Detlev von Liliencron
Letzte Ernte
Detlev von Liliencron

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der gelbe Kasten

Eine Schuldengeschichte.

Mit dem alten Ehlertvadder, Vater Ehlert Hompfeldt, saß ich heute Morgen zusammen auf der Bank vor seinem Laden. Er ist siebenundachtzig Jahre alt und versieht mit Hilfe seiner beiden unverheirateten, stark ergrauten Söhne das erste Geschäft unseres Städtchens. Die Linden um sein Haus stehen in Blüte. Die Linde ist ein dankbarer, lieber Baum; ihr Blatt ist herzförmig (a bißl Schiefigkeit ist allweil dabei). Wer hat je einen Lindenwald gesehen? Ich nicht.

Ol Ehlertvadder hat nur einmal in den siebenundachtzig Jahren seine Heimat verlassen, auf fünf Wochen. Wie lang ist es her? Über fünfzig Jahre. Unser Städtchen lag seit langen Zeiten mit einem Nachbardorf in Streit um die Kattenwisch (Katzenwiese). Beim Reichskammergericht füllten sich schon sechs Säle mit Akten in dieser Angelegenheit. Endlich rafften sich der Fleckensvorsteher und die Ratmänner auf: Es wurde beschlossen, einen Ausschuß der Bürgerschaft zum König nach Kopenhagen zu senden. Friedrich der Sechste, ein sehr gutmütiger, willenseifriger, aber beschränkter Herr, empfing die »Untertanen« in seinem Schloß. Ehlertvadder hatte zu sprechen und zum Schlusse die »Supplik« zu überreichen. Aber er nahm schon vor seiner Rede mit großer Schnelle, als wolle er eine Pistole aus der Brust reißen, das Gesuch hervor, um es ehrerbietig in die Hände seines Königs zu legen. Der Monarch erschrak heftig und ging, den unglücklichen Ehlertvadder fest im Auge behaltend, hastig rückwärts mit den Worten: Oooo, wollen Sie mich erschießen, mein Lieber?

Das war Ehlertvadders einzige »Geschichte« im Leben. Und diese war ich gerade im Begriff, zum siebenhundertundsiebzigstenmal zu hören, als mir der vorübergehende Briefträger sagte, daß er in meinem Hause eben ein schweres Paket für mich abgegeben habe. Ich verabschiedete mich deshalb.

In meiner Wohnung angekommen, fand ich einen Eichenkasten vor, gelb, lackiert, mit Messingbeschlägen. Er war 43  cm lang, 24  cm hoch, 21  cm breit. Übrigens ein ganz verrückter Einfall von mir, ihn gleich zu messen. Der Schlüssel lag in einem versiegelten Briefumschlag dabei. Aus dem Begleitschreiben konnte ich erst gar nicht klar werden. Ein mir gänzlich unbekannter Herr v. Rückershausen in Berlin sandte mir dies »Erbstück« von seinem vor einiger Zeit verstorbenen Vetter Hans v. Meyendorff, der es mir ausdrücklich in seinem letzten Willen vermacht habe.

Meyendorff? Meyendorff? Wer war Hans von Meyendorff? Ich sann hin und her. Endlich fiel mir ein, daß ich vor vielen Jahren in Wiesbaden mit einem alten Herrn v. Meyendorff verkehrt hatte. Meyendorff war ein langer, hagerer, stramm gehender Mann mit einem Generalsgesicht; feierlich, verbindlich, vornehm, milde in seinem Urteil.

Voller Neugier öffnete ich den schweren Eichenkasten. Ich fand darin einen Brief und ein Heftchen, betitelt: Schulden. Gleich nachdem ich die Anfangszeilen seines Schreibens gelesen hatte, floß durch mein Gehirn eine starke Erinnerungswelle. Einige Sätze lauteten:

». . . Sie griffen damals unsern gemeinsamen, unglücklichen Bekannten, den Hauptmann Lempferd, so stark an, daß ich mich seiner annehmen mußte. Sie sprachen von seinen ›dolosen‹ Schulden, und weiter im Gespräch: daß Schuldner, die Sie mit Schuldenmachern verwechselten, Ihnen ohne Ausnahme Lügner seien, unehrliche Leute, ja schlimmer als Diebe und Betrüger. Ich meinerseits behauptete . . .

