Hermann Löns
Tiergeschichten
Hermann Löns

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Der Letzte seines Stammes

Mitten in dem einsamen Bergwalde liegt ein tiefer Erdfall. Jäh stürzen die grauweißen, zerborstenen Gipsfelsen an seinen Steilwänden ab. Eine Fichtendickung, ein schwarzer, verfilzter Klumpen, umringt ihn zur Hälfte. Ihr gegenüber am anderen Rande ragt aus weichem, leuchtendem Moose eine steinerne Säule empor, ein grober, ungeschlachter Block. Die Inschrift, die das Denkmal trug, ist nicht mehr zu deuten. Schwach hebt sich aus der grauen Flechtenkruste ein kunstloses Kreuz ab, roh in den Stein gemeißelt, und ebenso grob hineingehauen ist das gestielte Dreieck daneben. Es soll ein Beil vorstellen.

Kein Mensch weiß, zu wessen Gedenken der Blutstein gesetzt wurde. Aber er machte den Wald unheimlich. Kein Bauer, kein Holzarbeiter geht gern allein hier vorbei. Es geht da um. Man hört es rascheln und sieht nicht, was da geht. Man hört es schreien und weiß nicht, von wem. In der Dämmerung tanzen grüne Lichter um den Stein. Der alte Waldwart hat sie oft gesehen.

Auch heute, an diesem hellen Maienmorgen, sieht er unhold aus, der graue Block. Unheimlich sind die Blumen, die um seinen Sockel blühen: blasser gedunsener Aronstab, menschenhautfarbiger Schuppenwurz, der Vogelnestwurz, wachsgelbe Blütengespenster, der Nachtviole leichenfarbene Blumen. Das Reh, das am Rande des Erdloches entlang zieht, verhofft jäh, äugt nach dem Mordsteine, windet, tritt hin und her und flüchtet laut schreckend von dannen. Eine Märzdrossel, die mit einer bunten Schnecke im Schnabel auf einem Felsbrocken einfällt, läßt ihre Beute fallen und stiebt mit Gezeter ab. Der Rotspecht, der vorüberschnurrt, hebt sich höher und schreit entsetzt auf. Der Holzschreier wendet jäh seinen Flug und kreischt voller Angst. Auch das Rotkehlchen flattert mit Furchtgeschrille davon.

Der graue Felsblock am Sockel des Mordsteins, schwarz gestreift von den Schlagschatten der Eschenzweige, gelb gefleckt von einfallendem Lichte, hat Leben bekommen. Er reckt sich, streckt sich, läßt eine grau und schwarz geringelte Schlange sich winden und drehen, rundet sich, dehnt sich und bläht sich, wird lang und dünn und kurz und dick, läßt zwei grüngelbe Lichter aufblitzen, eine rote Flamme aufleuchten, duckt sich, schnellt sich empor und bildet plötzlich eine seltsame Bekrönung des unheimlichen Steins.

Sie haben alle recht, die da sagen, bei dem Warloche gehe es um, da schleiche unhörbar ein Gespenst, da schreie ein unsichtbarer Kobold, da blitzten grüne Augen. Has' und Reh, Eichhorn und Haselmaus, Drossel und Rotbrüstchen, sie kennen es allzugut, das graue Gespenst, das leise heranschleicht und lautlos zufaßt mit unfehlbarem Griffe und sicherem Biß. Die letzte Wildkatze des Tales ist es, die im alten Mutterbau auf dem Grunde des Warloches haust, ein Kuder, so stark wie ein alter Fuchsrüde.

