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VI.
Die Prüfung

Allem Anschein nach hatten Fred und Charlie bereits von dem Abstieg in den Schlund und dem Kampf mit der Simpson-Sippe und den »Fischen« berichtet. Erleichtert hörte Joe die Neun-Uhr-Klingel und ging ins Schulgebäude. Die bewundernden Blicke aller Jungen folgten ihm. Auch die Mädchen blickten ihm nach, scheu und furchtsam. Er spürte eine unbehagliche, peinliche Verlegenheit. Heldenverehrung lag ihm nicht. Wenn sie doch endlich einmal in eine andere Richtung glotzen würden!

Schon bald sollten sie in eine andere Richtung blicken. Große Bogen Schreibpapier wurden an alle Schüler verteilt. Miß Wilson, die Lehrerin, eine streng aussehende junge Dame, die durch die Welt ging, als ob die Welt ein Eisschrank sei, und selbst an den wärmsten Tagen niemals ohne einen Schal oder ein Schultertuch in der Klasse stand, erhob sich und schrieb, für alle sichtbar, eine große römische »I« an die Wandtafel. Alle Augen, und es waren deren hundert, folgten mit Spannung ihrer Hand. Es entstand eine Pause. Grabesstille herrschte im Raum.

Unter die »I« schrieb sie: »a) Was waren die Gesetze Drakons? b) Warum hat ein athenischer Redner gesagt, sie seien nicht mit Tinte, sondern mit Blut geschrieben?«

Neunundvierzig Köpfe beugten sich über die Tische, und neunundvierzig Federn kratzten mit Schwung über ebenso viele Bogen Papier. Nur Joes Kopf blieb hoch erhoben, und er starrte mit solch einem leeren Blick auf die schwarze Tafel, daß Miß Wilson, als sie »II« geschrieben hatte und einen Blick über die Schulter zurückwarf, innehielt und ihn ansah. Dann schrieb sie:

»a) Auf welche Weise führte der Krieg zwischen Athen und Megara um die Insel Salamis zu den Reformen des Solon? b) Wie unterschieden sie sich von den Gesetzen Drakons?« Wieder drehte sie sich um und sah Joe an. Er starrte noch leerer vor sich hin als zuvor.

»Was ist denn mit dir, Joe?« fragte sie. »Hast du kein Papier?«

»O doch, danke schön«, antwortete er und begann mißmutig, seinen Bleistift zu spitzen.

Er spitzte ihn fein an. Dann spitzte er ihn sehr fein an. Und schließlich ging er mit unendlicher Geduld daran, ihn noch sehr viel feiner anzuspitzen. Mehrere seiner Klassenkameraden hoben den Kopf, um festzustellen, woher das Geräusch kam. Joe bemerkte es nicht. Er war zu sehr in sein Bleistiftspitzen vertieft – und in Gedanken, die ebenso weit vom Bleistiftspitzen wie von griechischer Geschichte entfernt waren.

»Selbstverständlich werden alle Antworten mit Tinte niedergeschrieben!«

Miß Wilson wandte sich an die Klasse im allgemeinen, aber sie sah Joe dabei an.

Als die Bleistiftspitze so spitz war, daß sie wirklich nicht mehr spitzer werden konnte, brach sie ab, und Joe begann von neuem.

»Joe, du störst die Klasse!« sagte Miß Wilson schließlich verzweifelt.

Er legte den Bleistift hin, ließ das Messer zuschnappen und starrte wieder mit leeren Augen auf die Tafel. Was wußte er über Drakon? Oder Solon? Oder all die anderen Griechen? Durchgefallen war er, und damit aus. Die anderen Fragen brauchte er sich gar nicht erst anzusehen, und selbst wenn er zwei oder drei Antworten gewußt hätte – es lohnte sich einfach nicht, sie niederzuschreiben. Er würde trotzdem durchfallen. Außerdem tat sein Arm beim Schreiben unerträglich weh. Seine Augen schmerzten, wenn er sie auf die Tafel richtete, und sie schmerzten sogar, wenn er sie schloß. Und das Nachdenken, das tat erst recht weh.

Folgsam kratzten neunundvierzig Federn um die Wette, als Miß Wilson die Tafel mit Frage um Frage bedeckte, während Joe dem Kratzen zuhörte und die Fragen aus Miß Wilsons Kreide hervorwachsen sah und sich dabei hundeelend fühlte. Sein Kopf wirbelte herum. Er peinigte ihn innen, und von außen peinigte er ihn nicht weniger. Joe schien völlig die Gewalt über ihn verloren zu haben.

Erinnerungen an den Schlund drängten sich hoch wie Bilder eines ungeheuerlichen Alptraums; und sosehr Joe sich auch bemühte, er konnte sie nicht verjagen. Er lenkte seine Gedanken und seinen Blick auf das Gesicht der Lehrerin, die jetzt hinter ihrem Pult saß. Doch selbst wenn er sie ansah, stieg Rotkohl Simpsons freches Gesicht kampflustig vor ihm auf. Es hatte alles keinen Zweck. Er fühlte sich krank und müde und nutzlos. Nichts anderes blieb ihm übrig als durchzufallen. Und als nach einer Ewigkeit des Wartens die Bogen endlich eingesammelt wurden, standen auf seinem lediglich der Name, das Datum und die Frage. Sonst war der Bogen leer.

