Detlev von Liliencron
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Detlev von Liliencron

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Vor Tagesanbruch

Ich sitze in meinem Arbeitszimmer zur ebenen Erde am Schreibtisch und sehe durch die geöffnete Glastür in meinen Garten. Vor mir liegt ein Gedicht, das mir eben ein Freund »zur unnachsichtigen Einsicht« geschickt hat. Es heißt:

Liebeslied.

        Weltvereinsamt und verlassen,
Liebe Kleine, sitz ich hier.
Alle Menschen muß ich hassen,
Kann mich selber nicht mehr fassen;
    Süßes Mädchen, komm zu mir.

Blütenpracht und grüne Zweige,
Und die ganze Frühlingszier,
Sind mir holde Fingerzeige,
Daß ich sanft zu dir mich neige:
    Süßes Mädchen, komm zu mir.

Tausend zärtliche Gedanken,
Keusche Minne, Liebesgier,
Die sich ewig in mir zanken –
Hab Erbarmen mit dem Kranken:
    Süßes Mädchen, komm zu mir.

Es ähnelt im Kehrreim ein wenig einem bekannten Gedicht von Byron. Ich sehe vom Gedicht weg wieder in den Garten. Ein starker Jasmingeruch dringt herein.

Ich sitze wie im wachen Traum und schließe die Augen und öffne sie wieder: Ich sehe das Bild eines ganz jungen Offiziers, das auf meinem Schreibtisch steht. Es ist ein alter Freund von mir, der vor vielen, vielen Jahren in seiner Blütezeit gestorben ist. Ein schmerzliches Erinnern überfällt mich.

Das Bild zeigt einen kaum zwanzig Jahre zählenden Leutnant. Er trägt die Feldmütze. Seine Linke umfaßt den Knauf seines Säbels, auf den er sich stützt. Die rechte Hand ist, ein wenig theatralisch, in den Waffenrock geschoben. Vor seinen Füßen liegt, den Kopf auf den Vorderpfoten, ein großer, magerer Wolfshund. Die Augen des Leutnants sehen streng und hart in die Welt.

Mein Freund Hubert gehörte nicht zu denen, die, geschniegelt und gebügelt, nur an Weiber, Pferde und Jeu denken. »Weiber, Pferde und Jeu« sind eine Phrase, die wir nur zu oft in Romanen und Novellen hinnehmen müssen.

Die Grundzüge seines Wesens waren ein grader Sinn, dem jede Lüge, jede Übertreibung selbst, ein Greuel blieb, und ein keusches, sittenreines Herz, das sich empörte und aufbäumte bei jeder Gemeinheit. Sein tiefes Wissen und Können vermehrte er mit Heißhunger.

Hubert, der Sohn eines reichen rheinischen Gutsbesitzers, hatte seine Jugend, seine Kindheit einsam auf dem Schlosse seines Vaters verlebt. Die Mutter war früh gestorben.

Der alte Baron, ein leichtsinniger, lebenslustiger Mann, hatte sich einen Harem eingerichtet. Seinen Sohn ließ er mit seinen Wärterinnen und Erziehern im linken Flügel des Herrenhauses wohnen. Das schlechte Beispiel täglich vor Augen, hätte Hubert Gefahr laufen können, in die Fußstapfen des Vaters zu treten, wenn nicht ein junger katholischer Geistlicher, aus Münster empfohlen, seine Erziehung vom zehnten bis zum sechzehnten Jahre geleitet hätte. Dieser Priester hatte Huberts tiefe Religiosität, seinen Abscheu vor der Gemeinheit bestärkt und die Keuschheit seines Herzens beschützt, ihm den Charakter gestählt und ihn bis zu jenen Höhen geführt, von wo aus der junge Baron sicher und fest ins wüste Tal des Lebens hinuntersteigen konnte, um den vielen Gefahren, denen wir Menschen alle ohne Ausnahme ausgesetzt sind, wie ein junger Held zu begegnen.

Hans Hanssen, der Priester, war ein Abtrünniger. Im nüchternen, durch und durch lutherischen Schleswig-Holstein geboren, war er in Tübingen, wo er Theologie studierte, zum Katholizismus übergetreten, zum Entsetzen seiner Freunde und Verwandten. Was ihn bewogen hatte, das protestantische mit dem katholischen Bekenntnis sozusagen zu vertauschen, mag, wie mir Hubert einmal erzählte, außer der Überzeugung vielleicht auch eine unglückliche Liebe gewesen sein, die er wohl nur durch diesen Glaubenswechsel ganz zu überwinden hoffte. Doch kommt es auf die Gründe hier nicht an. Hat doch jeder Mensch mit sich allein abzurechnen.

