Jack London
Meuterei auf der Elsinore
Jack London

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Der Gegensatz, der sich mir bot, als ich in die Kajüte trat, war überwältigend. An Stelle der kalten harten Decksplanken fühlten meine Füße jetzt einen weichen Teppich, in dem sie versanken. Statt in dem elenden engen Raum mit vier Wänden aus bloßem Eisen, wo ich den Verrückten verlassen hatte, sah ich mich jetzt in einem großen, schönen Salon. Noch mit dem heiseren Gejohle der Männer in meinen Ohren und ihren aufgedunsenen und dreckigen Gesichtern vor meinen Augen, sah ich jetzt eine schöne Dame in elegantem Kleid vor mir. Sie saß an einem chinesischen Lacktischchen, auf dem ein Teeservice aus feinstem chinesischem Porzellan stand. Hier atmete alles Ruhe und Beschaulichkeit. Mit lautlosen Schritten und ausdruckslosem Gesicht bewegte sich der Steward wie ein Schatten; ohne daß man es merkte, kam er, besorgte irgend etwas und verschwand dann ebenso schweigsam und still.

Ich konnte mich nicht gleich von meinen Gedanken befreien, und als Fräulein West den Tee servierte, lachte sie:

»Sie sehen aus, als hätten Sie etwas Schreckliches gesehen. Der Steward erzählte mir, daß ein Mann über Bord gefallen war. Aber ich denke, das kalte Wasser hat ihn wieder nüchtern gemacht.«

Ihre Gleichgültigkeit berührte mich unangenehm.

»Der Mann ist verrückt«, sagte ich. »Das Schiff ist nicht der rechte Ort für ihn. Man hätte ihn an Land und in ein Krankenhaus schaffen müssen.«

»Ich fürchte, wenn wir erst damit anfangen, werden wir bald zwei Drittel unserer Mannschaft an Land setzen müssen. Ein Stück Zucker, Herr Pathurst?«

»Ja, bitte sehr!« antwortete ich. »Der Mann hat sich aber furchtbar zugerichtet. Er wird wahrscheinlich verbluten.«

Einen Augenblick sah sie mich an, während sie mir meine Tasse reichte. Ihre grauen Augen waren ernst und prüfend. Dann tauchte ein Lächeln in ihnen auf, und sie schüttelte tadelnd den Kopf.

»Nun fangen Sie aber bitte die Reise nicht gleich damit an, daß Sie sich entrüsten, Herr Pathurst. Solche Dinge sind etwas ganz Alltägliches. Sie werden sich bald daran gewöhnen. Vergessen Sie nicht, daß es oft die seltsamsten Leute sind, die zur See gehen. Der Mann ist wirklich in guten Händen. Pike versteht sich darauf, seine Wunden zu behandeln.«

»Aber ist es denn gut . . . gut für die Arbeit an Bord« – wandte ich ein –, »wenn man einen so verrückten Menschen behält?«

Sie zuckte die Achseln, als ob sie nicht die Absicht hätte zu antworten. Dann sagte sie dennoch:

»Was wollen Sie? Das Leben auf See ist hart, Herr Pathurst. Und als Matrosen bekommen wir nur das übelste Gesindel, das man sich denken kann. Und wir tun tatsächlich unser Bestes für sie, und irgendwie kriegen wir sie ja schließlich immer so weit, daß sie uns ein bißchen bei der Arbeit helfen. Aber es ist und bleibt Gesindel . . . Gesindel!«

Ich saß da, lauschte und sah sie an. Und als ich ihre weiblich-empfindsamen Züge und ihr schönes geschmackvolles Kleid mit den tierischen Fratzen und den schmutzigen Lumpen der Männer verglich, die ich soeben gesehen hatte, kam mir trotz allem, ob ich wollte oder nicht, die Überzeugung, daß ihr Standpunkt richtig war. Und dennoch fühlte ich mich abgestoßen – vielleicht hauptsächlich, weil sie ihre Ansichten so derb und unbewegt zum Ausdruck brachte.

»Mir fiel die Kaltblütigkeit auf, mit der Ihr Herr Vater die Sache betrachtete«, sagte ich vorsichtig.

»Er nahm gar nicht erst die Hände aus den Taschen, nicht wahr?« erklärte sie.

Ihre Augen leuchteten, als ich das bestätigte.

»Oh, das wußte ich, so ist er immer! Das habe ich so oft gesehen . . . ich erinnere mich einmal – ich war damals zwölf Jahre alt – Mutter war allein zu Hause geblieben – wir liefen eben in San Francisco ein – mit der Dixie, die beinahe ebenso groß wie dies Schiff war. Der Wind war sehr günstig, und Papa nahm deshalb keinen Schlepper. Wir segelten geradeswegs durch das Goldene Tor und den Hafen von Frisco.

Nun, es war Schuld des Kapitäns auf dem Dampfer. Er schätzte unsere Schnelligkeit falsch ein und versuchte, unsern Bug noch zu kreuzen. Dann kam der Zusammenstoß, und der Bug der Dixie schnitt den Dampfer einfach durch, Kajüte und Rumpf. Es waren Hunderte von Passagieren an Bord, Männer, Frauen und Kinder. Papa nahm nicht einen Augenblick die Hände aus der Tasche. Aber er schickte den Steuermann voraus, um die Rettung der Passagiere zu überwachen, die schon anfingen, Bugspriet und Back bei uns zu erklettern, und mit einer Stimme, genau, wie wenn ein anderer bittet, ihm Butter zu reichen, befahl er dem Untersteuermann, alle Segel zu setzen. Und er sagte ihm, mit welchen Segeln er anfangen sollte . . .«

»Aber warum in aller Welt mehr Segel setzen?« unterbrach ich sie.

»Weil er die Lage überblickte. Der Dampfer stand doch sperrangelweit offen! Nur der Bug der Dixie, der in seiner Seite stak, hinderte ihn am Sinken. Indem mein Vater mehr Segel setzte, und sie platt vor dem Winde hielt, blieb der Bug im Rumpf des Dampfers stecken. Ich war furchtbar aufgeregt. Aber wenn ich Papa anguckte, wie er, die Hände in den Taschen, dastand oder ganz ruhig auf und ab ging . . . Hin und wieder gab er dem Mann am Ruder einen Befehl. Sehen Sie, er mußte ja auch die Dixie an allen Schiffen, die im Hafen lagen, vorbeimanövrieren. Selbstverständlich ertranken einige, aber er rettete doch viele Hunderte vorm Ertrinken. Erst als der letzte den Dampfer verlassen hatte – er schickte einen Mann an Bord, um nachzusehen –, ließ er die Segel bergen. Und da sank der Dampfer sofort.«

»Prachtvoll«, räumte ich ein. »Ich hege die größte Bewunderung für den ruhigen Mann der Tat, wenn ich auch gestehen muß, daß eine solche Ruhe unter so kritischen Verhältnissen mir fast übermenschlich erscheint. Ich kann mir nicht denken, daß ich selbst so handeln könnte, und ich bin überzeugt, daß ich vorhin mehr litt als der arme Teufel im Wasser, ja, als sämtliche Zuschauer zusammen.«

»Papa leidet auch«, verteidigte sie redlich ihren Vater. »Er zeigt es nur nicht.«

Ich antwortete durch eine Verbeugung, denn ich merkte, daß sie gar nicht begriffen hatte, wo ich hinaus wollte.

