Detlev von Liliencron
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Detlev von Liliencron

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Das Muttermal

Der dreißigjährige, unverheiratete, wohlhabende Herr Alfred Schlichthausen saß auf seinem Gute in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch und bog sich über seine Rechnungsbücher, in denen er eifrig blätterte. Er schien befriedigt zu sein.

Herr Alfred Schlichthausen las weder Kant noch Schopenhauer noch Nietzsche, las auch nicht Goethe, dessen Gedicht an den Mond er einmal in seinen Knabenjahren zwanzigmal hintereinander hatte abschreiben müssen, weil er es nicht hatte auswendig lernen können. Das war ihm für alle Zeit in Erinnerung geblieben, und deswegen hatte er einen solchen Schauder vor Goethe bekommen, daß er, so lange er lebte, niemals mehr in seine Werke hineingesehen hat. Auch andere Bücher und Zeitschriften las er nicht. Das einzige Blatt, das er hielt und las, war die Sportzeitung.

Aber Herr Alfred Schlichthausen hatte auch manche gute Seiten: Er war nüchtern, klar und wahr, verstand mit seinem Gelde zu rechnen und behandelte seine Knechte und Taglöhner gut; ja, wenn auch nicht oft, er mischte sich in ihre Privatangelegenheiten, aber immer nur dann, wenn er helfend beispringen konnte. Auch trank er selten über den Durst. Sonst ging er ruhig und bedächtig durch den Tag, hielt mit seinen Nachbarn zusammen, wie und wo es ging. In der Liebe hatte er wenig Erfahrungen gemacht. Nur einmal in seinem Leben hatte sein Herz stärkere Schläge gefühlt, und da er das Mädchen, das aus anderem Stande als er selbst war, aufs innigste liebte, so wollte er es auch heiraten: das lag in seinem einfachen, graden Sinn. Diese ganze Begebenheit war, sowohl bei ihrem Beginn wie bei ihrem Ende, in ein romantisches Halbdunkel gehüllt, das aber bei ihrem Ende ganz in Schwarz überging, so daß er nur ein trübes Andenken behalten hatte, das sich allerdings mit den Jahren immer mehr verwischte. Trotzdem konnte er niemals einen Stachel, den ihm diese Zeit ins Herz gedrückt hatte, entfernen: Er hatte Stunden, auch heute noch, in denen er heftig an dieser Wunde litt.

Alfred Schlichthausen saß, in seine Rechnungsbücher vertieft, am Schreibtisch.

Der Diener war eingetreten und meldete: Hans Scherenschleifer ist draußen und bittet, den Herrn sprechen zu dürfen.

Wer? Der alte Hans Scherenschleifer?

Jawohl, Hans Scherenschleifer von der Ölkate.

Aber, was will denn der? Na, laß ihn hereinkommen.

Hans Scherenschleifer trat ein und sah sich ungeschickt um.

Was gibt es, Hans Scherenschleifer?

Alfred Schlichthausen war im Sessel vor seinem Schreibtisch sitzen geblieben; er hatte nur eine kleine Wendung nach dem Eingetretenen gemacht, nachdem er die Feder zur Seite gelegt. Er rauchte ruhig weiter.

Ich soll einen Zettel abgeben an den gnädigen Herrn. Und dabei rieb er ein in seinen ungeheuren Händen auf dem anderhalbstündigen Wege durch Schweiß und Schmutz fast unkenntlich gewordenes Stück Papier hin und her.

Gib her! Alfred Schlichthausen streckte nachlässig die Rechte aus. Hans Scherenschleifer näherte sich und übergab das Briefchen. Darin stand geschrieben: Du kennst diese Handschrift, Alfred. Komm, ich bitte Dich von Herzen. Der Überbringer sagt Dir, wo ich zu finden bin.

Alfred Schlichthausen kannte allerdings diese Handschrift. Er wurde ein wenig blasser. Aber ohne seine Erregung zu zeigen, sagte er freundlich zu Hans Scherenschleifer, während er sich erhob:

Ist denn die Dame zu euch in die Kate gekommen? Wann kam sie an?

