Detlev von Liliencron
Letzte Ernte
Detlev von Liliencron

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Eine Soldatenphantasie

Geschrieben in der Verbannung Kellinghusen 1872.

Ein alter Kriegskamerad war bei mir gewesen; wir hatten bis spät in die Nacht zusammengesessen und uns alte Geschichten erzählt, alte Erinnerungen aufgefrischt. Um zwei Uhr endlich legte ich mich zur Ruhe. Es war eine warme Sommernacht; ich ließ im Nebenzimmer das Fenster offen. Vergebens versuchte ich einzuschlafen; es gelang mir nicht. Erst gegen sieben Uhr morgens verfiel ich in eine Art Halbschlummer –

Ich liege in meiner elenden Laubhütte; um mich herum höre ich die Feuer prasseln. Soldatenlieder tönen: ernste, schwermütige Weisen. Der Gesang wird schwächer und schwächer, wie aus weiter Ferne. Durch die dünnen Laubwände der Hütte hindurch sehe ich die Schatten einzelner Gruppen und Soldaten. Der Gesang hört ganz auf; nur noch ein wirres Gemurmel schlägt an mein Ohr, und ich schlafe ein . . .

Das Bataillon ist auf dem Marsch; ein herrlicher Sommermorgen. Die Leute singen ihre Lieder:

    Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, sum, sum,
Wenn sie auch die erste ist, sum, sum;
Mädchen, mach mir keinen Kummer, sum, sum,
Wenn du auch die schönste bist, sum, sum.
Denn es fällt ja so schwer, auseinander zu gehn,
Wenn die Hoffnung nicht wär auf ein Wieder-Wiedersehn!

Wir marschieren durch einen Wald. Die Musik spielt an der Tete: »Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben?« – wie voll klingt das zwischen den hohen Buchen! – und: »O welche Lust, Soldat zu sein!« Nachher wird es heißen: der Durst plagt uns. Die Sonne steht hoch am Himmel; hin und wieder fällt ein Mann zusammen, es wird unerträglich heiß. Zsssss–bum! – eine Granate fährt zischend über die Köpfe und schlägt hundert Schritt von uns in den – Schnee. Ach ja! wir sind ja im dänischen Kriege. Die Kompagnieen ziehen sich auseinander: »Die siebte Kompagnie soll das Gehöft besetzen und sich darin einnisten!« bringt mir ein Adjutant den Befehl.

»Siebte Kompagnie! In Zügen links marschiert auf. Marsch! Marsch! – Halblinks – Marsch! Flügelmann, gehen Sie direkt auf das große Gebäude zu mit dem hohen Schornstein!«

»Zu Befehl, Herr Hauptmann!«

Zsssss–bum! Zsssss–bum! Zwei Granaten schlagen kurz hintereinander in meine Kompagnie.

»Nicht umsehn! Nicht umsehn!« schrei ich. Dreizehn Krüppel liegen am Boden und färben den Schnee mit ihrem Blut. »Mutter, Mutter, hilf!« Noch einzelne gellende Schreie; ich werfe noch einen Blick zurück. Einer springt wie wahnsinnig wohl fünf Fuß in die Höhe. Der Schützenzug geht stramm und ruhig vorwärts. Da liegt mein Leutnant, der den Zug führte. Auf seinem Herzen nur ein kleiner dunkelblauer klebriger Fleck; keine Miene verzogen. Und in weiter Ferne betet ein junges, süßes Mädchen: »Herr Gott, in deiner ewigen Gnade, erhalt ihn mir!« –

»Zum Teufel, Jungs! Steht fest!« ruft mein kleiner Oberst mit dem riesigen grauen Schnurrbart und dem Gesicht wie faltiges Pergament.

Da sind wir schön in der Falle. denke ich. Ein Generalstabsoffizier kommt in rasender Karriere auf mich zu: »Sie sollen das Wäldchen halten bis auf den letzten Mann, Herr Major!«

»Schön, schön.«

Hei, da kommen die Weißröcke. Wie deutlich hört man den Radetzkymarsch. Regiment auf Regiment! Ich postiere meine Kompagnieen hinter Bäumen an der Lisiere; aufgelöst. Nur eine Kompagnie in Reserve zum Vorstoß in einen Ravin. Näher und näher kommen die feindlichen Regimenter. Näher und näher hört man die Musik. Ich gebe das Signal zum Feuern, und der Todesengel hält mit leichter Mühe seine Ernte in den feindlichen Reihen. Aber sie rücken dennoch vor wie eine weiße Mauer. Immer neue Offiziere springen vor die Front. »Avanti, avanti!« rufen sie den Italienern zu. Jetzt sind sie hundert Schritt vor der Lisiere. Meine Füsiliere feuern wie rasend. Noch einen Augenblick stürzen die österreichischen Linien vorwärts; jetzt stutzen sie. Dann machen sie Kehrt und eilen zurück. Aber von neuem kommen sie. Es ist ein hartes Ringen; auch auf unsrer Seite fällt mancher Brave. Wo – war – das – doch? Bei Nachod? Richtig! Bei Nachod in der Avantgarde. Ein Hoch dem Westfälischen Füsilierregiment! –