 

Als ich wieder an Deck kam, war der Schlepper Britannia bereits in Sicht. Er sollte uns durch die Chesapeake-Bucht ins offene Meer hinausschleppen. Als ich vorausschlenderte, sah ich, wie Sundry Buyers die Matrosen aus dem Vorderkastell trieb. Ein anderer Mann half ihm, die Leute aus der Back zu holen. Ich fragte Pike, wer das sei.

»Nancy – mein Bootsmann. Ein Prachtkerl, nicht wahr?« lautete die Antwort. Aus der Art, wie der Steuermann sprach, konnte ich seinen Spott heraushören.

Nancy konnte kaum mehr als dreißig Jahre alt sein, sah aber viel älter aus. Er hatte keine Zähne, machte einen trübseligen Eindruck und hatte müde Bewegungen. Seine Augen waren schiefergrau und matt, sein glattrasiertes Gesicht hatte eine gelbe, ungesunde Farbe. Mit den schmalen Schultern, der eingefallenen Brust und den tief ausgehöhlten Wangen glich er einem Schwindsüchtigen im letzten Stadium. Und solche Leute waren Bootsmänner – Bootsmänner des schönen amerikanischen Segelschiffes Elsinore!

Es war mir ganz klar, daß diese beiden einfach die Männer fürchteten, die sie leiten und antreiben sollten. Und die Mannschaft selbst? Ein Doré wäre nicht imstande gewesen, ein lieblicheres Höllengesöff zu brauen. Es war das erstemal, daß ich sie in ihrer Gesamtheit kennenlernte, und ich kann die beiden Bootsmänner tatsächlich nicht einmal tadeln, wenn sie Angst hatten. Diese Seeleute schlichen und schlotterten, einzelne schwankten und taumelten sogar, mochte es nun aus Schwäche oder Trunkenheit sein.

Aber das Schlimmste waren doch ihre Gesichter. Unwillkürlich mußte ich daran denken, was Fräulein West mir soeben gesagt hatte: daß alle Schiffe einzelne Verrückte oder Schwachköpfe unter ihrer Mannschaft hätten. Diese aber sahen aus, als ob sie alle verrückt oder schwachsinnig wären . . . Unwillkürlich mußte ich mich fragen, wo man überhaupt eine solche Sammlung menschlicher Wracks hatte ausfindig machen können! Irgendein Gebrechen hatte jeder von ihnen. Einer – ein großer Bursche, offenbar irischer Abstammung – war unverkennbar verrückt. Er sprach und murmelte beständig vor sich hin. Ein kleines, buckliges Männlein, das immer den Kopf schief hielt, fahle blaue Augen und das pfiffigste und bösartigste Gesicht hatte, das mir je vorgekommen war, erzählte dem verrückten Iren, den er O'Sullivan nannte, einen gemeinen Witz. Aber O'Sullivan nahm keine Notiz davon, sondern murmelte weiter. Dicht hinter dem Männchen erschien ein übergroßer, dicker, junger Trottel, und nach ihm ein anderer junger Bursche, so lang aufgeschossen und ausgehungert, daß man sich nur wundern konnte, wie sein bißchen Fleisch noch die Knochen zusammenhielt. Nach diesem wandelnden Skelett aber kam das seltsamste Geschöpf, das ich je im Leben gesehen. Gesicht und Körper waren wie von tausendjährigen Martern verzerrt. Er glich einem mißhandelten und blödsinnigen Faun. Seine großen schwarzen Augen leuchteten mit einem merkwürdig eifrigen und schmerzlichen Ausdruck: sie glitten fragend von Gesicht zu Gesicht, von einem Gegenstand zum andern. Sie waren schmerzhaft wach, diese Augen, als suchten sie stets den Schlüssel zu einem überwältigenden und verhängnisvollen Rätsel. Erst später lernte ich den Grund dieses merkwürdigen Blickes kennen – der Mann war stocktaub, sein Trommelfell war bei der Kesselexplosion geplatzt, die auch sonst seinen Körper verunstaltet hatte.

Ich bemerkte den Steward, der in der Kombüsentür stand und die Männer aus der Ferne beobachtete. Sein scharfes, asiatisches Gesicht mit dem lebhaften und gescheiten Ausdruck war ein wahres Labsal für das Auge; und ebenso das des Knirpses, der jetzt mit einem heiteren Lachen aus dem Vorderkastell kam. Und dennoch stimmte auch bei ihm nicht alles. Er war ein Zwerg, und ich erfuhr allmählich, daß seine strahlende Laune in Verbindung mit seinem allzu geringen Verstand ihn zu einem wahren Clown machte.

Pike blieb einen Augenblick neben mir stehen. Während er die Männer beobachtete, beobachtete ich ihn. Er hatte den Ausdruck eines Viehhändlers, und es war klar, daß er mit der Qualität des gelieferten Viehs höchst unzufrieden war.

»Irgendwas hat jeder von den Kerlen –«, knurrte er. Immer neue kamen zum Vorderkastell heraus: Da war ein blasser Bursche mit lauerndem Blick, dem ich es gleich ansehen konnte, daß er dem Opium verfallen war. Da kam ein anderer, ein winziger, welker Greis mit einem runzligen, vertrockneten Gesicht und stechenden, boshaften blauen Augen. Ein Dritter tauchte auf – ein kleiner Mann in guter Form, der meinen unerfahrenen Augen als das normalste und intelligenteste Exemplar der ganzen Gesellschaft erschien. Aber die Augen des Steuermanns waren besser geschult als die meinen.

»Was ist denn mit dir los?« knurrte er den Mann mürrisch an.

»Gar nichts, Steuermann . . .«, antwortete der Bursche, der sofort stehengeblieben war.

»Wie heißt du?« Wenn Pike zu den Matrosen sprach, geschah es immer mit einem Fauchen.

»Charles Davis, Steuermann –«

»Warum humpelst du?«

»Ich humple nicht, Steuermann«, antwortete der andere respektvoll.

Als der Steuermann ihm durch ein Nicken mit dem Kopfe angedeutet hatte, daß er verschwinden dürfte, marschierte er flott über das Deck mit einem Schwung der Schultern, wie man ihn sonst nur bei Zuhältern sieht.

»Ein richtiger Seemann«, brummte der Steuermann; »aber ich wette ein Pfund vom besten Tabak oder ein Monatsgehalt, daß etwas mit ihm nicht stimmt.«

Die Back schien sich jetzt geleert zu haben, aber der Steuermann wandte sich zu den Bootsmännern und fauchte sie an:

»Was macht ihr denn, verflucht noch mal? Schlaft ihr? Bildet ihr euch vielleicht ein, daß dies ein Sanatorium ist? Marsch, hinein mit euch und jagt sie heraus!«

Sundry Buyers drückte bedächtig die Hände gegen den Unterleib und blieb zögernd stehen, während Nancy, dessen Gesicht störrische und leidende Hoffnungslosigkeit ausdrückte, sich widerwillig ins Vorderkastell begab. Dann hörte man drinnen gemeine, widerwärtige Flüche und von Nancy eindringliche und eifrige, in bittendem und demütigem Ton vorgebrachte Versicherungen.

Ich bemerkte die erboste Miene des Steuermanns und war darauf vorbereitet, Gott weiß was für Ungeheuer aus der Back auftauchen zu sehen. Zu meiner Überraschung erschienen drei Burschen, die erstaunlich besser wirkten als das Gesindel, das ich bisher gesehen hatte. Ich dachte, daß das Gesicht des Steuermannes sich nunmehr erhellen und eine gewisse Befriedigung zeigen würde. Aber nein – seine blauen Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen, das fauchende Knurren schien zu einem Zähnefletschen zu werden, so daß er aussah wie ein Hund, der beißen will.