Hanssens dunkles Haar, sein schmales, bleiches Gesicht, die etwas eingefallenen Augen ließen ihn geheimnisvoll erscheinen; in den blonden Norden seines Heimatländchens paßte er nicht mehr hinein. Unter der äußerlichen Ruhe schlug ihm ein leidenschaftliches, edles Herz.

Einmal, erzählte mir Hubert, wären er und sein Erzieher an einem herrlichen Sommertage durch die väterliche Feldmark gegangen. Er erinnere sich dieses Tages ganz genau: An einer besonders schönen Aussicht auf den hier breit und majestätisch fließenden Rhein hätten sie gestanden und der sinkenden Sonne nachgeschaut. Es sei stumm, abendlich um sie gewesen. Da habe der Priester angefangen, Uhlands »Schloß am Meer« zu sprechen.

Wohl sah ich die Eltern beide,
Ohne der Kronen Licht,
Im schwarzen Trauerkleide;
Die Jungfrau sah ich nicht.

Der Priester habe wie ein Seher das wundervolle Gedicht der Sonne mitgegeben, die in diesem Augenblick mit ihrem letzten Blinken verschwunden sei.

* * *

Hubert hatte sich bald nach dem deutsch-französischen Kriege mit der Tochter eines Kammerherrn der Königin verlobt. Die lebhafte junge Komtesse schien uns, seinen Freunden und Kameraden, nicht recht zu dem ernsten, schweigsamen Offizier zu gehören. Aber sie gingen glücklich nebeneinander her, wie es die Mitwelt wenigstens annahm und annehmen mußte. Freilich, daß doch ein Punkt und gerade der vorhanden sei, worüber die Verlobten nicht miteinander übereinstimmten, wußte damals keiner von uns. Erst später klagte Hubert es mir: Seine Braut glaube nicht an ein Leben nach dem Tode; sie halte unsern letzten Pulsschlag für das Ende in allem. Seine Bekehrungsversuche seien gescheitert, ja seien lachend von ihr abgewiesen worden. Und das schmerze ihn bitter; darüber komme er nicht hinweg.

Unendlich schmerzlich mußte das meinen wahrhaft frommen, wahrhaft gläubigen Freund beunruhigen und verstimmen.

Um diese Zeit geschah es, daß sich die stolze Nanny in Hubert verliebte.

* * *

Die stolze Nanny wurde in der Stadt ein außergewöhnlich schönes und ein außergewöhnlich gut gewachsenes Mädchen genannt. Weshalb gerade die stolze Nanny, ließ sich schwer sagen. Denn »stolz« im Sinne des Wortes konnte sie nicht genannt werden. Eher im Gegenteil.

Die stolze Nanny stammte aus einer angesehenen Familie, in der die sogenannte Gesellschaft gern verkehrt hatte, bis es durch das Gebaren dieses Mädchens unmöglich gemacht worden war. Ihre vielen Liebschaften, die sie ganz öffentlich betrieb, brachten die Eltern zur Verzweiflung: der Vater erschoß sich ihretwegen. Mutter und Geschwister zogen, nachdem sie sich gänzlich von ihr losgesagt hatten, in eine weit entfernte Provinz.

Allein zurückgeblieben, führte sie ein äußerlich reiches Leben. Sie kleidete sich vornehm-einfach, hielt sich eine Zofe und bewohnte ein eigenes Haus mit alter Einrichtung in einer »ersten« Gegend der Stadt.

Sie lud zu sich ein, wen sie wollte. Und nahm es auch nicht übel, wenn man, ohne abzusagen, wegblieb. Mit ihren Geliebten wechselte sie, so oft es ihr gefiel. In ihrer Liebe gab sie sich ganz unverhohlen, wie es Semiramis und Katharina getan haben mochten; wenn auch in schnellerer Aufeinanderfolge.