Nach einer kurzen Pause wurden neue Bogen ausgegeben. Die Prüfung im Rechnen begann. Joe machte sich nicht einmal die Mühe, die Fragen zu lesen. Für gewöhnlich hätte er solch eine Prüfung wohl geschafft, aber bei seiner gegenwärtigen körperlichen und geistigen Verfassung war es ihm völlig unmöglich. Er begnügte sich damit, den Kopf in den Händen zu vergraben und auf die Mittagsstunde zu warten. Als er einmal nach der Uhr aufblickte, sah er, daß Bessie ihn von der Mädchenseite her ängstlich beobachtete. Das vergrößerte sein Unbehagen nur noch mehr. Warum machte sie sich Gedanken? Was ging es sie an? Sie würde doch die Prüfung auf jeden Fall bestehen. Warum ließ sie ihn dann nicht in Ruhe? Joe warf Bessie einen besonders finsteren Blick zu und verbarg dann sein Gesicht wieder in den Händen. Er sah nicht mehr auf, bis die Mittagsglocke ertönte. Dann gab er einen zweiten leeren Bogen ab und ging mit den anderen Jungen nach draußen.

Fred und Charlie und Joe aßen sonst ihre Brote in einer Ecke des Hofes, die sie für sich allein beanspruchten. Aber heute hatte durch einen höchst seltsamen Zufall ein gutes Dutzend anderer Jungen eben diesen Fleck zum Verzehren des Mittagsmahls erkoren. Joe betrachtete sie unwillig. In seiner augenblicklichen Verfassung war ihm nicht danach zumute, sich als Held verehren zu lassen. Sein Kopf schmerzte zu sehr, und er machte sich Gedanken wegen seines Versagens in den beiden Prüfungen. Zu allem Überfluß standen am Nachmittag noch weitere bevor.

Er war auf Fred und Charlie wütend. Die kakelten wie aufgeregte Hühner über die Abenteuer der vergangenen Nacht (in denen sie allerdings ihm die Hauptrolle zuschrieben) und gaben sich auf sehr herablassende Art vor ihren ehrfürchtig staunenden Schulkameraden.

Alle Versuche, Joe selber zum Reden zu bringen, schlugen jedoch fehl. Der knurrte nur, gab kurze Antworten, sagte nichts als »ja« oder »nein« auf Fragen, die nähere Einzelheiten aus ihm herauslocken sollten.

Er sehnte sich danach, allein zu sein; sich irgendwo in grünes Gras fallen zu lassen und all seinen Schmerz und seine Pein und seinen Kummer zu vergessen. Er stand auf, um nach solch einem Ort Ausschau zu halten, mußte aber feststellen, daß sich ein Gefolge von einem halben Dutzend Jungen an ihn heftete. Er wollte sich herumdrehen und sie anschreien, sie sollten ihn in Ruhe lassen. Aber sein Stolz hielt ihn zurück. Widerwille und Verzweiflung wallten in ihm auf. Dann schoß ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf. Wenn es ohnehin feststand, daß er die Prüfung nicht bestehen würde, warum sollte er dann die Quälerei am Nachmittag noch einmal ertragen? Der Nachmittag konnte nur noch schlimmer werden als der Morgen.

Sein Entschluß stand sofort fest. Er ging geradewegs auf das Tor des Schulhofes zu. Hier blieben seine Bewunderer verblüfft zurück, aber Joe ging weiter und war bald um die Ecke verschwunden. Eine ganze Weile wanderte er ziellos umher, bis er auf Straßenbahnschienen stieß. Ein Wagen in Richtung Stadtmitte hielt gerade an, und als die Fahrgäste ausgestiegen waren, kletterte Joe hinein und machte es sich auf einem Fensterplatz bequem. Er wachte auf aus seinen Träumen, als der Wagen an der Endstation auf der Drehscheibe herumschwang. Joe hastete hinaus und stand vor der großen Anlegebrücke der Fähre. Ohne das Geringste zu sehen oder zu hören, war er mitten durch San Franziskos Geschäftsviertel gefahren. Er blickte zu der Uhr am Turm des Fährgebäudes hinauf. Es war zehn nach eins – noch Zeit genug bis zur 1.15-Uhr-Fähre. Das gab den Anstoß. Ohne auch nur im mindesten zu wissen, wohin er wollte, bezahlte er seine zehn Cents für seine Fahrkarte, ging durch die Sperre und eilte wenig später quer durch die Bucht auf die schöne Stadt Oakland zu.