Die Burschen waren alle drei klein. Und jung, zwischen fünfundzwanzig und dreißig. Trotz ihrem derben Zeug wirkten sie gut gekleidet. Die Gesichter waren scharfgeschnitten und intelligent.

Sie gehörten nicht zu dem unterernährten, alkoholvergifteten Typ jener Seeleute, die ihre letzte Heuer versaufen und dann hungern, bis sie einen Vorschuß auf die neue Fahrt erhalten und wieder versaufen können. Die drei waren durchtrainiert und kräftig. Ihre Bewegungen waren von Natur lebhaft und sicher. Ich war überzeugt, daß sie gar keine Seeleute waren. Sie vertraten einen Typ, dem ich noch nie begegnet war. Vielleicht kann ich ein besseres Bild von ihnen geben, indem ich einfach schildere, was jetzt geschah.

Als sie an uns vorbeigingen, beehrten sie Pike mit demselben gleichgültigen, kühlen Blick wie mich.

»Wie heißt du . . . du da?« kläffte der Steuermann den ersten des Trios an. Er war augenscheinlich ein jüdisch-irischer Mischling. Seine Nase war unverkennbar jüdisch. Ebenso unverkennbar war aber das irische Element in seinen Augen, seinem Kinn und seiner Oberlippe.

Die drei waren unwillkürlich stehengeblieben, und obgleich sie sich nicht etwa ansahen, hatte man doch den Eindruck, daß sie eine stumme Besprechung miteinander abhielten. Ein anderer des Trios gab ein Warnungszeichen. Oh, beileibe nichts so Derbes wie einen Wink oder ein Nicken, nur etwas wie der Schatten eines Ausdrucks war über sein Gesicht geflogen oder ein Leuchten plötzlich in seinem Antlitz aufgeflackert.

»Murphy –«, antwortete der andere dem Steuermann.

»Steuermann«, fauchte Pike ihn an.

Murphy zuckte die Achseln zum Zeichen, daß er nicht begriff, was der Steuermann meinte. Es war das sichere Auftreten dieser Leute, ihre kaltblütige, selbstsichere Haltung, die Eindruck auf mich machte.

»Wenn du einen Offizier hier auf dem Schiff anredest, hast du den Rang zu sagen«, erklärte Pike mit rauher Stimme. »Verstanden?«

»Jawohl . . . Steuermann.« Murphy zog die Worte mit wohlberechneter Langsamkeit in die Länge. »Hab's verstanden.«

»Steuermann«, brüllte Pike.

»Steuermann«, antwortete Murphy so sanft und gleichgültig, daß es den Steuermann zu weiterem Poltern reizte.

»Gut . . . aber Murphy paßt mir nicht«, sagte er, »Nase . . . das muß dir hier an Bord genügen. Verstanden?«

»Hab verstanden, Steuermann«, lautete die durch ihre sanfte Gleichgültigkeit unverschämte Antwort. »Nasen-Murphy also – Steuermann.«

Und dann lachte er. Alle drei lachten. Wenn man ein Lachen ohne Laut und ohne Bewegung des Gesichts Lachen nennen kann. Nur die Augen lachten. Ein Lachen ohne Heiterkeit, ein kühles, kaltblütiges Lachen.

Sicher ist, daß Pike keinen besonderen Gefallen an diesen seltsamen Persönlichkeiten fand. Er wandte sich an den Anführer, der das Warnungszeichen gegeben hatte. »Und wie heißt du?«

»Bert Rhine, Steuermann«, lautete die Antwort in einem Ton, der ebenso sanft, gleichgültig und seidenweich war wie der des anderen.

»Und du?« Diese Frage galt dem Letzten, dem Jüngsten des Trios – einem schwarzäugigen Burschen mit olivfarbener Haut und einem Gesicht, dessen kameenhafte Schönheit verblüffte. Geboren in Amerika, stellte ich fest, von Emigranten aus Süditalien.

»Twist, Steuermann«, antwortete er in genau derselben Weise wie die beiden andern.

»Viel zu unbequem«, knurrte der Steuermann. »Bub genügt für dich . . . verstanden?«

»Hab verstanden – Steuermann. Bub Twist genügt für mich – Steuermann.«

»Bub allein genügt!«

»Bub – Steuermann.«

Und die drei lachten ihr lautloses, freudloses Lachen.

Der Steuermann war jetzt außer sich vor Wut, die um so schlimmer war, als ihm kein Vorwand zu einem Ausbruch gegeben wurde.

»Nun will ich euch mal was erzählen, euch dreien, und ihr tut gut daran, zuzuhören!« Seine Stimme knirschte förmlich vor unterdrückter Wut. »Ich kenne Leute euren Schlages. Dreck seid ihr! Verstanden? Ihr seid Dreck! Aber eure Arbeit werdet ihr tun wie Männer! Sobald auch nur einer von euch mit einem Auge blinzelt oder nur so tut, als ob er blinzeln wollte, werd' ich ihm was . . . Verstanden? Und jetzt macht, daß ihr wegkommt. Voraus ans Spill!«

Pike drehte sich um, und ich blieb neben ihm, als er achteraus ging.

»Wie gefallen Ihnen die drei?« fragte ich neugierig.

»Das ist die Höhe«, murrte er. »Die Sorte kenne ich. Die haben schon hinter schwedischen Gardinen gesessen, die drei Burschen. Das ist der schlimmste Höllendreck . . .«

Hier wurde er durch ein Schauspiel unterbrochen, das sich ihm vom Großluk aus bot. Auf dem Luk lagen fünf oder sechs Männer und machten sich's bequem, unter ihnen auch Larry, die Vogelscheuche, die den Steuermann einen »alten Schuft« genannt hatte. Offenbar hatte Larry dem Befehl nicht gehorcht, denn er lehnte sich jetzt an seine Schiffskiste, die längst im Vorderkastell hätte sein müssen. Außerdem hätten sie alle schon am Bratspill arbeiten sollen. Der Steuermann sprang auf das Luk und stellte sich dort, turmhoch, neben den Mann.

»Steh auf!« befahl er.

Larry machte einen Versuch und stöhnte. Aber es gelang ihm nicht, auf die Beine zu kommen.

»Ich kann nicht«, sagte er.

»Steuermann.«

»Ich kann nicht, Steuermann. Ich war heut nacht besoffen und hab bei Jefferson gepennt. Und heut morgen war ich ganz steifgefroren. Sie mußten mich mit 'm Hammer losschlagen.«

»Steifgefroren warst du? Alter Schuft!« grinste der Steuermann.

»Wird wohl so sein, Steuermann«, antwortete Larry. Er blinzelte mit seinen trüben, streitsüchtigen Affenaugen. Eine Ahnung begann sich in ihm zu regen, daß der, welcher neben ihm stand, ein Mann war, der Männer kommandieren konnte.

»Gut, ich will dir mal zeigen, was geschieht, wenn man ein alter Schuft ist.« Höhnisch ahmte der Steuermann den irischen Akzent des andern nach.

