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Algerische Reise

Algier und Al-Djezair

Die große neue Stadt Algier umfaßt die kleine Altstadt wie das Fleisch einer großen Frucht den Kern. Algier heißt arabisch Al-Djezair. Der Weg von Algier nach Al-Djezair, mit wenigen Schritten getan, ist der Weg von Abendland nach Morgenland.

Von etwa 1600 an, gegründet von den Brüdern Horuk und Kheireddin Barbarossa, durch mehrere Jahrhunderte, war Al-Djezair der Mittelpunkt eines maurisch-türkischen Seeräuberstaates, der das Mittelmeer rundum und selbst die Meere Jenseits seiner Pforten beherrschte. Seine grüne, sternbesäte Flagge zeigte sich vor Madeira, England, Island. Alle großen Seemächte, Spanien, Holland, die Hansa, Frankreich, England fürchteten sie, und schließlich zahlten sie schwere und regelmäßige Tribute an Al-Djezair, um ihren Schiffen sichere Fahrt zu erkaufen. Die erbeuteten Waren wurden drunten am Hafen versteigert, die Schiffsmannschaften als Sklaven verkauft, wenn sie nicht um hohe Lösegelder befreit wurden. In der Gegend der jetzigen großen Moschee befand sich der Sklavenmarkt. Die Tatsache der Piraterei war so deutlich, daß ihre Anfechtung durch die Frage nach der moralischen Berechtigung gleichgültig wurde, und ihre Formen waren so stark und ritterlich, daß die so überaus vergeßliche politische Geschichte unversehens wieder einmal aus Gewalt Recht gemacht hatte. Es blieb ihr nichts anderes übrig. Ja, der Sultan in Byzanz, der von Anbeginn militärische Hilfe geleistet hatte und dafür seinen klingenden Zoll empfing, fand an dem grünen sternbesäten Wesen ein so großes Wohlgefallen, daß er aus seinem algerischen Bey einen Dey machte, aus dem »Statthalter« einen »lieben Onkel«. Die Stadt kam zu hohem Wohlstand, ihre Märkte glänzten, herrliche Paläste wuchsen auf, und sie tat auch etwas für die Religion. Am Anfang des 19. Jahrhunderts hatte sie mehr als 100 Moscheen und außerdem wohl noch ein halb Hundert Klöster, Schulen und sonstige Gebäude zum Ruhme Allahs und seines Propheten. Es strömten Mohammeds Lehre denn auch immer neue Scharen zu, vielfach freilich christliches Gesindel aus allen Winden, das nach dem Glaubenswechsel an den Kaperfahrten teilnehmen durfte und lieber Sklaven machte, als selber in die Sklaverei verkauft wurde. Überhaupt ist der leichtfertige Religionswechsel das Charakteristische der Geschichte dieses ganzen Landes, und es gibt vielleicht kein zweites auf dem Erdenrund, das so erfüllt gewesen wäre von Sektenkämpfen aller Art, – im ersten Jahrtausend christlichen, die noch so ernst waren, daß einmal fünftausend Bischöfe und Priester in die Wüste verbannt wurden und bei dem Eindringen der griechischen Richtung angeblich fünf Millionen Menschen zu Tode kamen, – im zweiten Jahrtausend von mohammedanischen, die teilweise wohl nicht so bitter ausgingen, aber dafür durch Jahrhunderte in einem solchen Wirrsal zusammenrannen, daß keine Geschichtsschreibung mehr den Rattenkönig auseinanderflechten kann.

Da die Menschen ihr Innerlichstes von politischen Zweckdienlichkeiten beraten ließen und nicht umgekehrt, so schwamm ihnen aller Grund weg in den Strömungen hin und wider, und das Land kam innerlich, dann auch äußerlich tief herunter. Nordafrika hat schon lange nicht mehr an der Erneuerung des seelischen Lebens auf Erden mitgekämpft, und aus dem Freibeuterstaat Algier ist jetzt eine Beute geworden.

Leicht indessen war seine Hauptstadt nicht zu gewinnen. Sechzehnmal ist sie beschossen und belagert worden, von großen Flotten großer Nationen. Zuletzt, als die Seeräuber Frankreich in ihrem Konsul wegen ausgebliebener Getreidetribute geprügelt hatten, kam die große Kriegsflotte unter Admiral d'Estrée übers Meer. Ungeheuer blutige Straßenkämpfe überwältigten das stolze Al-Djezair. Die hundert Moscheen fielen, die hundert Paläste auch, die anderen wurden umklammert von modernen Wohnkasernen. Ganz erobert ist die schlimme Seele der Stadt auch heute noch nicht, geschweige denn das große Hinterland.

Doch scheinen ganze Klumpen eines mit Elektrizität geladenen, nach Benzin riechenden, polternden und brüllenden Paris übers Meer geschleudert zu sein. Von rechts und links, von den Bergen oben und dem Meere unten ist das neue Algier dabei, das alte zu ersticken. Sein grelles Auflärmen brandet immer weiter in das dunkle, stille Al-Djezair hinein. Was es nicht erschlägt, saugt es in sich auf. Die toten Bewohner Al-Djezairs auferstehen als handelnde, Arbeit und Gebrechen erpresserisch zur Schau stellende Bettler, die schönen morgenländischen Häuser Al-Djezairs, die Algier umbringt, läßt es in aufgeblasenen und grotesk übertreibenden oder in leer bescheidenen und geschmackvoll zeitwidrigen Gespenstern wiederkommen. An Hauptadern des Völkerlebens baut es, wie wir unsere Gotik auf Aktien und Warenhausrenaissance haben, sein maurisches Talmi: Postamt, arabische Hochschule, Verwaltungsgebäude aller Art. Aber monumental. Das Fieberhaft-Willige, das Beflissen-Gerechte im Wiederaufrichten ist die Rache der neuen Hauptstadt an der alten und der alten an der neuen. Gar den verlorenen kleinen Hausrat, die Wehr und die Zier der Vorzeit zu ersetzen, bemühen sich mehrere Erdteile. Die Fülle ernster Arbeit neben und über dem Krimskrams fällt nicht auf, und doch ist sie die beste und berechtigte Rache auch an dieser Stadt.

Und noch ein vornehmer Feind wirkt mit, das alte Piratennest zu fällen, der Reichtum aus aller Welt, der über das Halbrund des Algier umziehenden Sahel-Gebirges gebreitet ist, ein Gürtel von Villen, ja Schlössern mit Gärten. An ihnen sind eben soviele englische Namen wie französische zu lesen. Oft sind die Häuser von London aus weiterzuvermieten oder von Philadelphia her käuflich zu erwerben. Der köstliche weiße Feiertag der Welt, den man von oben auf den Sesseln der Berge und der Weite des Meeres wie in Unerschöpflichkeit ruhen sah, hatte faule und goldschwere Leute auch hier verleitet zu glauben, Paradies könne man nach Hektaren kaufen, Schönheit könne man immer sehen, wenn man sich in ihrem Angesicht bequem hinflegelte. Nun hatte der Überdruß die vielen Schilder geschrieben: »Zu vermieten! zu verkaufen!« Gegen Osten in Mustapha supérieur wohnen die reichen Abendländer, die reichen Morgenländer gegen Westen, in Bouzaréah.

Erste Fahrt durch Algier

Am Ankunftstage ] fuhr ich kurz vor Abend mit Bekannten vom Schiff, einer Dame und einem Herrn, in der Droschke langsam durch die Stadt. Die Schönheit der Lage des neuen Teiles an Berghang und Meer wird durch die Gleichförmigkeit der Bauart fast aufgehoben. Zu Hunderten liegen graue Hauswürfel nebeneinander, wie mit derselben Hohlform hergestellt, mit den gleichen sechs Fensterreihen, rechtwinkelig von Straßen durchschnitten. Kilometerweit fahren wir zwischen den gleichen Laubengängen einher, die an dem untersten Stockwerk ausgespart sind: an tausend gleichweiten runden Bogen vorüber, an tausenden von gleichhohen viereckigen Säulen, welche die Bogen tragen. Und wo keine Häuser darüber sind, sondern eine obere Straße, ist es ebenso. »Neapolitanisches Viertel« sagt der Kutscher. Aber in Neapel ist dasselbe Prinzip bei weitem nicht so schematisch durchgeführt. Fallen die Lauben in Straßen, wie etwa der rue Dumont d'Urville, fort, so bleiben doch die sauber mit gleichem Maße und Lineale bemessenen Blöcke, bis endlich die Regelmäßigkeit gleichsam einen Schrei tut, in Hälften und Viertel zerreißt, sich selbst auf die Schultern klettert und ihre Fragmente schiefe Schwenkungen nach rechts und links tun läßt. Und manchmal scheinen die Häuserklötze nur wie dicke Säulenstümpfe, die das lebhaft weiß-blau-grün gefleckte Dreieck der Altstadt oben tragen. Dieses wirkt im Gegensatz wie ein zerquirlter Trümmerhaufen.

Doch auch unten ist Steifheit und Winkelmaß bald vergessen durch das ungeheuerliche Sonntagsgewimmel der Menschen und Wagen, das hin und wider zieht, in den Lauben und auf den Dämmen. Wie ich vor einem Café die beiden chinesischen Gauklerjungen wiederzuerkennen glaube, die ich vor ein paar Wochen in Brüssel sah, so glaube ich bald ganz Brüssel oder Paris wiederzuerkennen, auf engerem Räume, vermehrt aber um ein gleich lebhaftes morgenländisches Großstadttreiben. In Reihen hängen weiße Turbankugeln aus den Fenstern offner Straßenbahnen, in Reihen hängen meist auch die Hände heraus. Die gewaltigen Säcke der Pumphosen wehen den feztragenden Zeitungsverkäufern über die Straße nach, und ihr gaumiges Brüllen läuft ihnen voran. Händler, über die Schulter hin mit einem Sacke wie griechische Könige drapiert, lassen diese Pumphosen träumerisch an die nackten braunen Waden schlagen, und sicher noch nie in ihrem Leben sind sie einem der zehntausend Automobile ausgewichen. Andere sehen mit ihrem wippenden Kramladen auf Nacken und Brust aus wie ambulante Karussels. Müßiggänger in Massen kommen in hartnäckiger Langsamkeit daher. In jeder Straße sind Dutzende von Jungen, die ernsten Gesichtes so rasch und weit ausschreiten und die Arme so flügge himmelan baumeln lassen, als hätten sie alle eben die wichtigste Botschaft auszurichten, die bisher in der Welt aufgetragen war, – bis plötzlich ein ganz gewöhnliches Treppengeländer, ein Tabakskiosk, ein Laternenpfahl sie aufhält und in der behaglichsten Muße sie hinlümmeln läßt. Diesem Teile der Bevölkerung scheint an der Stirn geschrieben zu stehen: »Und der himmlische Vater nähret sie doch«, während der Rhythmus der Europäer, auch der Hinschlendernden, immer zu antworten scheint: »Nein, der himmlische Vater tut es nicht.«

Unsere Droschke gelangte in die Straßendurchbrüche, die ungefähr im Viereck die Altstadt umranden, den Boulevard de la Victoire, die rue de la porte Neuve, rue Randon, rue Marengo. Da war alsbald der Wagen von einem Bienenschwarm bettelnder Kinder und alter Weiber so umlagert, daß er häufig stehen bleiben mußte. Es war hier der einzige Wagen. Über die ganze Straßenbreite verteilt, strömten aufrechte stolze Männer in weißen, grünen, blauen, schwarzen Burnussen, in Turban und Fez, im Zickzack durcheinander, wie ein dickes Teppichgewebe, das eben gewirkt würde. Sie kamen geradeaus bis an die Pferdeköpfe heran, wichen erst einen Schritt seitwärts, und selten empfingen wir einen Blick von ihnen. Sie bettelten nicht, wenngleich sie ein schlimmgestücktes Kleid trugen, dem grellfarbige Flicken etwa mitten auf dem Bauch oder die Kehrseite davon aufgenäht waren. Wieder schienen es lauter Fürsten zu sein. Und wie eine Versammlung antiker Philosophen saßen sie fast unbewegt in den zahllosen kleinen Cafés. Darin standen meist zwei Bänke querab von der Straße in den Raum. Mann saß bei Mann, ohne eine Lücke zu lassen, jeder die kleine Kaffeetasse auf den Knieen. Dieses stille Bild wiederholte sich wie ein Kehrreim.

Niemand in dem bettelnden Kinderschwarm zählte wohl mehr als zehn Jahre. Sie stellten das phantastische Völkergemisch der Stadt im Kleinen dar, und von dieser Abgesandtschaft lachend begrüßt zu werden, von diesen Dutzenden runder, meist kurzgeschorener Köpfe mit den behenden, vor Eifer seligen Augenpaaren umdrängt zu sein, belästigte uns alle drei nicht, sondern beglückte uns. Die langen Hemden und Burnusse standen den Kleinen wie ernsthafte Priestertalare, die Kleider wogten viel zu würdig über den zappelnden Körpern hin und her und die nackten Füße, die gerade noch unter dem weitschleppenden Saum herauskamen, fieberten nur so über die Straße. Wir sahen manchmal erschreckt beiseite, ob nicht ein Wagenrad über das süße Fleisch ginge. Der Kutscher aber paßte gut auf, ließ die Peitsche dann und wann gutmütig in den Haufen fahren und sie immer wie schützend darüber hin- und herwogen. Wenn es gar nicht mehr ging, so hielt er ein Weilchen die Pferde an. Wieder nach einem Weilchen drehte er sich um oder er stand auf und hielt eine Ansprache mit schläfrig fletschendem Munde und gefährlichem Redegepolter und machte dann neue Bahn. Fast all die bettelnden dünnen Ärmchen wurden aus schlotterndem Talarärmel hoch über den Kopf gehalten. Die Hände waren fast zur Faust gerundet, was drollig drohend aussah. Manche kleinen Mädchen hoben bei seitwärts geneigtem Kopfe zwei Finger wie zu frommer Belehrung, wollten aber nur zeigen, wieviel Kupferstücke sie gern hätten. Manche wünschten un sous, manche one penny. Der Singsang ging oft wie ein Chor im Froschteich. Sagte man etwa freundlich einem einzelnen dieser priesterlichen Knirpse: »Un sous? – Ah-non!« so war er auch zufrieden und schloß sich hinten wieder an. War unter den Münzen aber englisches oder spanisches Kupfer, so reichte es der Empfänger nach ein paar Sekunden entrüstet und verächtlich zurück, falls er nicht gar zu krank, klein oder schwächlich von Gemüt war. Penny war also bloß eine Übersetzung für sprachunkundige Ausländer. Ich hatte von diesen verdorbenen Kindern, die ich mit Eifer mitverderben half, den Eindruck: Sie spielen nur das Spiel: betteln und dabei ernst bleiben! Widerlich dagegen gebärdeten sich die alten häßlichen Weiber, die, als sie unseren Aufzug gewahrten, gierig vorstürzend die Kleinen beiseite stießen, vor fanatischer Hast die grauen Haarsträhnen überm Gesicht hängen hatten und manchmal bös den Knüppel erhoben. Eine dieser Vetteln ging trotz ihres Alters verschleiert und verlor ihre Maske. Die Kinder waren friedlich auseinander gekommen, wenn sie sich über eine Münze verknäuelt hatten, aber die Frauen rissen ihnen das Kupferspielzeug aus der Hand, und wir durften nun nichts mehr geben, um nicht lächerlich zu werden und an der Bosheit teilzuhaben.

Die größeren Jungen bettelten nicht mehr und vergnügten sich anders. Die eine Partei hockte hinten auf dem Wagen auf und die andere lief vor dem Wagen rückwärts und machte uns voll unsäglicher Geduld im Chore aufmerksam »en arrière-en arrière, – en arrière«. Mit eins stand auf dem Trittbrett ein großer blitzäugiger Bengel und sah uns, einen nach dem anderen, gründlich an. Auf die Frage: »Que veux – tu?« antwortete er sofort und ungestört: »Rien du tout«. Er führte seine Musterung in Ruhe zu Ende und sprang wieder ab.

Unser Gefolge mochte wohl etwas grotesk und reichlich geraten sein, weil unser Kupfersegen an diesem ersten Tag sich willig und mutwillig über Klein-Algerien ergoß. Doch unser Glück, ein lebendiges Märchen um uns zu haben, das Bewußtsein, daß unsere Laune darin etwas lenken konnte und die steigende Schönheit des Abends ringsum, waren gar zu groß und verführerisch.

Über uns im gründunklen Berghalbkreis von Mustapha und Bouzaréah gingen unzählige kleine Lichter auf, unter, über und mitten in den weißen Häuserflecken, wie neugierige, dicht und warm am Erdenrande zusammengeschwärmte Sterne. Etwas tiefer, wo es brauner schattig war, sah es aus, als wäre der Hang von Nadeln durchstochen und eine große samtige Glut schimmere durch die Löcher. Gegen den Norden tat sich aber an Straßenenden zwischen Häuserlücken, oder von freier Höhe immer wieder das hellviolette Meer auf und in seinem seidigen unkörperlichen Farbengeschwelle schien nichts untersinken zu können. Es war nur sanftes, grundloses Licht, das Unendlichkeit faßbar machen wollte durch Verklärung. So konnte man glauben, das violette Element sei unter diese Stadt auch hingebreitet und ihr Grund schwebe darauf als eine lose Insel. Überall seitwärts kletterten engste Gäßchen weißlichblau gegen den grünlichen Himmel, schattige, überwölbte Rinnen und Kanäle waren es oft, und die steilen Steinstiegen herab kamen ganz langsam, mit Betonung jeden einzelnen Schrittes und mit herrischer Bewegung der Schultern die weitgewandeten Araber, oder große blasse Flammen wehten den dunklen Engpaß herunter, das waren die Frauen, in ihren Tüchern wie gesichts- und körperlos. Und als wir aus der großen Moschee zurückkamen, war mir diese Stadt eine große zauberische Moschee, weil mir das ehrfürchtige Gefühl geblieben war, mit ihr auf dem schwere- und grundlosen Meere zu hängen.