Oben auf dem Denkmale bleibt er eine Weile sitzen, den Sonnenstrahl genießend, der durch das Eschenlaub auf seinen Rücken fällt. Dann stellt er sich aufrecht, reckt die Lunte steif empor, rundet den Rücken, macht ihn lang, reckt sich und gähnt, setzt sich, wäscht und putzt sich und ist im Nu wieder am Boden, wo der alte Holunderbusch den schiefen Stamm über das Erdloch schiebt. Der Kuder reibt, wohlig schnurrend, den Rücken an dem rauhen Stamm, dann fährt er zurück, springt vor, versetzt der Rinde einen Prankenhieb, zieht die Krallen durch die Rinde, ganz schnell viele Male und dann wieder ganz sacht, bis die Rinde wund ist und stechender, dumpfer Duft ihr entströmt. Und da wirft sich der Waldkater schnurrend und murrend und knurrend gegen sie, streichelt sie zärtlich, drückt die Nüstern an sie, versetzt ihr grausame Krallenhiebe, reißt Bastfetzen herunter, wirft sich auf den Rücken und zerfetzt das starkriechende Laub mit langsamen Griffen und schnellt plötzlich auf alle vier Läufe, zu Stein erstarrt, die Gehöre steil aufgerichtet, und lautlos gleitet er an der Gipswand hinab.

Es knickte ein dürrer Stengel, es knitterte ein trockenes Blatt, leise, ganz leise, aber doch nicht so leise, daß des Katers scharfes Gehör das Geräusch nicht richtig deutete. Das war nicht Reh und nicht Has' und war nicht Vogel und war nicht Maus, das war nicht Bauer und war nicht Magd, das war die seltsam riechende Sohle, die seit dem letzten Vollmond den Wald durchschleicht.

Tief unter der Erde, hinter der steilen Gipswand, da liegt der Kater in sicherer Ruh. Kein Grabscheit stört ihn dort, kein Rauch erreicht ihn da, kein Hund kann zu ihm heran. Da sind Gänge, die der Dachs grub, den der Fuchs vertrieb, der die Fluchtröhren scharrte. Da sind jähe Spalten und steile Kanten, und hinter ihnen verrotten die Gerippe der Teckel, die an Dachs und Fuchs und Katze jagten und niemals wieder zutage kamen. Dort ist so weich der Mulm und so trocken der Lößboden, warm ist es da zur Winterszeit und sommertags so kühl. Dort ist der heimliche Jäger in guter Hut und kann den Tag verschlafen und träumen, soviel er mag.

Er schläft und träumt. Die Rutenspitze zuckt, die Krallen schlüpfen aus dem Sammet der Pranken heraus, greifen in die Luft und verkriechen sich wieder. Alte Bilder brachte der Traum. Von jener Zeit, als der Kater noch ein Kätzchen war, das mit seiner Mutter buschiger Lunte spielte, als das erste der drei Geschwister, das den Wert der Krallen erkannte. Er hatte als erster die Maus an sich gerissen, die die Kätzin zu Bau trug, zuerst den Siebenschläfer geknickt, die flügge Drossel gewürgt, den Junghasen totgequält, ehe die Geschwister es sich trauten. Und als erster hatte er geweidwerkt, sich an das Eichkätzchen herangepirscht, als es Pfifferlinge suchte, es im Sprunge gerissen und stolz zum Warloche geschleppt.

Er erwacht, blinzelt um sich, reckt sich und steigt bedachtsam über die Kanten und Spalten. Mitten in der kleinen Lichtung und Fichtendichtung mündet das Notrohr, das der Fuchs sich scharrte. Kein Jäger findet es; ein breitverzweigter Fichtenast spreizt sich darüber hin. Immer ist es dort überwindig und trocken, und es kommt Sonne genug dahin. Und so weich ist das rote Nadelwerk und das seidene Moos. Da träumt es sich noch besser als unter Tage von heimlichen Pirschgängen in lauen Sommernächten, von Fischweid im Februar am Klippenufer des Baches, wenn die Forelle laichdumm ist und sich so bequem am Ufer angeln läßt.