Und jetzt werde ich berichten, was ich mit eigenen Augen sah . . . und bitte, vergeßt nicht, was ich von den riesigen Flossen des Steuermanns erzählt habe. Mit einem einzigen nach oben gerichteten Hieb der offenen Hand (es waren nur die Finger, die Larrys Gesicht trafen) schleuderte er Larry hoch, daß er rücklings auf seine Kiste fiel. Der Mann neben Larry ließ ein drohendes Knurren hören und wollte kampfbereit aufspringen. Aber er kam gar nicht erst auf die Beine. Mit dem Handrücken gab Pike dem Mann eine ungeheure Backpfeife. Das laute Klatschen des Schlages wirkte einfach verblüffend. Die Kraft des Steuermanns war wirklich ungeheuerlich! Der Schlag sah so leicht, so mühelos aus – es erinnerte an den trägen Tatzenhieb eines gutmütigen Bären, aber es lag ein solches Gewicht von Knochen und Muskeln darin, daß der Mann auf das Deck kollerte.

In diesem Augenblick kam O'Sullivan zufällig vorbei. Er murmelte plötzlich etwas lauter als sonst. Herr Pike hörte es. Sofort wandte er sich kampfbereit wie ein Raubtier zu O'Sullivan um. »Was gibt's?«

Da sah Pike den blöden Ausdruck in O'Sullivans Gesicht und hielt den Schlag zurück. »Narrenhaus«, murrte er.

Unwillkürlich hatte ich nach oben geschaut, um zu sehen, ob Kapitän West auf der Kampanje war, und stellte fest, daß wir durch das Mittschiffshaus von der Kampanje getrennt waren.

Der Steuermann nahm keine Notiz weiter von dem Mann, der stöhnend auf dem Deck lag, sondern stellte sich über Larry, der ebenfalls wimmerte. Der Rest der Bande, die auf dem Luk herumgelungert hatte, stand schon auf den Beinen, überwunden, geknechtet, voller Respekt, und auch ich war von Bewunderung für diesen furchtbaren alten Mann erfüllt. Was ich gesehen, hatte mich völlig von der Wahrheit seiner Erzählungen aus seiner männerhetzenden und männertötenden Vergangenheit überzeugt.

»Wer ist jetzt ein alter Schuft?« fragte er.

»Ich, Steuermann«, jammerte Larry reuevoll.

»Aufstehen!«

Ohne Schwierigkeit kam Larry sofort auf die Beine.

»Und jetzt voraus ans Spill, Mann! Ans Spill!«

Und sie gingen mürrisch und mit schleppenden Füßen, geknechtete Tiere, die sie waren.

 

Ich erstieg die Treppe zum Vorschiff (das, wie ich feststellte, das Vorderkastell, die Kombüse und den Donkey-Maschinenraum enthielt) und ging über die Laufbrücke bis zum Fockmast, von wo ich sehen konnte, wie die Mannschaft den Anker lichtete. Die Britannia lag längsseit, und wir begannen zu laufen.

Ein großer Teil der Mannschaft ging im Kreise um das Spill herum oder war anderweitig auf der Back beschäftigt. Die eigentliche Mannschaft war in zwei Wachen eingeteilt, deren jede fünfzehn Mann zählte. Dazu kamen noch Segelmacher, Schiffsjungen, Bootsmänner und Zimmerbaas. Im ganzen waren es also nicht weniger als vierzig Mann – aber was für welche! Sie waren schlechtgelaunt und schwerfällig. Sie hatten keinen Mumm, kein Feuer, keine Spur von Energie. Jede Bewegung, die sie machen mußten, jeder Handgriff schien sie Mühe zu kosten, man hatte den Eindruck, daß sie Schwerkranke waren, die man aus Krankenhausbetten herbeigeschleppt hatte.

Und krank waren sie ja wirklich – krank vom Suff, denn alle litten an gehöriger Alkoholvergiftung. Viel schlimmer aber war, daß sie entweder schwachsinnig oder verrückt waren.

Ich betrachtete das komplizierte Tauwerk, die stolzaufragenden Masten mit den mächtigen Rahen, die immer höher emporwuchsen, bis die stählernen Masten und Rahen durch schlanke Spieren aus Holz ersetzt wurden. Die mannigfachen Taue und Stags der Takelung hoben sich wie das feinste Spinngewebe vom Himmel ab. Daß eine solche Gesellschaft von Jammergestalten imstande sein sollte, dieses wunderbare Schiff durch Sturm, Finsternis und Gefahren zu lenken, erschien mir jenseits aller Wahrscheinlichkeit. Ich dachte an die beiden Offiziere, an die geistige und physische Überlegenheit Pikes und Mellaires – aber sollten selbst die aus diesen Schwächlingen soviel herausholen können?

Ich sah mir die verkrüppelte, verhungerte, verwelkte Schar von kranken Männern an, die ihren traurigen Trott im Kreise um das Spill machte. Pike hatte wirklich nicht unrecht: Diese Leute hatten nichts gemein mit den feurigen, kräftigen, verteufelten Seeleuten, die die Schiffe in den guten alten Tagen bemannten. Warum in aller Welt sangen sie nicht beim Ankerlichten, wie sich's gehört? In alten Tagen – das hatte ich tausendmal gelesen – wurde der Anker stets gelichtet, während die Männer ihre heiteren Lieder dazu sangen.

Bald wurde es mir langweilig, diese geistlose Vorstellung länger anzusehen, und ich ging auf meiner Forschungsreise wieder achteraus über die schlanke Laufbrücke. Die Kampanje, die in Wirklichkeit das Dach der gesamten Hütten bildete und den ganzen Achterteil des Schiffes einnahm, war sehr groß. Hier befanden sich das halbrunde und zur Hälfte überdeckte Ruderhaus und das Navigationshaus, dessen Türen auf jeder Seite in einen schmalen Gang führten. Ich guckte neugierig hinein und wurde von Kapitän West mit einem freundlichen Lächeln begrüßt. Er saß bequem zurückgelehnt auf einem Schlingerstuhl und hatte die Füße auf das Pult vor sich gelegt. In einem großen Sessel saß der Lotse. Beide rauchten gemütlich ihre Zigarren.

Als ich die Treppe zur Kajüte hinunterstieg, hörte ich Fräulein West leise singend in ihrer Kammer umhergehen. Ich ging an der Pantry vorbei und benutzte die Gelegenheit, den Steward zu begrüßen. Hier in seinem kleinen Reich herrschte wirkliche Tüchtigkeit. Jeder einzelne Gegenstand war sauber und auf seinem Platz, und man hätte vergeblich einen Diener gesucht, der lautloser sein konnte als er. Als er mir sein Gesicht zuwandte, war es ebenso ausdruckslos – oder ausdrucksvoll – wie das einer Sphinx. Aber seine schiefen, schwarzen Augen leuchteten vor Intelligenz.

»Was meinen Sie zu der Mannschaft?« fragte ich als Vorwand, um in seine Festung einzubrechen.

»Narrenhaus«, antwortete er ohne Zögern und schüttelte unzufrieden den Kopf. »Alle zusammen verrückt. Nicht gut. Gar nicht gut. Lauter Dreck. Alles in die Hölle.«

Das war alles, was er darüber zu sagen hatte, aber es bestätigte meine eigene Beobachtung.

Meine Kabine war entzückend. Wada hatte schon alles ausgepackt, meine sämtlichen Kleidungsstücke weggelegt und unzählige Regale mit den Büchern gefüllt, die ich mit an Bord gebracht hatte. Alles war schon an seinem Platz, von meinem Rasierzeug, das im Schubfach neben der Waschschüssel lag, meinen Seestiefeln und meinem Ölzeug, das zum sofortigen Anziehen bereit hing, bis zu meinem Schreibzeug auf dem Tisch. Vor diesem stand ein mit Leder bezogener Schlingersessel, der an den Fußboden festgeschraubt war. Meine Pyjamas waren bereitgelegt, mein Hausanzug ebenfalls, wie die Morgenschuhe, die auf ihrem gewohnten Platz neben dem Bett standen.