. . . und somit lege ich Ihnen meine eigene Schuldengeschichte vor. Der gelbe Kasten, worin ich dies Heft einsarge, spielt eine Rolle darin . . .«

Und nun stand mir die Stunde vor Augen: Herr v. Meyendorff und ich waren über einen uns nicht fremden Hauptmann Lempferd, der wegen großer Schulden hatte den Abschied nehmen müssen, ins Gespräch gekommen; und waren schließlich über das Thema Schulden und Schuldenmachen im allgemeinen etwas aneinandergeraten. Und nun fiel es mir wieder ein, wie liebevoll Herr v. Meyendorff den Hauptmann verteidigt hatte; wie hart, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, sein Urteil – gegen mich war es wohl hauptsächlich in dieser Stunde gerichtet – gegen alle sprach, die, ohne die Schuldenqual zu kennen, schonungslos über jeden herfallen, der sich in bedenklich verwickelten Geldangelegenheiten befindet. Ich erinnere mich noch deutlich seiner Worte: ». . . nun, alle die, denen angeborener oder anerzogener Ordnungssinn, Geldverständnis, kaufmännisches Genie, fortwährendes Denken an die Zukunft, geregeltes Vermögen, sozusagen vom Hause aus zu Hilfe kommt, alle die werden niemals begreifen können, wie es denkbar ist, daß Tiefverschuldeten Tod und Teufel, Krankheit, Verleumdung, kurz alle Greuel der Erde, ja selbst Zahnschmerzen und Liebesgram in der Zeit gleichgültig sind; daß sie ungerührt und unberührt am Sterbebett ihres besten Freundes stehen können . . .«

* * *

Das Heftchen begann:

Als Selektaner der Hauptkadettenanstalt hatte ich mir zum Eintritt in die Armee das neunte Garderegiment zu Fuß aufgeschrieben. Meiner Bitte wurde entsprochen. Mit den Amorsflügeln, den Epauletten, flatterte ich ins Regiment.

Ich war der Sohn eines einst reichen westfälischen Gutsbesitzers. Der Rasen deckte längst meine Mutter.

Kaum drei Monate war ich Offizier, da starb mein Vater. Er hinterließ die verwirrtesten Geldverhältnisse. Das Gut mußte verkauft werden. So viel ich konnte, suchte ich den Gläubigern gerecht zu werden. Dadurch ging für mich der letzte Pfennig verloren. Ich hätte nun den Abschied nehmen müssen; denn ohne jede Zulage in Berlin, Verwandte hatte ich nicht, überhaupt als Leutnant zu leben, dürfte undurchführbar sein. Aber ich blieb. Meinem Regimentskommandeur und meinen Kameraden verheimlichte ich, törichterweise, die mißliche Lage.

Wegen unvermeidlicher Ausgaben mußte ich bald Schulden machen; es waren die ersten. Aber diese wurden schon nach einem halben Jahre lästig; ich war Wucherern in die Hände gefallen. Diesmal rettete mich ein reicher Freund, dem ich mich im Kadettenkorps angeschlossen hatte, und der auch mit mir im selben Regiment stand. Merkwürdig genug; denn während ich, übersprudelnd, jedem mein Herz gab, der mir ein freundliches Wort sagte, blieb mein Kamerad still, ernst, in sich gekehrt auch in der lustigsten Gesellschaft. Er gebot über ein großes Vermögen, das ihm unversehrt und unangefressen am Tage seiner Volljährigkeit übergeben worden war. Er war eine jener äußerlich kalten Naturen, die ein mildes, mitfühlendes Herz für ihre Mitmenschen haben, so lange sie überzeugt sind, daß diese keine Verschwender sind. Mit sechzig Talern, wie mit seinen sechstausend, wäre er gleich gut im Jahre ausgekommen. Ohne geizig zu sein noch auch zu scheinen, obgleich wir ihn so nannten, sparte er im kleinen, gab im geheimen große Summen, wo er wirkliche Not wußte.