Den Müttern, Frauen, Bräuten und Mädchen war sie aus erklärlichen Gründen ein Scheusal. Und auch Bürgermeister und Rat hätten sie gern aus ihren Mauern entfernt, weil sie Unglück anstiftete nicht nur bei den Jünglingen, sondern auch bei verheirateten Männern; sie zerriß hie und da eine Ehe. Und endlich, der Kommandeur des in dieser Stadt liegenden Regiments wünschte sie zu allen Teufeln, weil sie den guten Geist seiner Offiziere beeinträchtigte.

Allein, man fand nicht den triftigen Grund, sie auszuweisen. Sie war eine pünktliche Steuerzahlerin. Und lebte überhaupt nicht nur in auskömmlichen, sondern augenscheinlich in reichen Verhältnissen. Niemals auch hatte man von ihr gehört. daß sie einen oder den andern geldlich ausgesogen oder gar zugrunde gerichtet hätte. Sie bewahrte außerdem den äußeren Schein vortrefflich. So fand man, so sehr man auch suchte, keinen ausreichenden Anlaß, sie zu verbannen.

Ich war einmal mit mehreren Kameraden bei ihr zum Mittagessen gewesen. Die Unterhaltung blieb bis ans Ende lebhaft im Gange. Man unterhielt sich von Allem. Und mir fiel auf, wie vorurteilslos sie sprach, selbst über Dinge, die zum mindesten gewagte Gegenstände waren. Zugleich fiel mir auf, daß sie überaus abergläubisch sein mußte, und das stand doch in hartem Widerspruch zu ihrer sonstigen Freiheit. Ja, geradezu ein Grauen überrieselte mich, als sie zum Schluß uns »die Karte legte«. Denn diese Karten – starrten von Schmutz. Sie waren so schmutzig, als hätten zwei Matrosen täglich, über hundert Jahre lang, mit ihnen gespielt. Wegen der scheußlichen Kruste dieser Karten war einzelnes kaum noch klar zu erkennen; zum Beispiel ein Schlüssel, eine Taube, ein Schiff auf bewegter See, eine Krone, ein Herr, eine Dame, ein Blumenstrauß, ein Brief usw. Das Kartenlegen schien ihre Hauptbeschäftigung zu sein.

Dieses schöne, sonderbare Mädchen hatte sich plötzlich in Hubert verliebt. Ein junger Graf, den sie gerade bevorzugte, wurde von ihr wie ein nicht mehr brauchbarer Diener entlassen. Der Graf war außer sich: seine Eitelkeit und Eigenliebe fanden sich aufs höchste gekränkt.

* * *

Ich erinnere mich deutlich des Tages: Wir waren vom Regimentsexerzieren gekommen, mit unsern beschmutzten Uniformen und Gesichtern zum Frühstück gegangen, und hatten uns dann zum Umziehen fürs Kasino in unsre Wohnung begeben. Kaum war ich in der meinigen eingetreten, mein Bursche war damit beschäftigt, mir die schon bereitliegende frische Wäsche zu geben, da wurde heftig an meine Tür geklopft und die Tür ohne mein Herein aufgerissen.

Hubert stand vor mir im Exerzier-Anzug, von oben bis unten bestaubt. Er ging einige Schritt schnell hin und her und bat mich dann, meinen Burschen zu entlassen. Atemlos, nach Worten ringend, sagte er zu mir: »Es ist unerhört . . . du wirst es nicht glauben . . . das verdammte . . . (er, der nie fluchte, nannte ein häßliches Scheltwort) sie wagt es, mir . . . nein, es ist eine Posse, ein schlechter Spaß . . . Hier ist der Brief. Ich bitte dich, lies ihn gleich, jetzt . . .«

»Du erlaubst mir doch, Hubert, erst Kamm und Bürste zu gebrauchen, mir die Hände zu waschen.«

»Nein, nein, nein,« schrie er aufgebracht, »wasch dir nachher die Hände! Dieser Brief darf nicht mit reinen Fingern gehalten werden!«

Ich wurde neugierig: »Bitte, setz dich, Hubert. So, nun laß mich lesen.«

»Geehrter Herr Lieutenant!

Der Schlüssel lag neben dem Turm, dann die Taube und der Blumenstrauß. Dann kam die Krone (es kann kein Zweifel mehr sein). Der Brief bedeutet Geld (ist mir gleichgiltig). Aber unten und zuletzt legte ich den Herrn.

