Jack London
Meuterei auf der Elsinore
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Meuterei auf der Elsinore

Von Anfang an hatte ich Pech auf dieser Reise. An einem eisigen Märzmorgen war ich früh aus dem Bett geholt worden, hatte ganz Baltimore durchquert und das Molenhöft genau zur festgesetzten Stunde erreicht. Punkt neun Uhr hätte der Schlepper mich dort abholen sollen, um mich über die Bucht an die Elsinore zu bringen . . . und jetzt saß ich im Auto und wartete, zitternd vor Kälte und wachsendem Ärger. Auf dem Führersitz hockten der Chauffeur und Wada, eng aneinandergepreßt, in einer Temperatur, die vielleicht um einen halben Grad kälter als die im Wagen war. Und vom Schlepper keine Spur!

Possum, der junge Foxterrier, den Galbraith mir so unüberlegt aufgedrängt hatte, lag unter Mantel und Pelzdecke auf meinem Schoß. Trotzdem winselte und zitterte er vor Kälte.

Seine Unruhe und seine unaufhörlichen Klagen wirkten alles eher als beruhigend auf meine angegriffenen Nerven. Erstens interessierte das Tier mich nicht im geringsten – es bedeutete mir nichts – ich kannte es ja auch noch gar nicht. Während dieser trostlosen Wartezeit war ich ein Mal über das andere drauf und dran, das Tier dem Chauffeur zu schenken.

Am Abend zuvor war das Tier als Eilpaket aus New York in mein Hotel gebracht worden – als eine Abschiedsüberraschung meines Freundes Galbraith. Das war so ganz seine Art. Er hätte sich ebenso anständig wie andere Leute benehmen und mir Obst schicken können . . . oder meinetwegen auch Blumen. Aber nein – sein freundlicher Gedanke mußte die Gestalt eines kläffenden und winselnden, zwei Monate alten Hundes annehmen. Mit der Ankunft des Terriers hatte das Pech denn auch begonnen. Der Zimmerkellner betrachtete mich als einen Verbrecher, noch ehe ich Zeit gehabt hatte, ein Verbrechen auszuknobeln. Ganz auf eigene Faust und aus eigener Dummheit hatte Wada dann den Versuch gemacht, den Hund in sein Zimmer zu schmuggeln, und war dabei vom Hausdetektiv erwischt worden. Sofort vergaß Wada sein ganzes Englisch und hatte einen Rückfall in ein hysterisches Japanisch, und der Hausdetektiv erinnerte sich seinerseits nur an sein Irisch – während der Zimmerkellner mir in nicht mißzuverstehender Weise klarmachte, daß dies alles nicht mehr und nicht weniger sei, als er von mir erwartet hatte.

Hol der Teufel den Köter! Und Galbraith meinetwegen dazu! Und wie ich nun im Auto, in der beißenden Kälte auf dem öden Molenhöft, dasaß, verfluchte ich sogar mich selbst und den verrückten Einfall, Kap Horn mit einem Segelschiff umfahren zu wollen.

Um zehn Uhr kam zu Fuß ein junger Mann von unbestimmbarem Äußern. Er trug einen Koffer, den der Kaimeister mir einige Minuten später überreichte. Der Koffer gehöre dem Lotsen, sagte er und gab gleichzeitig dem Chauffeur Bescheid, wie er eine andere Mole finden könnte, von wo mich ein anderer Schlepper zur Elsinore bringen sollte. Diese Programmänderung diente natürlich nicht dazu, meinen Ärger zu beschwichtigen.

Als ich eine Stunde darauf in meinem Wagen auf dem neuen Molenhöft saß, kam der Lotse. Unmöglich, sich ein Wesen vorzustellen, das einem Lotsen weniger ähnlich sähe. Ein feiner Herr mit sanfter, gebildeter Stimme, in jeder Beziehung der Typ des erfolgreichen Geschäftsmannes, stellte sich vor, und ich lud ihn ein, meine eiskalte Droschke mit Possum und dem Gepäck zu teilen. Alles, was er wußte, war, daß Kapitän West seine Anordnungen aus irgendeinem Grunde geändert hatte, im übrigen aber war er der Ansicht, daß der Schlepper jeden Augenblick kommen müsse.

Das tat er denn auch, um ein Uhr nachmittags – nach vier Stunden tödlichen Wartens und Frierens. Unterdessen war es mir vollkommen klargeworden, daß dieser Kapitän West mir nie gefallen würde. Ich kannte ihn zwar noch gar nicht persönlich, aber sein Benehmen gegen mich war von Anfang an, milde gesagt, reichlich anmaßend. Als die Elsinore, die soeben mit einer Ladung Gerste aus Kalifornien gekommen war, im Erie-Dock lag, war ich von New York herübergefahren, um das Schiff zu besichtigen, das für mehrere Monate mein Heim sein sollte. Ich hatte das Schiff selbst und die ganze Einrichtung der Kajüten entzückend gefunden. Selbst die für mich bestimmte Kabine war sehr befriedigend und weit größer, als ich erwartet hatte. Als ich aber in die Kabine des Kapitäns hineinguckte, war ich verblüfft über ihre komfortable Einrichtung. Wenn ich erzähle, daß an den Schlafraum ein Badezimmer anstieß, und daß es unter vielen andern schönen Dingen auch ein mächtiges Messingbett gab, etwas das man nie auf einem Segelschiff zu finden erwartet hätte – ja, dann glaube ich, genug gesagt zu haben.