Nicht weniger ziellos und unbewußt fand er sich eine Stunde später weit draußen auf dem Pier von Oakland sitzen und seinen schmerzenden Kopf gegen einen hilfreichen Balken lehnen. Von dort aus konnte er auf die Decks einer Anzahl kleinerer Segelschiffe hinunterblicken. Eine ganze Horde neugieriger Bummler hatte sich angesammelt und betrachtete die Boote, und auch Joe begann sich immer mehr für sie zu interessieren.

Es waren vier Boote. Von seinem Sitzplatz aus konnte er die Namen lesen. Das Boot unmittelbar unter ihm trug in groß aufgemalten grünen Buchstaben den Namen »Gespenst« am Heck. Die anderen drei, die daneben lagen, hießen »Austernkönigin«, »La Caprice« und »Fliegender Holländer«.

Alle Boote hatten mittschiffs eine Kajüte, aus deren Dächern kurze Ofenrohre hervorlugten. Aus dem Ofenrohr der »Gespenst« stieg Rauch auf. Die Kajütentüren standen offen, und die Luke war zurückgeschoben, so daß Joe hineinblicken und einen Jungen von etwa neunzehn oder zwanzig Jahren beim Kochen beobachten konnte. Er trug hohe, bis an die Hüften reichende Wasserstiefel, einen blauen Overall und einen schwarzen Pullover. Die Ärmel waren bis zu den Ellenbogen aufgerollt und ließen stämmige, sonnengebräunte Arme sehen, und als der Junge einmal den Kopf hob, zeigte auch sein Gesicht dieselbe tiefe Bräune.

Kaffeeduft stieg Joe in die Nase, und aus einem kleinen eisernen Topf kam der unverkennbare Geruch fast gargekochter Bohnen. Der Koch stellte eine Bratpfanne auf das Fenster, rieb sie, nachdem sie heiß geworden war, mit einem Stück Rindertalg ein, und warf dann ein großes Stück Rindfleisch hinein. Gleichzeitig unterhielt er sich mit seinem Kameraden, der damit beschäftigt war, einen Eimer außenbords zu füllen und das Salzwasser über ganze Haufen von Austern zu gießen, die an Deck lagen. Als er damit fertig war, deckte er die Austern mit nassen Säcken ab und ging in die Kajüte, wo auf einem winzigen Tisch für ihn gedeckt war. Der Koch trug das Essen auf und setzte sich, um ebenfalls zuzulangen.

Joes Hang zum Romantischen regte sich bei diesem Anblick. Das war Leben! Die da unten lebten doch wirklich! Sie verdienten sich ihr Leben in freier Natur unter der Sonne und unter dem Sternenhimmel. Die See warf sie umher, und es wehte der Wind, oder der Regen goß auf sie herab. Da saß er Tag für Tag mit fünfzig seinesgleichen in einem Klassenzimmer eingepfercht, zermarterte sein Gehirn und stopfte trockenes Wissen in sich hinein, während die da unten ein frohes, unbekümmertes, glückliches Leben führten, ruderten und segelten, selber ihr Essen kochten und gewiß Abenteuer bestanden, von denen man in der Enge des Schulzimmers kaum zu träumen wagte.

Joe seufzte. Es war ihm klar, daß er für solch ein Leben geschaffen war und nicht für die Studierstube. In der Schule war er ohne Zweifel ein Versager. Er war durch die Prüfung gefallen, während Bessie in diesem Augenblick bestimmt auch ihre letzte Aufgabe gelöst hatte und triumphierend nach Hause ging. Oh, es war nicht zu ertragen! Sein Vater sollte ihn überhaupt nicht in die Schule schicken. Schulen waren ganz schön und gut für Jungen, denen der Kopf nach Studieren stand, aber es hatte sich erwiesen, daß er nicht zu ihnen gehörte. Und schließlich konnte man auch ohne Gymnasium seinen Weg machen. Es gab Männer, die mit dem allerniedrigsten Rang zur See gegangen und doch zu stolzer Höhe aufgestiegen waren – Männer, die mächtige Flotten ihr eigen nannten, große Taten vollbrachten und ihren Namen in das Buch der Geschichte einschrieben. Warum denn nicht auch er, Joe Bronson?

Er schloß die Augen und tat sich mit einem Male unendlich leid. Als er die Augen wieder öffnete, mußte er feststellen, daß er geschlafen hatte und daß die Sonne schon fast untergegangen war.

Es war bereits dunkel, als er zu Hause ankam. Er ging sofort auf sein Zimmer und zu Bett, ohne mit irgend jemandem gesprochen zu haben. Mit einem zufriedenen Seufzer kroch er zwischen die kühlen Laken. – Komme, was wolle, dachte er – um die Geschichtsprüfung brauchte er sich jedenfalls keine Sorgen mehr zu machen. Dann jedoch drängte sich ein anderer, weniger willkommener Gedanke vor: Ein neues Schulhalbjahr stand bevor, und in sechs Monaten erwartete ihn wiederum eine Prüfung in griechischer Geschichte.


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