Ich war tief verstimmt über alles, was ich an Deck erlebt hatte. Und als ich mich jetzt in meinem Sessel zurücklehnte und ein Buch aufschlug, kam es wie eine Vorahnung über mich, daß diese Reise verhängnisvoll werden sollte. Als ich mich dann aber im Raum umsah und feststellen mußte, daß ich auf keinem Personendampfer je so gut untergebracht gewesen war wie hier, da ließ ich alle dunklen Ahnungen wieder fahren und malte mir aus, wie ich Wochen und Monate all die wunderbaren Bücher lesen sollte, die ich so lange vernachlässigt hatte.

Bei Gelegenheit fragte ich Wada, ob er die Mannschaft gesehen hätte. Nein, aber der Steward hatte gesagt, daß es die schlechteste Mannschaft sei, die er je auf See getroffen hätte.

»Er sagen, alle verrückt«, erklärte Wada. »Er sagen, später großer Radau. Sie sehen, er sagen die ganze Zeit. Sie werden sehen, Sie werden sehen. Er guter alter Mann. Fünfundfünfzig Jahr, er sagen. Sehr kluger Chinamann. Eben jetzt, erstes Mal in viele Jahr, er gehen wieder zu See. Vorher sind er großer Geschäftsmann in San Francisco. Dann aber großer Krach. Sie sagen, er Opiumschmuggler. Er aber kommen nicht in Gefängnis, denn er nehmen guter Anwalt, aber langer Zeit Anwalt arbeiten, und als Krach vorbei, Anwalt nehmen all sein Geld. Sein ganz Geschäft. Alles. Sehr tüchtiger Anwalt! Dann er gehen zu See. Er verdienen großen Geld. Fünfundsechzig Dollar in ein Monat. Er aber nicht froh hier. Mannschaft alles verrückt. Wenn dieser Mal Reise Schluß, er gehen von Schiff und können machen großen Geschäft in San Francisco.«

Als Wada nachher ein Bullauge geöffnet hatte, um frische Luft hereinzulassen, hörte ich das Gurgeln und Schwappen des Wassers längsseit des Schiffes. Da wußte ich, daß wir den Anker gelichtet, daß die Britannia uns ins Schlepp genommen hatte und uns zur Chesapeakebucht hinausbugsierte. Unwillkürlich meldete sich bei mir der Gedanke, daß es noch nicht zu spät sei. Ich konnte noch sehr gut das Abenteuer aufgeben und mit der Britannia nach Baltimore zurückkehren. Aber da hörte ich ein leises Klappern von Porzellan aus der Pantry, wo der Steward sich anschickte, den Tisch zu decken, und außerdem war es so warm und gemütlich hier – und das Buch war so spannend.

 

Das Mittagessen übertraf in jeder Beziehung meine Erwartungen, und ich stellte fest, daß der Koch ein Meister war. Fräulein West führte den Vorsitz an der Tafel, und obgleich sie und der Steward sich gar nicht kannten, arbeiteten sie doch glänzend zusammen. Nach der Präzision, mit der er bei Tisch bediente, hätte man glauben sollen, daß er seit vielen Jahren Diener in ihrem Hause war und sie genau kannte.

Der Lotse nahm sein Essen im Navigationshaus ein, so daß wir bei Tisch nur die vier waren, die während der langen Reise zusammen essen sollten. Kapitän West und seine Tochter saßen einander gegenüber, während ich rechts vom Kapitän und Pike gegenübersaß. Fräulein West saß also rechts von mir, aber um die Tischecke.

Pike hatte sich feingemacht und eine schwarze Jacke angezogen, die wie ein faltiger Sack über den mächtigen Muskeln hing, mit denen sein krummer Nacken gepolstert war. Er sprach während des ganzen Essens kein Wort. Er hatte indessen zu viele Jahre am Tisch des Kapitäns gesessen, als daß seine Manieren nicht in jeder Beziehung tadellos gewesen wären. Zuerst glaubte ich, daß er sich durch die Anwesenheit Fräulein Wests eingeschüchtert fühlte. Später wurde mir jedoch klar, daß es die Anwesenheit des Kapitäns war, die diesen Druck ausübte. Kapitän West hatte nämlich eine besondere Art ihm gegenüber, die ich allmählich kennenlernte. So fern Pike und Mellaire den Matrosen standen, einfach weil sie von ganz anderer, höherer Art waren, ebenso fern stand Kapitän West seinen Offizieren. Er war unbedingter Aristokrat, durch und durch Aristokrat.

Andererseits behandelte Kapitän West mich als einen vollkommen gesellschaftlich Gleichgestellten. Ich war ja freilich auch sein Passagier. Fräulein West behandelte mich in derselben Weise, war aber dem Steuermann gegenüber viel entgegenkommender als ihr Vater. Und Pike antwortete ihr höflich mit »ja, gnädiges Fräulein« und »nein, gnädiges Fräulein«, während er mit guten Manieren aß und mich mit seinen durchdringenden blauen Augen unter den buschigen Brauen betrachtete. Ich meinerseits betrachtete ihn auch prüfend. Trotz seiner brutalen Vergangenheit hatte ich doch Sympathie für diesen Mann. Er war anständig und aufrecht. Aber mehr noch als das gewann mich für ihn sein knabenhaftes Lachen, das er hören ließ, als ich eine lustige kleine Geschichte zum besten gab.

Fräulein West war heiter, lebhaft, erfrischend. Ich bemerkte abermals, daß das feine, fast zarte Oval ihres Gesichtes nicht ganz mit ihrer Gestalt übereinstimmte. Sie war nämlich in Wirklichkeit ein durchaus kräftiges und gesundes junges Weib, ihre Formen hatten bei aller Schlankheit doch die schwellende Rundung lebendiger Kraft. Als ich ihr Gesicht näher betrachtete, entdeckte ich auch, daß es lediglich die Linien des Ovals selbst waren, die es so zart erscheinen ließen. Es war zwar fein, aber nicht schwächlich. Ihr Hals selbst war wie eine schöne gerade weiße Säule. Selbst ihre Hände zogen meine Aufmerksamkeit auf sich – sie waren nicht klein, aber wohlgeformt, weiß und stark und gepflegt.

Fräulein West erzählte, wie unerwartet ihr die ganze Reise gekommen war – sie erklärte ihren Entschluß als eine reine Laune. Während sie sprach, rechnete ich in Gedanken aus, wie viele wirklich leistungsfähige Menschen sich auf der Elsinore befanden. Es waren Kapitän West und seine Tochter, die beiden Steuermänner, dann selbstverständlich ich selbst und Wada sowie der Steward und endlich – ganz ohne Zweifel – der Koch. Die Zahl der Leistungsfähigen betrug also acht, aber davon waren freilich der Koch, der Steward und Wada Diener und keine Seeleute und Fräulein West und ich Überzählige. Für die Arbeit selbst blieben also nur drei – drei von einer Schiffsbesatzung von fünfundvierzig Mann. Ich zweifelte nicht, daß es noch andere gab, die etwas leisten konnten, denn es erschien mir ganz unmöglich, daß mein erster Eindruck von der Mannschaft richtig sein sollte. Übrigens war ja auch der Zimmermann da – er war auf seinem Gebiet vielleicht ebenso tüchtig wie der Koch. Endlich mochten noch die beiden Segelmacher hinzukommen, die ich noch nicht gesehen hatte.