An ihn nun wandte ich mich in meiner Not. Ich vergesse die Stunde nicht:

»Ehe ich dir helfen kann, mußt du mir, lieber Hans, klar nicht nur jeden Pfennig deiner Schulden auseinandersetzen, sondern deine ganzen Verhältnisse.«

Manch anderer mit seinem Reichtum hätte vielleicht nur gesagt: Wieviel brauchst du, alter Kerl.

Das war mir ein recht übler Anfang; aber es half nichts. Ich beschrieb ihm umständlich meine Geldverlegenheit, beichtete jeden Posten bei Heller und Pfennig.

Manch anderer mit seinem Reichtum, und mit dem Willen und Können, mir zu helfen, hätte nun wenigstens gesagt: Bis morgen früh, mein alter Kerl, wird es mir ein Vergnügen sein, dir mit dem Quark behilflich zu sein.

Nicht so mein Freund Paul.

Er bekrittelte manche »unnütze« Ausgabe. So sagte er: Du hättest wahrlich mit zwölf Paar Handschuhen auskommen können, statt dir drei Dutzend anzuschaffen . . . Und dies Service hier; aber wozu denn? Zwei Tassen und ein einfaches blaugerändertes zu zehn Talern hätte ja vollständig genügt. Und nun denke: neunundachtzig Taler dreizehn Silbergroschen hast du weggeworfen . . . Und was sehe ich hier: einen Teppich zu zweihundertundsiebenundzwanzig Talern; nun, ich gestehe . . .

Und so ging es weiter. Endlich sagte er kurz: Es sind zusammen zweitausenddreihundertundeinundfünfzig Taler dreiundzwanzig Silbergroschen. Gut, ich werde es bezahlen; die Rechnungen natürlich ohne Abzug, aber die Wucherer erhalten nur 3½ Prozent. Du wirst deshalb die Freundlichkeit haben, diese Edlen zu übermorgen um 12 Uhr mittags in meine Wohnung zu bestellen.

Es lag in allen Bemerkungen Pauls etwas Hartes, ja Höhnisches; mein Herz zog sich zusammen unter seiner Kälte, wenn sie auch nur scheinbar war.

Zum Schluß sagte er: Nun, das wirst du einsehen, Offizier kannst du nicht länger sein; es ist das unmöglich ohne Zulage. Du wirst dich also entschließen müssen, was du nach deinem Abschied tun willst. Nach Amerika zu gehen. rate ich dir nicht. Dort dein Brot zu verdienen, würde dir nicht gelingen. Dazu fehlt dir auch, verzeih mir, jede Tatkraft. Am besten wärs vielleicht, da du gern Soldat bist, wenn du dich von den Holländern anwerben ließest.

Ich war nahe daran, meinen Freund Paul wütend zu verlassen, ihn zu bitten, mir meine Schulden nicht zu bezahlen. Aber ich bezwang mich und ging, ihm herzlich meinen Dank aussprechend, froh und traurig zugleich, nach Hause.

Nach einer Stunde erschien der Bursche Pauls. »Ist Antwort gewünscht, Behnke?« – »Nein, Herr Leutnant; der Herr Graf haben mir nur befohlen, den Brief an Herrn Leutnant abzugeben.« – »Gut, Behnke.«

Ich erbrach hastig das Schreiben:

Lieber Hans!

Ich habe mich anders besonnen. Du bleibst. Ich werde Dir für jeden Monat fünfzig Taler Zulage geben. Damit kannst Du auskommen. Ich setze Dir die ebengenannte Summe, zahlbar in Raten jeden Monat, bis zum Hauptmann erster Klasse aus. Nur wenn Du einmal durch irgend einen Umstand in die Lage kommen solltest, ausreichend Geld zu haben, würde ich Dich an die Verzinsung mit 1 Prozent erinnern. Ich werde dafür sorgen, daß Dir auch im Falle meines Todes diese Zulage ausgezahlt wird.