Vielleicht auch, weil ich heute gern vollkommen und wie ich es mir vorgedacht sehen wollte, was doch seine Mängel hatte. Wehe uns Fremden, die im Wagen kommen, um die große Moschee zu sehen! Wir sind von rüdigen Bettlern, die alle »führen« wollen, sofort bis zum Schopfe zugedeckt. Zwei Gotteshäuser liegen nah aneinander, die Mosquée de la Pêcherie für Hanefiten und die Grande Mosquée für Malekiten, beide von keiner bedeutenden Schönheit. Besonders die Große Moschee, deren Bau um 1000 begann, ist oft umgestaltet worden. Damals war Algier ein unbedeutendes Nest und seine große Moschee konnte sehr bescheiden und demütig sein. Als dann nebenan der Weltsklavenmarkt aufgemacht wurde, und die Händler repräsentieren mußten, wuchs die Moschee und hat schließlich das kleine Haus verschlungen, das jetzt als Säulenumgang fortexistiert und allerhand Kranke und Elende Tag für Tag und jene eiligen Botenknaben in Massen stundenlang an den Steinen lehnen hat. Außen ist das Gotteshaus so weiß wie aus Zucker gemeißelt, und dieses Bild mit seiner Assoziation ist mir umso sonderbarer, als ich meine, noch einen Salzhauch vom Meere um sie herwehen zu spüren. Dafür stand ich drinnen in fast völliger Dunkelheit, die entsetzlich stank. Scharfer saurer Schweiß, Urin, Knoblauch, der stickige Duft eines Hühnerstalles, – nein, es ist unmöglich, die fromme Luft einigermaßen zu beschreiben. Besonders der Waschraum war verpestet, und da sowohl er wie der elfschiffige Hauptsaal fast leer waren, sodaß die Pestilenz scheinbar keine Erreger hatte, wurde sie noch unheimlicher. (Ich habe seitdem in allen größeren Städten Algeriens eine Scheu vor Allahs Häusern gehabt, und wenn auch keins das ehrwürdigste in diesem Punkte erreichte, so genügte jede Andeutung doch, sofort eine Urerinnerung zu schaffen. Übrigens, als ich im Lande herumgekommen war, und bei der Rückkehr nochmals den Eintritt in die Große Moschee wagte, hauchte sie nicht den zwanzigsten Teil des üblen Atems beim ersten Besuche aus. Die vielen kleinen Moscheen in den Wüstendörfern und Landstädten, die ich besuchte, waren sauber und so voll reiner Luft, wie sie unter freiem Himmel weht.) Winzige Lichter schwammen in dem dicken Dunste, dunkle Höfe hatten sie um sich: die Ampelgefäße. Nur angedeutet gleich Visionen waren riesige weiße Hufeisen nicht gar hoch zu erkennen. Der Bogen jedes großen Hufeisens war von dreizehn kleinen ausgezackt. Diese Mauerbogen ruhten auf schweren Säulen. Ebenfalls nur ungewiß sah ich hier und dort eine Gestalt demütig das Gesicht zum Teppich neigen.

Der »Führer« erhielt ein Frankstück. Er steckte es ein und ließ in demselben Augenblick ein bereitgehaltenes Scherbchen Glas fallen. Als wir ihm den Verlust des Geldes nicht glaubten, hielt er uns eine schmierige Bleimünze vor die Nase. »Das richtige Stück hast du links und nicht rechts eingesteckt.« Da sah er garnicht erst nach, sondern grinste und half uns mit dem freundlichsten Gesichte und den ehrerbietigsten Verbeugungen in den Wagen.

Vor der Kammerwahl

Auf dem Hauptboulevard liegt Café bei Café, vor jedem stehen wohl 100 Tische. Die Wahlen für die Deputiertenkammer finden nächstens statt. Drum steht man abends auf den Stühlen, schreit Reden in den Gästeschwarm, trägt die Redner auf den Schultern herum, singt patriotische Lieder ab und klatscht in die Hände, dreimal fünf schnelle und einmal drei gewichtige Schläge. Es ist ganz, wie ich das in Paris vor der Kammerwahl erlebte. Ich suche in einem Café Platz, weil der Abendhimmel stark wetterleuchtet und dicke Wolken treibt, obschon ich heute nicht hier unter dem Zeltdach, wo sich fast nur Inhaber des französischen Bürgerrechts drängen, Romanen und Juden, Raum beanspruchen dürfte. Draußen aber schleicht in Neugier und schiebt sich vorbei ein Völkerstrom, so bunt, wie er in vielleicht nicht vielen Städten gesehen werden mag. Unter diesen Ausgeschlossenen befinden sich Vertreter wohl aller Stämme, die um das Mittelmeer sitzen, auch Neger aus dem Süden und Germanen aus dem Norden. Die meisten sind im fünften oder fünfzigsten Glied Beiseitegeschobene aus der unendlichen Völkerlawine, die sich über das Land Nordafrika ergossen hat, denn es ging ihm ja wie Lucius im Roman seines Bürgers Apulejus (der nicht weit von hier in Madauros geboren wurde) Lucius, den Zaubersalbe in einen Esel verwandelte und der nun aus der Hand eines Knechtes in den Besitz eines Müllers, Gärtners, Soldaten, Konditors, Kochs wandert, der Theater spielen soll, aber lieber von den Rosen eines Irispriesters frißt, worauf er wieder Lucius wird und selber priesterlich in den Mysterienkult der Göttin tritt.

So ist dieses Land der Berber, von denen niemand genau weiß, wer sie sind, durch die Hände der Phönizier, Numidier, Römer, Vandalen, Byzantiner, Araber, Mauren, Türken, Franzosen gegangen, – und nur Lucius ist noch nicht zum Vorschein gekommen, von dem wieder niemand genau weiß, wer er sein wird. Die vielen Völker müssen hier zusammen leben: sie schlafen noch. An dem großen Körper regt sich wohl eine Hand, ein Fuß, aber erst, wenn das Haupt erwacht, wird es eine Einheit sein. So fühlte ich bei der brausenden Bewegung vor der Wahl. Es war ergreifend, die Fülle der Wartenden vor dem Gitter zu sehen, wenn ein Wetterleuchten die Gesichter für einen Augenblick übernächtig und kalkig machte.

Wohl haben die letzten Eroberer, die Franzosen, vorzügliche Straßen in großer Zahl überall in der Berberei gebaut, eine Eisenbahn, die in manchen Stücken besser ist als die im Mutterlande, bis tief in die Wüste hineingelegt, – ich erlebte die Volksfeste zur Eröffnung der Strecke Biskra-Touggourt – und haben den allgemeinen Wehrzwang selbst in der rebellischen Kabylie eingeführt. Dennoch: auf diesem Gebiet von etwa einer Million Quadratkilometern, einschließlich der Südterritorien, leben ungefähr viereinhalb Millionen Mohammedaner, 65 000 eingeborene Juden, und der Rest von 730 000 Europäern stammt zum größten Teil aus Spanien und Italien. Die künftige Einheit daraus wird schwerlich französisch sein.

Jedenfalls ist es nicht so, wie die französischen Zeitungen es ihrem Lande einbilden wollen. Nach dem Siege bei Kenifra in Marokko, Juni 1914, schrieb z. B. der Figaro am 9. Juli 1914 in seinem Leitartikel: »Ni les mercenaires de Carthage, ni les proconsuls de Rome, ni les chefs des Vandales, ni les Patrices de Byzance, ni les émirs de l'islam ne surent jamais réduire les orgueilleux pillards de l'Atlas, que nos officiers enfin soumettent aux étendards de notre république latine … D'Agadir à Tunis, nos colonnes iront désormais, sans aventures rétablir la justice latine entre les faibles et les forts: partout.«

Es ist nicht so gar schwer, trotz nimmerwährender Belästigungen die Einsamkeit zu lernen. Taub und blind tun, das ist alles. Die Zeitungshändler sehen nie ein, daß ein Exemplar genügt. Sie blasen dich an wie Äolus. Die Ansichtskartenhändler versuchen es stündlich zehnmal erst mit ihrem anständigen und dann mit ihrem unanständigen Album. Die Stiefelputzer hauen dir mit der Bürste auf den Marmortisch, daß das Geschirr hüpft, und nützt das nichts, so ziehen sie einen Fuß gewaltsam unterm Tisch hervor auf ihre Putzbank. Zigarettengeschenke lassen höchstens den Ruf »cireur! – cireur!« ein Weilchen verstummen. Laß dir ruhig einen Stiefel putzen, gib nochmals Zigaretten, so werden sie dich günstigstenfalls auffordern, den sauberen Stiefel mit dem ungeputzten zu vergleichen und vielleicht an ein paar andere Tische gehen, bevor sie wiederkommen. – Nach ein paar Abenden wartet man schon auf die Quälgeister.

Immer um dieselbe Stunde kommt der blinde Riese, dem das hölzerne Krokodil auf dem Bauche baumelt. Seine Teppiche hängen wie faule schäbige Flügel auf dem Rücken. Ein Knabe führt ihn. Er tappt mit dem Stocke vor sich her, sagt nie etwas, verkauft nie etwas und kehrt immer wieder.

Dagegen zwingt mich ein schönes schwarzäugiges Mädchen, das auch nichts sagt, Kuchen zu kaufen, eben durch ihr Schweigen. Sie sieht mich nur an, – minutenlang, ungelogen. Zigaretten nimmt sie mit tastender Hand, wendet aber den Blick nicht. Ich fühle ihn wie ein Brennglas auf mir, lese aber den Text einer Volksballade, die ein altes Weib in den trockenen, chevaleresken Melodien Frankreichs beweglich vorsang: Das junge Mädchen sieht noch immer immer. Wieviel kostet das Stück Kuchen?

Al-Djezair

Zuerst bei Regenwetter besuchte ich Al-Djezair. Es wird steil und still. Ich gehe bergauf und bergab in einem zwielichten, fahl gemauerten Irrgarten: hohe, aneinandergerückte Wände zwischen denen Tausende von Steinstufen eingeklemmt sind. Jede Stufe senkt sich von ihren Enden nach der Mitte, so als würde sie von den Mauern bedrängt und wollte nach unten durchbrechen. Anderswo scheinen sich die Treppen an den Mauern emporzustemmen, immer höher, und die Mauern erhöhen sich an ihrer aufdrängenden Hast auch wieder bis eine Krümmung der Straße das Ziel verhüllt. Nicht immer könnte man beide Arme ausstrecken, und oft genug ist kein Raum, um auch nur einen seitlich zu heben. Manchmal verschlingt den Weg ein rundes, hallendes Durchgangsgewölbe. Man scheut sich anfangs, hineinzugehen, fürchtet irgendwohin in die Tiefe zu stürzen, fürchtet sich auch vor der weißen Gestalt, die drinnen auf einem Seitenstein regungslos kauert. Der Durchgang mündet dann auf ein ebenes Wegstückchen, das wieder im vorigen Tageszwielicht liegt. Denn mehr als Zwielicht herrscht in den verschlossenen Gassen nicht.

Den Regenrinnen in ihrer Mitte – auch wo keine Stufen sind, ist das Pflaster geneigt – entsprechen oben ebenso dürftige Rinnen Himmel: Die oberen Geschosse sind beiderseits vorgeschoben, lasten einander oft krumm entgegen. Die Kanten dieser erhöhten Mauerlasten berühren sich mitunter schwermütig, sie scheinen sich wohl auch im Sturze aufgehalten zu haben. Ein andermal fliehen die Wände stolz in halbmeterbreiter Entfernung aneinander vorbei und die eine zeigt der anderen eine viereckige, von vorgewölbten Eisenstäben vergitterte Scharte, wird jedoch dann wieder von der Gegenwand übertrumpft, indem diese noch viel höher und an noch viel unwahrscheinlicherer, verlorener Stelle ein gleiches Loch auftut. Nicht selten ist der Zwischenraum durch Gewölbebogen oder Fragmente davon stockwerkweise ausgefüllt, manchmal hat der Maurer einfach das letzte Rinnsal Himmel zugeklebt. Die Vorbauten werden stets durch runde Schrägbalken gestützt. Dicht gereiht springen sie spitzwinklig nach der Straßenmitte vor, gewöhnlich armdick, krumm und ungehobelt, aus der Baumrinde gepellte Knüppel, spinnwebbehängt, alterschwarz oder bläulichweiß getüncht, wie die schlecht geputzte Mauer, aus deren Öde sie sprießen. Das sieht in einiger Ferne aus, als müßte man unter zusammengestellten Spießreihen durchschreiten, besiegter Sklave der Piraten. In Gassen wie der rue Benali, merkt man nur daran, daß diese Sprossen ein Stückchen in waagerechtem Verlaufe das Aufsteigen der Straßentreppe erwarten, um dann plötzlich viel höher zu neuer Leiter anzusetzen, daß in dem endlosen Wall wohl ein neues Haus begonnen habe. Hier, beim Tone des spülenden und gestaut herunterklatschenden Regens entstehen mir balladenhafte Bilder von einst, und das bleiche dunkeläugige Frauengesicht gehört mir dazu, das ganz oben hinterm bauchigen Gitter zwischen beängstigend nahe Mauern gequetscht ist und in steinerner Ruhe, doch von verstorbener Leidenschaft noch geladen, in töriger Traurigkeit auf mich hersieht. Fast immer, wenn ich durch eine ebenerdige Luke in ein maurisches Haus sehen kann, entdecke ich solch ein vergangenes, standbildhaftes Gesicht.

Die Tore, schwarz, grün, breit gewaltig, oft eisenbeschlagen, nie offen, wirken im Regendämmer, wenn es in diesen nie lauten Straßenverließen nur schluchzt und gluckst, gespensterhaft verloren. Geziert mit einer bronzenen oder plump aus Holz geschnitzten Hand, schlafen sie und warten. Die Hand bringt Glück und bannt den bösen Blick. Sie sieht mir immer aus wie mit dem Beile abgeschlagen. Auch Hufeisen und Halbmonde befinden sich an den Toren. Sehr oft ist die Umgebung der Öffnungen, auch irgend ein beliebiges Mauerstück, leuchtend waschblau oder hellgrün angestrichen. Der Fleck ist nie von geraden Linien begrenzt, sondern verläuft zackig und unregelmäßig, wie der Pinsel gerade Laune hatte. Auf meine Frage »Warum allenthalben diese Farbenbeulen?« erhielt ich nur die Antwort: »Weil es schön aussieht.« Daß die Farbenergüsse überraschend herrlich und wie märchenhafte ewige Lampen wirken könnten, spürte ich, wenn ich von der Lehmflut des Straßenlichtes durch einen Gitterschacht in ein Hausinneres blickte und der Hof drinnen plötzlich in blauer oder grüner Lichtmusik stand und so lebhaft flammte, daß es wie ein Blitz war, der nicht aufhörte. Es waren oft Armeleutehäuser, worinnen viereckige Holzsäulen die oberen Galerien trugen, – eine Palme, ein Eukalyptusbaum siechte manchmal einsam in einsamem Hofe. Gewöhnlich hocken dort eingekerkert auf nackter Erde vier oder fünf zusammengeballte lebendige Kleiderklumpen herum: eine große Zahl dieser Häuser sind Frauenhäuser. Auch arme Juden, die einen kleinen Lederhandel betreiben, kleine Krämer, Schneider, Schuster aus Spanien und Malta, Nichtstuer aller Art, aus sämtlichen mohammedanischen Sekten zusammengewürfelt, haben hier irgendwo ihr finsteres Loch. Doch von dem mannigfalten Elend ist nicht viel zu sehen, weil sich alle Wohnungen nach den Höfen öffnen, nicht wie bei uns nach den Straßen. Es ist das griechische, das römische Haus im Grundplan übernommen, allmählich aber bizarr verändert worden. Mir, der ich das zum ersten Male sah, hat es durch Wochen sonderbar beklemmend und manchmal verwunschen geschienen, so gleichsam immer auf Fluren und Stiegen und vor den Türen eines altertümlichen Schlosses zu wandern; so verwittert war es, daß Regen und Sonne durch sein Dach Einlaß fanden und der Himmel in einem vielzerrissenen System schmaler Kanäle sichtbar wurde. Welch Unheimliches und Unbändiges drückte unsichtbar die Mauern nach außen zu atembeklemmenden Spalten zusammen? Die Tore an vornehmeren Behausungen wurden feierlich genug von Halbmond- oder Hufeisenbogen auf Säulen oder Pilastern umrahmt. Die Supraporten waren mit farbigen Kacheln ausgelegt. Näheres Zusehen zeigte dann, daß diese Vornehmheit wohl oft gedankenlos übernommen war. Die Säulen waren Säulen, rund, gedreht, kanneliert, die Kapitälle zeigten alle Formen voller Sinn und Unsinn; schöne Blumenmotive kamen daran vor. Die Kacheln sind etwa von Rotterdam gekommen. Die Hufeisen trugen anscheinend nicht, sondern die viereckige Umrahmung, in der sie steckten.

Dieser ganze Irrgarten heißt Kasbah, das ist: Burg, weil er unterhalb der ehemaligen Burg liegt, die jetzt als Zuavenkaserne eingerichtet ist. Der achteckige, grauschwarze Mauerklumpen liegt gleichsam auf dem Müllhaufen wie die Scherben, die Abfälle neben ihm, seinen Fuß umwuchert Unkraut. Er schaut aus düstern Löchern und ist der jüngeren Welt, über der er steht, gestorben und entrückt. Ich bin zum ersten Male bei köstlichem Sonnenscheine dort. Agaven heben, wo es ihnen paßt, ihre breiten dicken, oft zerbrochenen Blattschwerter aus dem Staub und Opuntien zeigen steif ihre graugrünen Stachelhände. Araber lungern im Lichte herum, mit verbissen pfiffigen Gesichtern schauen sie nach Luftschlössern im Fernen zwischen See- und Himmelblau. Scheinbar feindlich gehen sie aneinander vorbei, und wenn sie sich dann plötzlich, ohne den fortgebannten Blick zu verrücken, laut und schnell anreden, so klingt es, als knurrten sich Hunde an. An einer Hecke standen zwei, die sich wuschen, aber sehr vorsichtig. Sie fuhren nicht in das fließende Wässerchen unter der Hecke, sondern senkten ein paar Finger in große schmutzige Konservendosen, langsam und nicht gar tief, und salbten dann das Gesicht mit der Flüssigkeit, soweit es die Backenklappen des Turbans zuließen. Einige andere, Greis, Mann und Knabe, standen wie Denkmäler dabei und sahen ihnen zu.

