er in der einsamen Nacht seinem Schmerz Luft.

Aber er führte seine Wache durch und kam seinen Pflichten als Offizier nach, als ob nichts geschehen wäre. Ich vergaß übrigens eines: Fräulein West wagte es, ihn zu fragen, und er antwortete ihr, daß er Zahnschmerzen hätte.

Wada kann nicht herausbekommen, was geschehen ist. Er erzählt, der asiatische Kreis, der in der Kabine des Kochs die Sache eifrig diskutiert hat, sei der Ansicht, daß es die drei Banditen sind, die »das Ding gedreht« haben. Bert Rhine läuft nämlich mit einer gelähmten Schulter herum, Nasen-Murphy humpelt, und Bub Twist liegt krank in der Koje. Diese Tatsachen sind das einzige, woraus man sich etwas zusammenreimen kann. Die Banditen sind ebenso verschwiegen wie Pike. Der asiatische Kreis ist aber zu dem Schluß gekommen, daß ein Mordversuch gemacht wurde, der nur daran scheiterte, daß der Schädel des Steuermanns zu hart war.

Gestern abend bekam ich einen neuen Beweis, daß Kapitän West in Wirklichkeit den Ereignissen auf der Elsinore gegenüber nicht ganz so gleichgültig ist, wie er tut. Ich war über die Laufbrücke bis zum Besanmast gegangen und stand in dessen Schatten, so daß man mich nicht gleich sehen konnte. Von dem engen Durchgang zwischen Mittschiffshaus und Finkennetzreling am Großdeck unten hörte ich die Stimmen Bert Rhines, Murphys und Mellaires. Sie unterhielten sich freundschaftlich, ja sogar vertraulich, denn ihre Stimmen hatten einen gemütlichen Klang, hin und wieder lachte einer, bisweilen alle drei. Ich dachte an den Bericht Wadas über den Verkehr des Untersteuermanns mit den Banditen und versuchte zu lauschen. Aber die Banditen sprachen sehr leise, und ich konnte nur feststellen, daß die Unterhaltung äußerst freundschaftlich und vertraut vor sich ging.

Plötzlich hörte ich Kapitän Wests Stimme von der Kampanje her. Es war nicht die Stimme Samurais. Doch ich weiß, daß es mich durchschauerte, als ich sie hörte – sie war so wundervoll und doch so beherrscht und kalt wie das Klirren von Stahl in einer eisigen Nacht. Und ich merkte, daß die Stimme auf die Männer unten wie ein elektrischer Schlag wirkte. Ich konnte fühlen, wie sie erstarrten und erschauerten, als sie die Stimme hörten. Und doch sprach sie nur: »Untersteuermann!«

»Jawohl, Käpt'n«, antwortete Mellaire nach einem kurzen Schweigen, das voll unheimlicher Spannung war.

»Kommen Sie achteraus«, erklang die Stimme Kapitän Wests.

Ich hörte, wie der Untersteuermann an Deck lief und einen Augenblick am Fuß der Kampanjetreppe stehenblieb.

»Ihr Platz ist hinter dem Mast, Steuermann«, sagte die kalte, leidenschaftslose Stimme.

»Jawohl, Käpt'n«, antwortete der Untersteuermann.

Das war alles. Kein Wort wurde weiter gesprochen. Kapitän West begann wieder, an der Luvseite der Kampanje auf und abzugehen, und Mellaire stieg die Treppe hinauf und begann seine Wache auf der Leeseite.

Ich selbst ging weiter über die Laufbrücke bis zum Vorderkastell und blieb eine halbe Stunde dort stehen, ehe ich über das Großdeck in die Kajüte zurückkehrte. Ohne mir über meine Gründe klar zu sein, hatte ich doch das Gefühl, daß niemand erfahren dürfe, daß ich die Begebenheit miterlebt hatte.

 

Der Nordostpassat hat uns jetzt fast bis zum Südwestpassat gebracht, ließ uns aber vorher mehrere Tage in der stillen Zone schlingern und halb ersticken. Während dieser Zeit machte ich indessen die Entdeckung, daß ich Talent zum Stutzenschießen habe. Pike schwor, daß ich viel Übung haben müßte, und ich war selbst ganz verblüfft, weil es mir so leicht fiel. Nachdem ich eine halbe Stunde von dem schwankenden Deck aus auf Flaschen geschossen hatte, die auf den Wogen schaukelten, war ich schon so weit, daß ich jede Flasche auf den ersten Schuß zertrümmerte.