Selbstverständlich war sofort für mich ausgemacht, daß ich Baderaum und Messingbett haben mußte. Als ich aber die Vertreter ersuchte, diese Angelegenheit zu regeln, waren sie recht zurückhaltend, als ob es ihnen ein wenig peinlich sei . . . »Ich muß die Kabine haben«, sagte ich, »ob es hundert oder hundertfünfzig Dollar kostet . . .«

Harrison und Gray, die Vertreter, besprachen die Sache miteinander, glaubten aber, daß es kaum möglich sein würde, Kapitän West zu einem solchen Arrangement zu bewegen. »Das wäre das erstemal, daß ein Kapitän einen solchen Vorschlag ablehnte«, erklärte ich zuversichtlich, »selbst die Kapitäne der Europalinien verkaufen jederzeit ihre Kajüten . . .«

»Schon möglich, aber Kapitän West ist nicht Kapitän auf einem Europadampfer«, meinte Harrison höflich.

»Vergessen Sie nicht, daß ich viele Monate auf diesem Schiff zubringen muß«, antwortete ich. »Bieten Sie ihm tausend Dollar, wenn es sein muß.«

»Ich werde es versuchen«, sagte Mr. Gray, »aber verlassen Sie sich nicht zu sehr darauf. Kapitän West ist augenblicklich in Searsport, und wir werden ihm noch heute schreiben.«

Einige Tage darauf rief Mr. Gray mich an und teilte mir zu meinem Erstaunen mit, daß Kapitän West mein Angebot glatt abgelehnt hätte. Am nächsten Tage erhielt ich einen Brief von Kapitän West. Er bedauerte, mich noch nicht kennengelernt zu haben, und versicherte, persönlich Sorge dafür tragen zu wollen, daß meine Räume komfortabel eingerichtet würden. Er hätte bereits dem ersten Steuermann der Elsinore entsprechende Anweisungen erteilt und ihn beauftragt, die Wand zwischen meiner Kabine und dem danebenliegenden Reserveraum herauszunehmen. Ferner teilte er mir mit – und von dieser Bemerkung stammt meine Abneigung gegen Kapitän West –, wenn wir erst auf hoher See wären, würde er mit Vergnügen seine Kabine mit mir tauschen, falls ich nicht zufrieden sein sollte.

Nach einer solchen Abfuhr war es mir natürlich klar, daß nichts mich je bewegen konnte, von dem Messingbett des Herrn Kapitän Nathaniel West Besitz zu ergreifen. Es war überhaupt meine feste Überzeugung, daß es um so besser für mich sein würde, je weniger ich auf der Reise von ihm sähe. Und mit nicht geringer Freude dachte ich an all die Bücherkisten, die ich mir von New York an Bord hatte schicken lassen; ich war also, Gott sei Dank, auf hoher See nicht auf die Unterhaltung des Herrn Kapitäns angewiesen.

Ich übergab Wada den winselnden Possum, und während die Matrosen des Schleppers mein Gepäck an Bord schafften, führte mich der Lotse zu Kapitän West, um mich ihm vorzustellen. Gleich auf den ersten Blick stellte ich fest, daß er nicht mehr Seekapitän war als der Lotse Lotse. Ich hatte die Besten seines Berufs, die Kapitäne der Europadampfer, kennengelernt, und er glich ihnen nicht mehr als den befahrenen, barschen Schiffern, von denen ich in Büchern gelesen hatte. Neben ihm stand eine Frau, von deren Gesicht nur wenig zu sehen war. Mit ihrem roten Fuchskragen, in dem sie halb verschwand, wirkte sie wie ein warmer, strahlender Farbenfleck.

»Du großer Gott!« sagte ich flüsternd zum Lotsen, »seine Frau . . . reist die etwa mit?«

»Es ist seine Tochter«, flüsterte der Lotse. »Ich denke, sie ist gekommen, um ihn abfahren zu sehen. Seine Frau ist seit über einem Jahre tot. Man sagt, daß er deshalb wieder fahren will. Er hatte sich ja schon zur Ruhe gesetzt, wissen Sie.«

Kapitän West ging mir entgegen. Doch schon ehe unsere ausgestreckten Hände sich berührten, ehe sein ruhiges Gesicht sich zu einem lächelnden Gruß verzog und seine Lippen sich öffneten, um zu sprechen, erhielt ich den ersten überraschend starken Eindruck von seiner Persönlichkeit. Hochgewachsen, schlank, mit rassigem Gesicht, erschien er mir ebenso kühl, wie der Tag es war. Selbstsicher wie ein König oder Kaiser. Fern und fremd wie der fernste Stern. Und dann glomm in seinen Augen der Funke einer unnahbaren und wohlwollend-kühlen Freundlichkeit auf und verlieh den vielen feinen Runzeln um die Augenwinkel Leben. Das klare Blau seiner Augen nahm einen warmen Ton an, der sie tief und reich machte; die schmalen Lippen, die soeben noch fest verkniffen waren, schienen jetzt anmutig und mild.

So seltsam war der Eindruck, den Kapitän West bei dieser ersten Begegnung auf mich machte, daß ich mich über der Erwartung ertappte, Worte unsagbarer Weisheit und Güte seinen Lippen entströmen zu hören. Aber er sprach nur in den alltäglichsten Worten sein Bedauern über die Verzögerung aus, wenn auch mit einer Stimme, die neues Erstaunen in mir hervorrief. Sie war leise und sanft, fast zu gedämpft, aber klar wie eine Glocke.