Eins hebe ich aber hier ausdrücklich hervor. Sowie ich erfahre, daß Du wieder Schulden – etwas Widerwärtigeres im Leben kenne ich nicht – gemacht hast, ziehe ich sofort alles zurück und überlasse Dich Deinem Schicksal.

In alter Freundschaft        
Dein Paul.

Das kühle Schreiben berührte mich unangenehm. Aber andererseits wars doch eine außerordentliche Güte von ihm, mir ein so großartiges Anerbieten zu machen. Ich dankte ihm aus innigstem Herzen.

Es ging wirklich nun ein halbes Jahr gut. Ich schränkte mich ein, kam mit den fünfzig Talern aus. Zu meiner eignen Verwunderung, denn mir fehlte jeder Geldsinn. Dann aber geriet ich schnell in die Brüche: Die Unteroffiziere meines Bataillons hatten Erlaubnis erhalten, ein Tanzvergnügen zu veranstalten. Zu diesem wurden wir Offiziere eingeladen. Ich kam an diesem Abend durch zu vieles Trinken in sehr heitere Stimmung; ich wußte kaum mehr, daß ich Sekt auf Sekt bestellte. Am andern Morgen sandte mir der Wirt eine Rechnung von 244 Talern für in der Nacht vorher von mir geforderten Champagner. Ich hätte mir nun helfen können, wenn ich dem Wirt gesagt hätte, nach und nach die Summe bezahlen zu wollen; aber das litt mein Hochmut nicht. Ich nahm wieder zu den Wucherern meine Zuflucht. Auf der Stelle, gegen hohe Zinsen, erhielt ich das Geld. Andere Schulden kamen bald hinzu. Und damit war mein Untergang besiegelt.

Nach acht Wochen reichte ich meinen Abschied ein, den mein Regimentskommandeur nur mit Zögern höheren Orts befürwortete. Alle die Qualen des Scheidens aus geliebten Verhältnissen, von meinen Kameraden, hatte ich nun durchzumachen.

Einige Stunden vor meiner Abreise trat Paul bei mir ein: kalt und ruhig wie stets. Sogar eine mir in diesem Augenblick recht unpassend dünkende Strafpredigt mußte ich noch anhören. Am Schluß sagte er, wie im Gesprächston: Du wirst unmöglich in Recklinghausen (dorthin wollte ich zunächst, es lag in der Nähe des Gutes meines verstorbenen Vaters, hier fand ich wenigstens noch einige Bekannte) ohne alles leben können. Ich bitte dich, diese fünfhundert Taler anzunehmen. Und nun: die Schnauze hoch, mein guter Hans. Du hast dir selbst die Suppe eingebrockt, nun iß sie auch aus.

Und damit verschwand er.

* * *

Zuerst diente ich, schon im zweiten Jahr Offizier geworden, sieben Jahre in holländischen Diensten in den Kolonieen. Mußte aber dann, weil ich das Klima nicht länger vertragen konnte, nach Europa zurück. Eine kleine Pension verblieb mir.

Ich wählte eine süddeutsche Stadt als Aufenthaltsort. Aber hier wie überall, wohin ich zog, konnte ich mich nicht halten.

Endlich gelang es mir, in einer kleinen Stadt der Provinz Posen eine kleine Stelle als Verwaltungsbeamter zu erhalten. Ich werde, solange ich lebe, dies Nest nicht vergessen.

* * *

Außer meiner siebenjährigen Dienstzeit in holländischen Diensten hatte ich später, in den letzten dreizehn Jahren, nur in großen Städten gewohnt. Von meiner kleinen Pension konnte ich natürlich nicht leben und war deshalb immer wieder in Geldverlegenheiten geraten. Statt mich totzuschießen oder in ferne Länder zu ziehen, war ich so ehrlich, aber auch so töricht gewesen, mit meinen zahlreichen Gläubigern in Briefwechsel zu bleiben. Dadurch wurde die Last fortwährend größer. Durch meine ewigen Versprechungen hatte ich geradezu abscheuliche Unannehmlichkeiten. Und das mit Recht.