Nun wollte sich der alte Kätner in einer langen Auseinandersetzung ausbreiten, aber der Gutsherr schnitt ihm seine umständliche Rede ab und sagte:

Gut. Ich lasse einspannen. Nach zehn Minuten wollen wir abfahren. Setz dich auf den Bock zu Christian. Du fährst mit.

Und nach zehn Minuten fuhr der leichte Jagdwagen in den warmen Novembertag hinein.

Während der Wagen seinen Weg machte, fiel es Schlichthausen schwer auf die Seele, daß er so rasch seine Zusage zum Stelldichein in der Ölkate gegeben hatte. Er hätte doch überlegen müssen. Vielleicht wärs besser gewesen, wenn er gar nicht weggefahren wäre. Aber nun wars einmal geschehen. Also die Sache durchführen! Er ließ den Wagen an einer Waldecke, ein paar Minuten von der Kate Hans Scherenschleifers, halten, stieg aus und ließ sein Gefährt bis zur Kate fahren. Hans Scherenschleifer möge der Dame sagen, sie solle an diese Stelle kommen. Und richtig, nach kurzer Zeit kam ihm eine Dame mit einem etwa sechsjährigen Knaben entgegen. Er erkannte sie sofort wieder, wenn auch fast sieben Jahre vergangen sein mochten. Sein Herz klopfte. Er kam etwas aus der Fassung. Nun, Josefa? fragte er sie, ihr in die Augen sehend. Aber sie antwortete, ohne ihn weiter zu begrüßen: Ich bin erschienen, um dir deinen Sohn zu zeigen. Und dann geschah etwas, was Herrn Alfred Schlichthausen zurückprallen ließ. Frau Josefa riß mit einer leidenschaftlichen Bewegung ihrem Kinde den Halskragen weg und riß ihm das Kittelchen oben auseinander, daß die linke Schulter bloß wurde. Da zeigte sich auf der linken Schulter ein Muttermal, das beinahe wie ein Epaulett aussah und auch die Größe eines solchen (für den Knaben passend) zeigte.

Nun? rief sie wild und empört; siehst du nun, daß es dein Sohn ist! Dasselbe Muttermal hast du auf deiner linken Schulter . . .

Das Kind fing an zu weinen, und sie zog ihm rasch wieder den Kittel zurecht und knöpfte ihm den Kragen an.

Alfred Schlichthausen stand da, wie man zu sagen pflegt, wie vom Donner gerührt. Endlich sammelte er sich und fragte: Wie kommst du hierher? Gerade hierher an die Kate von Hans Scherenschleifer. Wäre es nicht besser gewesen –

Aber sie unterbrach ihn: Was sollte ich dir erst Unannehmlichkeiten machen in deinem Hause. Ich stieg beim vorletzten Haltepunkt aus und ging die kleine Strecke hierher und ließ dich bitten.

Alfred Schlichthausen wollte auf sie und den Knaben zugehen. Aber sie breitete theatralisch die Arme um ihr Kind und sagte ihm mit strengen, harten Worten: Das ist jetzt nicht dein Kind mehr. Als du mich verstoßen hattest, nahm mich, die ich sonst verloren gewesen wäre, eine edle alte Frau auf. Dann heiratete ich meinen jetzigen Mann und lebe mit ihm in glücklichster Ehe. Er nahm deinen und meinen Sohn an Kindesstatt an.

Ehe Alfred Schlichthausen weiter sprechen konnte, waren Mutter und Kind verschwunden. Er fuhr erschüttert nach Hause, trank gegen seine Gewohnheit eine Flasche Rauenthaler leer und verreiste noch denselben Abend nach Hamburg. Hier tobte und wüstete er acht Tage und Nächte hindurch, um sich zu beruhigen. Und scheinbar gelang es ihm. Er nahm auf seinem Gute wieder die alten Arbeiten auf. Und nach einiger Zeit schrieb er, als wenn er einen Trost darin hätte finden können, für sich selbst die Geschichte seiner Liebe nieder. Er las sie dann noch einmal durch und verbrannte sie. Dies Selbstbekenntnis hatte ihm tatsächlich wohlgetan. Denn nach und nach wurde es wieder ruhig und glatt in ihm. Seine kleine Geschichte, die er in der dritten Person gehalten hatte, lautete:

Im August und im September war der Gutsbesitzer Alfred Schlichthausen zu einer zweiundvierzigtägigen Übung als Reserveleutnant beim siebenunddreißigsten Dragonerregiment in Hannover eingezogen. Die Manöver hatten ihren Anfang genommen.