Die Pferde erschossen, der Kopf entblößt, die Haare flattern im Winde; von der linken Backe rinnt Blut, die Zunge klebt am Gaumen, die Stimme ist krächzend wie bei einem hundertjährigen Raben. Der Körper bedeckt mit Schweiß und Blut und Schmutz bis zur Unkenntlichkeit. »En avant! en avant!« von allen Seiten. Wie Erbsen fliegen die kleinen Chassepotkugeln. Noch stehe ich in dem Gehöft; noch halte ich die Gartenmauer. Schwarze Teufel mit weißen fletschenden Zähnen, mit verdrehten, blutunterlaufenen Augen ringsum. Das ist die Hölle. Mein Hornist Nolsen ist noch bei mir, mein braver, guter Hornist. Eine Kugel fährt ihm von der linken Seite durch beide Augen. Er ist nicht tot; er stürzt in die Kniee und nimmt meine rechte Hand. Er schreit in wütendem Schmerz. Er hält meine Hand; er preßt sie in seinen letzten Augenblicken wie eine eiserne Klammer. Dann läßt er sie los und fällt zurück. »Hierher, hierher!« schreie ich mit letzter Anstrengung. Ich gewinne mit wenigen Offizieren und Mannschaften das Hauptgebäude: »Hier sterben wir!« Die große Tür wird verrammelt. aber Brandgranaten fliegen ins Dach. Feuer! Feuer! Oben brennt es, die Funken fallen, der Rauch ist zum Ersticken. Die Tür wird aufgebrochen. Ein Einzelkampf entspinnt sich. Ein schwarzer Satan kniet mir auf der Brust. Ich sehe zwei weiße, wahnsinnige Augen, ein kurzes, flammenartiges Dolchmesser . . .

Wo – war – es – doch? Wo war es? Ach, bei Wörth, in heißer Mittagsstunde! –

Der heiterste Sonnenschein erwärmt uns nach vielen Regentagen. Im Hintergrund glitzert die Kathedrale von Metz. Die Regimentsmusik spielt »Die weiße Dame«, das »Ständchen« von Schubert, »Träumereien« von Robert Schumann.

Hermann Busse und ich sitzen auf Trommeln; wir trinken »vin chaud«. Neben uns bratet der Bursche Omelettes aux confitures. Mehl, Wasser, Konfitüren sind da; Feuer und Bratpfanne auch. Wir erzählen uns von seiner Braut; wir sprechen von unsern Hoffnungen und Wünschen, von Vergangenem und Zukünftigem, von Glück und Liebe.

»Herr Major, wenn wir man blots ein bisken Eier hätten«, sagt Friedrich.

»Es wird auch so gehn.« Und es geht: es schmeckt uns vortrefflich. Dann setzen wir uns zu Pferde. Hermann reitet seinen Schimmel, ein Geschenk seiner Braut. Die Kapelle spielt die Mitrailleusenpolka von Waßmann. Der Schimmel spitzt die Ohren, und in den zierlichsten Gangarten kurbettiert Hermann auf dem freien Platze. Und der Schimmel bläht die Nüstern und scharrt mit dem rechten Vorderhuf, und will wieder tanzen und sich zeigen; armes Schimmelchen, es war dein Schwanenlied. Es ist, als wenn er noch einmal sich zeigen will in seiner ganzen graziösen Gestalt. Und abends sitzen wir wieder zusammen bei Monsieur S., ancien gens d'armes en réserve. Wir haben ein nach der Mosel zu gehendes Zimmer. Vor unserm Fenster liegen die Strohhütten und Baracken der Leute. Hermann kocht Gulasch nach dem Rezept seiner Braut; und wir trinken heißen Grogk und stoßen an auf das Wohl der fernen Lieben – auf alles Gute, auf alles Schöne und Edle.