»Und hier ist die junge Dame, die die Verspätung veranlaßt hat«, fügte er hinzu, indem er mich seiner Tochter vorstellte, »Margaret . . . Herr Pathurst.«

Ihre behandschuhte Rechte tauchte sofort aus dem Muff auf, um die meine zu schütteln, und gleichzeitig sah ich in ein Paar grauer Augen, die mich mit ernstem, ruhigem Blick betrachteten. Er verwirrte mich, dieser kühle, durchdringende, prüfende Blick. Nicht, daß er herausfordernd gewesen wäre, aber er schien mir beleidigend, geschäftsmäßig. Er erinnerte an den Blick, womit man einen neuen Chauffeur mißt, den man anstellen will. In diesem Augenblick wußte ich noch nicht, daß sie die Reise mitmachen sollte und daß daher ihre Neugierde einem Manne gegenüber, mit dem sie ein halbes Jahr zusammen verbringen sollte, ganz natürlich war. Doch als sie zu sprechen begann, lag ihr ein freundliches Lächeln um Mund und Augen.

Als wir uns anschickten, in die Kajüte des Schleppers zu treten, hörte ich das ängstliche Winseln Possums zu lautem Heulen werden und ging deshalb nach vorn, um Wada zu befehlen, das kleine Tier mit in die Wärme zu nehmen. Ich fand ihn mit meinem Gepäck beschäftigt – er legte gerade mein kleines automatisches Gewehr unter die Toilettentasche, damit es nicht umfalle. Ich war aber ganz erschrocken, als ich ein wahres Gebirge von Koffern entdeckte, mit dem verglichen mein eigenes Gepäck nur eine Bagatelle war. Die Buchstaben auf einem Gegenstand, der eine verdächtige Ähnlichkeit mit einer Damenhutschachtel hatte, fielen mir auf: »M. W.« Kapitän West hieß aber mit Vornamen »Nathaniel«, und als ich genauer hinsah, entdeckte ich, daß es freilich einzelne Stücke mit den Buchstaben »N. W.« gab, sonst aber überall nur die Buchstaben »M. W.« – und dann fiel mir plötzlich ein, daß er seine Tochter »Margaret« genannt hatte.

Ich war zu aufgebracht, um gleich in die Kabine zurückzukehren, und ging deshalb trotz der Kälte an Deck auf und ab, während ich mir ärgerlich die Lippen zerbiß. Ich hatte doch ausdrücklich mit den Vertretern ausgemacht, daß die Frau des Kapitäns nicht mitkommen durfte, denn das letzte, das ich mir in Anbetracht des ohnehin beschränkten Raumes auf einem Schiffe wünschte, war die Anwesenheit einer Frau. An eine Tochter des Kapitäns hatte ich natürlich keinen Augenblick gedacht. Ich war drauf und dran, die ganze Reise aufzugeben und mit dem Schlepper nach Baltimore zurückzukehren.

Als der kalte Wind mich gründlich durchgeweht hatte, sah ich Fräulein West über das schmale Deck kommen, und unwillkürlich fiel mir ihr federnder, lebenskräftiger Gang auf. Ihr Gesicht wirkte zart und stand in einem gewissen Gegensatz zu ihrem, nach ihrem Gang zu schließen, kräftigen Körper.

Ich drehte mich um und betrachtete verdrießlich das Gepäckgebirge. Eine riesige Kiste erregte meine Aufmerksamkeit, als ich hinter mir die Stimme Fräulein Wests hörte.

»Das ist der eigentliche Anlaß unserer Verspätung –«, sagte sie.

»Was ist es denn?« fragte ich gleichgültig.

»Das Klavier der Elsinore – es mußte repariert werden. Als ich mich zum Mitfahren entschloß, telegraphierte ich Herrn Pike – das ist unser Steuermann, wie Sie vielleicht wissen. Er tat, was er konnte – es war Schuld der Klavierfirma.«

Sie begann unter dem Gepäck zu suchen, als wollte sie einen bestimmten Gegenstand finden. Als sie ihren Zweck erreicht hatte, schritt sie nach der Kajüte zurück, blieb aber plötzlich stehen und sagte:

»Wollen Sie nicht mit in die Kajüte kommen? – Dort ist es schön warm. Und es dauert mindestens eine halbe Stunde, bis wir an Bord der Elsinore sind.«

»Wann haben Sie sich eigentlich zum Mitfahren entschlossen?« fragte ich plötzlich.

Der schnelle Blick, den sie mir zuwarf, zeigte mir, daß sie in diesem Augenblick erkannt hatte, wie aufgebracht und ärgerlich ich war.

»Vor zwei Tagen«, antwortete sie. »Weshalb?«

Die Schnelligkeit ihrer Entgegnung verblüffte mich, und ehe ich antworten konnte, sagte sie:

»Nun sollen Sie aber nicht allzu böse sein, weil ich mitgekommen bin, Herr Pathurst. Ich weiß, daß wir es alle recht schön gemütlich haben werden. Sie werden mich nicht stören, und ich verspreche Ihnen, daß ich Sie nicht belästigen werde. Ich bin früher schon mit Passagieren zusammen gefahren. Lassen Sie uns nur auf die richtige Art anfangen – dann wird es nicht schwer werden. Ich weiß schon, was mit Ihnen ist: Sie glauben verpflichtet zu sein, mich zu unterhalten. Ich habe noch nie Zeit gehabt, mich zu langweilen . . . und . . . außerdem . . . klimpern tue ich auch nicht.«

 

Die Elsinore, die Kohlen geladen hatte, lag sehr tief, als wir längsseit kamen. Ich verstand zu wenig von Schiffen, um ihre Linien bewundern zu können, und war außerdem durchaus nicht in der Stimmung. Ich konnte mich immer noch nicht entscheiden, ob ich die ganze Geschichte aufgeben und mit dem Schlepper zurückkehren sollte oder nicht. Daraus darf man indessen nicht schließen, daß ich von Natur wankelmütig sei. Ganz im Gegenteil!