Nach einem heißen Felddiensttage ritt Alfred Schlichthausen mit seiner Schwadron in ein Städtchen ein, das ihr zum Quartier bis zum andern Morgen angewiesen war. Die Offiziere wohnten im ersten Wirtshaus. Vor diesem, es war just Jahrmarkt in dem kleinen Nest, stand eine Wagenburg aufgefahren, um die und in der es von allerlei Menschen wimmelte: Frauen in Unterröcken und mit ungeordneten Haaren wuschen Kochgeschirre aus, hingen Wäsche auf, zankten sich, Kinder in großer Anzahl spielten im Hemde auf dem Platze, schrieen, lachten, übten sich in Purzelbäumen, alte und junge »Künstler« trugen Bretter, gewaltige Eisenstangen, spannten ein großes Zeltdach in der Sonne zum Trocknen aus. Ein grauer, breitschultriger, finster blickender Herr mit unechter Busennadel und vielen Ringen stand in schmutzigen Hemdärmeln auf dem Trittbrett, das zur Tür eines Wagens führte, und dampfte eine lange Milano. Zwei Doggen, ein Bastardneufundländer und ein ewig mit der Zunge hechelnder, lebhafter Spitz tummelten sich in diesem Wirrwarr umher. Heute Abend sollte die erste Vorstellung sein. Zu dieser kamen der Truppe die Offiziere wie gerufen. Das sind doch Pferdekenner und Kenner halbasiatischer Schönheiten, überlegte sich der Direktor.

Als Alfred vor dem Gasthof hielt, warf er seiner Stute die Zügel über den Kopf. Der Bursche hielt den Bügel. Doch ehe er abstieg. nahm er den Helm mit der Linken ab und wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn, die in ihrer Weiße hübsch abstach vom sonnverbrannten Gesicht.

In diesem Augenblick trat aus dem Tor eines Nebengebäudes, in das das Zirkuspersonal hinein- und herausschwirrte wie ein Bienenschwarm am Eingang des Korbes, ein wohl siebzehnjähriges Mädchen in wunderlichem, phantastischem Anzug. Sie mochte einer Probe in der Bahn beigewohnt haben. Was sie vorgestellt hatte, weshalb sie so gekleidet ging, war nicht zu erfahren. Der langaufgeschossene Körper steckte bis an die Stiefel in einer verblichenen dunkelroten Tunika, die unten mit breitem Flittergold verbrämt war, und aus der nur die beiden mageren Ärmchen verschränkt heraussahen. Breites, langes, hellblondes Haar fiel, als sollte es nach dem Bade getrocknet werden, aufgelöst über den Rücken. Zwei schwarze Augen sahen düster vor sich hin, entflammten sich aber wie ein hochaufloderndes Feuer, als sie den schmucken Reiteroffizier trafen. Und nun geschah etwas Absonderliches: das schnell herbeigekommene Mädchen küßte dem eben aus dem Sattel Gesprungenen den Saum seines Waffenrockes. Die Tunika hatte sich dabei verschoben. Mit tiefem Erröten nestelte sie an den Halsschleifen. Die eckigen Schultern gaben dabei kein vorteilhaftes Bild.

Dann stand sie wie eine Säule, das Haupt gesenkt wie eine Dulderin, die den Nackenschlag mit dem Schwert erwartet.

Josefa, Josefa! kreischte aus einem der Wagen, aus einer aufgerissenen Tür, eine helle Frauenstimme. Das Mädchen fuhr erschrocken zusammen und ging mit trotzigen kleinen Schritten der Ruferin zu, um von dieser, einer alten häßlichen Dame, in Empfang genommen, heftig gescholten zu werden. Mei' Gott, mei' Gott, schrie diese alte Hexe; de Josefa verderbt uns noch de ganze Sach'.