Dann legen wir uns auf die harten Lager. Ich kann nicht gleich schlafen. Der Mond scheint ins Zimmer. Draußen hört man anrufen. Der Posten geht in gleichmäßigem Schritt auf und ab. Aber was ist denn das? In unserm Zimmer trappelt auch etwas. Es kommt auf mein Lager zu. Zwei feurige Augen schauen mich an: es ist Hermanns Pudel Grimmont. Ich tue, als wenn ich schlafe, und Freund Grimmont macht es sich nun bequem auf meinen Füßen, aber leise, leise – behutsam.

Rupigny liegt vor meinen Augen. Mit seinen Feldwachen und nächtlichen Patrouillen, mit »monsieur le maire«, mit seinem alten, kesselförmigen Häuserbau und seinem »château« (mit dem fatalen Turmkommando), mit seinen Gräbern und Schützengräben, mit seinem pestartigen Geruch und den Milliarden Fliegen – mit all der Freud und all dem Leid, das wir dort erlebt haben.

Aber was ist das? Ah, unser Biwak hinter Charly. Es regnet seit drei Tagen und Nächten unaufhörlich mit Bindfaden. Wir sind zusammengeduckt in Hauptmann Ottos Hütte. Hier sind tentes d'abri ausgespannt; aber tropp – tropp – tropp – auch hier gehts los. Das Stroh ist klitschenaß, kein trockener Faden am ganzen Leibe, und doch: O welche Lust, Soldat zu sein! In all dem Regen, in all dem Schmutz hält jemand auf einer hellbraunen Stute vor der Hütte. Von den langen, kastanienbraunen Bartkoteletten tropft das Wasser. Aus den schwarzen, träumerischen Augen leuchtet heute Ärger, doppelter, dreifacher Ärger. Wir reichen dem »Onkel«, Leutnant Appelius, eine Flasche aufs Pferd: »Echter Nordhäuser!« Er setzt ihn an; aber er trank ihn nicht aus, denn Johann, der »Döskopf«, hat die Flasche mit einer Essigflasche verwechselt. Wie leicht ist das möglich in dem Wirrwarr. »Zu all dem Ärger auch das noch!« Sprachs, gab der hellbraunen Stute die Sporen und verschwand, uns mit Kot und Lehm bespritzend –

Wir sind auf dem Marsch zur Verfolgung Faidherbes, auf Cambrai und Arras. Es wird Nacht; noch immer kein Quartier.

Seit sechs Uhr früh reiten wir schon. Ossiansche Nebel begleiten uns bis ins Quartier. Grau in Grau. Ein feiner, scharfer, prickelnder Regen durchdringt uns. Schnee und Schmutz liegt auf den Wegen und Feldern. Es ist acht Uhr abends. Hermann und ich reiten zusammen vor dessen Kompagnie. Er auf dem großen Rappen, im langen Mantel mit verschossenem Pelzkragen.

Es ist alles so stumm in der Kolonne, so totenartig; kein Gespräch will mehr in Gang kommen, die Zigarre schmeckt nicht mehr. Wir können nicht mehr vorwärtsreiten, der Bajonette wegen, die Wege sind zu eng. Ab und zu noch ein Wort. Die Kapotten sind schon längst über die Helme gezogen. Immer eintöniger, immer einsilbiger – es ist eine Gruppe der Unterwelt: nur schwarze, gespenstische Schatten. In weiter Ferne ein matter Ton wie ein Schuß – man hört nicht darauf –

»Nur ein Kamin und ein Bund Stroh!« stöhne ich auf.

Hermann antwortet nicht.

»Nur ein Kamin und ein Bund Stroh!« stöhne ich nochmals, lauter.

Hermann antwortet nicht.

Ein Grausen überfällt mich. Sind wir denn wirklich in der Unterwelt, nur noch Schatten? Meine Angst wächst ins Riesenhafte, bis zum Äußersten.

»Nur – ein – Kamin – und – ein Bund Stroh!« schrei ich mit brüllender Stimme.

»Wa – wa – was ist da?« sagt Hermann, und aus der Kolonne ruft es: »Ho, oho!« Mein alter Brauner ist auch ganz erschrocken.

Gott, wir leben! Und in der Ferne blinkt ein Licht, ein flackerndes, schnell aufleuchtendes; es ist Marees. Noch eine Viertelstunde, und wir liegen am Kamin auf einem Bund Stroh und schlafen den gottgesegneten Schlaf –

Es ist acht Uhr abends. Dunkelheit lagert schon über der Erde. Es wird nicht gesprochen, nicht geraucht: totenstill. Auf der Chaussee kommt jemand angeritten in kurzem, ruhigem Galopp. Er biegt links ab, auf uns zu ins Feld. Man sieht schon die Umrisse seines Pferdes. Er galoppiert an mich heran; ich stehe zunächst. »Wo ist der General von Blankensee?« sagt er leise. »Hier!« ertönt eine Stimme. »Nun, Premierleutnant von Roques, solls endlich losgehn?« – »Zu Befehl, Herr General! Punkt neun Uhr sollen die Regimenter in Kompagniekolonnen, auseinandergezogen, dreißig Schritt Distanz, vorgehen und St. Remy und Ladonchamps nehmen.« Der General ruft die Offiziere zusammen und teilt uns den Befehl mit.