In der Nähe liegt ein Friedhof. Er ist auch auf den Schutthaufen geworfen. Staubige Wege, unaufgehalten durch Hag oder Zaun, befinden sich plötzlich mitten in der Gräberstätte. Eine nach muselmanischer Art geschonte Gras- und Nesselwildnis bezeichnet noch am deutlichsten diesen Ort größerer Weihe; aber die Ziegen wissen es nicht, sie kommen vorüber, bleiben stehen und naschen, Esel nehmen, da sie doch wieder den Berg hinuntersollen, rasch ein Maul voll Grünes mit. Weiter drin stehen dann auch die Fleischhackbrette: die Grabtafeln schief neben Hügeln, die meist viel kürzer und schmaler sind als menschliche Körper und Nischen für die allnächtig brennenden Lichter. Die Marabuts (Priester) haben sarkophagartige Kapellendenkmäler. Sie sind feierlich, nur weil sie auf diesem Müllhaufen liegen und ich bin zu ihnen nach Wochen zurückgekehrt, nachdem ich viele Totenstätten gesehen hatte, – in berstender Wildnis unter dem Atlas einen Hain vielhundertjähriger Ölbäume und darinnen etwas wie Ruysdaels Judenfriedhof an steinerer Flußrinne, – einsame Königsgräber: gewaltige Steinrunde, in leerer tausend Meter hoher Salzsteppe bei mondgelben, faulen Salzseen, – andre: in schwarzem Palmenschatten gesenkt, auf Oaseninseln im roten Wüstenozeane.

Hier aber macht das Schallen einer neuen Zeit den vergessenen Leichenort feierlich. In der Nähe zucken Dornen auf in nirgendwohinführenden Heckenstückchen. Sie haben kein Laub und sind ganz weiß, als fieberten sie frostig in dieser brühenden Hitze. Die Nadeln sind fingerlang und spritzen eigensinnig verquer vom Stiele ab. Und viele Tote sind eingesperrt: Drahtkäfige, ganz wie Vogelbauer anzusehen, umschließen die Gräber. Dadurch sind Aufsicht, Pflege und Diebsgesindel in einem erledigt.

Die Sonne macht die klanglosen Käfige wie den ganzen ausgestorbenen Burghügel feierlich, und da ihr Licht wie eine große Last heruntergestürzt kommt, so nimmt sie auch das gelähmte Leben andächtig und nachsichtig hin wie ein Opfer der Kreatur!

Mit diesem Gefühle durchstreife ich oft das Kasbahviertel. Es ist an warmen Tagen dicht belebt, besonders von Müßigen, die überall zuschauen, wo ein Handwerker rüstig ist, oder Waren feilgeboten werden oder ein Gaukler auf einem Laken steht oder ein Märchenerzähler dies alles noch einmal schafft. Man befindet sich immer wie in dem Hirne eines solchen Märchenerzählers. Das ganze Dasein scheint eine Ausstellung von festlichen Bildern. Ergreife ich willig die farbige Erscheinung, so glaube ich schon einen Teil des Wesens ergriffen zu haben. Die Straßen beruhigen den Wanderer, als sprächen sie: Die Häuser sind am Ende doch gebaut und stecken voller Hausrat, so war also jemand vorhanden, der dafür sorgte, die Menschen leben, so müssen sie für ihre Notdurft doch sich rühren. Ende und Zweck sind in der Gegenwart, nicht wie meist bei uns in einer Zukunft. Das verleiht der Faulheit oft so viel Schönheit.

Ein Schneider, ein Pantoffelmacher hat Zeit. Er ist so unbeirrbar ernst, als müsse er hier die Ewigkeit sitzen und wirken. Darum bleibt der Nachbar lange stehen und sieht sich die Stiche der Nadel lange an. Da kann es wohl geschehen, daß er sich, wie der kräftige Mann auf der anderen Straßenseite, niedersetzen und den Kopf gramvoll auf die Hände stützen muß. Sicherlich hat er kein Geld und denkt darüber sorgfältig nach, nicht aber, wie er etwas verdienen könne. Denn einmal ging es ihm wie den ruhevoll Frohen dort auf der Bank am Hause. Die haben gewiß ein Vermögen von zwanzig Franken, und das verlängert das Leben ja fast unabsehbar, bis plötzlich wieder das Ende da ist.

Von einem Hofe tönt ein zwitschernder Kinderlärm. Ich gehe ans Fenster: das ist eine arabische Schule, ein kleiner niedriger Raum. Auf schmutzigem Teppich hockt der ewige Schulmeister unserer Vorzeit, vor ihm eine Schar von Schülern. Der Alte träumt vor sich hin und schläft wohl fast. Die Kleinen wachen für ihn und lassen lebhaft schwatzend die flinken Vogelaugen nach rechts und links, nach vorn und hinten schweifen, wozu die meisten den Körper hin und herwiegen. Überflüssigerweise hängen über der kopfnickenden Versammlung an leerer Wand einige Schrifttafeln. (Und doch kann eine ziemliche Zahl arabischer Kinder lesen und schreiben.)

Mit Maßen fleißig sind in den Hohlwegen und Gassentreppen auch die vielen Esel. Sie steigen klug und ruhig auf und ab. Meistens tragen sie Gemüll oder Gemüseabfall in so breiter Bürde, daß Korb oder Sack die Straßenwände schleifen, zumal der kleine Körper der Tiere hart ins Schwanken kommt, wenn die kurzen Beine hohe Stufen zu nehmen haben. Wie es ihre Gewohnheit ist, stellen sie immerfort in wohlgezielten verzwickten Schlägen die Ohren gleich Virtuosen mit Kasperlefiguren. Wenn sie eine sehr abschüssige Zeile herabgestiegen kommen, sieht das Ohrenwackeln aus, als wollten sie ihren Weg erhorchen, und plötzlich biegen sie dann auch um eine Ecke und gleich wieder, unwahrscheinlich sicher, denn ihr Treiber ist oft weit hinten irgendwo im Publikum und schlendert verschlafen, gesenkten Blickes zwischen den anderen her, daß er schwer herauszufinden wäre. Ich habe mich oft in der Enge an den Eseln gerade noch vorbeidrücken können. Ging es nicht, so half nur eine Türnische, oder ich mußte bis zur nächsten Straße zurück. Wo ich nicht wich, blieb das Tier voll Gleichmut stehen, und die Gasse war gesperrt. ]

Die Läden sind klein, die Türen stehen offen, hinter ihnen beginnt eine fensterlose Dunkelheit. Durch den Eingang kommt man oft nur gebückt und muß Stufen hinauf oder hinunter. Vor kargen Fruchthandlungen liegen verschrumpfte Waren wie Neigen, die beim Aufräumen zurückgelassen wurden. Am häufigsten sehe ich Seilereien, zugleich Läden mit den landesüblichen Körben: Es sind weiche runde Geflechte, groß und flach; an den zwei Ohren werden sie zusammengenommen, bei Reisen auch zusammengenäht. Sie verengen den Eingang der Kaufhöhlen, weil sie am Querbalken und an den Pfosten von oben bis zur Erde herunterhängen. Auffällig zahlreich sind Musikinstrumente ausgehängt, wiederum rings um die Tür, besonders die Trommeln, die wie große Vasen aussehen, statt des tönernen Bodens ein eingespanntes Fell haben und beim Anschlagen einen tiefen, gewaltsamen Ton von sich geben. Näher der europäischen Stadt stehen auch kabylische Töpfereien feil. Ein paar Meilen östlich von hier werden sie angefertigt. Auf hohen sonnigen Bergen drehen sie die Frauen – Töpferei ist Frauenhandwerk – und fügen mit geschicktem Finger, der schlafwandelnd nicht weiß, daß er es vor 2000 Jahren von fremden Lehrmeistern gelernt hat, getreu punische Ornamente ein. ] – Doch aller Handel scheint hier nur so hinzukümmern, häufig ist kein Verkäufer zu sehen und die Vorbeigehenden haben vor Müßiggang nicht Zeit zu kaufen. Nur die winzigen Kaffeehäuser sind zu jeder Stunde von Männern dicht gefüllt.

Verschleierte Frauen gehen ab und zu einen kurzen Weg, doch wohin? Nur Männer kaufen fast überall ein, die Männer beten in den Gotteshäusern, nur Männer sitzen in den Schenken, nur Männer halten auf den Straßen Zwiesprache.

Machen all diese Bilder zusammen die eine Hälfte der Gesamtszene dieser alten Stadt – und anderer im Lande – aus, so bildet die Welt der Unverschleierten die andere Hälfte. In wohl allen Gassen hausen sie. Viele der Vogelfreien sind töricht und ohne Willen zum Guten und Bösen, viele karg und scheu. Eine lief schüchtern aus ihrer Tür einer eleganten Dame nach und streichelte demütig und wortlos die schönen Spitzen an ihrem Ärmel und kehrte sich dann bescheiden wieder ab. Immerhin, was hier und da in der Dumpfheit gefesselt liegen mag, kann man aus dem ungeheuerlichen Unflat schließen, den haltungsvolle und stolz aussehende Manier von der Halbwüchsigkeit an leicht in vertrauliche Worte kleiden. Gibt es für die Verschleierten auch schwerlich noch die Sklaverei, daß die Mutter ihrem siebenjährigen Sohne gehorsam und untertan wäre, so ist von ihrem Leben bis zur Freiheit doch noch ein weiter Schritt. Eben darum steht die Unverschleierte meist nicht sehr tief und gilt nicht für verworfen, mag die Spannung des Gegensatzes zur Verschleierten an sich auch ähnlich groß sein wie zwischen einer guten Bürgerfrau bei uns und einer Dirne. Im übrigen gibt es in beiden Kategorien Grade, die unseren Verhältnissen angenähert sind. In ärmeren arabischen Bürgerhäusern traf ich etwa den Bestand unseres Familienlebens an, soweit ein flüchtiger Gast urteilen darf. Hinwiederum sind beispielsweise die Ouled Nail weder in der Hauptstadt noch gar in den Marktflecken der Wüste die Bilder schicksalvoller Unschuld, als die sie ausgegeben werden, und die nur eine fremde Sitte befolgen, wenn sie fern der Heimat durch Liebe ihre Mitgift in die Ehe verdienen. Vielleicht, weil die Reisenden aller Länder so oft ihre Naivität sehen wollten, sind sie frech geworden und nach der Heirat sollen sie bildlich gesprochen auf dem Maulesel sitzen, während der Mann zu Fuße geht, und der Inhaber des Maultieres wird oft gewechselt. Nachts sind die schleierlosen Töchter dieses Erdteiles seltener zu sehen als die üblen Fettklumpen von jenseit des Mittelmeeres, vielleicht in weißgerandeten Husarenstiefeln; sie stehen in einem Flur, lehnen aus einem Fenster mit hohnvoll erstarrtem, schweigenden Gesicht.

Nachts scheint die alte Piratenstadt noch einmal aufzuerstehen, und die neue versinkt in die Langeweile internationalen Bummellebens. Ich stieg häufig auf den Treppen gleichsam in frühere Jahrhunderte zurück. Ein freundlicher Araber aus der Sippe der Shérifs war meist mein Begleiter. Irgendwo ein aufgeklappter Türspalt erregt zunächst Furcht, und die abgehauenen Hände gegen den bösen Blick in ein Haus, schützen sie auch gegen den bösen Blick aus dem Hause? Wenn jetzt eine weiße Gestalt aus der Höhe schwebt und mit lautlos schleichenden, langsam tastenden Schritten die Straßenmitte herabsteigt, rede ich die ersten Male lauter. Manchmal wirft ein Café ein goldnebliges Brückchen aus Licht in die Nacht. Mein Begleiter begrüßt den Wirt, empfängt ohne Entgelt eine Haschischpfeife, leert sie rasch mit wollüstigen Zügen, eine Duftwolke schwebt ein Weilchen, wir grüßen und gehen. Die neugefüllte Pfeife hebt ein Gastgeschenk Wohlgeruches einem anderen Wanderer auf. Ein Instrument dudelt, eine Katze schreit, eine näselnde Stimme psalmodiert. Wieder weht eine von den hohen kalten Flammen heran. Diesmal gerade auf uns zu. Mein Araber reicht dem Manne die Hand. Sie sehen sich täglich drei-, viermal. So klingt das Gespräch. Aber der Andere ist heute aus der Wüste herübergekommen, das sind zweiundzwanzig Eisenbahnstunden, – für diese Leute ein kurzer Weg. Sprachenkundig zwar, sonst ungebildet, kennen sie alle größeren Städte des Landes, haben die ganze Wüste mehrmals durchquert, das vernimmt man wieder und wieder. Alle haben eine Sehnsucht ins Weite und spielen mit dem Gedanken, nach den europäischen Hauptstädten zu reisen. Meist ist das eine Phrase, aber auch Phrasen wachsen aus einem Grunde.

Wenn wir uns müde gestiegen haben, ruhen wir in einem Lokale aus und trinken um fünf Centimes von dem vorzüglichen Kaffee. Immer ist es mir sonderbar, daß aus diesem Zwergenkännchen eine Tasse voll wird. Musikanten spielen meist auf, und ihre Gruppen sind wie aus barbarischen Träumen erbeutet.

Drei Gewaltige der Tonkunst sehe ich immer vor mir. Der mittlere ist ein Riese mit aufgedunsenem Gesicht, in dem das eine Auge wie ausgelaufen aussieht. Das Schreckliche an dem Anblick ist, daß diese Augen wider Willen immer zu lachen scheinen. Die vorspringenden Backenknochen straffen mit der bräunlichen Haut den offenbar ganz ernsten Mund weit empor, und wenn der Blick des Riesen irgendwo in der Luft hängt, strahlt auch er immer ein verklärtes Lachen in eine unfaßbare Einsamkeit. Die Beine sind weit gespreizt, doch die Unterschenkel kehren wieder zurück, und die nackten Fußsohlen scheuern sich freundlich aneinander oder suchen sich zärtlich aufeinanderzupassen. Der Dicke stützt die Geige nicht unters Kinn, sondern aufs Knie. Sie ist ihm nur ein verachteter Sklave, dem der Bogen Backenstreiche und Rippentriller gibt und der sich das Heruntersäbeln von 50 Strophen gefallen lassen muß. – Eine Art Guitarre hat der Stolze zur Linken, und ein Tamburin der Dritte zur Rechten. Sein Gesicht zeigt die behagliche Melancholie des Mageren, der viel ißt. Ohne jede Bewegung, fast auch ohne Bewegung der gesteiften Hände, schlägt er an. Ein Metallteller mit Münzen steht vor dem Dicken. Wie aus Versehen wirft dieser und jener ein Kupferstück hinein. Wenn ein Floh oder eine Laus einen der Musikanten beißt, so macht er eine Pause und kratzt sich hingegeben. Manchmal machen alle Drei eine Pause und wirtschaften stumm drauflos. Die Hörer verharren aber dabei in ihrem Tiefsinn. Wir gehen weiter.

In einer anderen Schenke sitzt ein Riese, der den Kopf umwunden hat, als bewahre er im Turban alle Winde, an einem häßlichen, verstimmten Klaviere. Breit und wuchtig in eine Welt von Mantel eingeschlagen, paukt er in Oktaven Melodien, meistens unisono, Melodien, die der Klarinette zukommen.

Klarinetten braucht man nicht zu suchen, sie sind immer nebenan. Der Spieler ist so ganz sein Instrument, daß ich nicht mehr weiß, ob er Kopf oder Körper hatte. Aber seine Klarinette höre ich wohl. Sie wird querab gespielt wie eine Flöte. Sie jagt einen chromatischen Lauf immer hinauf und hinab. Metallisch näselnd, schreiend, keifend, quiekend, immer lauter, immer schneller. Schließlich ist die Jagd von einem gellenden Pfeifen begleitet, bald ist es ein ängstliches Wiehern, bald ein zügellos hysterisches Lachen aus der Fistel.

Die Hörer sitzen gleichgültig da, ich wie in Narkose. Ein Jüngling liegt ausgestreckt auf der Wandbank, weißgewandet, schön, groß und friedlich wie Pan der Gott. Er träumt in die Weite und tupft ab und zu voll Anmut das Fell einer der riesigen Trommeln an, die über seinem Kopfe hängen.

Jardin d'Essai

Der Himmel wollte von seinem blauen Fluge ausruhen, verhängte sich grau und ließ sich auf einem unsichtbaren Kissen erstickender Schirokkoluft nieder. Ich sehnte mich ins Freie und ging nach dem Tropengarten unweit der Stadt, dem Jardin d'Essai.

Kreischende, donnernde, stoßende, bunt überfüllte elektrische Bahnen machen die Musik auf dem Wege dahin. Die Vorstadtstraßen hier im Osten haben ein löchriges Pflaster voll Regenpfützen, die schmutzigen Häuserhaufen sehen zerstochert aus, hoch und niedrig stehen die Gebäude durcheinander, mit vielfach unsauberen Läden, erfüllt vom Lärm zahlloser Fabriken. Der Putz ist von verrußten Wänden in Streifen heruntergefallen, als walte eine Absicht darin. Über Behausungen der Arbeit, die anscheinend flüchtige Wochen dienen sollten, sind Jahrzehnte hinweggegangen und brachten eine groteske Flickarbeit von Anbauten und Auswüchsen mit. Es ist Spätnachmittag und strömt von Arbeitern und Arbeiterinnen. Die jungen Mädchen in schwarzen Kleidschürzen, sehr blaß und krankhaft schlank, erinnern an ihresgleichen in Orten mit Kohlengruben.

Alles pocht und quirlt wie das Übermorgen, mit der vergebenen Hoffnung, daß nun auch das Heute und Gestern kommen werde.