Schon lange wollte ich Ihnen schreiben, daß ich Sie liebe, daß ich Sie sehr, sehr liebe.

Heut Abend 8 Uhr erwarte ich Sie in meiner Wohnung. Sie kommen, ich weiß es, zu mir.

Ihre Nanny.«

»Nun,« rief Hubert, der gespannt meinen Augen gefolgt war, »was sagst du?«

»Ich sage, daß der Brief echt ist; ich kenne ihre Handschrift.«

»Aber ist denn die infame Person verrückt geworden! Willst du mir einen Gefallen tun?«

»Und der wäre?«

»Geh zu ihr und sag ihr, daß ich sie sofort der Behörde anzeigen würde, wenn sie mich noch einmal belästigt.«

»Die Behörde kann in diesem Falle nichts tun, Hubert. Ich rate dir, laß es laufen, das heißt: antworte ihr nicht. Doch, da fällt mir ein . . . warte . . . gut, so werd ichs machen: Ich gehe zu ihr, um ihr die Leviten zu lesen. Du sollst Ruhe vor ihr haben.«

Noch an demselben Abend war ich bei der stolzen Nanny und erzählte ihr, was sie mit ihrem Brief angerichtet habe. Sie war untröstlich. Immer wieder beteuerte sie mir, die Karten hätten ihr prophezeit, mit dem zwanzigsten Jahre werde sie glücklich werden mit einem Leutnant. Gestern sei ihr zwanzigster Geburtstag gewesen. Ihre Karten betrögen sie nie. Ganz entschieden werde Hubert sie glücklich machen. Sie liebe ihn von ganzem Herzen.

»Aber Fräulein Nanny, Sie werden doch unmöglich glauben können, daß mein Freund . . . Sie wissen wie die ganze Stadt, daß er verlobt ist und wie glücklich er lebt . . .«

Die stolze Nanny fing an zu weinen. Das war für mich das Zeichen, mich zu entfernen.

Während ich mich von ihr verabschiedete, sah sie mich stumm an. In ihren Augen lag: Ich liebe Hubert. Er ist verlobt; ich werde ihn seiner Braut abspenstig machen. Er soll, er wird an meinem Herzen ruhen.

* * *

Acht Tage nach diesem Vorfall marschierten wir zum Manöver aus. Hubert und ich standen bei derselben Kompagnie.

Gegen Ende der größten Übungen, als wir eines Tages ins Biwak rückten, wurde unser Hauptmann durch einen Todesfall in seiner Familie in die Garnison gerufen. Für den Beurlaubten führte ich die Kompagnie. Nur Hubert stand außer mir bei ihr.

Als er und ich uns von den Lagerfeuern ins Zelt zurückgezogen hatten, lagen wir bald, in unsre Decken gehüllt, in tiefem, gesundem Schlaf.

Irgend ein Geräusch mußte mich geweckt haben. Durch eine Spalte im Zelt sah ich die verglimmenden Holzklötze, um die, in ihre Mäntel eingewickelt, meine Leute schliefen. Ab und zu klang es aus der Nähe, als wenn sich zwei, die nicht schlafen konnten, leise unterhielten. Ab und an klang es auch wie verhaltenes Lachen, kam ein Klopfen, ein Scharren, ein Wiehern. In weiter Ferne einmal: »Halt! Wer da!«

Ich war im Begriff, wieder einzuschlafen, als ich sah, wie sich Hubert erhob, seinen neben ihm liegenden Säbel nahm und mit diesem die Verschlußleinwand etwas auseinanderzerrte. Er sah traurig in die Sterne, bleich, trostlos, voller Kummer.

»Hubert!« rief ich leise.

Er drehte sich rasch zu mir: »Ich dachte, du schliefest.«

»Hubert, komm, sprich dich aus: Was fehlt dir? Woran trägst du so schwer?«

Der junge Offizier ließ den Säbel fallen; es wurde dunkel im Zelt. Dann hörte ich ihn leise weinen und schluchzen.

Ich sprang auf. »Hubert! Freund! Mensch! Halt ein! Erzähl mir. Wir kennen uns. Ich will dich trösten. Ich kann dir vielleicht helfen. Gib mir dein Herz und was dich quält.«

Und was er mir dann, ruhiger werdend, auseinandersetzte, war ein schweres Geheimnis, war etwas Trostloses und Aussichtsloses. Daß ich zuerst schier verzweifelte, einen Ausweg zu finden.

