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XII.
Joe versucht zu entwischen

Joe hatte nichts dagegen. Er war sogar froh, daß er nicht den ersten Fisch gefangen hatte, denn das paßte gut in einen Plan, der ihm während des Schwimmens eingefallen war. Er warf den letzten ausgenommenen Fisch in einen Eimer mit Wasser und blickte sich nach allen Seiten um. Die Quarantäne-Station war eine knappe halbe Meile entfernt, und er konnte den Wachposten sehen, der am Strand auf und ab marschierte. Joe ging in die Kajüte. Er horchte auf die schweren Atemzüge der Schläfer. Um sein Kleiderbündel zu holen, hätte er so dicht an Frisco Kid vorbeigehen müssen, daß er beschloß, es zurückzulassen. Er kehrte an Deck zurück, zog vorsichtig das Beiboot längsseits, kletterte mit zwei Riemen hinein und stieß sich ab. Er hielt auf die Quarantäne-Station zu. Anfangs ruderte er sehr sachte, da er fürchtete, bei übergroßer Hast Lärm zu machen. Aber allmählich setzte er die Ruder kraftvoller ein, bis er schließlich mit regelmäßigen, kraftvollen Schlägen dahinschoß. Als er etwa die Hälfte der Strecke hinter sich hatte, blickte er auf. Nun mußte seine Flucht gelingen. Denn selbst wenn man ihn jetzt entdeckte, wäre es der Blender unmöglich, Segel zu setzen und ihn einzuholen, bevor er landete und sich in den Schutz des Mannes begab, der dort drüben die Uniform der amerikanischen Armee trug.

Vom Ufer her hörte er einen Schuß, aber sein Rücken war der Abschußstelle zugekehrt, und er machte sich nicht die Mühe, den Kopf zu wenden. Ein zweiter Knall folgte, und eine Kugel schlug knapp einen Meter neben dem einen Ruderblatt ins Wasser. Diesmal drehte Joe sich um. Der Soldat am Strand hob gerade sein Gewehr zum dritten Schuß auf ihn.

Joe saß in einer blödsinnigen Klemme. Wenige Minuten zähes Rudern, und er wäre am Ufer und in Sicherheit. Aber an diesem Ufer stand aus unerfindlichen Gründen ein Soldat der Vereinigten Staaten, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, auf ihn zu schießen. Als Joe ihn zum dritten Mal anlegen sah, stemmte er sich mit aller Gewalt in die Riemen. Das Boot kam zum Stillstand. Der Soldat setzte sein Gewehr ab und beobachtete ihn gespannt.

»Ich will an Land!« rief Joe ihm zu. »Es ist sehr wichtig!«

Der Mann in Uniform schüttelte den Kopf.

»Aber es ist wirklich wichtig! Sie müssen mich an Land lassen!«

Joe blickte rasch zur Blender zurück. Augenscheinlich hatten die Schüsse Franzosen-Pete aufgeweckt, denn das Großsegel war gesetzt. Gerade in diesem Augenblick wurde der Anker gelichtet. Der Klüver fing den Wind.

»Landen verboten!« rief der Soldat. »Pocken!«

»Ich muß an Land!« schrie Joe. Er unterdrückte ein Schluchzen und wollte weiterrudern.

»Dann schieß ich auf dich«, war die ermutigende Antwort. Und schon ging das Gewehr wieder in Anschlag.

Blitzschnell dachte Joe nach. Die Insel war groß. Vielleicht waren weiter an der Küste entlang keine Soldaten. Wenn es ihm nur erst einmal gelang, an Land zu kommen – ob und wie schnell sie ihn erwischten, war ihm dann ziemlich gleichgültig. Natürlich konnte er die Pocken bekommen, aber selbst das war ihm lieber, als zu den Piraten zurückzukehren. Er drehte das Boot halb nach rechts und legte sich mit aller Anstrengung in die Riemen. Die Bucht war recht groß und der nächste Landvorsprung, um den er herumrudern mußte, ein gutes Ende entfernt. Hätte er mehr seemännische Erfahrung gehabt, dann wäre er in entgegengesetzter Richtung auf die gegenüberliegende Landzunge zugerudert. Denn dann hätten seine Verfolger gegen den Wind segeln müssen. Nun aber hatte die Blender den Wind genau von achtern, und sie kam bald näher.