So sind die Vorstädte dort alle: Agha-Inférieur, Mustapha-Inférieur, Belcourt, Le Hamma, schließlich auch die ganz spanische Nachbarstadt Hussein Dey, woselbst über die letzte schöne Vergangenheit, den Sommerpalast des letzten Dey, eine Tabakfabrik hergefallen ist. Und auch der große Heilige Sidi Abderahman, der aus der Kabylie Buße predigen gekommen war, ist längst auf dem übrigens herrlichen muselmanischen Friedhofe von Belcourt unter seiner prachtvollen Kubba Staub geworden. Und die Cervantesgrotte ebendort, woher der fünf Jahre in Algerien gefangen gehaltene Dichter zu fliehen versucht haben soll, bewahrt nur ein gleichgiltig lebloses Standbild. Aber das ist alles sonderbar unter dem Zucken, Speien und stinkenden Atmen der Benzinmotoren und dem Surren elektrisch getriebener Räder.

Nur in den vielen wundersamen Gewächsen des Jardin d'Essai scheint eine alte Vorzeit unvertrieben zu schlafen. Der Jardin d'Essai ist mit Hilfe eines öffentlichen Geldsäckels seit bald hundert Jahren ein botanischer Garten und mit Hilfe des warmen Himmels eine ungeheure Handelsgärtnerei. Die ferntropischen Bäume in dieser Fülle und in ihrem Feiertag wirken wie vorsintflutliche Proben der Natur. In diesem Sinne glaubt man hier in einem Versuchsgarten Gottes zu sein. Zu breiten geraden Alleen ausgerichtet, stehen die Modelle da, Palmen aus unwahrscheinlichen Familien, Drachenbäume, Ficus, Bambusstangen. Manche sind wie von Lappen umwickelt, braunen zerrissenen Binden, mit Barten und Schlangenflechten angetan, Schmarotzer hängen allenthalben und suchen die nüchterne, mathematische Phantastik zu füllen und zu beleben. Bei manchen Palmenarten läßt sich schwer glauben, daß hinter der zusammengeschobenen Röhre der Schuppenhaut festes Holz verborgen sei und nicht etwas wie Holundermark. Ein brühendes Licht wie ein körperhafter Brei scheint das alles ehedem gestützt zu haben. Das turmhohe Wachstum war nur eine Räkelei ohne Anstrengung und dann setzte sich dann oben ebenso gedankenleer und faul eine einfache Rosette von Blättern an, ein Fächer, ein Büschel. Sagenhafte, lilienartige Blütenorakel, halbmeterhoch und noch größer, halten die Yukkas über den Weg. Wiederum regelmäßiges Gestänge kreuzt die Luft, gleich dick vom Ansatz bis zum Ende, von der Erde bis zum Wipfel. Oder stützenartige Äste treiben zeltpfahlartig nach unten, dann über einem Laubgürtel tun sie einen spitzen steilen Sprung nach oben. Auch hier waltet noch spielerische Mechanik.

Da erlöst endlich der Platanenweg mit Bergen von Laubkronen. Die Stämme sind von japanischem Efeu umwachsen.

Unter den schwebenden Laubschobern steht eine erschlaffte, müßige Luft. Sie scheint zu verfallen und sich in übelriechenden farbigen Gewässern zu sammeln. Die verwesen. Sie sehen aus wie Pfauenschweife. An ihnen vorüber gelangt man zu den Blumenanlagen. Mauern werden fast erstickt von den kletternden Rankenhainen. Wände sind lichterloh in rubinroten Flammen aufgegangen unter den Blüten der Bougainville.

Westliche Riviera

An einem stürmischen Sonntagmorgen verlasse ich Algier, um ein Stück an der westlichen Riviera entlangzuwandern.

Das Wasser ist selbst in dem abgeschlossenen, alten leeren Kriegshafen, der übrigens seicht und schlecht ist wie alle Häfen an der algerischen Küste, stark bewegt. Ebenso zerbricht es sein Wolkenbleigrau unaufhörlich in der Beibucht. Dort wiegen hunderte von kleinen Booten, grün, rot, blau und schwarz gestrichen, als wollten diese hölzernen Regenbogenstückchen anfangen, sich kaleidoskopisch durcheinanderzudrehen.

Gar nachher, als ich zwischen mauerbewehrten Militärgebäuden und vielfenstrigen Zivilkasernen der Vorstadt vorbei ans freie Meer komme, schlägt die Brandung polternd am Felsufer auf und überspringt in viele Meter hohen Gischtschlägen die Brüstungsmauer der Straße. Breite Güsse wälzen sich bis an die Haustüren der anderen Seite, ja, manche Schwellen nässen sich.

Aber kühn schreiten, wo die Stadt aufhört ], Lusthäuschen wie auf Stelzen ins Meer: auf hohen Steinsäulen lehnen sie sich an die Steile der Felsen, klettern auf den zerklüfteten Steinen vor, wagen sich hinaus, wo Höhlen finster unter die Straße zurückweichen. Jäh geballte Flutfäuste pochen krachend an ihre Fußböden, als wollten sie die Pfahlbauten ins Gebirge hinaufschleudern. Alle scheinen leer. Überhaupt, außer einigen Arbeitern mit Steinhacken und Ackergerät und ab und zu einer prustenden Dampfstraßenbahn kommt niemand des Weges. Es ist ein unheimliches Treiben von unten und oben in der Welt. Wolken sinken grau und flattern weißlich, so tief, daß selbst die Gipfel des niedrigen Sahels in ihnen ungewiß werden. Und wenn Wind und Regen die Augen nicht offen lassen wollen und neue Wasserbürden vor mir niederstürzen, scheint das nasse Getöse auch in den Lüften, scheinen Wogen des Meeres und Wogen der Berge und Wogen des Gewölks sich dumpf in eins zu knäueln und in leere krachende Höhen fortgerollt zu werden.

Doch das unbändige Wesen geht bald vorüber. Himmelsfetzen jagen im Grauen empor wie Kinderdrachen, fern in der See gehen rötliche und grünlichgoldne Lichtäcker auf. Das Wasser in der Nähe schluckt über schwarze strömende Felsen, die in Klumpen, Bänken und Bänke vor den Bänken vom Festlande vorwandern. Wassergespenster fahren weiß hochauf, wenn sie schlafwandelnd an die Felsen stoßen und springen tänzerisch über sie weg, unaufhörlich, hinter jeder Kehre des Weges, hundertmal und noch hundertmal, als wollten sie erst aufhören, wenn die letzte Woge aus dem fernsten Norden herangewandert wäre und sich erschöpft hätte. Es hat mir das etwas Erregendes, als gäbe es nichts Wichtigeres. Und daher ergreift mich das stille Leben der voll aufgeblühten Margeritenbüschel am Wege, die gelben Figuren am Sternhimmel der blühenden Opuntien, die Aloen mit aufgeschossenem Blütenmaste. Eine schwarze Ziege steht mitten auf der Straße und läßt ihre weißen Kleinen an ihrem Euter trinken. Dann, unversehens gehen über beruhigten Gewölkmassen weiße Häupter auf wie Turbane, von Riesen getragen. Ich sehe die weltweisen Arabergesichter einer Kaffeeschenke vor mir, die Hände halten eine Tasse auf dem Knie. Nur Augenblicke leben ihre riesigen Ebenbilder auf den Bergen, gestalteter Nebel; und ein besinnlicher Blick in Graswildnis, Agavengestrüpp und auf eine stillende Ziege scheint mir genug, ein Leben zu füllen und selig zu machen. ]

An der Pointe Pescade, zwei Stunden von Algier, liegt ein grieses, mürbes Gemäuer. Es war ehemals ein türkisches Fort. Ein neues schweigt gegenüber in Bouzaréah, wie auch weiterhin das Geschlüft des Küstengebirges befestigt ist. Jener Rest aus der Türkenzeit ruht auf einem schründigen Felsenstumpf. Von dort aus tut sich überwältigend die Sichel der algerischen Bucht auf bis zu Cap Matifou, das auf der gegenüberliegenden Spitze, 27 Kilometer von der Hauptstadt entfernt liegt, ebenfalls mit Brocken einer türkischen Festung gekrönt: Ein mächtiger Halbkreis, ausgezackt von vielen kleinen Bogen. In das Grün des von Cap zu Cap mitgekrümmten Bergwulstes sind ungezählte Häufchen weißer Häuserkrümchen gesprengt. Das Meer ist blau geworden und drängt gewaltig in die Bucht, mit brennendem Silbersaume, sodaß vor dem dunkleren Horne ein dünnes Mondhorn blinkt. Immer klarer schwebt der Landbogen aus dem weichenden Dunste. Drüben auf Matifou weiß ich eine altchristliche Basilika und römische Thermen. Mir ist nun, als sähe ich über zwei Jahrtausende hin nach dem unzerstörten Flecken, denn was mich an der Sicht packt, die erinnerungslose Flut und dieser grünausgespannte Gigantenhafen der Erde, sind nicht gealtert.

Hinter Pointe Pescade biegt sich die Küste nach Süden zurück. Die Berge werden niedriger, die Erde rot, das Meer ist manchmal hinter klappernden Schilfwänden von viel mehr als Manneshöhe verborgen.

Bei Bains Romains, einem dürftigen Seebade, stochern geputzte Damen und Herren in den Brandungsfelsen herum.

Nach einer weiteren Stunde Weges ruhe ich in dem Landwirtshaus am Cap Caxine. Vor mir am Ende einer breiten Allee ragt der weiße Leuchtturm gegen das Meer … Wirt und Wirtin machen mit ihrer Freundlichkeit wieder alles gut. Nämlich der Kaffee behauptet mit diesem Namen etwas Vermessenes, der Fleischkäse ist lebenslänglich unter dichtem Drahtgespinst eingekerkert gewesen und kommt auch jetzt, da er zu dürrer Rinde verschrumpft ist, noch nicht frei. Während Fliegenvölker gierig nach seinem Kadaver mit dem Kopfe gegen die Drahtwand stoßen, rühme ich das trockene Brot und verschwöre irgend etwas anderes zu genießen. Die arabischen Arbeiter nebenan essen es ja auch allein; nur machen sie außerdem kartenspielend einen ungeheuren Lärm. Einer winselt und klagt schakalmäßig und übt sich bauchrednerisch in Gutturalen, er springt den anderen zu Leibe, daß man sich einbildet, es sei nicht bloß um die Mitspieler, sondern mindestens noch um den gütigen Wirt geschehen. Indessen, alles ist nur das Vorspiel zum Ausbruch eines Gelächters gewesen.

Ob ich hier in einem Spielerkasino bin? Die Fliesen des Fußbodens sind schwarzumrandete weiße Quadrate, und in den Feldern sieht man, durchs ganze Lokal hingemustert, lauter Karo, Kreuz, Herz und Pik. Darüber kriechen in sinnloser Wanderfahrt die Heerscharen von Fliegen. An dem nachgemachten Marmor der Wände hat so mancher ein öliges Haupt ausgeruht und Schattenhände darauf gebannt. Auch der echte Marmor der Theke ist sehr schmierig. Aber, wie gesagt, Wirt und Wirtin machen mit ihrer Freundlichkeit alles wieder gut.

Auf dem Rückwege habe ich Sonnenhelle um mich. Das Meer ist noch sehr erregt, doch rauscht es sich in eine immer blauere Seligkeit hinein.

Jetzt überholen mich und die hinter ihren Kühen entschlossen ausschreitenden Araber viele Automobile. Dafür überhole ich nachher eine Unzahl von Sonntagsspaziergängern, kleine Bürger, die meist nur bis Deux Moulins, ein Stündchen vor der Stadt, gelangen und wieder umkehren. Es ist einhalb vier Uhr, die Stunde, zu der das Meer gesegnet wird von der Bergeshöhe mit dem Kuppeldome Notre Dame d'Afrique. Reihen durchsichtiger Ölbäume umhegen ihn. Ein schwarzes Wimmeln kleiner Figuren zieht um die Kirche.

Blida ]

Sand und Lehm sah ich als den dritten afrikanischen Landstreifen: die Wüste. Über den Saharaatlas hinweg steigt man in den zweiten: Salz und Fels, über den Küstenatlas hinweg in den ersten: Wein, Frucht und Blumen. Es ist der breite Saum des Meeres.

Nirgends wurde ich seine Üppigkeit sondergleichen so gewahr, wie auf der Fahrt von Algier nach Blida, einer nicht gar weit nach Westen gelegenen Stadt. In Rissen bricht die Erde auf, als müsse sie Munde auftun, um dem ungestümen Sonnensegen zu antworten. Baumparadiese, Blumengärten springen bis an den Schienenstrang, und manchmal denke ich, im nächsten Augenblick müßten sie den Raum vor der Maschine zugewuchert haben. Johannisbrotbäume halten die Fruchtbüschel herab, Mispelbäume stehen wie halbkugelförmig erstarrte Kaskaden mit ihren tausend gelben Bällchen. Eukalyptus und Ölbäume dazwischen in stolzerer Zurückhaltung. Zehntausende von Mohnkreisen, Millionen von gelben Blumen. Rosen drücken in solchen überquellenden Frachten auf die Mauern, als wollten sie alles Bauwerk von Menschenhand in den Boden drücken. Gepflegte Weinfelder meilenweit. Meilenweit Mandarinen- und Zitronenhaine, von Zypressenhecken quadratisch eingefaßt. Immer wieder die schwarzen, schnurgraden lebenden Wände, wahrscheinlich zum Windschutz. Feigen, Kaktus und Agaven stehen wie Gewappnete die ganze Bahnstrecke entlang.

Blida, die Stadt, möchte ich mit drei Beinamen benennen. Den ersten nehme ich vom Anblick ihrer Bäume und Totenäcker, die anderen beiden trägt sie von alters her, freilich in ein und demselben Sinne gebraucht. Der erste Name nennt sie die Heilige, der zweite die Rose, der dritte die Hure.

Heilig sind die Bäume, die uralten, diese schwankenden Türme, diese wehenden Berge: doppelte Platanenreihen kreuz und quer auf Plätzen und zu den Toren hinaus, Alleen aus Johannisbrotbäumen längs der Stadtmauer, die schwarzgrünen Pagoden der Araukarien und vor allem die vielgespaltenen, greisenhaft gekrümmten, von zerreißenden Laubpelzen weithinaus übergrauten, weithinaus überklafterten Ölbäume des Heiligen Haines und des Heiligen Friedhofes von Sidi el Kebir. Diese Ölbäume mögen wohl die annähernd 400 Jahre seit Gründung der Stadt oder länger an ihren Stätten stehen.

In Sidi el Kebir, das vor der Mauer liegt, überdachen sie das Grab des Stadtgründers, Achmeds des Großen. Zu diesem greisbärtigen Totengarten im ärmlichen, schmutzigen Dörfchen strömen an Festtagen die Frommen der ganzen Umgegend. Er liegt demütig im Angesicht der Atlaskette auf ihrer ersten Stufe. Jeder seiner Olivenbäume ist ein schwebender Irrgarten für sich, worin die Äste wie krumme Straßen fast in sich selbst zurückkehren. Unter solchen Denkmalen brauchte man nicht erst umständlich in Stein zum Gedächtnis bauen. Nur ein paar schmale, mannshohe Tempelchen sind da und übrigens weithingestreut niedrige parallele Schwellen aus verwitterndem Stein. Sie gleichen Sarkophagen, denen die Deckel abgehoben sind. Die Deckel scheinen als Gedenktafeln tief in die Erde gerammt. Die Seelen aber fließen im blauenden Dunstgeschwele der Berge mit, die hinter den Ölbäumen aufgebaut sind, oder sie sitzen um die plötzlich aufspringenden, gleißenden Sonnenkrater in den Felsfalten, unter dem Wolkenzug, sie horchen, ob die verstummten starren Fontänen der Zypressen sich in der hohen Einsamkeit nicht rühren werden.

Fester schlafen unter den grauen, gelassenen Riesenflügeln ihrer Ölbäume, unter ihren Aleppokiefern die beiden Toten des Bois sacré. Diese Marabuts haben feste Gräber, weiße Würfel mit rundem Tor. Eine ebenfalls weiße Halbkugel bildet das Kuppeldach. Die Kubben haben dort wohl seit Anbeginn der Stadt ausgedauert, sonst ist gewiß nicht viel unter den ehrwürdigen Laubwolken gleichaltrig mit diesen.

Zweimal im vergangenen Jahrhundert hat die Erde unter Blida gebebt und die Stadt vertilgt, wer weiß, wie oft früher? Vielleicht aus Vorsicht hat man sie mit Ausnahme von Kasbah weitläufig und niedrig aufgebaut. Den Hauptteil machen die Bauten für die ungemein große Garnison und die Gassen der Frauen, welche sich der Liebe widmen, aus. Um die Stadtmauern liegen Exerzierplätze, ein großes Gestüt, Tennisplätze für die Offiziere, Obst- und Gemüsezüchtereien. Die Stadt hat etwa 20 000 Einwohner, mehr als die Hälfte sind Mohammedaner. Das gibt ein buntes Wesen, zwergenhaft und zierlich, welches mit Sicherheit wieder nur die Bäume überdauern werden.

Nein, ich komme von ihnen nicht los. Ihr Schatten weihte mir sogar die Qualen und Martern, die ich sah, Martern an Menschen und Tieren. Das dauert nur ein Weilchen, denke ich. Ich habe ja keine Hilfe bereit.

Die gequälten Menschen waren Soldaten. So bepackt habe ich so schwächliche Gestalten, wie sie unter ihnen waren, noch nie gesehen. Und auch soviel Schweiß habe ich noch nie gesehen. Unter dieser Sonne glich er schmelzendem Blei. Dabei sahen die Gesichter über den Uniformen mit dem wie aus dem Sonnenlicht selbst geschnittenen schönen Rot, Grün und Blau aus, als wären sie vor Frost so mager und bebten. Die Leute mußten den steilen Weg vom Bahnhof nach dem Tore Bab es Sept hinauf. Es ist eine kleine halbe Stunde, – aber ich ging auf der Seite der Allee unter den Wipfeln!

