Hermann Löns
Mein braunes Buch
Hermann Löns

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Der Heidweg

Tag für Tag gehe ich denselben Weg, der von dem Hofe durch die braune, rosig überhauchte Heide zum Holze führt, eine halbe Stunde lang hügelauf, hügelab, nach links und rechts sich wendend, bald breit, bald schmal, wie die Heidwege so sind.

Er hat gar nichts Besonderes an sich, dieser Weg; er ist so wie alle Heidwege: kein Landmesser legte ihn fest, kein Arbeiter beschotterte ihn, keine Dampfwalze festigte ihn. Die Gewohnheit hat ihn geschaffen; er ist der kürzeste Weg zwischen den beiden Höfen an der Landstraße und dem Einzelhofe da hinten hinter der Forst; die Räder der Wagen, die ab und zu hier fahren, um Plaggen, Holz oder Bienenkörbe zu befördern oder Leute hierhin und dahin zu bringen, schnitten den Weg in den heidwüchsigen Boden der höheren Lagen, in den weißen Sand hier, in den grauen Bleisand da, in den dürren Anger in den Senkungen. Hatte es ein starkes Gewitter gegeben, so daß in den Sinken Wasser stand, dann fuhr der Bauer rechts und links um die Stelle herum; dann wurde der Weg dort breiter, doppelt, dreifach, vierfach.

Ich gehe den Weg jeden Tag, um abzuspüren, ob Rotwild oder Sauen durchgewechselt sind, oder um zum Anstand zu kommen; ich gehe ihn morgens vor Tau und Tag, wenn die Eule noch ruft und die Lerche noch nicht wach ist, und abends, wenn der Reiher über die Fuhrenkronen streicht und rostbraune Abendfalter hastig und unstet über die Heide fahren; ich sah ihn im Frührotschein und in der Abendröte, bei sengender Mittagsglut und bei pfeifendem Nordost; ich kenne ihn auswendig.

Ich kenne jeden Strauch und jeden Baum rechts und links von ihm; ich weiß, daß da ein größerer Stein kommt, daß hier ein Hasenunterkiefer im Sande bleicht, daß dort ein Pfeifendeckel neben einer Binsenstaude liegt; ich kenne die Wollflocke in dem toten Machangel und den Trichter des Ameisenlöwen unter dem Quendelbüschel; ich weiß, daß links vom Wege ein Hase sitzt und daß rechts in der langen Heide Birkwild liegt, daß hier oben Rehfährten den Boden narben und daß dort unten der Dachs gestochen hat, einen wie den andern Tag; Neues kann er mir nicht bieten, der Heidweg.

Und darum gehe ich ihn einen um den andern Tag in derselben gleichgültigen, unaufmerksamen Weise, die Pfeife im Munde, die Hände auf Lauf und Kolben der Büchse, die ich über den Rücken gekreuzt habe; und wenn ich so dahingehe, dann sehe ich jeden Tag dasselbe, und bei jedem Ding fällt mir dasselbe ein.

Da ist zuerst eine Fuhre, ein keckes Ding von fünfzehn Jahren. Wie die sich das Leben denkt: leicht, einfach, schön. Ach ja. Jetzt, wo sie noch klein ist, wo sie im Norden der Stangenort, im Osten der Hochwald, im Süden und Westen die Heidberge schützen, da kann sie noch die Zweige keck und froh in die Höhe recken, als wolle sie in die Wolken damit.

Aber die hohe Fuhre am Berge, die weiß, wie das Leben ist; auch sie war einst so keck und froh und langte mit geraden Zweigen in die Wolken. Aber Ostwind und Nordwind und Schneelast faßten sie und drückten sie, machten ihre Zweige krumm, ihre Krone flach und gaben ihr den Zug stiller Entsagung, den Ausdruck hoffnungsloser Wehmut.

Über den schwarzen Machangelbusch, der dort hinten so keck die Heidhöhe überschneidet, muß ich jedesmal lächeln; von hier aus sieht er so groß aus, sieht viel höher aus als die Heidberge hinter ihm, und je näher man an ihn herankommt, um so kleiner wird er, um so größer werden die Berge. Doch das geht nicht bloß dem Machangel so, das kommt auch sonst noch vor.

Die schlanke Fichte dauert mich; ihre Form paßt so gar nicht zu den welligen Linien der Heide; sie ist ja auch nicht von hier, gehört auf die Berge, wo schroffe Linien sind. Der Nordostwind weiß das; der wird ihr den Mitteltrieb ausbrechen, wird ihre Zweige verbiegen, bis sie so rund und struppig sind wie die alten Fichten dort. Dann paßt sie in die Heide.