Das Unglück war nur, daß ich auf diese Reise gar nicht versessen war. Wenn ich mich entschlossen hatte, so eigentlich nur, weil ich zu etwas anderm auch keine Lust hatte. Ich war nicht blasiert, und ich langweilte mich eigentlich auch nicht, aber das Leben hatte seinen Reiz für mich verloren. Ich interessierte mich nicht mehr für meine Mitmenschen und ihr dummes, kleinliches Streben, das sie selbst so ernst nahmen. Und schon seit langem war ich unzufrieden mit den Frauen. Ich hatte sie geduldet, war aber doch stets zu sehr geneigt gewesen, alle Mängel, die in der Primitivität ihres Wesens wurzelten, zu analysieren, als daß ich mich von ihnen hätte betören lassen. Endlich hatte ich mich auch in der letzten Zeit davon bedrückt gefühlt, daß selbst die Kunst mir belanglos erschien – als ob sie nur Scharlatanerie sei, die nicht allein ihre Anhänger, sondern sogar ihre Ausüber hinter das Licht führte.

Kurz – ich begab mich an Bord der Elsinore, weil das einfacher war, als es zu lassen; und dennoch war alles andere ebenso einfach . . . und darin lag eben die Gefahr. Das war der Fluch der Situation, in die ich unversehens geraten war. Und das war auch der Grund, daß ich im selben Augenblick, als ich meinen Fuß auf das Deck der Elsinore setzte, schon halb entschlossen war, den Kapitän zu bitten, mein Gepäck an Bord des Schleppers zu lassen.

Was mich zum Bleiben bewog, war, so glaube ich fast, das gastfreie Lächeln, mit dem Fräulein West mich willkommen hieß, und vielleicht auch das Bewußtsein, wie herrlich warm es in der Kabine sein mußte.

Den Steuermann, Herrn Pike, hatte ich schon kennengelernt, als ich das Schiff im Erie-Dock besichtigte. Er lächelte ein steifes Nußknackerlächeln, von dem ich den Eindruck hatte, daß es weh tun müßte. Er reichte mir aber nicht die Hand, sondern drehte sich sofort wieder um und begann einem halben Dutzend frierender Männer, die aus der Kuhl des Schiffes auftauchten, laute Befehle zu erteilen. Herr Pike hatte getrunken – das stand fest. Sein Gesicht war aufgedunsen und rot, und seine großen grauen Augen waren böse und blutunterlaufen.

Ich blieb stehen und sah sinkenden Mutes, wie mein Gepäck an Bord der Elsinore gebracht wurde, während ich meine Willensschwäche verfluchte, die mich hinderte, die paar Worte zu sprechen, denen zufolge Koffer und Kisten drüben geblieben wären. Die Männer, die jetzt das Gepäck nach achtern in die Kajüte trugen, wichen in jeder Beziehung von der Vorstellung ab, die ich mir von Seeleuten gemacht hatte.

Einer von ihnen, ein junger Mensch von achtzehn Jahren mit lebhaften Zügen, lächelte mich aus eigentümlichen Augen an, die ganz italienisch anmuteten. Er war aber leider ein wahrer Zwerg. So klein war er, daß er nur aus Seestiefeln und Südwester zu bestehen schien. Und er war auch kein reiner Italiener. So sicher fühlte ich mich in dieser Beziehung, daß ich den Steuermann fragte, der mürrisch antwortete:

»Der da? Knirps? Ist halber Dago. Die andere Hälfte ist malaiisch oder japanisch.«

Ein alter Mann – wie ich erfuhr, der Bootsmann – machte einen so gebrechlichen Eindruck, daß ich dachte, er müsse vor kurzem einen Unfall gehabt haben. Sein Gesicht war blöde und tierisch, und wenn er seine ungeschlachten Stiefel schlürfend über das Deck schleifen ließ, blieb er alle paar Schritte stehen, drückte die Hände gegen den Unterleib und machte eine komische Bewegung, als ob er die Därme zurechtdrücken oder heben wollte. Viele Monate sollten vergehen, bis ich lernte, daß gar nichts dahintersteckte, und daß diese Bewegung lediglich eine sonderbare Angewohnheit war. Er hieß, wie ich später erfuhr, Sundry Buyers. Und er war Bootsmann des amerikanischen Segelschiffes Elsinore, die als eines der feinsten Segelschiffe der Welt galt.

Unter all diesen Männern und Jünglingen sah ich nur einen einzigen, namens Henry, einen Knaben von sechzehn Jahren, der annähernd dem Bilde entsprach, das ich mir von Seeleuten gemacht hatte. Er kam denn auch – wie mir der Steuermann erzählte – von einem Schulschiff, und diese Reise war seine erste selbständige. Sein Gesicht war scharf geschnitten und gescheit, und seine Bewegungen waren rasch und lebhaft. Wie ich später erfahren sollte, war er tatsächlich der einzige vorn und achtern, der etwas von einem Seemann hatte.

Der größte Teil der Mannschaft war noch nicht an Bord gekommen, mußte aber – wie mir der Steuermann knurrend und in einem Ton, der böse Vorahnungen enthüllte, versicherte – jeden Augenblick eintreffen. Die bereits an Bord Befindlichen waren mehr zufällige Leute, die in New York ohne Vermittlung eines Heuerbaas angemustert hatten. Und wie die eigentliche Mannschaft sein würde, das wüßte Gott allein, sagte der Steuermann. Knirps, der japanisch- (oder malaiisch-) italienische Mischling, erzählte der Steuermann, sei ein tüchtiger Seegast, obgleich er bisher nur auf Dampfschiffen gefahren und dies seine erste Reise auf einem Segler wäre.