Ich würde meine eigene Fähigkeit auf diesem Gebiet nicht als etwas Außergewöhnliches betrachtet haben, hätte ich nicht Fräulein West und Wada bewogen, auch ihr Heil zu versuchen. Keiner von ihnen hatte so viel Erfolg wie ich. Zuletzt überredete ich auch Pike, aber er ging hinter das Steuerhaus, damit keiner von der Mannschaft sehen konnte, wie schlecht er schoß. Er traf überhaupt nicht.

»Ich habe den Dreh beim Stutzenschießen nie herauskriegen können«, sagte er ärgerlich. »Aber im Nahkampf mit dem Revolver stehe ich meinen Mann. Ich glaube, es ist am besten, ich hole mir meinen herauf und schieße ihn ein bißchen ein.«

Er ging nach unten und kehrte mit einer großen vierundvierzigkalibrigen automatischen Pistole und einer Handvoll scharfer Patronen wieder.

»Es ist einfach verblüffend, Herr Pathurst, was man mit so einer Waffe machen kann, wenn man nur von rechts auf den Körper zielt, auf den Bauch zum Beispiel, auf drei bis vier Meter. Im Nahkampf können Sie die Flinte ja gar nicht verwenden. Ich lag einmal auf dem Boden, und eine ganze Bande war über mir und trampelte auf mir herum, als ich begann, mit dem Ding hier zu knallen. Das tat ihnen gut, kann ich Ihnen sagen! Einer von der Bande wollte mir gerade seine Riesenplattfüße ins Gesicht pflanzen, als ich losschoß. Die Kugel ging über seinem Knie hinein und riß ihm schließlich noch ein Ohr ab.«

»Fürchten Sie aber nicht, Ihre ganze Munition zu verbrauchen?« fragte er mich eine halbe Stunde später, als ich noch immer drauflosknallte.

Er war sehr beruhigt, als ich ihm mitteilte, daß ich nicht weniger als fünfzigtausend Patronen an Bord hatte.

Während wir noch schossen, kamen zwei Haie angeschwommen. Sie waren sehr groß, Pike schätzte sie auf mindestens viereinhalb Meter. Es war Sonntagmorgen, so daß die Mannschaft mit Ausnahme derer, die notwendige Schiffsarbeit erledigen mußten, freie Zeit hatten, und es dauerte deshalb nicht lange, so hatte der Zimmermann den einen Hai mittels eines Seils gefangen, an dessen Ende er einen mächtigen eisernen Haken mit einem Stück gesalzenen Specks von der Größe eines Kopfes befestigt hatte. Bald hatte er auch das andere Ungeheuer auf dem Haken. Sie wurden beide an Bord geholt. Und dann sah ich ein Schauspiel, das mir wieder die ganze Grausamkeit, die auf See herrscht, enthüllte.

Die Mannschaft versammelte sich um die beiden Tiere, mit Scheidemessern, Äxten, Keulen und großen Schlachtmessern bewaffnet, die sie sich in der Kombüse geliehen hatten. Ich will hier keine Einzelheiten schildern, sondern nur berichten, daß sie sich wie vollkommen verrückt vor lüsterner und grausamer Aufregung gebärdeten und vor Entzücken grölten und brüllten. Schließlich wurde der erste der beiden Haie in die See zurückgeworfen, nachdem man ihm ein spitzes Holzstück zwischen Ober- und Unterkiefer gesteckt hatte, so daß er den Rachen nicht mehr schließen konnte. Ein unvermeidlicher, langsamer Hungertod mußte die Folge sein.

»Ich will euch mal was zeigen, Kinder«, brüllte Andy Fay, als sie sich anschickten, den zweiten Hai ebenso zu mißhandeln.

Ich glaube, das, was ich jetzt sah, machte mich mehr als alles andere hart und herzlos gegen diese rohen Bestien. Zum Schluß wälzte sich der unglückliche Hai ohne Eingeweide auf dem Deck. Die Matrosen hatten sie alle herausgeschnitten. Es war nichts übrig, als die Fleischkruste des unglücklichen Tieres, das noch immer nicht verenden konnte.