Dennoch war der Ausgang des Rennens eine ganze Weile unbestimmt. Die Brise war leicht und nicht sehr stetig, so daß manchmal Joe und dann wieder die anderen einen Vorsprung gewannen. Einmal frischte es auf, und die Schaluppe kam bis auf hundert Meter heran. Aber dann flaute der Wind plötzlich wieder ab, und das mächtige Großsegel der Blender schlappte müßig hin und her.

»Ah! Klauen die Boot, nickt warr?« brüllte Franzosen-Pete zu Joe hinüber. Dann rannte er in die Kajüte und kam mit einer seiner Flinten zurück. »Ick kriesch dir! Komm zurick, schnähl, schnähl, oder ick schieß dir!« Aber er wußte genau, daß der Soldat sie vom Ufer aus beobachtete, und wagte daher nicht zu schießen; nicht einmal über Joes Kopf hinweg.

Joe konnte das allerdings nicht wissen. In seinem ganzen bisherigen Leben war noch nie auf ihn geschossen worden – und nun in den letzten vierundzwanzig Stunden gleich zweimal! Einmal mehr oder weniger spielte kaum noch eine Rolle. Er pullte daher stetig weiter, während Franzosen-Pete den wilden Mann markierte und ihm alle erdenklichen Strafen androhte, für den Fall, daß er ihm noch einmal in die Finger geriete. Zu allem Überdruß fing jetzt auch Frisco Kid noch an zu meutern.

»Wag es nur, auf Joe zu schießen, und ich sorge dafür, daß sie dich hängen!« drohte er. »Laß ihn abhauen. Er ist ein guter Junge und ganz in Ordnung. Dieses dreckige Leben, das wir beide führen, ist nichts für ihn!«

»Du auch noch fangen an?« kreischte der Franzose, außer sich vor Wut. »Verdammte Ratte. Ick knallen dir auck ab!«

Er wollte sich auf den Jungen stürzen, aber Frisco Kid war schneller und jagte vor ihm her vom Ruderstand zum Bugspriet und wieder zurück. Da in diesem Augenblick frischer Wind aufkam, gab Franzosen-Pete die Jagd um der größeren willen auf. Er sprang an die Pinne, fierte das Großschot und steuerte die Schaluppe mit günstigem Wind auf Joes Boot zu. Joe setzte zu einem gewaltigen Spurt an, gab dann aber verzweifelt auf und zog die Riemen ein. Franzosen-Pete ließ das Großschot los und drehte bei. Als die Blender an dem still liegenden Boot entlangglitt, zerrte er Joe an Bord.

»Schnauze halten!« flüsterte Frisco Kid Joe zu, während der vor Wut kochende Franzose eilig die Fangleine festzurrte. »Widersprich ihm nicht. Laß ihn alles sagen, was er sagen will, und bleib ruhig. Besser für dich.«

Aber Joes angelsächsisches Blut war in Wallung geraten. Er kümmerte sich nicht um den guten Rat.

»Passen Sie auf, Herr Franzosen-Pete, oder wie Sie heißen«, begann er, »ich erkläre Ihnen hiermit, daß ich abhauen will und daß ich abhauen werde. Setzen Sie mich also gefälligst an Land. Wenn Sie sich weigern, bring' ich Sie ins Gefängnis – so wahr ich Joe Bronson heiße!«

Frisco Kid wartete ängstlich auf die Wirkung. Franzosen-Pete hatte es glatt die Sprache verschlagen. Auf seinem Schiff widersetzte man sich ihm! Ein Junge auch noch, der es wagte! Das hatte es einfach noch nicht gegeben. Franzosen-Pete wußte, daß er gegen das Gesetz verstieß, wenn er Joe festhielt, aber gleichzeitig hatte er Angst, ihn laufen zu lassen. Joe wußte zuviel von der Schaluppe und ihrer Tätigkeit. Er hatte die unangenehme Wahrheit gesprochen, als er behauptete, er könne ihn ins Gefängnis bringen. Franzosen-Pete blieb nichts anderes übrig als zu versuchen, Joe einzuschüchtern.

»Ah, in derr Gefängnis? Ick?« überschlug sich seine Stimme vor Wut. »Dann du kommen mit! Du 'ast die Boot gepullt gestern nackt, oderr nickt? Du 'ast gestohlen der Eisen, oderr nickt? Du desertieren heute – oderr nickt? Und dann du sagen, mir bringen in Gefängnis? Bah!«

»Aber ich habe vorher nichts davon gewußt!« protestierte Joe.