»Richtige Seeleute!« schnaufte Pike höhnisch, als ich ihn fragte, »die kriegen wir überhaupt nicht. Nur Landratten! Jeder Bauerntölpel und Kuhtreiber nennt sich heutzutage Seemann. Das ist der Dreh, womit sie ihre Ansprüche begründen und sich bezahlen lassen. Der Kauffahrteidienst ist zum Deibel gegangen. Es gibt überhaupt keine Seeleute mehr.«

Ich merkte, daß der Atem des Steuermannes stark nach Whisky roch. Aber er taumelte nicht und schien überhaupt nicht berauscht zu sein. Erst später sollte ich erfahren, daß seine Gesprächigkeit bei dieser Gelegenheit etwas Außergewöhnliches war, und daß nur der Alkohol ihm die Zunge gelöst hatte.

»Aber ich hörte doch«, meinte ich, »daß die Elsinore als eins der besten Segelschiffe gilt.«

»Ist sie auch. Aber was ist sie schließlich? Nur eine verfluchte Warenkiste. Herrgott! Ja, die guten alten Klipper – das war noch was anderes! Wenn ich an die denke! Und wenn ich an die Flotten der Teeklipper denke, die in Hongkong zu laden pflegten und durch die Ostpassagen liefen! Ein schöner Anblick! Herrlich!«

Ich lauschte mit lebhaftem Interesse. Hier war tatsächlich ein Mensch, ein lebender Mensch. Ich hatte es durchaus nicht eilig, in die Kajüte zu kommen, wo Wada meine Sachen auspackte. Deshalb setzte ich meinen Spaziergang mit Herrn Pike an Deck fort. Er war ein Riese, breitschultrig, von schwerem Knochenbau. Trotz seiner schlechten Haltung maß er reichlich seine sechs Fuß. Ich warf einen verstohlenen Blick auf seine knochigen Hände. Jeder von seinen Fingern wog drei von den meinen auf. Sein Handgelenk war dreimal so stark wie das meine.

»Wieviel wiegen Sie?« fragte ich.

»Hundertneunzig. Aber in alten Tagen, in meiner besten Zeit, da kam ich beinahe auf zweihundertzwanzig.«

»Und die Elsinore kann also nicht laufen?« sagte ich, auf das Thema zurückkommend, das ihn so sehr interessiert hatte.

»Ich wette, was Sie wollen – von einem Pfund Tabak bis zu einer Monatsheuer –, daß sie mindestens ihre hundertfünfzig Tage um Kap Horn herum braucht«, antwortete er. »Aber mit der Flying-Cloud habe ich die Fahrt in achtundneunzig Tagen gemacht . . . achtundneunzig Tage, mein Herr, von Sandy Hook bis Frisco. Und sechzig Mann vor dem Mast, sechzig Mann, die Männer waren, und acht Jungens! Dreihundertvierundsiebzig Meilen an einem einzigen Tage unter Bramsegel, und in den Böen genügten achtzehn Knoten der Logleine nicht zum Messen. Achtundneunzig Tage – ein Rekord, der nie geschlagen und auch nur einmal erreicht wurde, neun Jahre später, von dem alten Andrew Jackson. Ja, ja, das waren Zeiten!«

»Wann hat dieser Andrew Jackson denn den Rekord erreicht?« fragte ich. Denn ich begann den Verdacht zu hegen, daß er mich gründlich aufziehen wollte.

»Achtzehnhundertsechzig«, antwortete er prompt.

»Und Sie segelten mit der Flying Cloud neun Jahre früher? Und jetzt haben wir 1913. Dann wäre es also zweiundsechzig Jahre her –«

»Und ich war erst sieben Jahre alt«, sagte er und lachte. »Meine Mutter bediente die Passagiere auf der Flying-Cloud. Ich kam auf hoher See zur Welt. Mit zwölf Jahren wurde ich Schiffsjunge auf der Herald of the Moon, als sie Kap Horn in neunundneunzig Tagen machte . . . die halbe Mannschaft lag die meiste Zeit in Eisen, fünf Mann gingen über Bord, drei Mann wurden an einem Tage von den Offizieren niedergeknallt, der Untersteuermann totgeschlagen, und kein Mensch ahnte, von wem. Aber die Mannschaft wurde angetrieben und gehetzt, unaufhörlich, neunundneunzig Tage von Land zu Land, eine Fahrt von siebzehntausend Meilen, und zwar Ost zu West um das verfluchte Kap herum!«

»Dann wären Sie ja aber neunundsechzig Jahre alt«, wandte ich ein.

»Bin ich auch«, erklärte er stolz. »Und doch ein anderer Kerl als die Waschlappen von heute. Die würden samt und sonders verrecken bei dem, was ich durchgemacht habe.«

Ich trottete neben diesem mächtigen Überbleibsel vergangener Zeiten an Deck auf und nieder und lauschte seinen Erinnerungen aus jenen Tagen, da man noch Männer getötet und wie Vieh zur Arbeit angetrieben hatte. Es war kaum zu glauben – und doch, wenn ich seine schlechte Haltung und die Art, wie er beim Gehen die riesigen Füße nachschleppte, betrachtete, war ich geneigt zu glauben, daß er so alt war, wie er sagte. Er sprach jetzt von Kapitän Sonurs.

»Das war ein großer Seemann –«, sagte er. »Und in den beiden Jahren, die ich mit ihm fuhr, gab es nicht einen einzigen Hafen, den wir anliefen, ohne daß ich von Bord ging und mich versteckte . . . wenn das Schiff aber den Hafen verlassen sollte, schlich ich mich wieder an Bord . . .«

»Aber warum in aller Welt taten Sie das?«

»Na, der Mannschaft wegen . . . die Mannschaft hatte blutige Rache geschworen und drohte mit Haufen von Anzeigen gegen mich, weil ich meine eigene Art habe, die Leute zu Seeleuten zu erziehen. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich auf frischer Tat gefaßt bin, und wie viele Strafen der Schiffer meinetwegen hat zahlen müssen . . . aber ich hatte doch dafür zu sorgen, daß das Schiff so viel Geld verdiente . . .«

Er hielt seine riesigen Pranken in die Höhe, und als ich die zerkämpften und mißgestalteten Knöchel sah, wußte ich, welcher Art seine Arbeit gewesen war . . .