Inzwischen war Schlichthausen in seinem Zimmer angekommen. Schon während des Ablegens von Säbel, Kartusche und Schärpe dachte er nicht mehr an das kleine Intermezzo. Er erinnerte sich flüchtig. gehört zu haben, daß in Polen der vornehme Herr oft in der Weise begrüßt werde, wie ihm eben geschehen war. Ein Zigeunermädchen vielleicht, ein hübsches Kind von den Kunstreitern . . . und dann lag er in festem Schlaf, ohne Traum; ja selbst die junge, entzückende Baroneß Anna, die er gestern zu Tisch geführt, in deren Schwalbenaugen er sich verliebt hatte, selbst Baroneß Anna gaukelte nicht an ihm vorüber.

Um fünf Uhr hatten die Offiziere das Diner bestellt. Alfred wurde von seinem Burschen geweckt. Während ihm dieser beim Ankleiden behilflich war, fiel ihm die Szene bei seiner Ankunft wieder ein. Er ließ sich von seinem Burschen erzählen, wie die Kunstreitergesellschaft heiße, daß heute Abend große Galavorstellung sei. In dem auf seinem Tische liegenden Zettel fand er: »Miß Josefa, in ihren großartigen Exerzitien mit vierundzwanzig lebenden Tauben.« Miß Josefa? Hatte nicht eine Stimme aus einem Wagen Josefa gerufen?

Während des Essens herrschte eine heitere Stimmung. Durch das Fenster, vom Tisch aus, war das Treiben der Zirkusgesellschaft zu beobachten. Ja, beim Nachtisch erschienen, freilich ungerufen, einige mehr oder minder junge »Künstlerinnen«, die die ihnen lachend von den Offizieren angebotene Chartreuse teils zimperlich, teils ohne Erröten gern tranken. Josefa zeigte sich nicht unter ihnen. Auch der Direktor trat ein und erlaubte sich, die Herren Rittmeister und Leutenante zu der Vorstellung einzuladen.

Ein spärliches Publikum saß auf den Bänken. Die Offiziere gingen in den Stall und standen am Eingang zur Bahn. Das »Auftreten der vorzüglichsten Künstlerinnen und Künstler« in ihren »unglaublichen« Leistungen war beendet; nur die Taubenkönigin Miß Josefa, für die geschäftige Clowns und armselig gekleidete Stallknechte einen Teppich hingelegt hatten, stand noch aus. Nun erschien auch sie. Nicht wie am Morgen trug sie das lange Faltengewand, sondern zeigte sich in seidenem Trikot. Nicht zu ihrem Vorteil. Bald begann das Spiel. Aber auch hier entwickelte Josefa wenig Grazie. Die zierlichen Vögel gehorchten nicht immer, verflogen sich zum großen Ergötzen der grausamen Zuschauer. Zwei von ihnen blieben sogar hartnäckig auf einer wagrecht gelegten Fahnenstange sitzen.

Unausgesetzt, schon wurde es bemerkt, hatte Josefa die Augen des Leutnants gesucht.

Am Tage seiner beendeten Dienstleistung, als er zum letztenmal die Uniform angezogen hatte, um sich bei seinen Vorgesetzten abzumelden, sagte ihm der Kellner des Hotels, daß eine junge Dame bäte, den Herrn Leutnant sprechen zu dürfen.

Ich lasse bitten. Und gleich darauf stand in ausgesucht einfacher Toilette Josefa vor dem erstaunten Offizier, dessen Verwunderung wuchs, als sich das Mädchen seiner Hände bemächtigte und diese stürmisch küßte.

Fräulein Josefa, Sie hier?

Ich bin weggelaufen, schluchzte die Kunstreiterin, ich hielt es nicht mehr aus. Und ohne seine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: Ach, Herr Leutnant, Sie denken schlecht von mir, ich sehs Ihnen an. Aber ich wollte nicht ärmlich, wie ein Bettelmädchen, vor Ihnen erscheinen. Für das wenige Geld, das ich erspart mit mir trug, kaufte ich mir diesen Anzug.