»Lala, sährr komisch. Du erzählen das die Ricktärr, die wirrd sick lacken tot, oderr?«

»Ich sage, ich habe es nicht gewußt«, wiederholte Joe tapfer. »Ich wußte nicht, daß ich in eine Bande von Dieben geraten war!«

Das Wort ließ Frisco Kid zusammenzucken. Wenn Joe ihn angesehen hätte, wäre ihm die Röte aufgefallen, die Frisco Kid ins Gesicht stieg.

»Und jetzt, da ich Bescheid weiß«, fuhr Joe fort, »wünsche ich an Land gesetzt zu werden. Ich kenne mich nicht aus mit den Gesetzen, aber ich weiß, was Recht ist und was Unrecht. Wenn ich etwas Unrechtes getan haben sollte ich habe keine Angst vor dem Richter, nicht vor allen Richtern der Vereinigten Staaten zusammen. Und das ist mehr, als Sie von sich sagen können, Mr. Pete!«

»Ah, ßo? Särr gut, särr gut! Du bist ein Dieb selber!«

»Ich bin kein Dieb! Wagen Sie es nicht, mich noch einmal einen Dieb zu nennen!« Joes Gesicht war blaß, und er bebte – aber nicht vor Furcht.

»Dieb!« wiederholte der Franzose herausfordernd.

»Sie lügen!«

Joe war nicht umsonst unter richtigen Jungen aufgewachsen. Sehr genau kannte er die Strafe für die Worte, die er eben gesprochen hatte, und er wartete nun auf diese Strafe. Daher war er nicht sonderlich überrascht, als er sich eine Sekunde später vom Boden des Ruderstandes aufsammelte. Aber sein Kopf brummte von dem harten Schlag, der zwischen seinen Augen gelandet war.

»Das sagen noch einmal!« drohte Franzosen-Pete, die Faust zu neuem Schlag erhoben.

Joe schossen vor Zorn die Tränen in die Augen, aber er war beherrscht und sagte mit tödlichem Ernst: »Wenn Sie behaupten, ich sei ein Dieb, Pete, dann lügen Sie. Sie können mich totschlagen. Ich werde trotzdem sagen: Sie lügen!«

»Weg du!«

Einer Katze gleich war Frisco Kid zwischen die beiden gesprungen und hatte einen zweiten Hieb verhindert. Er trieb den Franzosen rückwärts quer durch den Ruderstand. »Laß den Jungen in Ruhe!« schrie Frisco Kid, und mit plötzlichem Entschluß hakte er die schwere eiserne Ruderpinne aus und stellte sich mit ihr als Waffe zwischen Joe und Franzosen-Pete.

»Jetzt ist endlich Schluß! Du Idiot, kannst du nicht sehen, aus welchem Holz der Junge geschnitzt ist? Der sagt die Wahrheit. Er hat recht, und er weiß, daß er recht hat. Du könntest ihn totschlagen, und er würde immer noch nicht nachgeben. – Nimm meine Hand, Joe!« Er drehte sich um und hielt Joe die Hand hin, die dieser herzhaft drückte. »Du hast verdammt Mut und keine Angst, es ihm zu zeigen!«

Franzosen-Petes Mund verzog sich zu einem matten Lächeln, aber das böse Funkeln seiner Augen strafte dieses Lächeln Lügen. Achselzuckend sagte er: »So, so! Er nischt libben, wenn ick ihn gebe Kosenamen! Ha, ha! Ist doch nur ein Spiel bei Seeleute. Wollen wir – wie sackt ihr – verßei'en und vergessen? Särr gut! Verßei'en und vergessen!« Er streckte die Hand aus, aber Joe nahm sie nicht. Frisco Kid nickte beifällig, und Franzosen-Pete verschwand, immer noch lächelnd und die Achseln zuckend, in der Kajüte.

»Fier das Großschot!« schrie er von dort. »Und halt auf Hunters Point ßu! 'eut will ick kocken den Essen, und ihrr dann saggen, Essen war gutt, sährr gut! Ah! Franzosen-Pete ist eine ganß große Kock!«

»So macht er's immer. Schmilzt weg und kocht selber, wenn er was gutmachen will«, erklärte Frisco Kid, während er die Ruderpinne wieder in den Ruderkopf steckte und dem Befehl des Kapitäns nachkam. »Aber selbst dann kann man ihm nicht trauen!«

Joe nickte mit dem Kopf, sagte aber nichts. Ihm war nicht nach einer Unterhaltung zumute. Noch immer zitterte er vor Erregung, und tief in seinem Innern prüfte er sein Verhalten in den letzten Minuten.

Er fand nichts, dessen er sich hätte schämen müssen.


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