»Aber jetzt ist es aus damit«, klagte er. »Heutzutage ist der Seemann ein feiner Herr. Man darf keine Hand, nicht mal die Stimme gegen ihn erheben.«

In diesem Augenblick wurde er vom Kampanjebogen aus angerufen. Vom Untersteuermann – einem starkknochigen, glattrasierten, blonden Mann von Mittelgröße.

»Schlepper mit der Mannschaft in Sicht, Steuermann!« meldete er.

Der Steuermann grunzte bestätigend; dann fügte er hinzu: »Kommen Sie mal, Herr Mellaire, ich möchte Sie mit unserm Fahrgast bekanntmachen.«

Es war auffallend, wie der Untersteuermann, Herr Mellaire, die Kampanjetreppe herunterkam, um sich an unserer Unterhaltung zu beteiligen. Er war von einer altmodischen Höflichkeit, seine Stimme war sanft und angenehm. Seiner Sprache nach stammte er unzweifelhaft aus der Gegend südlich von Mason und Dixon.

»Aus dem Süden?« fragte ich.

»Aus Georgia, Herr.« Und er verbeugte sich und lächelte, wie nur ein Mann aus dem Süden katzbuckeln und lächeln kann.

Sein Gesicht und seine Manieren waren liebenswürdig und nett – und doch hatte ich nie einen solchen Mund gesehen! Dieser Mund war ein klaffender Spalt. Es gibt einfach kein anderes Wort, womit man diesen herben, verzerrten Mund mit den dünnen Lippen, die so liebenswürdig sprachen, hätte bezeichnen können. Unwillkürlich sah ich mir seine Hände an – sie ähnelten denen des Steuermanns. Auch sie waren derb und mißgestaltet, und ihre Knöchel waren zerschlagen. Dann sah ich ihm tief in die blauen Augen. Auf ihrer Oberfläche lag eine leuchtende Schicht, ein strahlender Überzug von sanfter Liebenswürdigkeit. Aber ich spürte, daß hinter dieser Oberfläche etwas anderes liegen mußte, etwas, das weder Wahrheit noch Gnade kannte. Hinter diesem sanften Glanz barg sich etwas Katzenhaftes, Feindliches, Mörderisches. Hinter dieser Schicht von liebenswürdigem Lächeln und gesellschaftlichem Schein lebte das Furchtbare, das diesen Mund zu dem klaffenden Spalt gemacht hatte.

Als ich so Angesicht zu Angesicht mit Mellaire stand und mich freundlich mit ihm unterhielt, hatte ich das Gefühl, das uns ergreift, wenn wir im Walde oder in der Dschungel merken, daß wilde Tiere uns beobachten, ohne daß wir selbst sie sehen. Offen gestanden fürchtete ich mich vor diesem Etwas, das tief im Schädel Mellaires auf der Lauer lag.

Ich sah Wada in der Kajütentür. Offenbar wartete er auf eine Gelegenheit, mich um Anweisungen zu bitten. Ich schickte mich an, zu ihm zu gehen. Pike warf mir einen schnellen Blick zu und sagte:

»Nur einen Augenblick, Herr Pathurst!«

Er gab dem Untersteuermann einige Aufträge. Der drehte sich um und ging voraus. Ich blieb stehen und wartete, was Pike mir mitzuteilen hätte. Aber er schien nicht sprechen zu wollen, ehe der Untersteuermann außer Hörweite war. Dann beugte er sich zu mir herüber und sagte:

»Bitte erzählen Sie keinem, was ich Ihnen über mein Alter gesagt habe. Bei jeder Anmusterung habe ich mich um ein Jahr jünger gemacht. Ich bin jetzt vierundfünfzig – nach der Musterrolle.«

»Und Sie sehen auch nicht um einen Tag älter aus«, warf ich hin, und ich meinte wirklich, was ich sagte.

»Und ich fühle mich auch nicht älter. Ich kann mit den kräftigsten jungen Burschen um die Wette arbeiten. Aber lassen Sie bitte keinen Menschen etwas von meinem Alter ahnen. Die Schiffer sind nicht besonders scharf auf Steuermänner, die um die Siebzig sind. Und die Reeder auch nicht, Herr Pathurst! Ich hatte mir ja Hoffnung auf dieses Schiff gemacht, und ich glaube, ich hätte es auch gekriegt, wenn der Alte sich nicht plötzlich entschlossen hätte, wieder in See zu stechen. Als ob er noch Geld nötig hätte, der alte Geizkragen!«

»Hat er denn soviel?« fragte ich.

»Na, und ob! Wenn ich nur ein Zehntel von seinem Geld hätte, könnte ich mich zurückziehen, mir eine Hühnerfarm in Kalifornien kaufen und wie ein Fürst leben –, ja, wenn ich nur ein Fünfzigstel hätte. Er hat Anteile von der Blackwood-Reederei, und die hat immer Schwein gehabt und viel Geld verdient. Ich fange an, alt zu werden, und es wird Zeit, daß ich ein Kommando kriege. Aber nein – der Alte mußte es sich in den Kopf setzen, wieder zu fahren, gerade als die Koje für mich gemacht war! Sie sagen also nichts von meinem Alter, Herr Pathurst – kein Wort, nicht wahr?«

»Kein Wort, Herr Pike!«

 

Reichlich durchfroren, wie ich war, überraschte mich die Wärme und Behaglichkeit in der Kajüte. Alle Türen standen offen, so daß man eine lange Zimmerflucht vor sich zu haben schien. Der Eingang von Deck auf Backbord führte in eine breite Diele, die mit schönen Teppichen ausgelegt war. Von hier aus gelangte man – ebenfalls auf Backbord – in fünf Räume: dem Eingang am nächsten lag die Kabine des Steuermanns, daneben befanden sich die beiden Räume, die für mich in ein einziges großes Zimmer umgeändert waren, ferner die Kabine des Stewards und schließlich, unmittelbar daneben, ein Reserveraum, der für das Gepäck diente.