Hubert hatte sich mit allen Fasern, mit jedem Blutstropfen in die stolze Nanny verliebt. Er hatte ihr seine Liebe erklärt. Sie hatte an seinem Halse gehangen, als wenn sie ihn niemals wieder freigeben werde.

Es dämmerte. Unsre Burschen waren schon beim Waschen und Kaffeemahlen. Einer von beiden riß dumme Witze, die von dem andern tüchtig belacht wurden. Ein junger, pflichteifriger Unteroffizier ließ seine Korporalschaft antreten. Ein ewig fauchender, zischender Sergeant meiner Kompagnie, auf den ich sonst große Stücke hielt, schrie einem, der nicht wach werden konnte, so mordsmäßig in die Ohren, daß ich vom Zelt aus wettern mußte: »Lieber Scognak, nicht so laut, wenn ich bitten darf.«

Ich fand keine Zeit in dieser Stunde des angehenden Lärmens, Hubert meinen Rat zu geben. Ich bat ihn, sich etwas zu gedulden; ich fände sicher Mittel und Wege, ihm helfen zu können. Und ich überlegte: Morgen kämen wir wieder in die Garnison zurück, dann wollte ich ihm meine Vorschläge machen. Ich wußte nicht recht, was ich ihm in dieser Minute und auch den ganzen Tag über, der mich dienstlich durchaus in Anspruch nahm, weiter sagen sollte.

Hubert gab mir seine Hand.

* * *

Als wir am nächsten Tage wieder in unsre Stadt einmarschiert waren, eilte ich sofort in die Wohnung Huberts, um ihm meine Pläne, die ich mir inzwischen zurechtgelegt hatte, zu geben. Ich hatte außerdem Hubert schon unterwegs dahin verständigt, daß ich ihn gleich nach unsrer Ankunft aufsuchen würde. Aber mein Freund war unmittelbar nach dem Einmarsch mit vierzehntägigem Urlaub, den er sich schon auf dem Rückweg in die Garnison vom Obersten erbeten hatte, abgereist.

Es überkamen mich schlimme Ahnungen. Und nach drei Tagen kannte jeder schon den traurigen Ausgang seines jungen Lebens.

Wie sich diese Tragödie abgespielt hat, kann ich nur erzählen nach dem, was davon bekannt geworden ist, und wie es mir meine Phantasie eingegeben hat.

Hubert gehörte zu denen, die, nach dem herrlichen Bibelwort, selig sind, weil sie reines Herzens sind.

Furchtbar müssen seine inneren Kämpfe gewesen sein: Die sittenstrenge Seele meines Freundes, die Treue, die er seiner Braut geschworen, der Ekel, der Widerwille, den ihm von jeher jeder unlautre Liebesgedanke einflößte, die rückhaltlose Verdammung jedes losen Verhältnisses, die Ehre schließlich, die nach seiner Meinung verloren ging, wenn er auch nur ein leichtfertiges Wort mit einem Mädchen gewechselt hätte, das schon andern gehört hatte – alles das mußte er nun über den Haufen werfen und geworfen haben, als er sich mit der stolzen Nanny einließ. Aber er liebte sie . . .

In Wittenberg stieg, wie verabredet, die stolze Nanny zu ihm in den Zug. In Hamburg nahmen sie Zimmer in der »Stadt Stockholm«. »Baron Salzdalem und Baronin Salzdalem aus Berlin« stand in der Fremdenliste.

Am Tage schrieb Hubert Briefe, zum Ärger der stolzen Nanny. Oder er sah sich, mechanisch, die Bilder an den Wänden an. Nur eines davon schien er länger ins Auge zu fassen: Nach Art der berühmten Totenreigen tanzt ein Narr im Schellengewand mit Schnallenschuhen nach dem Geschmack des fünfzehnten Jahrhunderts vor einer Reihe einzeln aufeinanderfolgender Menschen. Er tanzt auf ein großes, leeres Grab zu, auf das er mit einem Szepter weist. Ihm folgt der König, der Bischof, der Edelmann und so fort, wie wir es aus den bekannten Bildern kennen. Aber ganz zuletzt steht ein dicker, wohlgenährter Mann im Bürgerwams des sechzehnten Jahrhunderts. Er will nicht mitspringen. Aus der rechten Hand zählt er Geld in die linke. Hubert konnte sich das nicht erklären: Warum tanzt dieser behäbige, äußerst selbstzufriedene Spießbürger nicht mit den andern auf das offenstehende Grab zu? Ins Grab muß er doch auch, wie alle andern . . .