Plötzlich steckte mir Mulligan Jacobs, dessen Arme blutbeschmiert wie die eines Fleischers waren, ein Stück Fleisch in die Hand. Ich trat erschrocken zurück und ließ es an Deck fallen, während die zwei Dutzend Matrosen in ein wildes Gejohle ausbrachen. Diese rohen Bestien hatten nur wenig Achtung vor mir.

Ich betrachtete den Fleischklumpen, den ich fortgeworfen hatte – es war das Herz des Hais. Und als ich es mir näher ansah, bemerkte ich, daß es hier auf dem brennend heißen Deck immer noch lebte und schlug. Da nahm ich mich zusammen und wagte es! Ich wollte nicht, daß diese Bestien das Vergnügen haben sollten, mich auszulachen. Ich blieb stehen und hob das Herz auf, während ich mühsam meine Übelkeit beherrschte, hielt es in meiner Hand und fühlte es auch dort schlagen. Da ließ Mulligan Jacobs mich stehen, um sich interessantere Unterhaltung zu verschaffen, indem er den Hai, der immer noch nicht sterben wollte, weiterquälte.

Aber jetzt wurde es mir doch unerträglich, und ich zog mich zurück, trug aber dabei immer noch das klopfende Herz in meiner Hand.

Als ich auf die Kampanje trat, sah ich Fräulein West mit ihrem Nähkorb aus der Tür des Navigationshauses kommen. Ich schlich mich auf die Steuerbordseite des Navigationshauses, um heimlich das furchtbare Ding, das ich in der Hand trug, über Bord zu schleudern. Es war in der tropischen Hitze an der Oberfläche ganz eingetrocknet, und doch schlug es immer noch. Als ich es fortwerfen wollte, blieb es mir an der Hand kleben. Statt über Bord zu fliegen, fiel es auf die Finkennetzreling und blieb dann im Schatten liegen. Als ich hineinging, um mir die Hände zu waschen, warf ich noch einen letzten Blick darauf und sah, daß es immer noch schlug.

Und als ich zurückkam, schlug es noch. Da hörte ich etwas plätschern, das von der Kuhl des Schiffes über Bord geworfen wurde, und ich wußte, daß es der Kadaver des Hais war. Ich blieb stehen, gebannt durch das Schauspiel, das das immer noch klopfende Herz mir bot.

Laute Rufe erregten meine Neugier. Alle waren auf die Reling geklettert und spähten in die See. Ich folgte ihren Blicken und sah etwas Seltsames. Der Hai, dem sie die Eingeweide herausgenommen hatten, war nicht verendet – er bewegte sich, er schwamm, er schlug mit dem Schwanz und versuchte zu tauchen. Bisweilen gelang es ihm, fünfzig oder hundert Fuß weit zu tauchen, dann wurde er wieder, trotz seinem vergeblichen Bemühen, an die Oberfläche getrieben. Jeder seiner zwecklosen Versuche wurde von einem wilden Gejohle der Matrosen begrüßt. Warum lachten sie? Es war ein erhabenes Schauspiel, dieser verzweifelte Kampf des Hais, dem man Herz und Eingeweide herausgenommen hatte; es war schrecklich anzusehen, aber zum Lachen war es nicht! Denn was sollte lächerlich sein an einem Tier, das, bis zum äußersten gequält, hilflos an der Oberfläche des Meeres kämpft und in verzweifelter Ohnmacht sein leeres Inneres der glühenden Sonne darbietet?

Ich wollte mich abwenden, als erneutes Gejohle meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein halbes Dutzend anderer Haie waren auf der Bildfläche erschienen, kleinere Tiere, etwa drei Meter lang. Sie griffen ihren hilflosen Genossen an. Sie rissen ihn in Stücke, zerfleischten ihn, verschlangen ihn. Ich sah den letzten Bissen in ihren Rachen verschwinden. Jetzt war er fort, hatte sein Grab in den lebenden Körpern von Wesen seiner eigenen Art gefunden, wo der Verdauungsprozeß schon begonnen hatte. Und doch lag hier an Deck, im Schatten der Finkennetzreling, immer noch dieses furchtbare Herz und schlug und schlug.

 


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