Kurz darauf begann ich – noch bei Tisch – keck von dem zu erzählen, was mich besonders interessierte und meine unumschränkte Bewunderung erregt hatte, nämlich wie meisterhaft Pike und Mellaire sich die Herrschaft über diese traurige Mannschaft gesichert hatten. Als ich zu der Geschichte auf dem großen Luk kam, wo Pike Larry in die Luft geschleudert hatte . . . und zwar nur mit einem Klapps von seinen Fingerspitzen . . . sah ich einen warnenden, fast drohenden Ausdruck in den Augen des Steuermanns. Nichtsdestoweniger fuhr ich in meiner Erzählung fort und beschrieb das ganze Erlebnis.

Als ich geendet hatte, herrschte Schweigen. Fräulein West beschäftigte sich eifrig mit einer kupfernen Kaffeemaschine. Pike war im höchsten Maße in die interessante Tätigkeit des Nüsseknackens vertieft, vermochte aber doch nicht ein ganz leises schalkhaftes Aufleuchten seiner Augen zu verbergen. Kapitän West hingegen sah mir in die Augen – aber, mein Gott, aus welcher Ferne! Seine blauen Augen waren so klar, seine Stimme so sanft und leise wie je.

»Es gibt eine einzige Regel, die ich Sie freundlichst zu befolgen bitte, Herr Pathurst – wir reden nie von der Mannschaft.«

Das war eine tüchtige Backpfeife für mich. Und mit dem ausgesprochenen Gefühl, ein Leidensgenosse Larrys zu sein, beeilte ich mich zu bemerken: »Es war durchaus nicht die disziplinare Seite der Angelegenheit, die mich interessierte, sondern die Kraftleistung an sich.«

»Die Mannschaft macht uns Mühe genug, so daß wir nicht nötig haben, uns auch noch von ihr zu unterhalten, Herr Pathurst«, fuhr Kapitän West so ruhig und ungestört fort, als hätte ich überhaupt nichts gesagt. »Die Behandlung der Mannschaft überlasse ich meinen Offizieren. Das ist ihre Sache, und sie wissen ganz genau, daß ich keine überflüssige Härte dulde.«

Über das harte Gesicht Pikes flog der fast unmerkliche Schatten eines ironischen Lächelns, während er scheinbar teilnahmslos das Tischtuch betrachtete. Fräulein West lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema und brachte uns bald zum Lachen durch die witzige Art, wie sie einen Streit mit einem Droschkenchauffeur in Boston erzählte.

Nach dem Essen ging ich in meine Kabine, um mir Zigaretten zu holen, und benutzte die Gelegenheit, um Wada über den Koch auszufragen. Wada war nämlich stets mit Neuigkeiten versorgt.

»Er heißen Louis«, erzählte er. »Er Chinamann. Nein – eigentlich nur halb Chinamann. Andere Hälfte Englischmann. Sie wissen, Napoleon langer Zeit Insel gelebt und tot dieser Inselland?«

»Sankt Helena«, antwortete ich.

»Richtig. Dort Louis geboren. Er sprechen guter Englisch.«

In diesem Augenblick kam Mellaire vom Deck in die Kabine herunter, nachdem er vom Steuermann abgelöst worden war. Auf dem Wege nach dem großen Raum im Heck, wo er zu tun hatte, kam er an meiner Kabine vorbei. Sein Gruß »Guten Abend, Herr Pathurst«, klang würdevoll und höflich, und doch war mir der Mann unsympathisch. Selbst wenn er mit mir sprach und liebenswürdig lächelte, hatte ich das Gefühl, daß etwas in der Tiefe seines Gehirns mich prüfend überwachte und erforschte, etwas Feindliches und Drohendes. Und irgendwie erinnerte er mich an die drei Männer, die als letzte aus dem Vorderkastell aufgetaucht waren, und denen Pike die Leviten gelesen hatte.

Hinter Mellaire trottete ein schüchternes und verlegenes Individuum mit dem Gesicht eines etwas blöden Jungen und dem Körper eines Riesen. Seine Füße waren fast noch größer als die des Steuermanns, aber die Hände – ich warf einen schnellen Blick auf sie – doch nicht ganz so groß wie die Pikes.

Als sie vorbeigegangen waren, sah ich Wada fragend an.

»Er Zimmerbaas. Er schaffen zweiter Tisch. Sein Name sein Lavroff. Steward sagen, er sehr viel jung für Zimmerbaas. Vielleicht zweiundzwanzig Jahren. Vielleicht auch dreiundzwanzig.«

Als ich meinen Kopf dem geöffneten Bullauge über dem Schreibtisch näherte, hörte ich wieder das Glucksen und Schwappen des Wassers. So ruhig und lautlos bewegte sich das Schiff vorwärts, daß man, wenn man am Tische saß, nicht auf den Gedanken kam, daß man sich nicht auf festem Boden befand. Ich war immer nur auf Dampfern gereist, und ich konnte mich eben nur schwer daran gewöhnen, daß es hier keine Schraube und daher auch nicht das unaufhörliche Zittern des Schiffskörpers gab.

»Nun, und was meinen Sie«, fragte ich Wada, der ebensowenig wie ich das Reisen auf einem Segelschiffe kannte.

Er lächelte höflich.

»Ich wissen nicht recht. Vielleicht alles gut und schön. Vielleicht auch nicht. Wir sehen.«

»Meinen Sie auch, daß es Krawall geben wird?«

»Ich finden, Seemänner sein sehr komisch«, drückte er sich um die Antwort.

 

Als ich meine Zigarette geraucht hatte, ging ich an Deck und schlenderte nach vorn, um mir die Arbeit dort anzusehen. Über mir hoben sich die Formen der Segel undeutlich von dem sternenübersäten Himmel ab. Die Segel sollten gemehrt werden, aber es schien sehr langsam zu gehen. – Jedenfalls kam es selbst mir, der doch der reinste Anfänger auf diesem Gebiet war, so vor. Kaum zu erkennende Männergestalten zogen in langem Reihen an Tauen. Sie arbeiteten unter mürrischem, müdem Schweigen, obgleich der allgegenwärtige Pike Befehle fauchte und schwefelstinkende Flüche und Verwünschungen auf ihre sündigen Köpfe hinabschmetterte.

Nach allem, was ich über Seefahrten gelesen hatte, stand unerschütterlich bei mir fest, daß kein Schiff je unter so traurigen Verhältnissen und so vielen falschen Griffen in See gestochen war. Es dauerte nicht lange, so kam auch Mellaire und half Pike, die Leute zurechtzuweisen und zu kommandieren. Es war noch nicht acht Uhr abends, und alle Mann waren an Deck. Es schien, als ob die Leute nicht einmal die Taue kannten. Hin und wieder sah ich einen der beiden Steuermänner auf die Reling springen und den Leuten das richtige Tau in die Hand drücken.

Ich dachte mir schließlich, daß die Männer an Deck die unfähigsten wären. Von oben hörte ich nämlich Rufe und Geräusche, aus denen ich schloß, daß diejenigen, die jedenfalls als etwas befahren gelten konnten, dort oben im Begriff waren, die Segel loszumachen.

Aber an Deck! Zwanzig oder dreißig von den armen Teufeln zogen an einem Tau, um eine Rahe aufzuheißen, aber sie taten es ohne jedes Zusammenspiel der Kräfte und mit peinlich langsamen und schlaffen Bewegungen.