Eine noch größere Marter hatten die Omnibuspferde auszustehen, die einen schweren Kasten desselben Weges schleppten. Sie zwangen ihn nicht und stolperten in verzweifeltem Zickzack von einem Gehsteig nach dem anderen. Hatten sie die Straße bis zu den Bordsteinen überquert, so blieben sie erschöpft stehen, wenn sie dann auch minutenlang geprügelt wurden, blieben stehen und duldeten, atmeten spitzbrüstig, bevor sie den Wagen losruckten und hastig nach der anderen Seite hinüberrissen, um dann wieder minutenlang geschlagen zu werden. Wenigstens 25 Personen saßen und standen in dem Gefährt, ein Briefträger und ein Araber sprangen unterwegs noch auf das Trittbrett, und die zwanzig Pausen der Exekution warteten sie alle andächtig ab. Zu Fuße wären sie dreimal so schnell vorangekommen, niemand aber wollte einen Meter Fahrt verlieren, auch der Kutscher nicht, der manchmal absprang, um wüster hauen zu können, aber sich hinaufschwang, sobald er den Augenblick des Losreißens nahe glaubte. Eine Dame, die mit meinem Zuge gekommen war, wollte den Wagen verlassen, weil sie es nicht länger ertrug, aber der Kassierer haschte sie bei der Hand und drückte sie auf den Platz. Sie habe doch bezahlt und es ginge gleich weiter. Fast unerträglich war die Vorstellung, daß dieses Martyrium täglich mehrmals vor sich ginge und durch Wochen, Monate, Jahre.

Noch einmal: das nächste Erdbeben werden mit Gewißheit nur die ehrwürdigen Bäume überdauern; die Tiere sind wie sie heilig in ihrer Qual, weil sie ihnen nicht gleichaltrig werden können.

Der zweite Name Blidas heißt: die Rose. Viele Düfte mischen sich hier, biegen um die Ecken, stürzen von den Mauern, ziehen durch die Straßen. Der süße Schlaf des Orangeblühens schwebt durchs Licht. Wer will sie alle scheiden und erkennen?

Im Bizotgarten duftet die Erde selbst, als erhebe sie unsichtbare dunkle Blüten zu den Millionen sichtbarer heller. Sie ist auch hier wieder geborsten vor schwermütig dumpfem Fruchtbarkeitsdrang. Es ist leider nicht möglich, im Stummen stumm zu werden: da kommen auf schleichenden Sandalen schon wieder die Händler im roten Troddelfes, die »Führer«, und ich muß diesen meinen ergebenen Dienern einem nach dem anderen Audienz erteilen. Ich sitze thronend auf einer Bank, verliere die Laune nicht und werde die Leute los. Aber sie sammeln sich draußen vor der Hecke und spähen mit Geieraugen herüber. Zuletzt ist ein kleiner nackt-füßiger Strolch da, die Hände auf dem Rücken sieht er mich an, steht immer neben mir, und als ich mit befremdeten Augen an einer mächtigen Magnolie aufschaue, fühlt er seine Stunde gekommen und fängt an zu führen. »Dies ist ein großer Baum«, belehrt er mich. »So, so«, antworte ich, »wie heißt er denn?« Er schweigt. Nun verhöhne ich ihn ein wenig mit demselben Kastellanston: »Das da ist wieder ein großer Baum.« Er bleibt herzklopfend ernst und sagt andächtig, auf eine Araukarie zeigend: »Herr, auch das ist ein großer Baum.« Er begleitet mich beherzt auch zum Park hinaus, doch vor den Geieräugigen draußen muß er die Flucht ergreifen. Diese wiederum sind durch einen riesenhaften Unteroffizier geschlagen, den bei meinem neugierigen Blick durch ein Kasernentor der Stolz packt und der sich erbietet, den Ehrensaal der Offiziere seines Regimentes zu zeigen. Nun, es ist dort wie überall: erbeutete Säbel und Flinten, im Halbrund geordnet, gehen über verblichenen Draperien auf wie die Morgensonne über Wolken, Schleifen hängen an Gedenktafeln für Kameraden, die im Kampfe mit den Eingeborenen fielen, große Festtafeln stehen auf dem Tisch in der Mitte und Trinkhumpen auf den Schränken.

Im Hotel koste ich den berühmten weißen Wein von Meda, unweit aus dem Gebirge. Er ist wie hierzulande jeder gute Weiße und Rote schwer von Sonne, aber wohl für die meisten Gäste aus dem Norden ein wenig zu süß. Immerhin, auch er hilft, die Stadt gegen Abend in ihrer Blühetrunkenheit sorgenfrei scheinen zu lassen. Außer in dem sauberen französischen Viertel, das hinter durchbrochenen, grünen Holzläden schläft, gibt es nichts, das in ihrem Leben verborgen wäre. Noch mehr als in der Hauptstadt ist hier die Straße der Kasbah Werkstatt, Ruhelager, Spieltempel. Wir haben alle unseren Alltag, aber tausend Alltage nebeneinander zu sehen, es gehört mir zu dem Festlichsten und Verzaubertsten, was sich denken läßt. Ich versuche nicht zu beschreiben, sofort würde alles zu langsam und zu schnell. Nur wenige Stationen des planlosen Ganges, an denen ich länger verweilte, will ich mir zurückrufen. Ein Weber hat den Webstuhl mitten auf der Straße, und der weiße Meisterbart schlägt in die Fäden immer mit herein. Die Zuschauer stehen gemauert, als müßten sie ein neues Gewand für sich abwarten. – Vier Pfosten, ein Dach darüber und darunter ein Kaffeebrenner. Er schüttelt und hechelt die Körner, der Rauch quillt dick in die Straße und kämpft über ihr mit dem Blumengeruch. – Noch erreicht und eingehüllt von dem Rauch, erhebt sich, ein wenig weiter die Straße hinab, die fliesenverzierte Grabkapelle eines Marabuts, in der das Abendlicht schon brennt. Und wieder, so nah den Gebeten vor dem Toten, wandert der Blick in eine Gasse, wo auf den niederen Dächern weißer Häuser starre Frauen in blitzenden Geschmeiden und leuchtend weißen, grünen, blauen Stickereigewändern gegen den blauen Himmel ragen, alle wie Königinnen auf den zuckerhellen Würfeln. – Am Eingang eines maurischen Bades bitten mich Männer in Laken um eine Zigarette und um die Freundlichkeit, das Bad anzusehen. Es ist darin alles sehr sauber mit blauweiß gemusterten Fliesen ausgelegt, der Vorraum hat Sitzbänke. Ich werde durch einen völlig schwarzen Raum gezogen, stehe dann im Hitzraum und verliere fast das Bewußtsein, weil ich bekleidet in dieser plötzlichen Glut sieden soll. Ich will hinaus, aber ein halbes Dutzend Hände halten mich eisern fest. Gütige Stimmen reden mir ein ganz Dutzendmal arabisch und französisch zu, der Aufenthalt hier sei sehr gut. Als ich schließlich frage, wieviel Grad Hitze mir denn diese Schweißkrone aufgesetzt hätten, werde ich zunächst nicht verstanden. Grade? Grade? Dann aber bekomme ich entschlossen die Antwort: zwanzig oder fünfundzwanzig, weil das ja ganz vertrauenswerte Zahlen sind. – Ich beschließe, nach dem Abenteuer in die Moschee zu treten, die bald im Wege liegt. Ich bin in Blida schon in einer anderen gewesen. Beide sind klein, arm und riechen streng, in beiden verfolgten die Aufseher mit Katzenaugen unverwandt meine Füße, ob sie nicht irgendwo auf einen Zipfel der Betteppiche träten. Ich bin mir nicht sicher, ob im Falle eines Fehltritts eine große Erpressung oder ein Totschlag verübt worden wäre.

Gegen den Markt zu findet ein Mann großen Zulauf, der aus hohem, schönem Steinkrug eine Art Buttermilch austeilt. Mancher bezahlt den Becher voll mit einem Kupferstücke, mancher mit einem zufriedenen Mundwischen. Es ist beides recht. Auch ich werde freundlich eingeladen, zu kosten. Die saure Flüssigkeit mag wohl erfrischen, doch hatte sie mir einen widrigen Geruch und einen süßlich käsigen Beigeschmack. Ich nahm es aber für Freundlichkeit, ja Gastfreundlichkeit in Blida, der Rose. – Auf dem Eingeborenenmarkte dreht sich, zumal es Freitag ist, ein ungeheures Gewimmel von Arabern, so daß von den Waren nichts zu sehen ist. Unangefochten von dem Strudel und mitten drin kauern auf einem Teppich sechs Männer und spielen Karten. Ich erschrecke vor der fanatischen Leidenschaftlichkeit, die sich in dem affenschnellen und geschmeidigen Hinabschießen der Arme, in dem krallenhaften Zustoßen der langen, krummen, durchgedrückten Finger, in den rundgespannten Nacken und schleichend vorgeschobenen Köpfen kundgibt. An sie wagt sich nicht der photographische Apparat der Dame in einer Droschke, die hier, merkwürdig genug, einen Weg sucht und findet. Merkt jedoch jemand von den Marktleuten, daß er in die Linse soll, so versteckt er sich rasch hinter den andern, wenn er Ehrgefühl hat, wenn nicht, so glotzt er verächtlich und blöde sein schiefes Lächeln hinein. Ergreifend ist, wie gleich darauf eins von den unverschleierten Geschöpfen in einer der Huldgassen vor demselben Apparat zusammenschrickt, seine Hände aufs Gesicht wirft, sich hastig abkehrt, in seine Türnische drückt und gleich einem Steinbild stehen bleibt. Wer nicht vor der Kamera flieht, muß in den Hohlpässen vor den Wagenrädern fliehen. Breiter, als die Wagenachse lang ist, ist der Raum oft nicht zwischen den beiden Hausreihen. Der Wagen jagt die Leute in die Nischen der Eingänge, und die zahlreichen Dominospieler auf den Hausbänken müssen ihre nackten Füße schleunig auf das Sitzbrett ziehen. Sie erregen sich über diese Störung und Verfolgung nicht, keiner hat geschimpft, die meisten haben weggesehen. – Der Totengräber bringt Orangenzweige aus seinem Garten neben einem kleinen Friedhof.

Mit einem dritten, sehr alten Beinamen heißt Blida die Hure. Wie schon angedeutet, war das nur ein grober Ausdruck für den Namen die Rose. Die vornehmsten Seeräuber aus Algier, ihre obersten Machthaber, fuhren einst gern hier heraus, um fröhlich zu sein.

Fröhlich ist das Bild des Frauenviertels nicht, eher verhalten schwermütig. Es blickt einen immerfort die Trauer an, die man wenige Stunden von hier in der Chiffaschlucht findet, wo auf den Bergwegen viele Affen sitzen und mit leeren Augen herüberschielen.

Die ganze Kasbah ist Quartier der freundlichen Frauen. Es ist für eine so kleine Stadt so erstaunlich groß, daß alle anderen Quartiere nur wie Anhängsel wirken, geht man gerade durch dieses. Es ist leise hier, obschon ein lebhaftes Hin- und Herwandern die Gassen füllt und besonders viele Soldaten, Zuaven und Turkos, in Reihen daherstreifen oder in Gruppen stehen und Silbermünzen über sich werfen in dem Glücksspiel: Schrift oder Kopf? Ein Spiel, das ich zu hunderten Malen in Algerien sah. Verbissen spielen sie es, andere stoßend und selber torkelnd, aber fast stumm. Still ist es. Kaum je fährt hier ein Wagen. Nur der summende, näselnde Gesang der Frauen, die vor den Türen oder in den Höfen sitzen, und der dumpfe Ton der Topftrommeln, auf denen sie sich öfters begleiten, rieselt einförmig durch die Gassen. Meistens sitzen sie in kühler Wehmut da, scheinbar bloß mit sich beschäftigt, oder sie folgen reglos mit neugierigen Steinaugen dem Wanderer, und die Blicke allein kommen aus den Gittertüren und Fenstern heraus. Europäische Damen können wohl unbeleidigten Gefühles einen Mann durch das Märchen begleiten. An diesen Wesen haftet nach der allgemeinen Meinung kein Makel, nein, sie sind nicht verstoßen und verfolgt, daher sind sie selten frech und aufdringlich. Ihr Wille schläft: langsame Sonnen, die über ihre niedrigen Dächer wandern, halten den Willen gebunden.

So sehe ich sie jetzt wieder, lange Reihen auf und ab, gegen den schon grüngelben Himmel auf dem Dach der weißen Häuser ragen, manche in Seide, mit Metallschmuck an Haaren, Hals, Händen und Füßen. Oder sie liegen auf einer Palmfasermatte auf dem Hofe, der fast ihr Haus ist; seine Wände stehen, mit schmalen, offenen Räumen hinter dem Holzperistyl, wie Hürden um sie. Der Boden des Hauses ist kahle Erde, die Decke der Himmel. Oft strahlt wieder wie in Algier das blaue oder grüne Licht der Tünche herrlich heraus, eine währende Mondnacht, und wieder krümmt sich ein blätterloser, rindeloser Baum im Hofe auf und scheint manchmal dennoch der Hauptbesitz der Hütte. An dem Stamme aber lehnen zwei oder drei den Rücken fest, verschränken die in weißen Pumphosen steckenden Beine und scheinen in Gleichmut hoch über ihrer großen Armut auszuruhen. Fast alle haben sie sich einen Zweig blauschwarz mitten auf die Stirn gemalt, auf die Wangen oft einen Punkt oder auf die Hände eine Blüte. Auch die Augenwimpern und der Rand der Lider sind mit Kohle, Schwefelantimon, dem »Geschenk Allahs«, gefärbt, und das schützt die Augen vor Krankheit und Tränen und macht den Blick klar und fest … Die Fingernägel strahlen orangefarben von Hennah, oder auch die ganzen Hände sind jodbraun. Suak aber muß man kauen, damit der Atem wohlrieche und die Zähne wie Milch werden.

Von hier quer durch die Stadt kommt man nach dem Bois sacré. Nun begegnen ehrbare Frauen, vom Haupt bis zur Erde eine einzige Faltenhülle. Ganz grau gehen sie einher wie wandelnde Felsen, nur ein dreieckiges schwarzes Loch ist das Türchen eines Auges und der Ausgang des ganzen Leibes und der ganzen Seele ins äußere Leben. Vom Munde hängt das Gewand steif und kalkig wie ein Leichenstein vom Friedhof Sidi el Kebir. Auch sie, wie man erzählt, haben ihre Haut geschmückt. In einem Wüstenliede heißt es: Ihre Brauen sind Bogen, vom Negerlande gekommen, und ihre Wimpern, ihr schwört, sie seien die Spitze der Ähren, gereift durch das Auge des Lichts gegen Ende des Sommers.

Von Blida bis zur Chiffaschlucht im Atlas sind es zu Wagen einige Stunden auf ausgezeichneter Chaussee. Die Fahrt wird nur durch den Geruch beeinträchtigt, der den Kutscher wieder wie eine unsichtbare Wolke umgibt. Wir folgen längs dem herrlich herabrollenden Gebirge, das zunächst in seinen Falten Zedernwälder trägt, dem »großen Flusse«. Der ist freilich nur ein paar Ellen breit, und man würde ihn leicht übersehen, wenn er nicht von so schwer gelbroter Farbe wäre. Dick und trag rekelt sich das Wasser durch ein ungeheures, mit blauweiß schimmerndem Gestein gespicktes Bett. Dieses zieht in großartigen Krümmungen durch reichstes Land und könnte wohl fünfzig solcher Wässerchen wie den Oued el Kebir nebeneinander aufnehmen. Viele Brücken springen hinüber. Um das Gebirge weht eine erhabene Einsamkeit und Größe, zumal unzählige runde Bäume mit blauen Zwischenräumen so reglos in kleinen schwarzen Einsamkeiten dastehen. Bei der Klarheit der Sicht sind sie mitunter noch in den Wolken in der Vereinzelung erkennbar. Weiße Würfel, wohl Kapellen oder Totenmäler, sind die seltenen Meilensteine auf den sonst leeren Flanken der Berge. Fluß und Höhen sehen unheimlich aus in dem strotzenden Lande. Wieder steht die vorhin aufgezählte Flora als reicher Gottesgarten um mich, Goldseen aus Blumen, Rosen- und Geranienkaskaden, überall wieder Reihen der hundertjährigen Aloe mit dem vier, fünf Meter hohen Schafte der Blüte, an der sie sterben soll, wie erzählt wird. Große Güter liegen an der Chaussee, verwunschen die Gärten im Zypressendickicht.

Steinklopfende graue Gespenster machen ein leeres Geläut an der Straße, verhüllte Frauen und die Kinder, die kleinen Wegelagerer in ihren hellen Talaren, tönen wie die Unken hinter dem Wagen her: Un sous, un sous, sie sprechen: »Ssü«, lachend, blumenwerfend. Auffallend viele Eselreiter schweben mit steif hinabgereckten Füßen, wie aus eigener Kraft, so überzeugend dicht über dem Boden voran, daß die Tiere zwischen ihren Beinen wie ein scherzhaftes Spielzeug aussehen. Ab und zu, um das Gruseln zu lehren, ein Dörfchen in Sack und Asche.

So bleibt der Weg etwa bis zur Tropfsteingrotte am Flußufer. Der Wagen hält, ein Wurzelgeist von Mensch taucht aus der Chaussee und ruft: »La grotte«. Sie ist naß, man gleitet auf schlüpfrigen Steinplatten aus. Der Geist zündet ein Strohbündel an und leuchtet. Mir drückt er außerdem eine Kerze in die Hand, – es ist aber nichts zu sehen außer einer Stalaktitensäule im Hintergrunde. Auf diese Enttäuschung folgt die Enttäuschung der weitberühmten Chiffaschlucht. Die bewaldeten Bergkulissen, tief eingeschnitten, sind einander nahe gerückt, sie sind oben gerade abgeschnitten und einförmig. Ein paar Wasserfällchen springen hinter dem Affenflußhotel herab. Nur die vielen Affen, die an den Felswänden hausen, machen das Bild sonderbar. Sehr häufig schüttelt sich ein Baum auf das heftigste, dann sprang eins der Tiere. Und als ich die schmalen Bergpfade höher hinaufsteige, schnellt immer wieder ein Affe über meinen Kopf hinweg von Baum zu Baum, oder er sitzt mitten im Wege und sieht mich aus unerlösten Augen an. Der freundliche Wald erschreckt mich immer wieder, wenn ein Sturm einen einzelnen Baum faßt. Wenig Vögel singen.