Auch von dem kleinen polnischen Ort aus, wohin mich das Schicksal geführt hatte, benachrichtigte ich sofort meine sämtlichen Gläubiger. Natürlich begann auf der Stelle die Hetzjagd. In der Liliputstadt fand ich beim Einzug als Beamter einen großen Kredit offen, den ich ungesäumt benützte, um mich so hübsch wie möglich einzurichten.

Der Verkehr mit den »Honoratioren« wurde mir ganz angenehm. Aber ich traf keinen unter ihnen, dem ich mein Herz ausschütten konnte. Nur der Amtsrichter, ein prächtiger Mensch, wußte bald Bescheid durch die einlaufenden Klagen.

Ich lebte mäßig, verschwendete nicht; aber dennoch wurde, durch die alten Gläubiger besonders, mit jedem Tag meine Lage unerträglicher.

Es muß nicht angenehm sein, am Morgen seiner Hinrichtung zu erwachen; dennoch können die Gefühle bei diesem Erwachen, wenn überhaupt der Schlaf gekommen ist, himmlisch genannt werden gegen mein Erwachen Morgen für Morgen. Was Alles konnte mir der je sich erhellende Tag bringen. Zuletzt konnte ich nicht mehr dagegen an. Ich schwamm auf einsamem Boot mitten im Ozean.

Seit Wochen steckte ich Brief auf Brief, selbst die Zuschriften aus dem Städtchen, uneröffnet in einen gelben Kasten, den ich, so schwer er war, auf allen meinen Reisen und wo immer ich wohnte, bei mir behalten hatte.

Ich erinnere mich genau der acht Wochen, in denen ich mich nicht überwinden konnte, einen Privatbrief zu öffnen. Es war denn doch die schrecklichste Zeit meines Lebens. Jeden Morgen stand ich mit dem bestimmten Vorsatz auf, die Briefe zu erbrechen; jeden Abend sank ich sterbensmatt, nervös, krank, elend auf mein Bett, heiß mir den Tod erflehend. Es war im Juni und Juli. Ein besonders schöner Sommer beglückte uns. Einzig erquickte mich ein stiller Platz am Rande eines Gehölzes, von wo ich meilenweit in die Umgegend sehen konnte. In der Ferne ging die Bahn vorbei; ich verfolgte sehnsüchtig die Rauchwolken der Lokomotiven. Und eben brauste ein Zug vorüber nach Posen. Hatte ich nicht flüchtig heute Morgen ein an mich gerichtetes Schreiben aus Posen gesehen? Die Adresse war französisch geschrieben. Eine zierliche Mädchenhandschrift. Mein Gott, von Anastasia; natürlich, von Anastasia! Und ich hatte den Brief ebenfalls in den gelben Kasten geworfen.

Stasia!

Ich hatte die kleine Dame neulich mal kennen gelernt in Posen. Und dann? Nun, wie das so vorkommt.

Ganz gleich. Ich stürmte nach Hause.

Ich schloß ungestüm den gelben Kasten auf, und – obenauf ruhte, über einem wüst über- und durcheinanderliegenden Briefhaufen, das zierliche Schreiben. Ich erbrach es sofort.

Die kleine reizende Polin mit den langen schwarzen Flechten stand mir mit einemmal lebhaft vor Augen. Aber nun? Weibergeschichten, Liebesspiel in dieser Zeit?

Ich schrieb ihr hastig wieder, daß ich augenblicklich mit so ganz abscheulichen Widerwärtigkeiten zu kämpfen habe, daß ich auf ein Wiedersehen vorläufig verzichten müsse. Vorläufig! Welches Wort in einem Liebesbrief!

An ein weiteres Öffnen der Briefe im gelben Kasten dachte ich an diesem Abend nicht mehr.

Am andern Morgen erschien plötzlich Stasia bei mir, liebeglühend, schluchzend. Sie wolle mir helfen, mir abnehmen, was sie könne. Worin denn mein Unglück bestehe?