Der Leutnant lächelte.

Josefa bemerkte es. Ihn scheu von der Seite anblickend, bat sie demütig, sie auf- und mitzunehmen, sie wolle seine Sklavin sein; sie könne nicht mehr von ihm lassen.

Der Leutnant schaute vor sich hin; er sann nach. Plötzlich lachte er gutmütig, lustig. Carpe diem! rief er. Und er küßte das fremdartige Geschöpf vor ihm, daß sie ihm zitternd um den Hals fiel.

Auf sein Gut konnte Alfred das Mädchen nicht mitnehmen. Er bewohnte es zwar allein, aber – die Nachbarn. Wohin also. Es fiel ihm Hamburg ein, die große Stadt, wo kein Mensch nach dem andern fragt. Er hatte dort wenige oder gar keine Bekannte. Von seinem Hofe aus konnte er es in zwei Stunden mit der Bahn erreichen.

Bald fand sich durch die Zeitung eine geeignete Wohnung in einer guten Gegend. Die Witwe eines dänischen Etatsrates vermietete an junge Damen, die durch irgendwelche Verhältnisse gezwungen waren, allein in der Weltstadt leben zu müssen.

Die kleine Etatsrätin Skeel schien eine muntere Dame zu sein, die bald hier, bald dort in den besichtigten Zimmern umhersprang, geradezu gummiballartig. Die Bilder, die Nippes, die Möbel, kurz Alles wurde mit geschäftiger Eile erklärt. Sie konnte nicht genug hervorheben. wie sittsam es in ihrem Hause hergehe. Aber den Verlobten meiner Damen kann ich nicht den Eingang verwehren, erzählte sie wie mit Bedauern und Entrüstung. Hätte Alfred Schlichthausen den kurzen begleitenden Blick auf ihn gesehen, unter den dicken, fleischigen Lidern her, die fast ganz das Auge bedeckten, ihn hätte ein widerwärtiges Gefühl durchschauert. So aber war ihm das schnelle Wort nicht uneben gekommen. Fräulein Josefa war bald eingezogen und schrieb ihm lange Briefe. Von allem und jedem stand darin, oft ohne Komma und Erkennungszeichen. Die Wörter, die hervorgehoben werden sollten, gleichviel ob Hauptwort, Nebenwort, Zeitwort, hatten große Anfangsbuchstaben. Jeder Brief fing mit »Mein Innigstgeliebter Alfred« an. Es fiel ihm zuerst nicht auf, daß seine schöne Geliebte sich aus der Wohnung, aus Hamburg hinaus wünschte. Seit einigen Tagen aber kamen von Josefa Briefe, in denen sie lebhaft zu verstehen gab, daß sie nicht mehr bei der Etatsrätin wohnen möchte und könnte. Der Grund war nicht angegeben. Doch ein Schreiben von ihr, mehr als je erregt, belehrte ihn, daß die Etatsrätin Skeel jungen Herren Gelegenheit gäbe, mit ihren Mieterinnen zu verkehren. Bachanalien seien vorgekommen; die Etatsrätin tränke oft mehr, als ihr bekäme . . .

Unverzüglich schrieb Alfred an Frau Skeel, daß er kündige. An Josefa sandte er ein Telegramm, er werde in drei Tagen zu ihr eilen, um ihr eine andere Wohnung zu besorgen; sie möge die paar Stunden noch aushalten.

Am zweiten Tage öffnete Alfred einen eben eingetroffenen Brief der Etatsrätin, den er, als er ihn gelesen hatte, zitternd vor sich hinlegte. Dann schloß er die Augen mit der Hand.

Der Brief lautete:

Sehr geehrter Herr Schlichthausen!

Sie haben gekündigt, und ich habe deshalb keinen Grund mehr, Ihnen Dinge zu verschweigen, die nur zu offen am Tage liegen, um je wieder einer Undankbaren Ihre Verzeihung zukommen lassen zu können.