Es ist halb neun. Der kalte Herbstwind streicht über die Felder, und stiller und stiller wirds in den Bataillonen. Die Befehle sind gegeben. Die Kompagnieen stehen auseinandergezogen, mit dreißig Schritt Distanz. Der General hält die Uhr in der Hand. Vor der Front stehn die Offiziere. Sie flüstern; einzelne geben sich die Hand. Zum Abschied!? Ab und zu sehen sie in die Wolken, in den Mond. »Grüß mir meine Braut, du weißt ja ihre Adresse, wenn –« Und fast heiter wird das Geflüster.

Fünf Minuten vor neun. Die Offiziere gehen zu ihren Kompagnieen zurück, an ihre Plätze. Die Leute wissen längst, um was es sich handelt.

Wie manches Gebet steigt zum Höchsten, so kurz, so fast ohne jeden Zusammenhang: aber Gott verstehts.

Die Uhr ist neun!

Ein leises Kommandowort, und die Kompagnieen treten an. Wie große, schwarze Särge gehen sie nebeneinander: gleichmäßig, ruhig. Die Offiziere vorauf. Wie blitzen die Degen im Mondlicht! Hier und da liegen noch unbeerdigte Tote vom gestrigen Gefecht – gräßlich verstümmelt –

In der Nähe vor uns wiehert ein Pferd. Ein langer, langgezogener Ton wird aus einer Trompete gestoßen, ein einziger nur: ein französisches Signal.

»Halt!« Der Befehl kommt höheren Orts. »Halt! – halt! – halt!« tönts wie fernes Echo bei den Kompagnieen. Fünf Minuten Rast; ein Aufatmen noch aus voller Brust. Vor uns liegt eine schwarze Häusermasse, St. Remy, dunkel und unheimlich. Grabesstille. Da – kurz und schnell – das Signal zum Avancieren! Ein Hurraruf aus sechstausend Kehlen ist die Antwort, und vorwärts gehts im Sturmschritt.

Ich umfaßte krampfhaft den Degen, in der Linken den Revolver: »Vorwärts, Musketiere! Hurra! Hurra!« Ein furchtbares Feuer empfängt uns. Die Kompagnieen stürzen. Die Leute fallen, die Fahne sinkt zerschossen zu Boden. Ein Offizier hebt sie auf. »Vorwärts! Vorwärts! Ein Hundsfott, wer zurückbleibt!« Und hinein – hinein in die Hölle. Mit schrillem, rasselndem Klang schnarren die Mitrailleusen. »Vorwärts nur! Immer vorwärts!« Hermanns Schimmel erhält einen Schuß; das Tier macht noch einen rasenden Satz, dann bricht es zusammen. Hermann und ich kämpfen Mann an Mann, Arm an Arm; Hermann voraus. Die Sarazenerklinge funkelt. Wir sind an den Barrikaden, auf den Barrikaden. Jetzt stehe ich oben und will hinunterspringen; eine Kugel fährt mir ins Bein. Ich falle zurück. Neben mir steht der Hauptmann von Roques, eine hohe, edle Gestalt. Ein großer blonder Bart umrahmt das Gesicht.

Will mir die Hand noch reichen –
–   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –
Bleib du im ew'gen Leben,
Mein guter Kamerad! –

Eine Kugel trifft ihn gerade zwischen die Augen. »Meine Frau!« Das ist sein letzter Ruf, und lautlos bricht er zusammen.

»Vorwärts nur! Nur vorwärts!« – In meiner Nähe hält ein Offizier mit ernstem, ruhigem Gesicht. Keine Muskel zuckt. Er gibt seine Befehle wie auf dem Exerzierplatz. Das ist der Oberst von Sell. Die Leute sehen auf ihn; und wütend stürzen sie weiter.