Über Minnefahrten läßt sich dort nachsinnen. Weit weg führen sie in rauher Berge schwarze Fichtenwälder, denn ringsumher lebt keiner mehr vom Geschlechte der freien Katzen. Als die alte Kätzin todwund zu Bau gefahren kam, mit zersplitterten Knochen, als sie kalt war und die Witterung verlor, da hatten sich die drei Geschwister zerstreut. Sie fanden sich nicht wieder zusammen, trotz des Ältesten allnächtlichen Sehnsuchtsrufes einen ganzen Hornung hindurch. Da war er fortgezogen, hatte tagsüber in Felslöchern und Dachsbauen geschlafen, zwei Zehen in einem Eisen gelassen, sich mit einem schnellen Hunde gebalgt, Schrote hatten seine Keulen geschrammt und eine Kugel ihm Felssplitter um den Kopf gesprengt. Da zog es ihn wieder in das heimatliche Tal zurück.

Im Februar aber trieb es ihn, wenn er in Busch und Klippe Nacht für Nacht umhergestrichen war, kläglich nach Minnelohn jammernd, hinaus in die Fremde, über kahle Felder, in unbekannte Wälder, wo er seinesgleichen antraf. Grimmige Gefechte hatte er bestehen müssen mit freien Katern, zerrissen war oft sein Balg und rot seine Pranken, aber immer hatte er obgesiegt und seine Lust büßen dürfen. Aber allzu gefahrvoll wurden ihm die Minnefahrten, und so strich er nachts an dem Dorfe entlang, trieb die unfreien Kater vor sich her und jagte ihnen ihre Bräute ab, und die Bauern fanden es verwunderlich, daß die jungen Katzen in ihren Ställen von Jahr zu Jahr grauer wurden und dickere Köpfe, rauheres Haar und kürzere Schwänze bekamen. Als aber der Jäger, der jeden Juli hier auf den roten Bock weidwerkte, ihnen sagte, in den Katzen stecke wildes Blut, da lachten sie und sagten, die letzten Wildkatzen in der Gegend hätte der Förster vor sechs Jahren im Eisen gefangen und an die Schule der Kreisstadt gegeben.

Der Jäger aber spürte nach jedem Regen alle Wege ab, und er sah sich jeden alten, geschundenen Holunderbusch an und strich um jeden Bau und lauerte an allen Uferstellen, wo er die Reste von Forellen fand, und saß stundenlang vom Abend bis tief in die Nacht auf dem Hochsitz, bei unsicherem Mondlicht in den Wald spähend, und ließ sich auslachen von dem Förster und von den Holzarbeitern, weil es ihm dieses Jahr mit den Böcken nicht glücken wollte, denn er hatte sich gelobt, nicht eher wieder den Finger auf einen Bock krumm zu machen, bis daß das Kitz gerächt sei, das er im Busche fand, mit den Krallennarben an der Kehle und dem säuberlich benagten Blatt. Denn daß das der Fuchs nicht gewesen war, das stand für ihn fest.

Und so hatte er vorgestern und gestern, wie die Tage vorher, vor Tau und Tag die Krone der alten Samenbuche erstiegen, die oberhalb des Warloches an dem Zwangspasse zwischen den grauen Klippen steht, sich im Frühwind vor Frost geschüttelt, in der Mittagsglut vor Hitze geseufzt und sich nicht gerührt und geregt und immer nur auf die Sohle des Erdfalles, nach dem schwarzen Flecke an der Wand, der grauen Gipswand, gestarrt. Und einmal, als ihm der Schlaf Sand in die Augen warf und er fester in den Riemen hineinsank, mit dem er sich an den Stamm geschnürt hatte, da hatte er geträumt, die Wildkatze stände unter ihm, und war wach geworden. Und als er sich die Augen rieb, da stand sie auf dem Blutsteine und verschwand, ehe er den Dreilauf von dem Astzacken nehmen, scharf machen und anbacken konnte, wie ein Schemen, wie ein Traumgesicht.

Wie er dann, müde und verärgert, jeden Fleck um die Fichtendichtung abspürte, da fand er die starke Katzenspur, und jeden Raum zwischen den jung Fichten absuchend, stieß er auf das Notrohr und überlegte nicht lange und verwitterte es nach Jägerart in gröblicher Weise, um den Kater zu zwingen, dort aufzutauchen, wo er ihm sichtig kommen mußte. Und jeden Tag verwitterte er das Notrohr von neuem, und alle dicken schwarzen Käfer und alle fetten blauen Fliegen wußten das bald und brummten und summten nach der Dickung hin, und nun auch an diesem Spätnachmittage war dort ein großes Gebrummse und Gesummse.