Baron und Baronin Salzdalem aus Berlin ließen sich das Essen aufs Zimmer bringen. Abends fuhren sie, zur höchsten Freude der Nanny, in ein Operettentheater. Es wurde Offenbachs »Schöne Helena« gespielt. Hubert, dem überhaupt jeder Sinn für Humor fehlte, haßte Offenbach; er konnte sich nicht in die Lustigkeit dieser in ihrer Art klassischen Musik hineinfinden. Nanny unterhielt sich köstlich. Er saß blaß, traurig im Hintergrund seiner Loge und sprach kein Wort.

Nach dem Theater, als sie auf ihrem Zimmer in der »Stadt Stockholm« zu Abend gegessen hatten, kam es zu einem heftigen Auftritt zwischen ihnen:

Nanny hatte ihren geliebten Hubert stürmisch umhalst. Und wohl zum erstenmal in ihrem Leben hatte ihr Herz in wirklicher Liebe geschlagen, in wirklicher, alles überwältigender, alle Hindernisse niederreißender Liebe. Und sie mochte sich Gedanken überlassen: Hubert für immer an ihr Herz und in ihr Herz zu ziehen, mit ihm durchs Leben zu gehen, nur ihm, nur ihm von nun an die Treue zu wahren.

Aber ein Anfall von rasender Eifersucht auf die früher Bevorzugten seiner schönen Begleiterin riß Hubert, riß ihn zu wilden Ungerechtigkeiten hin. Er peinigte und quälte sie so mit Vorwürfen, daß das arme, schwer geängstigte Mädchen zuletzt in Ohnmacht fiel. Hubert trug sie mit starken Armen aufs Bett. Nanny erwachte, schlief aber gleich fest ein nach den Anstrengungen des Tages, nach den letzten schrecklichen Vorkommnissen, nach den vielen Tränen.

Es war gegen fünf Uhr morgens, als sich Hubert vom Sofa, wo er in dumpfem Sinnen gesessen hatte, erhob und auf den Zehen zu seinem geöffneten Koffer schlich. Er nahm einen geladenen Revolver heraus und ging mit ihm ans Fenster. Hier prüfte er jede einzelne Patrone.

Es war in der Morgendämmerung. Verschlafene Schutzmänner standen an den Ecken, ein Dienstmädchen, das einem Schlächtergesellen begegnete und sich mit diesem, stehenbleibend, in ein langes Gespräch einließ; ein alter Mann mit vorgebundenem Schurzfell schlurrte auf Pantoffeln vorbei. Letzte Nachzügler aus lustigen Kneipen segelten schwerfällig übers Pflaster, Bäckerjungen pfiffen ein Liedel, eine Nachtdroschke rumpelte im schläfrigsten Knickebeintrab vorüber: der Insasse bückte den nickenden Kopf nach vorn. Krähen flogen, immer einzeln, aber in steter Reihenfolge, gegen Sonnenaufgang zu; die Flammen der Straßenlaternen wurden abgedreht, Fabrikarbeiter mit Blechkannen eilten ihres Weges. Kleine, rosige Wolken im Osten, wie süße, unschuldige Liebesgötter, zeigten sich . . .

An Hubert zog das alles vorüber wie ein Schattenzug. Er sah alles und sah nichts.

Es wurde heller.

Langsam ging er ans Bett, auf dem Nanny, fest schlafend, ausgestreckt lag. Sein Gesicht war leichenblaß, wie aus Stein gehauen. Sein Arm hob sich, er zitterte nicht. Er hielt die Waffe an die rechte Schläfe des ruhig atmenden Mädchens. Ein Schuß . . . Totenstille.

Dann ging er rasch, die Augen starr, unbeweglich, zum Sofa. Er setzte sich hinein und lehnte den Kopf zurück in die rechte Ecke. Ein zweiter Schuß . . . Totenstille.

Über die Dächer blitzten die ersten Sonnenstrahlen. Rastlos entwickelte sich das Straßenleben. Der erste Peitschenknall des Tages klang aus der Ferne.


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