Fräulein Josefa, die Ihnen wahrscheinlich geschrieben hat, sie von hier wegzunehmen, hat es nicht nur in der kurzen Zeit verstanden, sich einen Kreis von Verehrern zu bilden, sondern hat zum Überfluß ein intimes Verhältnis wieder angeknüpft mit einem Steuermann, von dem sie selbst offen gesteht, daß er ihre erste Liebe gewesen ist. Dieser junge Seemann, vor einigen Wochen aus China wieder hierher zurückgekehrt, hat ihr seine Zuneigung durch zahlreiche Geschenke aus überseeischen Ländern bezeigt, die zur Stunde noch ihr Zimmer in allen Ecken und auf allen Möbeln zieren.

Wollen Sie Fräulein Josefa noch retten, so dürfte es die höchste Zeit sein.

Mit aller Hochachtung ergebenst

Etatsrätin Skeel.

Erst als sein Diener die Lampe brachte, fuhr Alfred empor. Er sagte zu diesem ruhig: Ich fahre morgen mit dem ersten Zuge nach Hamburg.

Am andern Morgen ging er in Hamburg vom Bahnhof sofort zur Etatsrätin. Er fand die Dame aufgeregter als gewöhnlich. Sie hatte augenscheinlich seinen Besuch erwartet. Wie stets sprang sie wie ein Gummiball vor ihm umher. Hätte er nur den abscheulichen Blick der Frau erkennen können, er hätte sie, trotzdem sie eine Dame und »hilflose Witwe« war, zu Boden geschlagen. Aber er war kein Menschenkenner. Er hatte sich nie im Leben die Gemeinheit an und für sich, die Bosheit als Person denken können.

Bitte, wollen Sie näher treten, Herr Schlichthausen. Fräulein ist ausgegangen. Wir können in meiner Stube das Weitere besprechen.

Und nun wiederholte die Witwe, in abscheuliche Einzelheiten eingehend, was sie ihm geschrieben hatte.

Kommen Sie nun, bitte, in Fräuleins Zimmer. Alfred folgte wie willenlos; und, ah, da standen wirklich »in allen Ecken und auf allen Möbeln« zahlreiche chinesische und japanische kleine Schränke, Nippes, Teebüchsen, Schachbretter, Pagoden. Die Frau hopste wie ein kleiner Teufel umher. Nun, nun, hab ichs nicht gesagt?

Ich danke Ihnen, Frau Etatsrätin, daß Sie mich, wenn auch zuguterletzt, noch aufmerksam gemacht haben. Aber nun lassen Sie mich allein, ich will Fräulein Josefa erwarten.

Sie werden – Sie werden doch nicht, Herr Schlichthausen? Sie müssen mir schwören, meinen Namen nicht zu nennen.

Beruhigen Sie sich, ich werde Sie nicht verraten. Und nun lassen Sie mich ungestört.

Die Etatsrätin ging. Alfred war allein.

Was alles stürmte nun durch seine Seele. Verraten! Gott weiß, wer hier gesessen, mit ihr gelacht, gescherzt, getrunken hatte.

Ein widerwärtiges Gefühl überlief ihn. Und doch, es ist alles erlogen, alles nicht wahr. Schmutziger Neid. Aber die Sachen, die Geschenke . . . Ich will dich nicht mehr sehen . . . Und schon hatte er seinen Hut ergriffen, um auf immer Abschied zu nehmen, als Josefa ins Zimmer trat. Sie war reizender als je. Ihre bleichen Wangen röteten sich, dann fiel sie ihm mit einem Freudenschrei um den Hals: O mein Gott, daß du kommst, Lieber, Liebster. Ich wußte, du würdest, du mußtest kommen.

Alfred wehrte sie unsanft ab. Sie sah ihm klar und fragend ins Auge. Dann setzte sie sich auf einen Stuhl. Alfred trat vor sie hin, und ihr tief ins große, verwunderte Auge blickend, küßte er sie, ihr Haupt zwischen seine Hände nehmend, auf die Stirn.

Dann verließ er wortlos seine schöne Geliebte auf Nimmerwiedersehen.

Nun saß er wieder vor seinem Schreibtisch und schrieb seinen Abschiedsbrief an Josefa. Schon wollte er die Bogen falten, als er die Nachschrift setzte: Schreib mir noch einmal, Josefa.