Die Räume auf der anderen Seite der Diele kannte ich noch nicht, aber ich wußte, daß dort der Speisesaal war, die Badezimmer, die »große Kajüte«, die wirklich ein richtiger Salon war, die Kapitänskabine und zweifellos die Kabine Fräulein Wests. Ich konnte sie singen hören, während sie mit ihrem Gepäck herumhantierte. Die Pantry des Stewards, die durch einige Kreuzgänge und durch die zum Navigationshaus auf der Kampanje führende Treppe mehrfach geteilt wurde, war mit strategischem Weitblick in die Mitte gelegt, so daß sie das Zentrum bildete.

Ich ging vorsichtig durch die Diele achteraus und sah, daß sie unmittelbar in die Achterpieck der Elsinore führte. Das war ein einziger großer, fünfunddreißig Fuß breiter und fünfzehn bis achtzehn Fuß langer Raum, dessen Seitenwände den geschwungenen Linien des Achterstevens folgten. Sie wurde offenbar als eine Art Vorratskammer verwendet – ich sah dort Aufwascheimer, ganze Rollen von Segeltuch, viele Kisten, auch Schinken und Speckseiten in Mengen. Eine Leiter führte durch ein enges Luk zur Kampanje hinauf. Im Fußboden war noch ein Luk zu sehen.

Ich redete den Steward an – er war ein alter Chinese, mit glattem Gesicht und schnellen Bewegungen. Seinen Namen habe ich nie lernen können. Nach der Musterrolle war er fünfundsechzig Jahre alt.

»Was ist da unten?« fragte ich und zeigte auf das Luk.

»Das Lazarett«, antwortete er.

»Und wer ißt hier?« Ich wies auf einen Tisch mit zwei Stühlen, die am Boden festgenagelt waren.

»Dies zweiter Tisch. Hier Untersteuermann und Zimmerbaas essen.«

Als ich Wada die nötigen Anweisungen zur Ordnung meiner Sachen erteilt hatte, sah ich auf meine Uhr. Es war noch ganz früh nachmittags, erst wenige Minuten nach drei. Ich ging deshalb wieder auf das Deck, um die Ankunft der Mannschaft zu beobachten. Leider kam ich zu spät, um sie aus dem Schlepper an Bord klettern zu sehen, traf aber vor dem Mittschiffhaus einige Nachzügler, die sich nach der Back begaben. Sie hatten offenbar reichlich Schnaps getrunken, und in keinem Verbrecherviertel habe ich je eine verlumptere, elendere und abstoßendere Gesellschaft gesehen. Ihre Kleidung bestand nur aus Lumpen. Ihre Gesichter waren aufgedunsen, blutbeschmiert und dreckig. Ich will nicht gerade behaupten, daß sie wie Verbrecher aussahen, aber sie waren unbeschreiblich verwahrlost und widerlich.

»Na, los, ein bißchen dalli! Schmeißt euern Dreck ins Vorderkastell, aber schnell!«

Herr Pike rief diese Worte scharf von der Laufbrücke herunter. Leicht und elegant aus Stahl und Holz erbaut, lief diese durch die ganze Elsinore, von der Kampanje über das Mittschiffshaus und die Back bis zum Bug.

Bei den gebieterischen Worten des Steuermanns drehten die Männer sich taumelnd um und glotzten zu ihm hinauf. Ein paar von ihnen versuchten mit ungeschickten Bewegungen zu gehorchen. Die andern starrten den Steuermann feindselig an. Einer, dessen Gesicht ein übermütiger Gott bei der Schöpfung zerschlagen zu haben schien, lachte roh und spie höhnisch aufs Deck – später erfuhr ich, daß er Larry hieß. Dann wandte er sich in aller Ruhe zu den Kameraden und sagte laut und mit heiserer Stimme:

»Wer, zum Deubel, ist der alte Schuft da oben, Kameraden?«

Ich sah, wie der gewaltige Körper des Steuermanns sich unwillkürlich straffte und seine riesigen Hände sich um das Brückengeländer krallten. Im übrigen aber bewahrte er seine Selbstbeherrschung.

»Los, da unten« sagte er. »Ich habe nicht die Absicht, so was zu dulden. Marsch, ins Vorderkastell!«

Und zu meinem Befremden drehte er sich dann ruhig um und schlenderte achteraus über die Brücke bis zu der Stelle, wo der Schlepper gerade die Leine einholte. Mehr steckt also nicht hinter seinen großmächtigen, gewaltigen Worten von Töten und Hetzen, dachte ich. Erst als ich von achtern an Deck zurückkehrte, erinnerte ich mich, bemerkt zu haben, daß Kapitän West, an den Kampanjebogen gelehnt, nach der Back geblickt hatte.

Der Schlepper wollte gerade loswerfen, und ich beobachtete das Manöver, bis er klar geschert war. Im selben Augenblick entstand eine babylonische Verwirrung von Johlen und Brüllen, und eine Menge schnapsheiserer Stimmen schrie, ein Mann sei über Bord gegangen. Der Untersteuermann sprang die Kampanjetreppe herunter und lief hinter mir her über das Deck. Der Steuermann, der immer noch auf der schlanken, weißgestrichenen Laufbrücke stand, die leicht wie ein Spinngewebe wirkte, überraschte mich durch die Schnelligkeit, mit der er über die Brücke bis zum Mittschiffshaus lief, auf die Segeltuchdecke des großen Bootes sprang und sich von dort außenbords schwang, um besser sehen zu können, was es gab. Ehe die anderen Männer auf die Reling geklettert waren, hatte der Untersteuermann schon eine Leine über Bord geworfen.