Als ich zum Wagen zurückkehre, hat sich der Kutscher über seine vordere Sitzbank gelegt und schläft. Obschon die beiden Seitenrampen aus Eisen ihm die Kniekehlen und den Nacken tüchtig drücken müssen, obschon der Turban sich von dem hintüberhängenden Kopfe löst, ist er kaum zu wecken. Dann aber lacht er voller Glückseligkeit.

Aus der Kabylie

In Algier blättere ich in einem Buchladen die von Boulifa zusammengestellte und ins Französische übersetzte Auswahl kabylischer Gedichte durch. Ich nehme den Band nicht, er hat ein sehr großes Format, viele Anmerkungen, und kabylisch verstehe ich trotz der Transkription in lateinischer Schrift doch nicht. Die Sprache ist ein Berberdialekt, untermischt mit lateinischen und arabischen Wörtern. Aber die Käufer im Buchladen bestätigen mir, was ich in Büchern und Zeitschriften über den kabylischen Volksstamm gelesen habe. Werde ich von seinem Leben nicht viel sehen können, so möchte ich doch zumindest einen Ausflug in die Kabylie machen.

Bis mitten in sie hinein, nach Tizi-Ouzou, sind es wenig über hundert Kilometer von Algier nach Osten. Der Zug teilt sich den Weg gut ein und trabt in der Stunde etwa zwanzig Kilometer ab. Aber die Wagen sind sauber, bequem, haben große Fenster, und da überdies der Weg durch köstliches Land führt, ist es mir willkommen, ihn langsam zu machen. Hügel, bepflanzt mit Weinreben und fruchttragenden Mimosen, umhegen sehr reiches Erntefeld, werden von schön geformten, baumschattigen Bergen überschaut und schließen oft erst sehr weit hinten den Blick ab, nachdem sie launig die Krümmen eines Flußlaufes mitgemacht haben. Und es bleibt in den Tälern Platz für herrlich hohe Baumschläge und schloßartige Gehöfte. Die vielen Korkeichen schält man ungefähr alle fünf Jahre, wie Mitreisende erzählen, sie liefern das hier verarbeitete Pantoffelholz, oder die Schalen werden in unseren Breiten zu Flaschenstöpseln, Polsterungen usw. verwandt. Einmal schwebt das Meer in einer Lücke vor, dann zeigt sich über Dörfern, die von Elsässern und Lothringern bewohnt werden, die rauhere Nähe des Hochgebirges. Doch trotz Schluchten und Viadukten, Tunneln und Steinwänden, die den Hall der Fahrt nachschnarchen, – die ganze Strecke war lieblich und warm, die Grundfarbe des Landes war gelb. Millionen Blüten stickten Mondteppiche zusammen. Und die Endstation heißt Tizi-Ouzou, das ist zu deutsch Ginsterpaß.

Ich erfahre alsbald, daß nicht bloß das Kabylische, sondern auch das berberische Französisch ein Urdialekt ist, untermischt mit lateinischen und arabischen Brocken, wenigstens in Gemeinden ohne Gasthaus und abseits der famosen Diligence.

Ich sehe Zwergendörfer auf runden Bergkuppen hoch gegen den Himmel liegen wie helle Raubvogelhorste, dicht ineinandergekrallte Häuser, stachlig umhegt von Kaktushecken, an denen Schafe und Ziegen wie Einlaß begehrend nagen. Ein andres, wieder Dach bei Dach gehäuft, ist wie eine eigensinnig schräge Schrift in den Himmel gekritzelt, neben die Sonne, und die Schrift scheint für Jahrhunderte auf dem blauen Grunde befestigt. Ähnlich mögen sie seit Anbeginn ausgesehen haben. Weil das Weltdach so nahe ist, sind die Hausdächer so niedrig, daß der Kopf sie erreicht, gewiß aber die ausgestreckte Hand. Viele Dörfer sind, selber zwar pflanzenlose Steinhüttenhaufen, versteckt hinter endlosen Feigengärten. Diese haben eine behäbige Üppigkeit durch die mächtigen Blätterlappen, sind warm von südlicher Sonne und werden doch unfern überragt von der Nacktheit und schroffen Stille des Djurdjuramassivs. So dicht unter dem Schnee seiner höchsten Gipfel spielen Kinder, die mit nichts bekleidet sind als mit ihren Haaren, an denen, wie es heißt, sie Gott einst ins Paradies entrücken wird. Den Frauen, welche von tiefher das Wasser bringen, hat die Sonne das unverschleierte Angesicht geschärft, auch bückt die Last sie frühzeitig, aber mit ihrem ernsten, sehr breiten Munde, der geraden Nase, den geradgestellten Augen unter gewichtigen, zurückhaltend entschlossenen Stirnen, sehen sie edel aus. Die jungen Mädchen, aufrecht und ebenmäßig gewachsen, sind mitunter von schwerer fremder Schönheit, wenn sie klirrend im Schmucke großer Ohrgehänge und mehrerer Hals-, Arm- und Fußreifen einhergehen.

Diese Menschen wollten immer vor allem sie selbst sein. Die Höhe ihrer Berge schützt sie vor sichtbaren und unsichtbaren Feinden. Das Sumpffieber, das bei den tiefer wohnenden Nachbarn soviel Gesundheit verwüstet, steigt hier nicht herauf, und gegen andere Krankheiten wachsen Kräuter auf der Höhe. Man weiß sie wohl anzuwenden. Die europäischen Ärzte sollen an der kabylischen Heilkunde manches gelernt haben.

Vollends gegen die bewaffneten Feinde standen diese Berber mit allen edlen und unedlen Mitteln auf, und ihre Berge blieben ununterjocht von den Römern, Arabern und Türken. Anderer Völker Politik und Religion dringt nicht in ihre innere Überzeugung. Daher schwanken sie darin in jenem raschen eigensinnigen Zickzack, worin die Dächer der Dörfer über eine Bergkuppe laufen. Sie sind durch alle Richtungen des Christentums und des Islams geschwankt, bei dem letzteren sind sie schließlich geblieben, vielleicht weil das, worauf ihr Drang am meisten geht, Freiheit und Reichtum, durch einen Religionswechsel jetzt nicht mehr zu erwerben ist. Denn wenigstens reich wollen sie um jeden Preis werden. So sind sie berühmte Gold- und Silberschmiede, aber auch berühmte Falschmünzer. So haben auch die Hütten der Gutgestellten oft kein Schmuckstück außer der Truhe mit dem Sonntagskleid, während sie doch geübt sind in jeder Zierkunst und Hochzeitskronen für ihre Frauen wie alle Waffen für ihre Krieger mit außerordentlichem Fleiß und Geschick herstellen. Die Häuschen sind oft baufällig und schmutzig, und manche kleinen Dörfer sehen aus wie Sprichwörter von der Armut. Ein dumpfes Bescheiden lastet die Straßen entlang. Gleichwohl ist auch heute noch nicht alles von der eigenartigen Selbstverwaltung daraus verschwunden, die auf Freiheit und Wohlstand ausging. Jedes Dorf versammelt sich, um Rat zu halten und Neuigkeiten zu hören, zur Djemaa. Hat es eine Moschee, so kommt die Djemaa dort zusammen, sonst in einem einfachen Hangar mit zwei Bänken an der Mauer, oder auch nur ein alter Baum überschattet eine Bank, auf der der Amin, das heißt der Gemeindevorsteher, und die Marabuts sitzen dürfen, während die übrigen Mitglieder die Bank umstehen. Alle Männer, die eine Flinte haben, sollen teilnehmen. Wer nicht kommt, hat eine Geldbuße verwirkt. Die Familien des Dorfes, die Kharuba, wählen alle Jahre den Amin. Der übt die öffentliche Gewalt aus. Verwaltet er sein Amt nicht rechtlich, so wird er im großen Rat (Arch) aller Amins einer Tribus, etwa 7000 an der Zahl, abgesetzt. Und es mag nicht immer leicht sein, die gerechte Strafe aus den ungeschriebenen Gesetzen, deren Hauptbestimmungen alle kennen, zu finden. Ins Gefängnis wird niemand geworfen, denn der Kabyle, auch wenn er einen Fehl begeht, ist der Knecht niemands. Ist sein Verbrechen schwer, so wird er gesteinigt und zwar von allen, oder er muß außer Landes gehen. Bei leichteren Vergehen wird sein Acker verwüstet, sein Haus umgeworfen, sein Vieh weggetrieben. Ehebrecher werden kastriert oder ihre Kleider verbrannt, oder sie werden nackt auf einem Esel durchs Dorf gejagt. Die Arbeiter einer Tribus tun ihre Ernten zusammen und verteilen sie gerecht, weil die Öl- und Weinberge, die Feigengärten und Felder vielfach gemeinsam verwaltet und bestellt werden. Trotzdem, die kluge Gemeinsamkeit geht wieder nur soweit, wie es das Streben nach Nutzen und Wohlstand fordert. Im übrigen darf die Arbeit, die gleichsam nur die selbstwirkende Natur unterstützt und zu größerem Fleiß einlädt, die persönliche Freiheit nicht antasten. Die Kleidung muß sich jede Familie selbst weben, die Ziegel selbst brennen und die Töpfe selbst formen. Wer eine Weissagung braucht, bringt dem Marabut ein Geschenk. Ist einem eine Frau für 200 Franken zu gering, er kann auch eine für 2000 erwählen. Gebiert sie keine Söhne, so darf sie durch eine andere ersetzt werden, ist sie unfruchtbar, so muß sie heim, falls der Mann es verlangt; ebenso, wenn sie zu alt ist, und der Freier erhält die Summe zurück, die er für sie zahlte. Und wird sie bei der Hochzeit auch mit einem Diadem geschmückt, dauert das Fest auch drei Tage, – die Landessitten sind streng: erst nach einem Monat gilt der Bund als fest geschlossen. Bei den Mahlzeiten, die sehr einfach sind, nur an Markttagen Fleisch enthalten und mit dem Kreisen eines Wasserkruges beschlossen werden, setzen sich zuerst die Männer zu Tische, und wenn sie abgegessen haben, folgen die Frauen und Kinder.

Muß der Kabyle sterben, so fürchtet er sich vor dem Tode nicht. Lange sitzen die Freunde bei ihm und wiederholen ihm eindringlich, wie wenige Augenblicke noch von seinem Leben übrig sind, und drücken ihm manchmal in die Hände, was er auf die große Reise mitnehmen soll. Zum Gedächtnis der Vorfahren brennen in den Moscheen Lampen.

Solcherlei aus eigener Seele gewachsene Gebräuche machten die Kabylen stark bis heute, da sie schwinden. Aber vielleicht ist die Kraft nur verborgen und taucht herauf wie ihre Horste manchmal aus dem Nebel.

Von Michelet ist es nicht weit auf die Kammhöhe des Mittelgebirges. Auf Wolken, die nach unten alles streifig verhüllen, sitzen klar die höchsten Gipfel des Djurdjuragebirges. Wie schwere steinerne Götzen schweben sie auf den graden weißlichen Dampfringen. Die Himmelsgrotte über ihnen hat einen unheimlichen stumpfen Glanz. Aber tiefer, auf einem weitbrandenden Meere bläulicher Nebelmilch, schwarzgrüner Rücken und rotgrünem Lichtgeist, schwimmen viele Kabylendörfchen und immer mehr in langer Staffel herauf. Wo eben Leere war, ist plötzlich eine Siedelung geschaffen, bleich und lautlos von der Gespenstersee umbrandet. Und auch um die höchsten Gipfel schleicht der zähe Dunst schon davon. Von den Höhen könnten sich hundert Dörfer anreden, wenn sie Glocken hätten.

Dieser Bergsaal ist der am dichtesten bevölkerte Teil Algeriens. Die Männer ziehen jetzt weit hinaus vor die Felstore, helfen ernten und verhandeln Waren. Sie sind überall sehr gesucht. 1857 wurden sie nach fünfjährigen schweren Kämpfen von den Franzosen vorerst unterworfen, 1871 nach dem unglücklichen Kriege ihrer Zwingherrn erhoben sie sich wieder, umsonst. Französisches Blut konnten sie nicht soviel zapfen, um die Bedrücker zu schwächen, so versuchen sie es jetzt, indem sie französisches Gold zapfen. Und am Ende sind sie selbst nicht zu schwach, um noch einmal gegen ein abermals geschwächtes Frankreich aufzustehen. Vielleicht auch schmelzen sie mit den übrigen Volksteilen Algeriens zusammen zu einer Einheit, die ein heimlicher Bund gegen die Fremdlinge von jenseits des Meeres sein wird.

In der Hochsteppe

Die Ostbahn verläßt von Ménerville an, wo ein Zweig nach der Kabylie nördlich abbiegt, das grün-golden-orangene Fruchtland, das dem Küstenatlas vorgelagert ist, und gelangt in den zweiten Streifen Nordafrikas, die Hochsteppe, die zwischen den Wällen des Küsten- und Saharaatlas liegt. Viele Flüsse, die keinen Ausweg fanden, haben jahrtausendelang Lasten geschleppt und geschwemmt, geschichtet, gebaut und erhöht und so diese Steppe aus Stein, Salz, Sand und Gips zustande gebracht. Kalt und pflanzenarm läuft sie von der Syrte bis zum Ozean, wie das eben verlassene jenseitige Paradies entlang dem Mittelmeere.

Der Zug steigt gewaltig, viele Stunden lang, über Bouira, Maillot, senkt sich gegen Beni Mançour und erreicht dann bei Sétif eine Höhe von elfhundert Metern. Zuerst rauscht es noch oft aus der Tiefe, aber es ist, als machten die Steine der Flußbetten das Geräusch, nicht die zinnoberfarbenen Rinnsale, die irgendwo den verödenden Bergen wie krankes Blut entweichen. Eine Meile lang, taumelt und wirft sich die Isserschlucht um unseren Schienenstrang, eng fahren die schwarzen Kalkwände und -türme empor, werfen massige Bergklötze in den Weg. Der beharrlich weiter schnurrende Zug muß oft durch Tunnel keuchen. Der Djurdjura steht beängstigend, gleich einer eben aufgerichteten Gefängniswand Gottes, zur Linken. Ein brückenähnlicher Felsbalken führt einmal von Gipfel zu Gipfel. Wie verzauberte Hähne mit rotem Fleischkamm auf dem Kopf, wippen mitunter fesbekleidete Arbeiter im ergrauenden Gefilde. Nur um die Stationshäuser ist es noch freundlich. Wenn der Zug hält und schweigt, singen die Vögel in den Bäumen laut auf. Oder Kinder stürzen, hastig nach Geld rufend, haufenweis heran.

Je höher wir steigen, um so mehr scheinen die Berge im schwarzen Schutte zu versinken. Keine Behausungen sind weit hinaus zu sehen, doch soll die Erde Schwefel und Phosphor bergen.

Dann verlieren die Höhen Form und Stolz, nur graue Felsen ragen gleichsam mit eingeengter Brust aus dem erdrückenden grauen Staube. Schwarze Schafe stehen darauf in sehr großen Abständen und weiden. Was sie finden, ist nicht zu sehen. Es scheint, als fräßen sie die Erdklumpen. Dann beginnt die Hochfläche die Felsenberge, aus denen sie aufgeklommen ist, nachzuäffen, beginnt selber zu wogen und trockene Rücken aufzuwerfen. Und nun sind, wiederum matt und spukhaft nachgeahmt, etwas wie Kabylendörfer auf ihren Höhen ausgestreut. Winzige Häuschen, mißfarbig und öde, kauern auf den leeren Erdbuckeln. Die schmutzige Schuttwelle leckt zu ihren Türen hinein, und ob sie auch erstarrt ist, sie scheint doch weiterzuschälen: und schon auf der zweiten, der dritten Woge, hoch in die heiße Luft gehalten, ruht ein Dörfchen wie ein Phantom die Sekunde lang, die ein Jahrhundert ist. An zwanzig, dreißig, vielleicht fünfzig fahren wir vorüber. Die Hüttenflecke sind wie Auswurf von Maulwürfen, aus anscheinend ungebrannten Erdquadern aufgeschichtet, meist mit dürrem, struppigem Grase bedacht, ununterschieden von der Erde ringsum, wie Bodensatz der unheimlichsten, farblosen Dämmerung, die zu weben beginnt. Kein Baum, kein Halm, keine Blume im ganzen Dorfe. Die Längswände der Häuser haben meist keine Öffnung außer dem schwarzen Loche der Tür, manchmal zwei kleine Luken links und rechts von der Tür. Man könnte glauben, hier seien Orte von Abgeschiedenen und Geistern. Hier ist niemand reich, aber auch niemand arm, weil alle gleich arm sind. Bisweilen sitzen die Berber an der Mauer, so lang sie ist, einer neben dem andern. Sie schweigen vor sich hin. Erhöben sie sich, so würden sie so hoch sein wie ihre Hütte. Unwillkürlich muß ich die Schaf- und Rinderherden beneiden, die unterhalb grasen, wo einige Büschel stehen. In Mondhöfen weicht das gesparte Grün von den Dörfern zurück. Die Tiere scheinen reicher als ihre Herren. Nur daß sie sich an den schönen Wolken nicht erfreuen können, die als prunkende Regenbogengärten durch die Luft zu fahren beginnen.

Hält jetzt der Zug vor einem ganz einsamen Hause, so ist es totenstill. Die Mitreisenden sind eingeschlafen.

Die letzte Strecke vor Sétif ist wieder eben. Die Erde erträgt wieder Getreidebau, und auch viele Pferde sollen in dieser Gegend gezüchtet werden. Die Stadt Sétif ist still und langweilig. Einst, unter dem Namen Sitifis, war sie Hauptstadt der römischen Provinz Mauretanien. Jetzt bewahrt sie die Erinnerung an ihren Glanz nur noch in dem falschen Ruhme, das Grabmal des großen Scipio Africanus zu besitzen.