Bei ihren jüngeren Schwestern übernehmen die Schnucken die Arbeit; in jedem Frühjahre verbeißen sie die jungen Triebe, aus dem schlanken Tannenbäumchen wird ein struppiger Igel, und wenn es groß ist, dann sieht es seltsam verschnörkelt und verkrümmt aus, Äste, Äste, lauter Äste und kein Stamm.

Es gibt auch solche Menschen; sie müßten gerade und schlank aufwachsen, aber sie stehen auf falschem Boden, in einer Umgebung, die nichts Schlankes und Gerades verträgt. Allerlei beißt und biegt an ihnen herum, und schließlich werden sie schrullige Geschöpfe. Und konnten Großes sein.

Eine stand da, die war groß und schlank und stolz und schön; die hat der Blitz zerspellt. Den Krüppeln tut er nichts. Aber hochzuwachsen und vom Blitz getroffen zu werden, schließlich ist es doch besser, als krüpplig zu bleiben und verschont von Blitz und Sturm. Es gibt Menschen, die anders denken; die leben, damit sie im Alter nicht verhungern. Aber das ist dann auch kein Leben.

Hier der Machangel duckte sich und krümmte sich und schickte sich; und was hat er nun? Ein graues, krummes Skelett ist es, über das die Schnucken trampeln. Aber um die Ruine der Riesenfichte müssen sie herum; im Tode noch läßt sie nichts Kleines an sich heran.

Die Hängebirke auf dem Hügel tut mir leid; ihre Zweige greifen verlangend umher, ihre Bewegungen haben etwas Rührendes, als wollten sie zurück in die Jugend und in den Frühling. Es gibt nichts Traurigeres als eine alte Birke im Herbstwind.

Und nichts Lustigeres als den jungen Maibaum; schlanke Äste, hochauf, besät mit goldgrünen Blättchen, leuchtend, glitzernd, duftend vor Jugend und Schönheit. Eine junge maigrüne Birke im Sonnenschein, dann lacht mein Herz, aber meine Seele trauert, sehen meine Augen die Hängebirke auf der Heide. Ich weiß wohl, warum.

Hier hat eine Königskerze gestanden: ein zerknickter Stengel, zwei verwelkte Blätter blieben davon; das taten die Hufe von hundert Schnucken; und Hunderte von Schnuckenhufen zertreten Tag für Tag die Heide, Hunderte von Schnuckenmäulern rupfen daran herum. Der Heide schadet das nichts; sie bleibt kurz, krümmt sich zu Boden, treibt kümmerliche Blüten, aber sie lebt doch und blüht. Mancher verträgt eben Fußtritte, mancher nicht. Und darum gibt es nicht so viele Königskerzen wie Heide; das Häufige ist nie schön und vornehm.

Hier, wo vom letzten Gewitterregen der Boden feucht geblieben ist, ist das Jagdgebiet einer dicken Kröte; gestern abend sah ich ihr zu, wie sie vorsichtig dort pürschte und ab und zu mit der Klapperzunge ein Insekt wegfing. Heute steh ich hier und sehe dem Falken zu, der auf der Heide eine Lerche jagt; er stößt fehl und streicht weiter. Die Kröte hat nie Fehljagd. Aber sie jagt auch Spinnen und Fliegen und Würmer.

Es geht gegen Abend; eine Schnarrheuschrecke mit grellroten Unterflügeln fliegt ruckweise, laut schnarrend, an mir vorbei; sie denkt wunder, wie schön das ist, und dabei ist es eigentlich recht lächerlich, dieser ruckweise Schnarrflug; und doch wird er seine Wirkung auf die kurze, schwarze Schöne im Heidekraut nicht verfehlen. Jeder Verliebte ist lächerlich, nur nicht für die eine. Tröstet euch damit.

Ein rostroter Nachtfalter kommt angesaust. In unsteten Zickzacklinien huscht er über die Heide; jetzt ist er dort unten, jetzt kommt er wieder näher, nun taumelt er über die kurzen Brombeerbüsche der jungen Besamung und fährt hastig weiter nach den gelben Schmielen; er sucht eine, die ihn liebhat; aber es ist schon zu spät im Jahr, und wer weiß, ob er sie findet; und es ist doch so schwer, zu sterben und nicht zu wissen, was Liebe ist. Für den Falter ist das nicht so schlimm; er sucht nur eine, aber der Mensch sucht die eine.