Was solchen Eindruck auf mich machte, war die geistige und körperliche Überlegenheit dieser beiden Offiziere. Trotz ihrem Alter – der Steuermann war neunundsechzig und der Untersteuermann wenigstens fünfzig – hatten ihre Gehirne und ihre Körper mit der Schnelligkeit und Genauigkeit von Stahlfedern funktioniert. Sie schienen von ganz anderer Art als die übrigen Seeleute, die ihnen unterstellt waren. Die hatten in ihrer Ratlosigkeit nur um Hilfe gerufen, ihren langsamen Gehirnen und ihren noch langsameren Körpern war es nicht einmal gelungen, auf die Reling zu klettern. Der Untersteuermann hingegen war die Treppe von der Kampanje heruntergesprungen, zweihundert Fuß weit über Deck gelaufen und auf die Reling geklettert. Er hatte sofort die Lage erfaßt und die Leine ins Wasser geworfen. Und was Pike getan, konnte sich damit messen. Er und Mellaire meisterten diese Taugenichtse von Seeleuten durch ihre ungeheure Überlegenheit an Tatkraft und Willen.

Ich selbst war unterdessen auf ein großes hölzernes Betingsknie geklettert, so daß ich den Mann im Wasser sehen konnte. Er schwamm offenbar absichtlich vom Schiffe weg. Er war ein dunkelhäutiger Mann aus den Ländern des Mittelmeeres, und sein Gesicht, das ich nur flüchtig sah, war wie im Wahnsinn verzerrt. Der Untersteuermann hatte die Leine so genau geworfen, daß sie über die Schulter des Mannes fiel und sich um seine Arme schlang, bis es ihm nach einigen Schwimmzügen gelang, sich klarzumachen. Als das geschehen war, begann er unter wildem Gejohl irgendein noch wilderes Lied zu grölen. Und als er einmal die Arme hob, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, sah ich die Klinge eines langen Messers in seiner Hand blinken.

Glocken läuteten schrill an Bord des Schleppers, als er hindampfte, um Hilfe zu bringen. Ich warf einen verstohlenen Blick auf Kapitän West – er war auf die Backbordseite der Kampanje getreten, stand jetzt, mit den Händen in den Taschen, da und starrte bald voraus nach dem kämpfenden Mann, bald achteraus nach dem Schlepper. Er gab keine Befehle, zeigte nicht die geringste Erregung und erschien mir – das darf ich ruhig sagen – als der gleichgültigste Zuschauer, den man sich denken kann.

Der Mensch im Wasser wollte sich jetzt ausziehen. Ich sah zuerst den einen nackten Arm und dann den andern erscheinen. Infolge seiner Anstrengungen verschwand er zuweilen ganz unter Wasser, tauchte aber immer wieder auf, schwang sein blitzendes Messer, johlte und heulte.

Ich schlenderte nach vorn und kam gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie der Mann über die Reling der Elsinore gezogen wurde. Er war splitternackt, mit Blut beschmiert und vollkommen wild. Er hatte sich selbst an zahlreichen Stellen geschnitten und zerfleischt. Aus einer Wunde am Handgelenk spritzte das Blut bei jedem Pulsschlag. Er war ein widerliches, entmenschtes Ding . . . Die Seeleute umringten ihn, packten ihn und zerrten an ihm, während sie lachten und Hurra brüllten. Die beiden Offiziere stießen sie beiseite, zogen den Verrückten über das Deck und verschwanden mit ihm in einem Raum mittschiffs. Unwillkürlich fiel mir die Kraft der beiden Offiziere auf. Ich hatte viel von der ungeheuren Kraft von Irren gehört, aber dieser Verrückte war wie ein Strohhalm in ihren Händen. Als sie ihn in die Koje geschleppt hatten, hielt Pike den strampelnden Mann ohne Mühe mit einer Hand fest, während er den Untersteuermann nach Marlien schickte, um dem Verrückten die Arme zu binden.

»Säuferwahnsinn« – sagte Pike grinsend zu mir –, »ich habe manchen von der Sorte kennengelernt, aber der hier schlägt doch jeden Rekord.«

»Was wollen Sie mit ihm machen?« fragte ich. »Der Mann verblutet ja.«

»Um so besser«, sagte er ohne Zögern. »Der wird uns noch genug zu schaffen machen, bis wir ihn loswerden können. Wenn er wieder vernünftig geworden ist, werde ich ihn zusammenflicken . . . Selbst wenn ich ihm erst einen tüchtigen Kinnhaken geben muß, damit er stilliegt.«

Ich betrachtete seine Riesenpranken und verstand, daß er imstande war, einen Mann mit ihnen zu betäuben. Dann ging ich wieder auf Deck. Da bemerkte ich Kapitän West auf der Kampanje, noch immer mit den Händen in den Taschen; ohne jedes Interesse für alles, was um ihn her geschah, starrte er auf eine blaue Lichtung im nordwestlichen Himmel. Mehr noch als die Steuerleute und der Verrückte, mehr als die Empfindungslosigkeit der besoffenen Mannschaft machte diese ruhige Gestalt mir klar, daß ich mich in einer Welt befand, die sich vollkommen von allem unterschied, was ich bisher kennengelernt hatte.

Wada riß mich aus meinen Gedanken. Fräulein West schickte ihn, um mich zu einer Tasse Tee in die Kajüte zu bitten.

 


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