Der alte Kater will dort den Abend erwarten. Langsam schiebt er sich in dem Notrohr entlang. Schon von weitem vernimmt er das Summen und Brummen, und die üble Witterung fällt ihm ziemlich auf die Nerven. Er reckt sich, schiebt sich vor und starrt nach der Lichtung. Dann fährt er zurück und schleicht über die Felszacken, springt über die Spalten und bleibt lange nachdenklich auf seinem Schlafplatze sitzen. Endlich schiebt er sich voran, Zoll um Zoll, bis er sich der Mündung des Hauptrohres nähert. Da verhofft er lange Zeit, windet und äugt, bis Mausepfiff und Jungvogelgepiepe seinem Magen heftiger zusetzen. Da steckt er den dicken Kopf aus dem schwarzen Loche und äugt an den Gipswänden entlang.

Kein Blatt rührt sich, es regt sich kein Halm. Fern pfeifen die jungen Käuze, im Stangenort ruft ein Kitz nach der Ricke, Mäuse schrillen, die Fledermaus zwitschert, Rotkehlchen singt sein letztes Lied. Lautlos schleicht der Kater an der Schattenseite des Felskessels entlang, unhörbar schnürt er an der Wand empor, unter dem Holunderbusch verharrt er lange reglos, den Kopf hin und her wendend, jedes Abendfalters Schwingenschlag, jedes Käfers Gekrabbel vernehmend. Und nun steht er auf dem Mordsteine, setzt sich und äugt ringsumher.

Ein ganz leises Kratzen in der alten Buche reißt seinen Kopf herum. Aber oben aus den Kronen der Bäume kam noch nie ein falscher Laut, eine gefährliche Witterung. Lange starren seine grünen Seher in den breiten Wipfel. Es lebt und webt da etwas. Vielleicht der Siebenschläfer oder eine Taube, die sich im Schlafe rührt, ein Häher oder die Eule.

Ein roter Blitz zerreißt die Dämmerung, ein Hagelgeprassel zerschmettert den Holunderbusch, ein Donner fällt in die Ruhe des Waldes, Stinknebel tanzt blau um den Silberstamm der Buche; die Taube prasselt durch das Laubwerk, der Hase rauscht durch das Gekräut, der Berg wirft den Donner zurück und trägt der Rehe Schrecken heran.

In der alten Buche raschelt und knistert es. Etwas Großes, Graues klettert in ihrem Astwerk, steigt langsam herab, fällt dumpf zu Boden. Ein Lichtchen brennt auf, fährt hinter ein Glas, eine Flamme leuchtet, tanzt nach dem Blutsteine und schwebt um ihn herum, den Stein beleuchtend und ein braunes Mannesgesicht rot färbend.

Die Augen des Jägers leuchten auf. Rote Flecken findet er auf dem grauen Stein und ein graues Büschel an einem roten, nassen Fetzen, der zwischen den zerschossenen Flechten hängt. Und weiter nichts, gar nichts. Auch nicht an den Wänden des schwarzen Schlundes, auch nicht auf dem Schotter der Sohle des Erdfalles, auch nicht in der Mündung des Baues. Er führt einen belaubten Zweig hinein und zieht ihn heraus, jedes Blatt ableuchtend. Nichts! Doch, hier ein winziges Fleckchen Schweiß.

Der Jäger wirft sich lang hin, schiebt sich vor den Bau, legt das Ohr vor das Rohr, hält den Atem an und lauscht. Schwach, als wäre es unendlich weit, ertönt ein einziger dünner kläglicher Laut, einmal nur, und dann nicht mehr.

Der Holunderbusch wird keinen Krallenhieb mehr spüren, kein Kitz klagt mehr unter dem Prankengriff, keine Forelle fliegt mehr im Bogen auf den Uferschotter.

Der Letzte von der Sippe der freien Katzen weit und breit ist nicht mehr.


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