Weiter, um El Guerrah, einen Eisenbahnknotenpunkt, kollern und kegeln runde Hügel, wild, dumm und unfruchtbar um den Zug. Man ahnt keinen erdaufbauenden Plan mehr, weil keine Schönheit in dem kugelnden Wirrwarr mehr deutlich wird. Der Zug legt sich oft auf die Seite. Es paßt mir sogar ganz gut dazu, daß die Beamten mir aus dem Fahrscheinheft bei Unterbrechung der Fahrt nichts ausreißen: »Morgen« sagen sie oder »bei der Abfahrt«, bei der Abfahrt sodann: »bei der nächsten Ankunft«. So habe ich noch heute das unversehrte Heftchen.

Gegen Constantine scharen sich um die Stationshäuser wieder Baumgruppen.

Constantine

Die Atlasstadt Constantine, von zweihundert bis dreihundert Meter hohen, senkrecht niedergeschnittenen Schluchtwänden fast zylindrisch umgeben und getragen, erbaut auf einer Kreideplatte von tausend Meter Länge und sechshundert Meter Breite, arabisch »Stadt der Lüfte« genannt, immer umbraust vom Fluge der Sperber und Störche, die in der Finsternis der Klamm hausen, hat den größten Teil der Landesgeschichte an sich erduldet. Wieviele Völker und Bekenntnisse sind zu ihr gekommen und aus ihr gegangen! Wieviel Blut ist an dem ungeheuren Felsenturm, als dessen Zinne sie selbst aufgebaut steht, heruntergeflossen! Eine alte Erinnerung daran ist der rocher des martyrs in der Schlucht, der an christliche Blutzeugen der ersten Jahrhunderte gemahnt, eine neue der Palast des letzten Bei droben, der vor seiner Vertreibung aus der Herrschaft fünfhundert Franzosen in den Abgrund stürzte. Berber, Phönizier – welche diese Stadt »Stadt« (Kartha) nannten –, Numidier, Römer – die aus Kartha Cirta, dann zu Ehren Konstantins des Großen Konstantina machten –, Vandalen, Mauren unter vier Fürstenhäusern, Türken, Franzosen haben um sie gerungen. Zu dem politischen brachten die Christen frühe den Kirchenstreit. Konstantina war lange Mittelpunkt der donatistischen und arianischen Spaltungen. Die Juden brachten friedliche Kultur aus Osten und Süden. Sie machen heute den fünften Teil der Bevölkerung der Stadt aus, die fünfundfünfzigtausend Einwohner zählt, mit drei Fünfteln füllen sie Mohammedaner vieler Sekten, und das letzte besteht aus Franzosen, Italienern und Maltesern.

Mich will die Empfindung eines uralten geheimnisvollen Wesens hier nicht verlassen, und doch ist von früher her nicht viel sichtbar geblieben. Der Schlag der im Christentum rodenden Äxte ist verhallt; friedsam wie überall, residiert ein Bischof des anerkannten Bekenntnisses in der Stadt. Versunken ist die weitberühmte mohammedanische Gelehrsamkeit des Mittelalters, zerstreut und verbrannt sind ihre kostbaren Büchereien, eine vor wenigen Jahren gegründete moslemische Hochschule sucht andere Wege. Nicht versunken ist nur eine Reihe öffentlicher Bauwerke aus der Türkenzeit mit lauem oder verwildertem Stilgefühl. Sogar die Bauten der Römer, die fast ewigen, hat die Zeit und wütender die beginnende Franzosenwirtschaft ausgekehrt. Nur eine schöne Brücke, geschmückt mit zwei Elefanten und der Afrika in Relief hängt noch in der Schlucht auf halbem Wege zur Tiefe, römische Zisternen dienen noch heute, in einem römischen Warmbad wurde, bis Hochwasser es vor sechzehn Jahren zerstörte, gebadet, wie übrigens im ganzen Lande und über seine Grenzen hinaus in der Wüste viele altrömische Bäder bis auf den heutigen Tag benutzt werden. Eine Reihe Aquäduktbogen stehen noch an ihrer Stätte, alles andere ist Trümmer, Scherbe, Grus.

Aber durch den Alltag wandeln reine tausendjährige Gesichter, besonders im Judenviertel, wo auch Sitten des Mittelalters noch eine Behausung haben, die fleißigen Mozabiten, die aus der Wüste kamen und im Alter wieder dahin zurückkehren, trennen sich von den übrigen Mohammedanern in Treue zu sich selbst, und besonders das Aussehen der Altstadtgassen, die die Franzosen leider auch zu vernichten angefangen haben, gebrechlich und finster, arm und schmutzig, bestätigt doch, wenn man sie aus der Tiefe als Bergeszinne sieht, den rechtmäßigen Stolz des Wortes: »Stadt der Lüfte«. Und von Ewigkeit her ist die Schlucht selbst.

Ich steige nach flüchtigem Rundgang in den Felsenzirkus hinab. Zwischen Wänden, die vielen übereinander gesetzten Brandmauern großstädtischer Häuser gleichen, fließt, nur von lotrechten Sonnenstrahlen erreicht, ein unterweltlicher Bach, der Rhumel. Das Wasser hat eine eitrige Schlammfarbe, strömt einen schlaffen, faulen Geruch aus und ist von einem Schleier großer, listiger Mücken überdeckt. Die Stadt wird unten sommers von Malaria belagert, oben drückt Schirokkoluft auf sie, und wer es wagt, da zu hausen, muß dann im Winter viele Kältegrade ertragen. Mit krankem Gemurmel krümmt sich der Rhumel um die Felsen, als suche er seinen Anfang, und wenn man ihm lange zwischen den schwarzen, von der Feuchtigkeit angesteckten Wänden gefolgt ist, glaubt man, der Fluß habe den Kreis vollendet und fließe in irrem Ringe durch Ewigkeiten fort.

Die Felsen aber über ihm schweigen empor bis an die Sonne. Der schwarze Atem der Jahrtausende hat überall Verwitterung darüber gehaucht. Risse und Spalten haben sich aufgetan, unendlich hohe und unendlich schmale Spitzbogen wölben flache Höhlen. Mitunter scheint sich die Wand vorzubauchen und mit den obersten Steinen überzuneigen. Heere von Sperbern, Tauben, Schwalben, Störchen brausen in der Finsternis der Klamm, als müßten sie durch Jahrtausende von Geschlecht zu Geschlecht den ewig gleichen Tanz führen, so daß hinter dem Zucken des Flugs gering wird, was da oben in der Stadt die lange Zeit geschieht.

Da liegt sie, däumlinghaft, die Häuser gedrückt und gehäuft, wie aus blauweißem Schaum gebacken. Das einhüllende Himmelblau und das Schwarz des Vogelschwebens ist körperhafter als sie. Fast deuten die siegellackroten Striche der Dächer allein an, daß unter ihnen getünchte Backsteine aufgerichtet seien.

Heute sind die Vogelschwärme besonders erregt, denn die Schlucht donnert, und nach ungeheurem Knall springen und spritzen Felsstückchen die Wand hinunter und schütteln ihr zusammengespartes Gestrüpp: es werden Minen gesprengt. Man ist gerade dabei, eine Anlage für elektrisches Licht herzustellen. Vielleicht ist der grünliche Ölschein aus den seltenen, bestaubten Glashäuschen der Laternen schöner in den Schlüften und Engpässen der Gäßchen, als es das scharfschattende elektrische Licht sein wird. Es wird keinen Neumond und kein erstes Viertel mehr über dieser Welt geben. Das Pulver dampft unter den Häusern, so daß sie wie auf Wolken stehn, aber unter den Wolken rührt sich das Feste nicht: großartig schweigt die Höhe.

Ganz unverwahrt drängen sich die meisten Häuser bis an den äußersten Rand des Abgrundes vor. Wo unten kirchturmhohe Höhlen einschneiden, hocken sie waghalsig droben. Abwässer aus den vielen Lohgerbereien ziehen blitzende, aber stinkende Adern über den Fels. Unkraut, hie und da aus den Spalten züngelnd, fängt sie auf. Dicke Rohre langen unendlich tief hinab, wie Riesenwürmer, ebenso ein lebender Spinnwebfaden, das Transmissionsseil einer wassergetriebenen Ölmühle. Es verschwindet in einer Baracke, weiterhin erscheint oben ein gelbroter Schornstein. Er steht so leicht und klein da wie eine geköpfte Butterblume und paßt gut her. Einen steilen Pfad herab kommen Mädchen zu jenem ehemals römischen Bade. Eine Jüdin ist so schön, daß ich wie vom Blitz getroffen stehe. Sie kommt näher und streckt die Hand nach Münze. »Wofür?« – »Pour me regarder.«

Auf dem drei Kilometer weiten Bogen der Schlucht um die Stadt gelangt man in zwei gigantische Höhlen, die der Rhumel dreihundert Meter weit unter Tage durchfließt. Die erste ist ein schwarzer, gotischer Dom von siebzig Meter Höhe. Sein Gewölbe biegt sich mit dem krummen Flusse. Sieht man nachher rückwärts, so trägt er auf seinen Schultern ganz leicht die Stadt, auch den neuen Teil mit fünfstöckigen Kasernen. Ein Felsgigantenhaupt, auf der Rückseite einem Mammutkopfe ähnlich, horcht im Dome in das rußige Licht und das Rauschen. Die zweite kleinere Höhle gleicht einer ungeheuren römischen Torwölbung.

Über der Römerbrücke hängt an Zwirnfäden im Himmel eine andere. Eine Linie ist in die Goldlasur gezogen, kleine Buchstaben rücken auf der Linie. Das ist die neue Eisenbrücke mit den hinübergehenden Menschen. Die Bewegungen, besonders die der Pferde, sind grotesk wippend, weil die Phantasie sich an ihre Beobachtung aus der Nähe erinnert, während die Wesen, welche die Bewegung ausführen, mit ihrer kleinen körperlichen Wirklichkeit dieser Erinnerung widersprechen.

Ich steige hinauf, um in der Altstadt weiterzuwandern. Die freundliche Leichtigkeit, die sie, von der Schluchtsohle gesehen, hatte, bleibt ihr zwischen den buckligen Mauern, obschon auch hier wie in Algier die oberen Geschosse vorspringen und den Lichtzustrom einengen. Doch sind die Häuser im allgemeinen ein Stockwerk niedriger als in Algier und die Vorbauten scheinen sicherer, weil sie nicht auf Knüppeln, sondern auf vorgekragten Steinen wie auf umgekehrten Treppen ruhen. Was indessen den schönen Maitag unvergleichlich macht, ist der breite, helle Flug der Storchschwärme über der Stadt. Manche schwärmen der Sonne entgegen wie einem Neste. Im schönen Rausche des Lichtes ist mir, wie wenn sie es wären, die mit ihrer Flügelkraft die Stadt emporhielten, nicht neben der Schlucht, sondern über dem Abgrunde, die Stadt samt dem dichten, behaglichen Getriebe in den Gassen. Wenn einmal einer, die Beine steif und schief voran, sich niederfallen läßt, zu Neste, so sieht es aus, als müsse das morsche, tiefgerillte Ziegelgerüst zusammenfallen. Und manchmal läßt sich ein Storch bis auf die Straße nieder und stelzt hinter einem gemüsebeladenen Esel her oder hinter eilig ausschreitenden, grimmigen, turbangeschwollenen Rundköpfen. Er geht auch auf den Fleischmarkt, der gassen- und gassenweit aufgetan ist. Der Zickzackgang zwischen den Ständen ist überspannt von Leinwand, so daß der Weg durch eine einzige labyrinthische Laube führt. In dem langsamen Geschiebe der Käufer bleibt immer noch ein Platz für den langsamen Storch und für die zahlreichen Katzen, weiße und schwarze. Sie klettern mit sauberen Schritten zwischen dem Fleisch herum und nehmen nichts, soviel ich beobachten kann, außer daß sie nach den dicken Fliegen schnappen, die faul und lästig überall herumsitzen, selbst auf dem Straßenpflaster, wenn der Menschenstrom sich einmal staut und eine Lücke läßt.

Auch die marktlosen Gassen sind überfüllt, aber wofür immer Raum bleibt, das sind die Elenden und Kranken, die ich gerade hier in Constantine so oft mitten auf der Straße liegen sehe. Eine kinderkleine Frau war in ihrem Leiden, ja in ihrem bloßen Daliegen, tief erschütternd. Sie war schon alterlos. Ganz platt, ganz verzweifelt lag der von zerrissenem Rock verhüllte Knochenhaufen auf den Steinen, denn das Gesicht mit geschlossenen Augen und die Arme mit gespreizten Fingern waren nur noch mit fahlem Leder umspanntes Gebein. Die Sieche lag auf dem Bauche und ihr Körper erhöhte den Sack so wenig, als hätte sie sich in die Erde eingesaugt. Sie bettelte nicht, sie stöhnte nicht, manchmal zitterte sie. Niemand hatte ein Wort, die Füße und Hufe gingen alle schnell vorüber, und das war schlimmer, als hätten sie nach ihr gestoßen. Sie lag nicht hier zwischen den bunten Basaren der brühenden afrikanischen Stadt, sie war wie auf einer Planke einsam in den eisigen Weltraum ausgesetzt, in demütigendem Fanatismus hingegeben der Qual, mit vollem letzten Willen krank und sonst nichts mehr.

Ganze Straßen sind gelb, andere hellblau gestrichen. Halbe Straßen entlang sitzen weißgekleidete Araber in Reihen auf den Hausbänken, als warteten sie auf etwas. Feile Frauen lauern wie überall hinter quadratischen Gitterfenstern, einen vielreihigen Silbermünzenschatz ums Gesicht, so daß dieses wie eingeschirrt aussieht. Aber der Müßiggang verschwindet vor der dichtgedrängten Arbeit in den Gäßchen der quartiers juifs und Perregaux (der Name eines Generals, der 1837 bei der Eroberung der Stadt fiel). Ich sah ein dreistöckiges Schneiderhaus mit mehreren Höfen, deren Galerieabteile zwischen den Holzsäulen anzusehen waren wie unzählige Kasperletheater: auf deren Bühnen, das heißt ein Bein über die Brüstung geschlagen oder beide darauf verschränkt oder den Nacken an die Säule gelegt, führten angeblich zweihundertachtzig Meister die Nadel und wandten die bunten Stoffe auf ihren Knien. So sah ich noch andere Häuser von einem einzigen Gewerbe eingenommen. Pantoffelmacher, Schuster und Sattler sind besonders häufig, und ihre Arbeiten haben Ruhm weithinaus. Kokosnüsse liegen an Straßenecken zu Pyramiden aufgestapelt. Über Constantine geht der ostalgerische Handelsweg aus der Wüste. Getreide und Wolle wird aus der ganzen Provinz hier zu Markte gebracht. Viele Gerber sitzen gegen die Klamm zu. Schläferige Spezereiläden sind in der Gegend der alten Medersa, wo alte Gelehrte begraben und vergessen liegen. Die Mozabiten, die man an ihrer Kleinheit und Gedrungenheit unschwer erkennt, haben die Führung in der Handelsarbeit übernommen und Einheimische vielleicht mitgerissen. Sie haben aus dem Süden – Ghardaia ist ihr Ursprungs- und Hauptort – Strenge und Reinheit der Lebensführung mitgebracht. Manchmal scheint Verbitterung auf ihren Gesichtern eingeschlafen und hat nun einen säuerlichen Zug um ihren Mund gelegt. Vielleicht sind Verbannte unter ihnen: haben sie ein schweres Verbrechen begangen, so müssen sie bis an den Tod aus der Heimat gehen, aber auch dann, wenn sie Angehörige eines fremden Volksstammes heiraten. Sind sie fort, so gelten sie für tot, allein hohe Geldsummen können einen Loskauf bewirken.

Das jüdische Viertel ist besonders mit Lederhändlern, Silberschmieden und Fleischern besetzt. Viele Leute sollen hier sehr wohlhabend sein. Nach außen indessen geben sie sich für arm. Ich habe in viele dürftige Flure mit schmutzigen Herdstätten und rohen Stiegen hineingesehen. Graubärtige Gestalten mit schwarzen Hängegewändern, spitzen Kapuzen begegnen mir. Es tut wohl, diese sicheren Prophetengestalten zu sehen und diese unverschleierten Frauen, zumal wenn so traumhaft schöne Mädchen darunter sind, wie sie mir ein Glück vor die Augen brachte. Sie haben ihre mittelalterliche Gewandung bewahrt. Die Arme sind nackt, ein loser Gürtel rafft das Kleid ziemlich hoch in Falten, auf dem Kopfe sitzt manchmal eine ziemlich hohe Spitzmütze aus Samt schräg nach hinten, bisweilen von metallischen Ringen geteilt. Der Gesichtstyp ist von dem europäischen sehr verschieden.

Um die Dämmerung möchte ich einen Tanz sehen. Aus zwielichtigem Hofe führt eine Stiege auf die obere Galerie und in ein kleines Gemach. Die Abendsonne hat blutrote Schachte in das graue Dunkel getrieben. Ein großes Mädchen kommt, wie alle schwermütig in den Augen, mit langen Wimpern, starkem Munde, wie alle klirrend im Münzenschmuck, Gehänge klettenhaft in den Haaren, an den Armen, an den Füßen befestigt. Sie sieht in ihrer Kleiderlast verwachsen und aufgedunsen aus. Doch die tut sie nun von sich, ein halb Dutzend Röcke, und ist plötzlich schlank.

Sie zündet eine Kerze an und setzt den Leuchter auf den Boden. Die Sonne ist von dem kleinen Lichtchen schon besiegt. Die Flamme bestrahlt ihre bernsteinbraune Haut. Wohlgeformt am ganzen Körper, hat sie besonders schöne Arme und Beine. Die Brüste sind an ihrem Ansatz rings eingezogen, als wäre da ein Reif herumgelegt.

Auf einen Ruf, der wie ein Aufschrei klingt, beginnt hinter der Türe eine Musik. Es sind wieder diese chromatisch auf- und abjagenden Klarinettentöne. Eine schleichende Klage scheint sich zerrend an jubelnden Tönen zu halten und wird mitgeschleift.