Liebe und Schulden! Unvereinbar. Und doch saß am selben Tag Stasia neben mir, als ich Brief für Brief öffnete. Welcher Wahnsinn, dies nicht gleich bei jedem angekommenen getan zu haben. Bei vielen war jetzt schon die Antwort zu spät.

Stasia saß neben mir, tröstete mich, ermutigte mich, blieb bei mir, empfing die Gläubiger, die oft aus fernen Gegenden kamen, schrieb für mich Antworten, kurz: war mein guter Engel.

Das half mir aber nicht drüber weg. Meine Sache wurde mit jeder Stunde unhaltbarer. Jedes Klingeln an der Haustür erschreckte mich. Ich konnte kein Geld mehr bekommen für die täglichen Ausgaben, und jeden Augenblick war etwas zu bezahlen: die Gerichtskosten, die Steuern, alle jene feinen Betteleien für Vereine, Konzerte, die immer bei mir, als zu den »Spitzen« gehörend, ihren Anfang nahmen. Ach, alle die zahlreichen, ewigen Demütigungen. Der Gerichtsvollzieher besuchte mich oft; mit aller Schonung. Aber es wurde doch bald offenkundig. Nur mit äußerster Mühe gelang es mir, die Pfändung noch hinzuhalten. Zum Überfluß hatte ich noch Wechsel unterschrieben, um mich zu retten.

Es ging nicht mehr. Ich beschloß, ein Ende zu machen. Ich wollte einen letzten Versuch bei meinem alten Freund Paul wagen, der, verheiratet, auf seiner Besitzung am Rhein lebte.

Es war nicht leicht für mich, gewissermaßen mir nichts dir nichts abzureisen. Ich wurde beobachtet. Aber es gelang mir. Ich hatte einen vierzehntägigen Urlaub genommen.

Mein Freund empfing mich kühl. Er sei nun nicht mehr der Verwalter seines Vermögens für sich allein; er habe für seine Frau und für seine Kinder zu sorgen. Ich erhielt nichts außer guten Ermahnungen.

Nun beschloß ich, mir den Tod zu geben. Aber ich wollte auf »anständige Weise« sterben. In Bacharach blieb ich, mietete mir einen Kahn und fuhr in den Rhein hinaus, um in der prächtigen Sommernacht – ein Bad zu nehmen. Schon schwamm ich und schwamm und schwamm; das Boot mit meinen Kleidern war längst meinen Augen entschwunden. Und ich wurde nicht müde; und das wollte ich doch gerade . . . Plötzlich hörte ich nicht weit von mir einen Nachen schnell heranrudern und gleich darauf einen Fall in den Strom, Geplätscher, Hilferufe. Alle Kraft kam wieder in mich: ein Mensch in Gefahr. Ich schwamm auf die Stelle zu, packte einen, der im Untersinken begriffen war, und brachte ihn mit vieler Mühe ans Ufer.

Am andern Morgen saß ich dem von mir Geretteten in seinem Zimmer im Hotel gegenüber und erfuhr eine wunderbare Geschichte: Der etwa fünfzigjährige Engländer, den ich aufs Trockene gebracht hatte, war der dritte Sohn eines Herzogs. Er erzählte mir, daß er mich seit zwei Tagen beobachtet habe; er hätte bald bemerkt, daß ich die Absicht gehabt habe, mir das Leben zu nehmen. Und zur festen Überzeugung wäre ihm das geworden, als ich mich gestern Abend spät in den Kahn setzte; er sei mir nachgefahren, bei einer ungeschickten Bewegung über Bord gefallen, usw. Ich sei sein Lebensretter, er sei mir bis zum Grabe verpflichtet . . . Ob er mir (und er erzählte das so ruhig wie eine gleichgültige Wetterbemerkung) mit Geld aushelfen könne; ich hätte wohl Schulden und hätte deswegen die Erde verlassen wollen . . .

Ich war zuerst sprachlos. Aber er drückte mir so innig die Hand, gab mir so herzlich zu wissen, daß er Überfluß an Geld habe und daß es ihm ein großes Vergnügen machen würde, mir zu helfen, daß ich einschlug. Ich erzählte ihm von meiner jahrelangen Qual.