Es waren zwei qualvolle Tage, ehe die Antwort Josefas kam. Alfred verlebte sie in seinen Wäldern, in tiefer Einsamkeit. Ein Fernblick, eine Abendstimmung mit gelbem blassen Himmel, ein erster mattfunkelnder Stern – alles das gab ihm wohl auf Minuten die Ruhe zurück; aber dann fing es um so heftiger wieder an, in ihm zu toben. Er aß und trank nicht. Endlich kam ihr Brief. Er schloß sich auf seinem Zimmer ein und öffnete ihn.

Josefa schrieb:

Mein Innigstgeliebter Alfred!

Deinen Brief habe ich Empfangen und lange bin ich in einer Ohnmacht gewesen, ja gewesen, ehe ich Ihn noch mal lesen konnte. Aber ich bin zu Stolz, ja zu Stolz, als daß ich dich im Leben wieder Sehe. Du hast Andern Leuten geglaubt und schreibst, daß Du mich von einem Geheimpolizisten hast Beobachten, ja Beobachten lassen, der hätte Dir Alles gesagt.

Wenn Du Andern Leuten glauben Schenkst, nun gut, ich bin ja mit Allem zufrieden, wenn es Dir Gut Dünkt.

Ach, mein Alfred, wie schwer, wie Schwer ist mein Herz. Was Tu ich denn wohl nun auf der Welt, da ich nicht mehr bei Dir sein kann. Noch heute werde ich weg gehn, Wohin, ich weiß es nicht. Ach mein Lieber, ja mein Lieber, wenn ich das Kind Geboren habe, das Dein, ja Dein Kind ist, dann hat es keinen Vater.

Du schreibst mir, daß ich meine Erste Liebe, einen Seemann, wieder gesehn habe, der mir viele Geschenke Gebracht, und der bei mir, ja bei mir gewohnt hat. Ach mein Lieber, Süßer Alfred, ich habe nur Einen Mann Geliebt, Einem nur bin ich Treu gewesen, nur Dir, ja Dir.

Der Seemann, das ist Recht, war bei mir. Wir sind in Einem Hause Geboren und Erzogen bis zum zehnten Jahr in Amsterdam. Dann sah ich Ihn nicht mehr. Nun hat Er meine Wohnung, als Er nach Hamburg kam, gefunden. Und wir haben uns wie Kinder Gefreut und uns erzählt von alten Bekannten. Und Er hat mich gefragt, daß ich Ihn heiraten solle. Nein, habe Ich gesagt, das tue Ich nicht, Dierk, denn ich Liebe einen Mann Treu, und werde Ihm Treu Bleiben. Da ist Er Gegangen und hat mich nur noch Gebeten, die kleinen Geschenke, ja Geschenke als Andenken zu Behalten. Und das habe ich ja gern Getan, weil, damit ich Ihn nicht Kränken tue.

Nun muß ich Abschied nehmen, ja Abschied nehmen, und mein Herz ist mir so schwer. Und soll Dich nicht wiedersehn. Aber Du hast Andern Leuten, die aus Neid die Unwahrheit sagten, mehr Geglaubt als Mir.

Dein Kind soll seines Vaters Namen nie hören, Ich aber will es einsingen, daß Ich Einen so Treuen, Lieben, Einzigen Mann gehabt habe, der Mich Verlassen, ja Verlassen konnte, weil Andre Leute Ihm die Unwahrheit gesagt haben.

Ach, mein Lieber, Süßer Alfred, leb Wohl, es Muß Sein, leb Wohl.

Ich war Dir Immer Treu!

Alfred verließ auf einige Zeit seine nordische Provinz und ließ sich in Italien und im Orient treiben, bis ers müde wurde.

Als er zurückkehrte, war alles vergessen von den lieben Nachbarn, die denn doch manches erfahren hatten. Selbst die boshafte alte Gräfin Swyhn nannte ihn wieder den unsern. »Eine kleine Affäre«, pflegte sie zu sagen; »nun nun, so sind alle Männer. Ich versichere Ihnen . . .«


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