Das Mädchen nimmt ein Tuch, strafft es zwischen den Händen, und während sie auf mich zu und dann wieder zurücktanzt, führt sie es am Körper auf und ab. Ich sitze auf einem niedrigen Schemelchen. Die bissigen Flöhe, die im Teppich und in den Fugen der Estrichkacheln hausen, plagen mich schon. Die Tänzerin dreht in krampfhaft wackelnden Windungen die Bauchmuskeln, macht eine umrührende Bewegung in den Hüften und schüttelt die Brüste. Sie wirft auch das Tuch weg, die Hände zucken nun wie Schlangenköpfe, die sich sterbend aufrichten möchten. Dabei läuft die Tänzerin heran und flieht wieder. Anfangs träge, wird sie hastig und erregt und entzündet den Willen durch Aufrühren des Blutes. Die gewaltsamen Bewegungen schmerzen sie, sie taumelt, muß innehalten und greift mit den Händen an die Brust. Die Fußspitzen haben es schon schwer sie zu heben; doch wenn sie auch nur noch Lastträgerinnen sind, so hat der fast stolpernde Gang doch eine fremde schwere Anmut. Die Augen sehen verwundert und bittend auf die Kerze.

Die Schwermut des üppigen, jungen lebendigen Fleisches rührt mich an. Ich sehe noch einmal im Geiste, was ich vorhin mit Augen sah, die Schlucht und den stadttragenden Felsenturm, ich sehe die ewigen Vögel um die Tänzerin brausen, sehe die Gefangenen des Altertums von dem gewaltigen Piedestal für dieses arme Weib, dem Atlasberg, stürzen, sehe die spielenden Katzen und Störche um sie, sehe nicht mehr die Kammer und die Kerze. Die Tanzende weiß nichts vom Vergangenen. Doch ist es in ihr. Das alles hat als ein fernes geistiges Geschiebe ihre Seele gebildet und sie nun leer gelassen. Ist das Fleisch traurig, so gibt es nichts außer ihm, und das Herz ist leer. Und auf Augenblicke ist für jeden sein trauriges Fleisch die Welt.

Von dem Europäerviertel ist nichts Besonderes zu sagen. Es sieht aus wie eine behagliche süddeutsche Kleinstadt. Viele elegante Offiziere mit eleganten Damen spazieren durch die Straßen. Am windigen Morgen flog die ungepflasterte Place Nemours mit ihrem Staube in der Luft herum, und die arabischen Zeitungsjungen schrien von fünf Uhr an, »la dépêche, la dépêche«, als ersöffen sie unter dem weggeflogenen Platze.

Die »Kathedrale der sieben Schmerzen«, früher Hauptmoschee, enthält schönen Stuck und schönes Geschnitz. Der Beypalast, jetzt Divisionskommando, prahlt stattlich mit seinen ausgezackten Säulengängen und den Scheinbildern unzähliger morgenländischer Städte, die ungeschickt an die Wände gemalt sind, mit seinen alten Kanonen und mehr oder weniger römischen Altertümern. Auch er versinkt unter den Wogen der herrlichen Baumwipfel in seinen sechs Höfen, und es ist gut so. In den Schaufenstern tragen die Kuchen und Fleischpasteten Tüllhauben, denn es gibt hier viele Fliegen, unzählige würde ich sagen, wäre ich nicht in Wüstenorten gewesen. Der Mücken gedachte ich erst abends, wenn ich die Wunden betrachtete, die ich am ganzen Körper mitgebracht hatte. Ich nahm Chinin, wie es in den Zügen mit arabischen und lateinischen Lettern angeraten ist.

Fast die ganze Zeit in Constantine war ich nicht allein. Ein Mensch heftete sich gleich bei der Ankunft an mich wie ein Schatten. Seiner muß ich noch gedenken. Ich trat in das riesige Hotelzimmer, das ich nie recht gesehen habe. Die Läden waren gegen Hitze und Insekten geschlossen, und die Kerze vergnügte sich mit ihrer Seifenblase aus Licht für sich selbst. Während ich in der muffigen Dämmerung eine Welt von Barock aufgehen sah und nicht wußte, ob es durch die Decke stoßen oder vor Uberdrehtheit quietschen wollte, trat er ganz lautlos herein und stand schon vor mir, schlank, kupfern und blatternarbig, mit kleinen seßhaften Augen und wulstigen Lippen von einem gütigen Rosa. Die öffnete er, hob langsam die Rechte, und an der Rechten hob er ernst den Zeigefinger und sagte wie das Schicksal selbst: »Ich bin der Führer!« Der Führer schlechthin, unentrinnbar. Gleichwohl antwortete ich: »Gut, ich brauche keinen Führer.« Das nahm er so wenig ernst, daß er nicht einmal den verächtlichen oder hochmütigen Blick übrig hatte, den sonst die Abgewiesenen abschnellen, bevor sie antworten. Er redete, bis alle Pockengruben glänzten und die Augen fieberblank waren, nicht etwa, weil er noch mit mir verhandelte, ob ich ihn nähme, sondern weil er ein Redner war. Cirta hieß ja seit je die Schule der Advokaten. Meine Einwürfe benützte er, ohne irgend Pausen zu machen, nur wie Dispositionspunkte zu wirksamer Steigerung. Seine Stimme blieb gelassen, sein Französisch war geradezu meisterhaft falsch, die Aussprache arabisch angesäuert, und wenn sein Atem zu Ende war, verschwand die Stimme immer in einem näselnden Brei. Die verheißenen Genüsse hielten sich immer zwischen Drohung und Befehl. »Sie werden die ganze Stadt sehen, Franzosen, Juden, Araber, die Post und die Paläste. Sie werden alles sehen, was Sie sehen wollen werden. Ohne mich werden Sie nichts sehen. Sie werden mit mir alle Einkäufe erledigen. Sie werden in die Rhumelschlucht steigen und dort ein Bad nehmen. Zu den Mahlzeiten werden Sie im Hotel sein. Wenn Sie die Ouled Nail und alle Barbareskentänze besuchen, so wird das fast nichts kosten. Die drei schönsten Tänzerinnen von Constantine 20 Franken. Zuviel? Eine 10 Franken, billiger hats noch nie jemand gesehen.« Ich habe längst beschlossen, dieses Weltwunder von Führer zu nehmen, dann bin ich ihn wenigstens los. Ich ließ ihn alles machen, was er wollte, um zu sehen, wie weit seine Frechheit ginge. Er ging seiner Wege und erinnerte sich nur manchmal meiner. Er schäkerte mit den Mädchen, ließ sich von ihnen für je eine Zigarette zwei Küsse geben und erteilte ihnen einen gutmütigen Klaps vorher und nachher. Er begrüßte Freunde und setzte sich zu ihnen, in der Schlucht nahm er ein Bad, allerdings nach vorheriger Frage um Erlaubnis. Er sah nach der Uhr und benachrichtigte mich wichtig, daß im Hotel das Déjeuner um elf Uhr genommen würde. In den Geschäften suchte er für mich aus und empfahl; wenn ich nach solchen Versuchen der Bevormundung etwas anderes wählte, so sagte er segnend: »Auch das ist gut.« Als er müde war, sollte ich Omnibus fahren, das koste nur zwanzig Centimes. Es kostete natürlich zehn. Er kam alle paar Stunden, nach jeder Mahlzeit, in einem anderen Kostüm. Und er wollte nach Biskra reisen. Für mich kostete das wieder nichts. Er werde alles bezahlen, Eisenbahn, Hotels, Maultiere. Er zöge ein Kostüm » vrai arabe« an. Ich würde alles zum halben Preise haben. Zum halben? Was ist die Hälfte von nichts? Nun, von den 52 Franken, die ich ihm geben würde, werde er alles bezahlen. Daß er mich nach Berlin begleitete, das stand von der ersten Stunde an außer Frage. – Nun, er ist unsichtbar wirklich oft hier.

Schließlich grüßte er mich auch in Constantine nur aus der Ferne.

Der Abschied von der Stadt wurde mir schwer. Von einem Berg in der Nähe sah ich es über ihr Abend werden. Es war für mich der erste Abend mit Wüstenfarben. Über den schwarzblauen, von Lichtern durchlöcherten Häusern flog eine violettgrüne Flamme auf wie angezündetes Gas, bis an die Grenzen des Raumes in der Höhe. Für einige Minuten wurde das ganz jenseitige Himmelsleuchten beklemmend. Die Gräser glommen wie zerschnitzelte, grünglühende Metallfäden. Die Wolken hatten eine ungeheure Klarheit, zwischen Schicht und Schicht war ein schwindelnd hoher Zwischenraum gelegt. Die einen sahen wie grüne Watteballen aus, andere waren wie mit siedendem rotem und blauem Öle übergossen, andere waren feucht und ungemischt violett. Es konnte da oben etwas geschehen, das die Welt zerstörte. Ich bangte in die Verwandlung hinein, da erlosch sie plötzlich ].

Bis Batna

Vor der Abfahrt begegnet mir in den Straßen von Constantine ein Zug arabischer Gefangener. Geschmeidig und bösen Blickes gehen sie neben trottelhaften Aufsehern wie aufrechte weiße Katzen. Auf dem Bahnhof sind sie wieder. Sie werden in die Abteile neben meinem verladen, wie ich ihnen nachher auch in den Straßen Batnas begegne. Sie kommen nach Lambèse in die große Landesstrafanstalt. Mir ist es ein Triumph, daß sie nach diesem Orte müssen, während ich in meinem klapprigen Bummelzuge dicht vorüber fahren kann. Lambèse ist nämlich das altrömische Lambaesis, und ich bin auf der Schule unter anderem mit der dort stationierten dritten Legion so gequält worden, daß ich mir die Erinnerung unter Schauern jetzt den Buckel herunterrutschen lasse. Auch Timgad lasse ich liegen, obschon ich die angeblich reichen und schönen Trümmer der Bauten gern sehen würde, – dieses, weil ich von den sich überstürzenden Gesichten der Welt-Geschichte, Bergen, Steppen, Öden und nichts bedeutendem aber lebendigem Volke so überwältigt bin, daß in diesen Tagen die Reste der gemeinhin so genannten Weltgeschichte mir doch armselig scheinen würden.

Nur eine Erinnerung aus dem Museum in Algier lasse ich willig kommen. Manches Erzeugnis der Zierkunst mag entzücken, und ein vergangenes Haus den Flügelschlag einer jahrhundertfernen Stunde über sich rufen, – ein Portal, ein Arkadenhof, ein kabylischer Henkeltopf, rot und schwarz, das weißsteinerne Spitzengeweb im Haremsaal eines Bey-Palastes, in den nachher Bischöfe zogen –: den Eindruck großer Kunst, die in sich selbst anfängt und aufhört, habe ich nur vor der Bronzefigur eines Knaben gehabt, die, in Lambaesis gefunden, in jenem Museum aufgestellt ist. Der Knabe hält einen jungen Adler gegen die Brust gedrückt. Er ist mit seiner Beute gelaufen, vielleicht Gespielen oder der Mutter entgegen. Wie ihn der Künstler zeigt, hält er eben inne: Etwas Unsichtbares vor ihm heißt ihn stehenbleiben. Das linke Bein ist mit etwas einwärtsgebogenem Fuße vorangestellt, der Oberkörper vornübergeneigt, der Kopf vorgeschoben, dabei ein klein wenig rechts seitwärts geneigt. Die Oberlippe hebt sich, die Augen werden neugierig und furchtsam groß, während sich die Arme unter den abgespreizten Flügeln des Adlers enger an den Körper legen und die Hände unwillkürlich fester in das Schwanzgefieder des Vogels greifen, dessen Kopf sich zwischen rechter Schulter und Hals des Knaben höher reckt, denn, nun der Geist seines Hüters gebannt wird, ist seine Gefangenschaft plötzlich strenger geworden.

Ich weiß nicht, woran es liegt, daß die Gegend zwischen El Guerra und Batna, die ich in zwei Mondnächten durchfahre und wo ich von einsamen Bahnhöfen planlos in die halbe Helle hinausgehe, mich in ihrer Öde magisch glauben macht, ich wäre auf einem anderen, ausgestorbenen Stern. Am klarsten kommt dieses Gefühl auf der langsamen Lokalbahn, auf der die Gefangenen mitfahren. Es ist nur noch ein Franzose mit im Abteil, der sehr friert und vor der geketteten Nachbarschaft Angst hat. Beides bewegt ihn, sich dicht einzuwickeln, und bald schläft er.

Der Vollmond wird besiegt durch das kleine Petroleumlämpchen, das an der Coupéwand hängt. In seinem rötlichen Dunste taumelt die starre Welt draußen, wenn der Zug sich starr zur Seite legt oder erzittert. Daher erhellt der Mond nicht eine Nacht, sondern etwas, wozu dieses Dunkel ein dunklerer Gegensatz der Nacht wäre, sowie die Nacht zum Tage.

Vielleicht weil ich weiß, daß der Boden voll Salz ist, webt jetzt eine grausame Bitternis und Einsamkeit darüber und macht die fahlen Bergwogen so kalt, als wäre das Gestein zugleich auch Eis. Und die Halfabüschel, noch jetzt zur Nacht fahlblau, sind wie bittere Schwämme in den Himmel getaucht, der sich als Mondstaub bis auf den Boden gesenkt hat. Wie das rote Lämpchen das Himmelslicht, so überflutet ein Anglühn meiner Seele die Seele des Landes draußen, die mir nicht nachfragt.

Im harten Erdreiche stecken bräunlich-schwarze Felsen, wie böse, eigensinnige Tierhöcker anzusehen. Auf den Bergen, die den Horizont einfassen und von denen plötzlich einer in die Nähe gesprungen scheint, ohne daß eine Bewegung zu sehen war, klebt vereinzelt Gebüsch, klein, schwarz, rund, gleich häßlichen Warzen. Sie machen die Nacktheit noch nackter. Manchmal stehen Nomadenzelte auf der krummen Steppe und schweigen mit dem Schweigen. Nie ist ein Mensch zu sehen.

Der Zug fährt nun auf einer schmalen Landzunge zwischen zwei riesigen Salzseen, dem Tinsilt und Chott Mzouri. Sie sind hell wie von unten durchleuchtete Milch. Im Hintergrunde ganz weit, ragen Silhouetten der Bergkörper, rußig ausgezackt. Ein leichter Nebel flackt über der leuchtenden Unheimlichkeit der Tiefen, an manchen Stellen hebt er die Ferne auf, zieht die Seen in den Himmel hinein und alles ist unfaßbar und unbegrenzt verflossen.

Durch die offenen Fenster und vor ihnen fliegen in Schwärmen dicke Mücken, das einzige Leben, das sich regt. Auch die Gefangenen nebenan schlafen und schnarchen. Der Zug bleibt lange stehen. Ich gehe an ihm entlang. Der Grill der Lokomotive siebt Feuerfunken. Die Salzkrusten aber zu Seiten der Schmalung erstarren im Mondlicht zu Kristall. Etwas weiter liegt zur Seite der Bahn ein riesenhaftes punisches Königsgrab, eine Art Pyramide. Es wird als das Grab des Masinissa ausgegeben.

Batna, das erkennt man trotz der Dunkelheit, ist von oben bis unten bewimpelt. Die Fähnchen sind von der im ganzen Lande gefeierten Einweihung der neuen Bahn nach Touggourt hängen geblieben. Angeschafft waren sie nun einmal für den Besuch der Herren Minister, so konnten die Bewohner wohl auch einen gestrichenen Monat voll Festlichkeit verlangen. Über jedem der seltenen Lichter war es schwarz von Wimpeln wie von Vogelschwärmen oder großen Nachtfaltern.

Der Hotel-Omnibus gehört nicht dem Hotel, sondern einem Fuhrwesen, das ihn auch der Konkurrenz und manchen Geschäften zur Verfügung stellt und so daraus eine Art Straßenbahn gemacht hat. In einer Seitengasse finde ich mit Hilfe des Mitreisenden, der sofort nach der Wegweisung verschwunden ist, den Hotelwirt. Er sitzt vor seinem breiten Tore, steht auch nicht sobald auf. Dann zündet er mir eine Kerze an und führt mich in das Zimmer No. 1. Er ist schwer betrunken, hat alte weiße Haare und junge schwarze Augen. Ich fürchte, dieser Saal mit den drei Betten wird mir zu teuer sein. Er sagt freundlich: »Machen Sie mir keine Umstände, Herr, jedes Zimmer und jedes Bett kostet zwei Franken fünfzig, auch alle Betten und alle Zimmer zusammen. Also bitte, wählen Sie in diesem Zimmer nach Belieben. Gute Nacht.« – »Halt! Ich habe furchtbaren Durst, kann ich etwas –?« »Wasser! Da! Ich habe ein Hotel, keine Kneipe. Gute Nacht.« – »Ist nicht noch irgend ein Restaurant offen?« – »Ja bitte, kommen Sie mit.« – Wir gehen, und nun gibt es ein paar Straßen weiter in einem Kabinett, wo schon ein paar Bürger eingeschlafen die Wand garnieren, bei dem süßlichen, übrigens jedoch guten Biere des Landes eine rechte Zecherei. Schließlich will mein Wirt für mich bezahlen, weil er das für seine Pflicht ausgibt.

Als ich sein Haus tags darauf verlasse, und ihn bitte, er möge mir den Hausdiener rufen, geht er weg, kommt nach einer Weile wieder und sagt: »Ich habe keinen Hausdiener. Ich mache alles allein. Guten Tag.«

Ich habe mich in dem Städtchen sehr wohl gefühlt. Es ist irgendwoher aus Frankreich. Sehenswürdigkeiten hat es nicht, doch wenn man will, ist es sehenswert. Anspruchslose, nicht selten schöne Bürgerhäuser, wohlgehaltene Läden. Wo Araber drinsitzen, sind diese europäisiert. Die Stiefelputzer sind die einzige orientalische Zugabe. Kamele stehen mitunter vor den Portalen wie alte Patrizierkutschen und erwarten eine Last oder Herrschaft. Das village nègre liegt wie eine Ansammlung winziger Insthäuser außerhalb der Stadt. Es ist hinausgewiesen. Dieses Nest gibt mir zum ersten Male den Eindruck: hier ist völlige Kolonie der Franzosen. Der Ort ist vor ihnen nicht gewesen, sie haben ihn aus militärischen Erwägungen gegründet, als sie den Eingang zur Sahara erobern wollten. ]


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