Es ist zwölf Uhr nachts. Die Wagen sind überfüllt mit Verwundeten. Ich humple über das Schlachtfeld zurück ins alte Lager. Rechts führt mich ein leichtverwundeter Tambour, links mein treuer Bursche, durch den Arm geschossen. Wir klettern über Tote und Sterbende: »Wasser, Wasser! Um aller Heiligen willen!« rufts hier und dort. Der Mond schwimmt ruhig am nächtlichen Himmel, die Sterne flimmern in ewiger Schönheit; der Wind hat sich gelegt. Endlich hört das Schlachtfeld auf. Nur einzelne Tote noch. Ein blasses Gesicht fällt mir auf: Ein schlanker junger Unteroffizier meines Regiments liegt hier an einem wilden Rosenbusch. Er muß gleich anfangs gefallen sein. Der Schuß traf ihn mitten durch die Brust. Wer kümmert sich um ihn!? Morgen wird er hineingelegt mit den andern in ein großes, gemeinschaftliches Grab. Es war ein so tüchtiger, braver Kerl. Eine einzelne Rose wiegt sich über ihm; sie küßt die kalten Züge. Ich breche sie ab und lege sie ihm aufs Herz:

Auf ferner, fremder Aue,
Da liegt ein toter Soldat,
Ein ungezählter, vergessner,
Wie brav er gekämpfet auch hat . . .

Wo war es doch? Ach ja, am 7. Oktober vor Metz, bei St. Remy und Ladonchamps –

Die Abendsonne beleuchtet mit ihren letzten Strahlen das Schlachtfeld von St. Quentin. Die Dörfer brennen. Ich komme von einem langen Befehlsritt, übers ganze Schlachtfeld fast, zurück. Von allen Seiten, auf unsrer ganzen Linie nur ein fortwährendes Hurra. Ein fortwährendes Avancierenblasen. Ich halte mein Pferd an, lege ihm die Zügel auf den Hals; die Flanken schlagen, die Nüstern fliegen, die Schweißtropfen laufen ihm unter der Decke, am Bauchgurt, am Halse, an den Beinen hinunter. Zwischen den Hufen liegt ein Blaukittel, ein Franktireur, mit dem Gesicht zur Erde, die Arme ausgebreitet. Die Granaten sausen herüber, hinüber, über mich weg. Wie eine feurige Kugel senkt sich hinter St. Quentin die Sonne ins Meer der Unendlichkeit. Mein todmatter Fuchs streckt seinen Hals weit vor und wiehert in all den Schlachtlärm hinein. Ich stelle mich in die Steigbügel, reiße den Helm vom Kopf, schwenke ihn in die Luft und rufe: »Es lebe der König!« –

Grabmusik. Von allen Seiten klingen Choräle. Man begräbt die Toten – und auch dich, Franz, auch dich. Wo bin ich? Wo ist es doch? Bei Königgrätz am 4. Juli, auf der Höhe von Chlum.

Da liegst du mit deinem bleichen Gesicht, so ruhig, so still und heiter wie im Leben. Aber die lieben blauen Augen sind geschlossen. Wie wenig frohe Tage hattest du im Leben; wie sehntest du dich hinauf zur ewigen Herrlichkeit!

Ich drücke einen Kuß auf die stummen, lächelnden Lippen . . . und schöner strahlt die Sonne. Ich werfe einen Blick nach oben – da kommen sie mir entgegen, meine gefallenen Freunde, meine toten Soldaten, die ich lieb hatte, die ich erzog, mit denen ich Lust und Leid ertrug, so manches Mal. Und ich sehe keine Wunden, kein Blut; nur heitre, liebe, strahlende Gesichter, und –

Vor mir stand mein Bursche: »Der Herr Musikmeister lassen fragen, ob der Herr Oberst erlaubten, daß der Herr Musikmeister fortgehen dürften?« Er überreichte mir das Programm.

Ich rieb mir die Augen – ich hatte geträumt. Auf dem Programm aber stand:

1. Potpourri von Soldatenliedern     von Sachner.
2. Robert le Diable " Meyerbeer.
3. Die weiße Dame " Boieldieu.
4. Ständchen " Schubert.
5. Träumereien " R. Schuman.
6. Marschpotpourri " Waßmann.
7. Gebet nach der Schlacht " Rosen.

Ich sah lange auf den Zettel: »Der Kapellmeister soll noch einmal den Alten Dessauer spielen!«

»Zu Befehl, Herr Oberst.«

Ich warf mich in meinen Schlafrock und lehnte mich aus dem Fenster. Eine frische, kühle Morgenluft wehte mir entgegen. Unten erklangen die Töne des Alten Dessauers, des ewig herrlichen Soldatenliedes. »Mit Gott für König und Vaterland, und ginge es gegen die ganze Welt!« sprach ich laut.

Ich schloß das Fenster, zog mich vollends an und eilte zu meinen Tagespflichten.


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