»Alle Mann hieven, alle zugleich, hiev ahoi!« brüllte der Steuermann. Und dann gelang es ihnen mit Mühe, ein paar Fuß weiterzukommen, bis sie wieder stehenblieben. Sobald jedoch einer der Steuermänner hinzusprang und mit seinen Kräften half, ging es ohne Halt über das ganze Deck. Denn waren die Steuermänner auch alte Leute, so wog doch jeder von ihnen ein halbes Dutzend dieser Schwächlinge auf.

»Das ist alles, was heute noch von Seeleuten übriggeblieben ist.« Pike machte eine kleine Pause, um mir das ins Ohr zu fauchen.

»Es ist sonst nicht Sache der Offiziere, hier zu hieven und zu schuften. Aber was zum Deibel soll man machen, wenn die Bootsleute schlimmer sind als die Gasten?«

»Ich dachte, Seeleute singen immer beim Hieven«, sagte ich.

»Tun sie auch. Wollen Sie hören?«

Ich spürte den Spott in seiner Stimme, sagte aber doch, daß ich es gern hören möchte.

»Hör mal her, Bootsmann!« knurrte Pike. »Wach mal auf! Laß singen. Das große Marsfall!«

In der Pause, die jetzt folgte, hätte ich wetten mögen, daß Sundry Buyers seine Hände gegen den Unterleib drückte, während Nancy sich, das Gesicht in unendlicher Hoffnungslosigkeit erstarrt, die Lippen netzte, um mit dem Gesang zu beginnen.

Er war es auch, der jetzt begann, denn ich glaube nicht, daß ein anderer eine so klägliche Begräbnisstimme erhoben hätte. Es klang unmusikalisch und unschön, leblos und unbeschreiblich ungemütlich. Die Worte selbst aber zeigten, daß sie eigentlich vor Feuer und Wildheit brausen und jauchzen sollten, denn was Nancy so wehmütig ableierte, lautete:

»Fern, fern, fern von hier . . .
Schöne Stiefel hat Paddy Doyt,
deshalb woll'n wir ihn töten heut . . .«

»Halt die Schnauze! Aufhören!« brüllte Pike. »Es ist kein Begräbnislied! Ist denn keiner, der was singen kann? Na man los, das Lied von der Großmarsrahe!« Er unterbrach sich und war mit einem Sprung auf der Finkennetzreling, um den Leuten die falschen Taue wegzunehmen und ihnen die richtigen in die Hand zu stecken.

»Und jetzt los, Bootsmann! Hiev ahoi!«

Aus der Finsternis stieg Sundry Buyers Stimme auf, heiser und hüstelnd und noch schauriger als die Nancys.

»Heißt auf die Großmarsrahe –
Den Whisky her, Johnny!«

Der zweite Vers war ein Kehrreim, der im Chor gesungen werden sollte, aber nur zwei schwache Stimmen fielen ein. Mit zitternder Stimme sang Sundry Buyers die nächste Strophe:

»Am Whisky starb mein Schwesterlein –
Den Whisky her, Johnny!«

Da aber griff Pike ein, nahm das Tauende, das dem Koveinagel am nächsten hing, und erhob seine Stimme, die seltsam fremd und wild klang:

»Am Whisky starb mein Alter auch!
Den Whisky her, Johnny!«

Er sang eine nach der anderen der primitiv-wilden Strophen und versetzte die Mannschaft in solche Stimmung, daß sie ihre Arbeit tat und begeistert den Kehrreim mitbrüllte.

Und solange er seine Stimme hören ließ, waren sie wach und arbeiteten rasch und rührig, bis er den Gesang abbrach und zu belegen befahl.

Im selben Augenblick verließ das Leben sie wie die Luft einen aufgeblasenen Ball. Sie waren wieder wimmernde, wertlose Geschöpfe, die sich gegenseitig im Wege standen, im Dunkeln strauchelten und schwankten und nicht wußten, wie sie ein Tau anfassen sollten. Und wenn sie endlich eines erwischten, war es natürlich ein falsches. Es gab selbstverständlich auch Drückeberger unter ihnen, und einmal hörte ich vom Mittschiffshaus das Klatschen von Schlägen, Flüche und Stöhnen, bis zwei Männer aus der Dunkelheit auftauchten, während Pike ihnen eine Litanei des Unheils vorsang, das sie treffen würde, wenn sie es noch einmal versuchten.

Das Ganze war viel zu entmutigend und trostlos, als daß ich Lust verspürt hätte, länger stehenzubleiben und zu warten. Ich schlenderte deshalb achteraus und stieg auf die Kampanje. In Lee des Navigationshauses spazierten Kapitän West und der Lotse friedlich auf und ab. Auf meinem Wege achteraus sah ich den welken alten Mann, den ich schon früher bemerkt hatte, am Steuerrad stehen. Im Lichtschein des Kompaßhäuschens sahen seine kleinen blauen Augen noch bösartiger aus als sonst. So jämmerlich klein war er und so groß das messingbeschlagene Rad, daß beide von gleicher Größe zu sein schienen. Sein Gesicht war welk, narbig und runzelig, und er wirkte um fünfzig Jahre älter als Pike. Er war ein ausgemergelter Greis, den man sich kaum als befahrenen Seemann auf einem der stolzesten Segler der See vorzustellen vermochte. Später erfuhr ich – natürlich durch Wada –, daß er Andy Fay hieß und nicht mehr als dreiundsechzig Jahre für sich in Anspruch nahm.

Ich lehnte mich in Lee des Steuerhauses an die Reling und starrte in die windumsausten Spieren und die zahllosen Taue hinauf. Nein, entschied ich, nein . . . die Reise lockte mich nicht. Die ganze Atmosphäre an Bord war nicht, wie sie sein sollte. Zuerst die kalten Wartestunden auf den Molen. Dann, daß Fräulein West mitgekommen war. Endlich die Mannschaft aus halbverreckten Männern und Irrenhauskandidaten. Ich dachte, ob der verwundete Grieche im Mittschiffshaus vielleicht noch daläge und unverständliches Zeug schwätzte, oder ob Pike ihn schon zusammengenäht hätte . . . und mir war ganz klar, daß ich keine Lust verspürte, dabei zu sein, wenn der Steuermann den Chirurgen spielte.

Selbst Wada, der nie auf einem Segelschiff gefahren war, hegte seine Zweifel in bezug auf diese Reise. Ebenso erging es dem Steward, der den größten Teil seines Lebens auf Seeschiffen verbracht hatte. Für Kapitän West kam die Mannschaft ja nicht in Frage. Und Fräulein West war so abscheulich robust, daß sie Dinge dieser Art nur optimistisch betrachten konnte. Sie lebte; ihr rotes Blut sang ihr in die Ohren, daß sie immer leben würde und daß ihrer prachtvollen Persönlichkeit nichts Böses geschehen könnte.

Oh, glaubt mir, ich habe die Wege des roten Blutes kennengelernt. Aber jetzt erschien mir die rotblütige Gesundheit Fräulein Wests tatsächlich als Beleidigung . . . denn ich wußte, wie gedankenlos und rücksichtslos das rote Blut ist. Und für mindestens fünf Monate – Pike hatte ja ein Pfund Tabak oder ein Monatsgehalt wetten wollen – sollte ich gezwungen sein, auf einem Schiff mit ihr zu bleiben. So gewiß der Saft, der das Weltall durchströmt, immer und ewig derselbe bleibt, so sicher wußte ich, daß sie mich, ehe die Reise zu Ende war, mit ihren Werbungen belästigen würde. Nicht etwa, daß ich so überzeugt von meiner eigenen Unwiderstehlichkeit wäre, ich hatte nur einen alles eher als erhabenen Begriff von der Frau als Männerjägerin. Nach meinen Erfahrungen mit Frauen machen sie Jagd auf Männer aus dem blinden Naturtrieb, der auch die Sonnenblume zwingt, sich nach der Sonne zu drehen, oder den wilden Wein Flächen suchen läßt, an die er sich mit seinen Ranken anklammern kann.