Am andern Tage hatte ich in Köln, wohin er mit mir gefahren war, die Summe, um meine sämtlichen Schulden bezahlen zu können.

Ich behielt meine dienstliche Stellung in dem kleinen polnischen Städtchen während der nächsten zwei Jahre, in denen mich mein englischer Freund mit namhaften Summen unterstützte. Da – es klingt romanhaft – starb der Engländer und hinterließ mir sein großes Vermögen, so daß ich sofort meinen Abschied nehmen und in eine große Stadt ziehen konnte. Und nun, als ich Geld hatte: wie leicht war es, durchs Leben zu kommen, zu rechnen, einzuteilen.

Nur weniges habe ich noch hinzuzufügen: Von Köln fuhr ich damals nach Posen. Ich wollte Stasia, die mit ihrer verwitweten Mutter zusammenwohnte, heiraten. Dies liebe Geschöpf. Aber als ich ihr Haus erreicht hatte, fand ich sie im offenen Sarge. In ihre dunklen Haare hatte sich ein Kranz von weißen Rosen so sehr verliebt, daß er sich unlösbar in sie verflochten. Stasia war beim Füttern der Schwäne in einem Parkteich von einem dieser tückischen Tiere geschlagen worden. Der linke Arm war gebrochen. Nach drei Tagen trat eine Herzlähmung hinzu, und das junge Mädchen verschied.

Der Engländer, der mir so gütig geholfen, der mir sein Vermögen vermacht hatte, schrieb mir in einem Briefe, der mir nach seinem Tode gesandt worden war, daß er durch Umstände, die er hier nicht wiederzugeben brauche, in Erfahrung gebracht habe, wie tief ich in Schulden gewesen sei. Er habe mich verfolgt, in Bacharach bestimmt gemerkt, daß ich mir das Leben habe nehmen wollen. Er, ein ausgezeichneter Schwimmer, habe sich nur als ein Ertrinkender gestellt, um Gelegenheit zu bekommen, mir durch meine Hilfe zu helfen. Ein wenig Spleen war allweil dabei – aber einerlei, er hatte mich gerettet aus edelster Menschenliebe.

* * *

Damit endete Meyendorffs Bericht. Ich nahm sein Begleitschreiben noch einmal in die Hand und las es. Der Schluß lautete:

». . . daß ich Ihnen, lieber Freund, meinen gelben Eichenkasten vermache, hat darin seinen Grund, daß er mir lieb und wert gewesen ist. Er stand stets vor mir im Zimmer zur Erinnerung und Ermahnung, nichts auf die lange Bank zu schieben, was schnell abgemacht werden kann; und vor allem Briefe so bald wie möglich nach ihrer Ankunft zu öffnen.

Wenn auch meistens durch eigene Schuld meine ersten Geldverlegenheiten entstanden waren, immerhin habe ich sie gebüßt durch die jahrelangen furchtbaren Kämpfe.

Ich erinnere mich deutlich, wie hart Sie damals in Wiesbaden urteilten, ohne zu ahnen, mit welcher übermenschlichen Anstrengung sich gerade jener Hauptmann gewehrt hatte.

Gewiß, leichtsinnig und immer wieder leichtsinnig gemachte Schulden sind ein Verbrechen, wenn keine Aussicht vorhanden ist, sie zu decken. Und dennoch – die ewigen Qualen, die Demütigungen: es sind tausendfältig teuflische Strafen. Jedes Haustürklingelgeräusch ist ein Posaunenstoß aus der Hölle.

Und schließlich: Der immerwährende Schuldengedanke, mit dem man umhergeht, der einen nie verläßt, tötet alles Edle in uns, nichts mehr rührt und berührt uns; wir werden kalt, unbewegt gegen fremdes Leid. Wir sind nur mit der einen Arbeit beschäftigt, die Ketten abzustreifen, die uns schwerer und schwerer zu Boden ziehen mit jedem Tag, bis sie uns endlich ins Grab gezogen haben.«


 << zurück weiter >>