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Zweiter Teil

VIII.
Frisco Kid und der Neue

Frisco Kid war unzufrieden – unzufrieden und ekelhafter Laune. Die Jungen, die oben vom Pier herunter angelten, hätten das für unmöglich gehalten, denn sie beneideten ihn außerordentlich. Zugegeben, ihre Kleidung war sauberer und besser, und sie hatten Eltern, die sich um sie sorgten. Aber der da unten führte ein freies Seemannsleben in der Bucht, dem Schauplatz bewegter Abenteuer, und er hatte richtige Männer zu Freunden. Für sie dagegen gab es nichts als die strenge Disziplin und die graue Eintönigkeit häuslichen Lebens. Nicht einmal im Traum konnten sie sich vorstellen, daß Frisco Kid vom Ruder der Blender zu ihnen aufblicken und sie um gerade jener Dinge willen beneiden könne, die ihnen oft als die abscheulichsten erschienen und unter denen sie bis zum Überdruß litten. So wie ihnen abenteuerliche Romantik ein Sirenenlied sang und lockende Kunde von fernen Ländern und mutigen Taten in ihr Ohr flüsterte, so beschäftigten die köstlichen Geheimnisse eines trauten Zuhause Frisco Kids weitschweifende Phantasie, und seine schönsten Träume drehten sich um das, was er nicht kannte: Brüder, Schwestern, den Rat eines Vaters und den Kuß einer Mutter.

Er runzelte die Stirn, erhob sich von seinem Sonnenbad auf dem Kajütendach der Blender und schleuderte die schweren Gummistiefel von den Beinen. Dann streckte er sich auf das schmale Seitendeck und ließ seine Füße in das kühle Salzwasser baumeln.

Das ist echte Freiheit, dachten die Jungen, die ihm zusahen. Die langen, bis an die Hüften reichenden und am Leibriemen festgeschnallten Seestiefel besaßen für sie eine seltsam-wundervolle Anziehungskraft. Sie wußten nicht, daß Frisco Kid so etwas wie Schuhe überhaupt nicht besaß und daß die Stiefel Pete le Maire gehörten, alt waren und mindestens drei Nummern zu groß für ihn. Und wie unbequem sie an einem heißen Sommertag waren, konnten sie auch nicht ahnen.

Diese Jungen, die am Ende des Piers saßen und ihn bewunderten, waren der Grund für Frisco Kids Unzufriedenheit. Seine üble Laune jedoch hatte eine ganz andere Ursache. Die Blender hatte einen Mann Besatzung zuwenig, und er mußte daher härter arbeiten, als man gerechterweise von ihm verlangen konnte. Das Kochen machte ihm nichts aus, und auch nicht das Deckscheuern und das Pumpen. Aber dann auch noch Farbe [kratzen] und Geschirr spülen – das ging zu weit! Er glaubte, sich das Recht erworben zu haben, von solcher Küchenjungenarbeit befreit zu sein. Jeder Anfänger war dafür zu gebrauchen, während er, Frisco Kid, immerhin Segel setzen und einholen, den Anker lichten, steuern und anlegen konnte.

»Wahrschau, da unten!«

Pete le Maire, auch »Franzosen-Pete« genannt, Kapitän der Blender und Frisco Kids Herr und Meister, warf ein Bündel in den Ruderstand und kletterte über die Steuerbordwanten an Bord.

»Komm schnähl!« rief er dem Jungen zu, dem das Bündel gehörte und der nun zögernd auf dem Pier stand. Es waren gut fünf Meter hinunter bis auf das Deck der Schaluppe, und er konnte das stählerne Stag nicht erreichen, an dem er hinabsteigen sollte.

»Nun los! Eins, ßwai, drai!« zählte der Franzose gutmütig – so gutmütig, wie es ein Kapitän an sich hat, dem es an Leuten fehlt.

Der Junge ließ seinen Körper in die leere Luft hineinfallen und griff nach den Wanten. Im nächsten Augenblick stand er mit brennenden Händen auf Deck.

»He, Kid, isch bringen der neue Matrose, bitte das Vorstellung!« Franzosen-Pete trat grinsend beiseite und verbeugte sich. »Mistärr Schoh Bronson«, fügte er hinzu, als ob es ihm nachträglich erst eingefallen wäre.

Die beiden Jungen sahen sich eine Weile schweigend an. Sie waren augenscheinlich etwa gleich alt, obgleich der Fremde gesünder und stärker aussah. Frisco Kid reichte Joe die Hand zum Gruß.

»Du willst dich also aufs Wasser wagen, was?« sagte er.

Joe Bronson nickte und sah sich neugierig um, bevor er antwortete: »Ja, ich glaube das Leben hier in der Bucht ist genau das richtige für mich. Wenn ich mich daran gewöhnt hab', gehe ich richtig zur See – vor dem Segel.«

» Wo?«

»Vor dem Segel – wo die Matrosen wohnen«, erklärte er und wurde rot, weil er nicht ganz sicher war, ob er den richtigen Seemannsausdruck gebraucht hatte.

»Ach so – vorm Mast. Weißt du, wie es auf See zugeht?«

»Ja – nein. Das heißt, ich habe allerhand darüber gelesen.«

Frisco Kid pfiff durch die Zähne, drehte sich überlegen auf dem Absatz herum und ging in die Kajüte.