Nennt mich blasiert – ich habe nichts dagegen, wenn man damit weltmüde im intellektuellen, künstlerischen und gefühlsmäßigen Sinne meint, wie eben ein junger Mann in den Dreißigern es werden kann. Ich war nämlich in den Dreißigern, und ich war müde all dieser Dinge – müde und voller Zweifel. Das war auch einer der Gründe dieser Reise. Ich wünschte, von mir selbst, von all diesen Dingen fortzukommen und dadurch mit ihnen fertig zu werden.

Zuweilen schien es mir, als hätte diese ganze Weltmüdigkeit ihren Gipfel durch den Erfolg meines Schauspiels erreicht – meines ersten Stückes – wie ja alle wissen. Aber es war ein solcher Erfolg geworden, daß mir selbst Zweifel gekommen waren, ganz wie bei dem Erfolg meiner Gedichte.

Jetzt wird man vielleicht zu verstehen beginnen, was ich unter der Weltkrankheit verstehe, die mich ergriffen hatte. Tatsächlich war ich sehr krank gewesen und war es noch. Mich hatte die törichte Idee gepackt, mich von der Welt zu isolieren. Einen Augenblick hatte ich sogar daran gedacht, nach Molokai zu gehen und mein Leben den Aussätzigen zu widmen – ich, der dreißig Jahre alt, stark und gesund war –, ich, der nie etwas Tragisches erlebt, und der schließlich ein Einkommen hatte, daß ich nicht wußte, wohin damit, ich, dem es gelungen war, dank selbständiger Arbeit seinen Namen auf aller Lippen zu bringen!

Vielleicht wird man denken, daß der Erfolg mir einfach den Kopf verdreht hatte. Sehr richtig. Zugegeben. Aber der verdrehte Kopf war nicht aus der Welt zu schaffen, war nicht zu ändern, war eben meine Krankheit, und zwar eine wirkliche Krankheit und eine unabweisbare Tatsache. Ich hatte einen intellektuellen und künstlerischen Wendepunkt erreicht, einen Wendepunkt in meinem Leben. Und ich hatte selbst die Diagnose meiner Krankheit gestellt und mir als Kur diese Reise verschrieben. Und hier traf ich nun diese erschreckend gesunde und in ihrem tiefsten Wesen weibliche junge Dame – Fräulein West. Wahrhaftig das letzte, womit ich gerechnet hatte.

Eine Frau! Der Himmel mag wissen, daß die Frauen mich mit ihren Nachstellungen genug geplagt hatten, um sie gründlich kennenzulernen. Ich überlasse es Ihnen, lieber Leser, zu urteilen: dreißig Jahre alt, von nicht gerade abschreckendem Äußern, mit einem Namen und einem wirklich imponierenden Jahreseinkommen . . . warum sollte die Frauen mir da nicht nachlaufen? Selbst wenn ich ein erbarmungswürdiger Buckliger gewesen wäre, würden sie mich allein meiner künstlerischen Position und meines Einkommens wegen verfolgt haben.

Ja . . . und die Liebe! Die Liebe? Sollte ich die Liebe nicht kennen – lyrische, leidenschaftliche, verrückte, romantische Liebe? Das alles aber gehörte für mich einer längst vergangenen Zeit an. Natürlich hatte auch ich gezittert und gesungen, geschluchzt und geseufzt – oh, ja, ich hatte auch den Schmerz kennengelernt und meine Toten begraben und beklagt! Aber das lag alles so ungeheuer weit zurück. Wie jung war ich doch damals gewesen – vierundzwanzig erst! Und nach all diesen Erfahrungen war ich zu der bitteren Weisheit gelangt, daß selbst der Schmerz, den man für unvergänglich hält, daß selbst er eines Tages vergeht und verweht. Und dann, ja dann hatte ich wieder lachen können und hatte Liebesspiele gespielt mit den süßen abenteuerlustigen Motten, die um das Licht meines Vermögens und meiner Künstlerschaft geschwärmt waren, und als ich alles das hinter mir hatte, zog ich mich, angeekelt von der Schlauheit und Ränkesucht der Frauen, wieder zurück und stürzte mich in lange und kampfreiche Abenteuer im Reiche des Geistes. Und jetzt war ich also hier, an Bord der Elsinore, aus dem Sattel gehoben bei meinen Zusammenstößen mit den großen Problemen, mit zerschlagenem Schädel fortgetragen vom Schlachtfeld des Geistes.

Während ich mich an die Reling lehnte, versuchte ich mich von den Vorahnungen kommenden Unheils zu befreien. Aber immer wieder kehrten meine Gedanken zu Fräulein West zurück, die dort unten trällernd umherging, eifrig damit beschäftigt, ihr kleines Nest zu bauen. Und von ihr glitten meine Gedanken weiter zu dem ewigen Mysterium der Frau. Ja, selbst ich mit meiner ganzen Verachtung für das Weib, selbst ich wurde doch immer wieder von ihrem nie zu lösenden Rätsel eingefangen.

Oh, nein, ich mache mir keine Illusionen. Die Frau, die Liebessucherin, sie, die Quälende und Besitzende, die Zarte und doch Gewalttätige, Sanfte und doch Vergiftende, die hochmütiger ist als Luzifer und doch, wie er, keinen Stolz kennt, sie übt eine ständige, fast krankhafte Anziehungskraft auf jeden aus, der zu denken vermag. Was für eine Flamme ist es, die all ihre Widersprüche und ihr Unedles durchglüht? Was ist es, das ihr den unbarmherzigen, leidenschaftlichen Drang nach Leben, immer neuem Leben auf diesem Stern eingibt? Es gibt Zeiten, da diese Sucht nach Leben mir frech und schreckenerregend erscheint. Seelenlos. Nein, man entgeht der Frau nie. Wie ein Wilder nach einem tiefen Tale zurückkehrt, wo es Gespenster und vielleicht auch Götter gibt, so kehre auch ich immer wieder zu meinen Betrachtungen über die Frau zurück.

Die Stimme des Steuermanns unterbrach meine Grübelei. Ich hörte ihn vorn auf dem großen Deck fauchen:

»Ahoi, du da, auf die Großmarsrahe! Wenn du die Seising kappst, haue ich dir deinen verfluchten Schädel zu Mus, verstanden?«

Dann hörte ich ihn wieder rufen, aber seine Stimme schien wie verwandelt. Da er auch den Namen Henry rief, verstand ich, daß es sich um den Jungen vom Schulschiff handelte:

»Du, Henry, die Oberbramleesegelrahe! Aber dreh mir die Seising nicht auf, hörst du? Die Rahe entlang und dann ans Drehreep.«

Das riß mich aus meinen Träumereien. Ich beschloß, zu Bett zu gehen. Als ich die Hand nach dem Türgriff des Navigationshauses ausstreckte, hörte ich wieder die Stimme des Steuermanns:

»Aufwachen, ihr Affen! Und ein bißchen willig!«

 


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