Am Buchweizen gähnen vier schwarze Schlünde und vier an den Kartoffeln; das sind Ansitze, die sich der Bauer gemacht hat; von da aus erlegt er die Sauen und das Rotwild, die seine Äcker verwüsten. Hier unter dem struppigen Machangel gähnen lauter silbergraue Sandtrichter; in jedem lauert ein scharfbewaffnetes Ungetüm auf Spinnen und Ameisen, die in den Trichter fallen. Ein grüner Käfer rennt flink über den Sand, in den scharfen Zangen eine Fliege. Zierliche Schwalben fahren über die Heide; ich höre die kurzen Schnäbel knappen; jeder solcher Laut ist der Tod eines Wesens. Aus dem Brombeerbusche klingt ein jammervoller Ton, dünn, fein, aber voll Todesangst; da wickelt die dünne Spinne eine bunte Schwebfliege ein. Überall ist der Tod.

Ich gehe gelassen über die Heide und blase sorglos den Dampf der Pfeife in die Luft; ich gehe und töte im Gehen Pflanzen und Tiere. Das ist nun einmal so. Und wer weiß, ob dicht bei mir nicht etwas auf mich lauert, um mich hinabzuzerren, heute oder morgen oder übermorgen oder einen Tag später. Eigentlich müßte mir das alle Lebenslust nehmen.

Ich gehe einen Weg, dessen Anfang und Ende ich nicht sehe; Anfang und Ende verlieren sich in dunkler Heide und düsterem Wald; und doch bin ich ganz gelassen.

Vor jenem Heidhügel, dessen Kuppe ein heller Sandfleck schmückt, steht ein einsamer schwarzer, hoher Machangel; da zur Rechten steht ein ganzer Haufen derselben Sträucher, alle gleich in der Form. Aber der Einsame sieht ganz anders aus. Ja, die Gesellschaft, wie die abschleift das Böse und das Gute. Wenn du in ihr leben willst, mußt du den Charakter opfern. Wenigstens verstecken.

Manchmal ist es aber auch ganz seltsam, ganz anders. Hier steht mitten zwischen rotblühender Heide ein Busch, der blüht weiß wie Schnee; weit und breit ist keiner so wie er. Muß der Mut haben!

Und hier ist noch etwas Seltsames. Mitten in dem sandigen Windriß, mitten zwischen dem bunten Geröll, blüht ein Heidbusch, so rosenrot wie keiner ringsumher; alle andern sind fahl gegen ihn. So etwas kommt vor; in Schmutz und Elend und Verkommenheit findet man oft ein Gesicht, blühend in Schönheit und Adel.

Eine halbe Lanzenspitze aus Flintstein liegt im Geröll; das war einmal. Der Nordostwind trägt ein Donnern und Pfeifen heran; das ist der Schnellzug Hamburg-Hannover. Wie weit wir sind! Aber der Nordostwind lacht; wieviel Kulturen hat er blühen und welken sehen. Steinwaffe und Bronze, Eisen und Stahl, alles ist vergänglich. Und einmal bringt er das Nordlandeis wieder und die Polarnacht, und halbwilde Fischer und Jäger klopfen sich hier mühsam wieder Lanzenspitzen und Beile aus Flintstein.

Eine silberne Distelsamenflocke fliegt mir an den Rock; wo mag sie herkommen? Ich sah nirgendwo hier eine Distel; aber nächstes Jahr wird eine hier blühen, und wieder ein Jahr weiter, dann sind es viele, die hier ihre Purpurköpfe leuchten lassen. So wandern die Gedanken.

Wie hoch und lang hier die Heide ist, wie scharf heben sich die Kuppen der Hügel ab; dann kommt die Dämmerung und macht alles klein; nur die hohen Machangeln bleiben noch sichtbar, noch einige Zeit. Bis die Nacht kommt.

Ich will dahin gehen, wo die Heide so wunderbar voll, so tief rosig blüht. Aber ich will es lieber lassen. In der Nähe sieht sie aus wie alle Heide; da ist das Fahle, das Braune, das Graue stärker als das Rosenrot; nur aus der Ferne sieht sie so schön aus. So geht es mit allem, dem wir zustreben. Es lohnt sich wirklich nicht, auf etwas zuzugehen.

Aber hier ist ja der starke Hirsch durchgezogen; ich muß doch sehen, wohin er gewechselt ist. Die Fährte steht nach der Forst zu. Aber dazwischen liegt Heide, und da spürt es sich schlecht. Und dann kommt die Landstraße, und die haben die Dragoner zerritten. Und dann kommt wieder Heide, und ich werde einen Bogen nach dem andern schlagen müssen, um auf den Bahnen, Wegen, Gestellen und Pürschsteigen die Fährte des Jagdbaren wiederzufinden; viel Mühe wird es kosten.

Ich muß lächeln. Eben dachte ich mir jeden Zweck aus dem Leben heraus, und nun kommt das Leben und hält mir lachend ein Ziel entgegen, und im Grunde genommen ein so geringes Ziel; und doch gehe ich mit Eifer darauf los.

So ist der Mensch.


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