»Will zur See!« lachte er vor sich hin, als er das Feuer schürte und das Abendbrot vorbereitete. »Und dazu noch ›Vor dem Segel‹, und er glaubt auch noch, es würde ihm Spaß machen!«

Unterdessen führte Franzosen-Pete den Neuankömmling auf der Schaluppe herum, als ob es sich um hohen Besuch handele. Er legte so viel charmante Leutseligkeit an den Tag, daß Frisco Kid, der seinen Kopf zur Springluke hinaussteckte, um die beiden zum Abendessen zu rufen, fast erstickte, weil er ein lautes Auflachen zu unterdrücken versuchte.

Joe Bronson schmeckte das Essen. Die Kost war derb, aber gut, und der Salzgeschmack auf seiner Zunge und die Schiffsausrüstung um ihn herum regten seinen Appetit erst recht an. Die Kajüte war sauber und gemütlich, und obwohl sie nicht groß war, überraschte ihn die Einrichtung. Auch der kleinste Winkel war ausgenutzt. Der Tisch war mit Scharnieren an dem Mittelschwertkasten befestigt, so daß er, wenn er nicht gebraucht wurde, überhaupt keinen Raum in Anspruch nahm. Zu beiden Seiten lagen, halb unter Deck, zwei Kojen. Die Decken waren zurückgerollt, und die Jungen saßen auf den blankgescheuerten Kojenkasten. Eine hin und her pendelnde Schiffslampe aus blankgeputztem Messing beleuchtete den Raum, der während des Tages sein Licht durch vier Bullaugen erhielt – kleine runde Scheiben aus schwerem Glas, die in die Wände der Kajüte eingefügt waren. Auf der einen Seite der Tür stand der Ofen mit der Brennholzkiste, auf der anderen der Schrank. Die Vorderwand der Kajüte war mit ein paar Gewehren und einer Schrotflinte geschmückt, und die zurückgerollten Decken in Franzosen-Petes Koje ließen einen mit Patronen gespickten Gürtel erkennen, in dem mehrere Revolver steckten.

Alles kam Joe wie ein Traum vor. Unzählige Male hatte er sich ähnliche Szenen ausgemalt. Aber nun war er selber mittendrin, und schon jetzt schien es ihm, als ob er seine beiden Gefährten schon seit Jahren kenne. Franzosen-Pete lächelte ihm freundlich über den Tisch zu. Sein Gesicht war eine rechte Halunkenvisage, aber Joe kam es lediglich wettergegerbt vor. Frisco Kid beschrieb ihm mit vollem Mund den letzten Sturm, den die Blender zu bestehen hatte, und Joe verspürte eine wachsende Bewunderung für diesen Jungen, der schon so lange auf dem Wasser lebte und so viel erlebt hatte.

Der Kapitän trank inzwischen ein Glas Wein, goß ein zweites hinterher und dann ein drittes und streckte sich schließlich mit einem bösen Rot in seinem finsteren Gesicht auf seinen Decken aus. Schon bald begann er laut zu schnarchen.

»Hau dich lieber auch hin und schlaf ein paar Stunden«, sagte Frisco Kid freundschaftlich und zeigte auf die für Joe bestimmte Koje. »Sieht so aus, als ob wir den größten Teil der Nacht aufbleiben müssen.«

Joe gehorchte, aber er konnte nicht so schnell einschlafen wie die beiden anderen. Mit weit offenen Augen lag er da, blickte auf die Zeiger des von der Decke herabhängenden Weckers und mußte daran denken, wie schnell in den letzten zwölf Stunden ein Ereignis dem anderen gefolgt war. Noch am selben Morgen war er ein Schuljunge gewesen, und nun war er Matrose, auf der Blender angeheuert, und er wußte nicht, wohin es ging. Seine fünfzehn Jahre wuchsen bei seinen Überlegungen zu zwanzig, er war jeder Zoll ein Mann und noch dazu ein Seemann. Wenn Charlie und Fred ihn doch jetzt nur sehen könnten. Nun, sie würden es bald genug erfahren. Joe sah sie vor sich, wie sie es miteinander besprachen und wie sich die anderen Jungen herandrängten. »Wer?« – »Oh, Joe Bronson. Ist zur See gegangen. War ein Freund von uns.«

Die Vorstellung erfüllte ihn mit Stolz. Der Gedanke an seine Mutter, die sich bestimmt Sorgen um ihn machte, stimmte ihn vorübergehend sanfter, aber er wurde wieder ganz hart, als er an seinen Vater dachte. Natürlich hatte sein Vater ein gutes Herz, aber er konnte einen Jungen einfach nicht verstehen. Da saß der Haken. Noch heute morgen hatte er gesagt, daß die Welt kein Spielplatz sei und daß Jungen, die das glaubten, mit Sicherheit schwere Fehler machten und froh seien, wenn sie wieder nach Hause kommen könnten. Nun, er wußte, daß es in dieser Welt harte Arbeit und derbe Nackenschläge gab. Aber er glaubte außerdem, daß auch Jungen gewisse Rechte besaßen. Er würde seinem Vater beweisen, daß er allein zurechtkam. Und schließlich konnte er immer noch nach Hause schreiben, wenn er sich erst einmal in seine neue Umgebung eingelebt hatte.


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