Heinrich Lhotzky
Das Buch der Ehe
Heinrich Lhotzky

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Ohne Ehe.

Ehelosigkeit des Mannes.

Wer eine Ehe nicht eingehen kann, hat die heilige Pflicht, auch wirklich keine Ehe zu schließen.

Man trifft hier und da Ehen, die einfach nicht hätten geschlossen werden dürfen. Leider müssen sich die eheschließenden staatlichen und kirchlichen Behörden zufrieden geben, wenn alle Papiere in Ordnung sind, haben aber kaum die Möglichkeit, auch die Lebensbedingungen selbst zu prüfen.

Um so ernster sollten die beiden jungen Leute, besonders der Mann, aber auch die Eltern der Frau, diese Umstände untersuchen.

Was unbedingt verlangt werden muß, ist die rechnerische vernünftige Überlegung, daß die Ehe ein gesicherter Ort für ein kommendes Geschlecht sein kann.

Damit ist nicht gesagt, daß zur Sicherstellung der Ehe ein Vermögen da sein müsse. Geld vermag nicht, den Menschen sicherzustellen. Die meisten Ehen werden hoffentlich ohne Vermögen geschlossen, und es wäre töricht und naturwidrig, erst heiraten zu wollen, wenn man ein Vermögen erworben hat. Aber Arbeitsfähigkeit und Arbeitsmöglichkeit muß vorhanden sein. Sie sind wertvoller als jegliches Vermögen. Sie muß dem Manne eignen, damit das Weib möglichst ungeteilt Mutterpflichten erfüllen kann.

Die Ehe ist die Erfüllung einer heiligen natürlichen Pflicht gegen werdende Menschen. Eine Ehe, die die Beteiligten nur in triebmäßigem Eigenbegehren schließen, steht jedenfalls sehr tief, auch wenn alle Papiere in Ordnung sind.

Und die Natur straft solche Verfehlungen unnachsichtlich. Welch größere Qual kann es für einen Mann geben, als Weib und Kinder darben zu sehen? Das ist in unverschuldeten Fällen kaum möglich, im Schuldfalle unerträglich.

Das Leben ist eine überaus ernste Aufgabe, der sich kein Gedankenloser ungestraft unterzieht. Am ernstesten werden die Überlegungen, wenn es sich um die Ehefrage handelt, weil an ihr das Wohl und Wehe mehrerer Menschen hängt, nicht nur das kleine Sonderwohl.

Es kann Pflicht sein, die man nicht ungestraft versäumt, eine Ehe nicht zu schließen. Es kann aber auch ebenso Pflicht werden, eine Ehe einzugehen. Wir fühlen, daß hier höhere Bedingungen walten, die wir schlechthin nicht übersehen, und nennen die Summe dieses Unbegreiflichen und Unerklärlichen Natur.

Die Natur handelt mit uns, nicht wir mit ihr. Sie verlangt, daß wir ihre Forderungen vernehmen und erfüllen und straft uns, wenn wir sie verweigern. Wer Glück will, und jeder will es, kann es nur erlangen im Einklang mit ihrem hohen Gesetz. Auch hier schützt weder Unkenntnis vor Strafe, noch gilt Versehen als mildernder Umstand. Das erfahren alle, die aus irgendwelchen Überlegungen eine mögliche Eheschließung unterlassen. Es gibt Männer, die aus inneren Gründen nicht heiraten, weil die Verbindung mit der Einzigen nicht zustande kam. Die Natur straft sie mit schwerer Vereinsamung, denn sie erkennt die Einzigkeit eines Weibes nicht an. Gäbe es wirklich für den Mann die Einzige, so müßte man auf Grund tausendfältiger Beobachtung sagen, daß sie im allgemeinen überhaupt nicht gefunden wird. Ist es wohl denkbar, daß die Natur nur Eine Verbindungsmöglichkeit wüßte und gerade diese verloren gehen ließe! Sollte das Wunder der unbegrenzten Möglichkeiten und des verschwenderischen Reichtums gerade dem Menschen seinen Reichtum vorenthalten?

Das ist Kurzsichtigkeit und strafbare Enge. Nur Ausnahmemenschen dürfen um höherer Pflichten willen die Ehe vernachlässigen. Sie sind selten, und ihnen darf niemand raten, weil sie höher stehen, als unsere Beratungsfähigkeit. Die weitaus meisten ehelosen Männer heiraten nicht aus Bequemlichkeit oder Feigheit. Die Genußsucht schafft viele taube Blüten der Menschheit. Sie fallen ab und vergehen. Der Wind verweht sie.

Ich habe zu lange in einem Lande gelebt, das Ehelosigkeit einfach nicht kannte, weder für Mann noch Weib, außer als Zeichen geistiger und körperlicher Minderwertigkeit, um nicht den Ernst der in unserem Vaterlande gelegentlich vorhandenen Übelstände klar zu erkennen.

Die Frage der Ehelosigkeit bei Männern gehört auch weder in die Witzblätter, noch in die überflüssigen Reden öffentlicher Persönlichkeiten, sondern ist eine der ernstesten Gewissens- und Lebensfragen, die jeder vor sich streng und ernst erwägen sollte, den es angeht. Ein Volk, in dem die Junggesellen und die verspäteten Heiraten überhand nehmen, wird nicht lange gesund bleiben. Solche Dinge sind immer das unverkennbare Zeichen ungesunder Zustände, zu deren Besserung jeder Volks- und Menschenfreund die Hand bieten sollte. Die heute geübte Ehelosigkeit von Männern sollte als ehrenrührig im öffentlichen Bewußtsein gebrandmarkt sein, besonders, wenn sie mit Zuchtlosigkeit gepaart ist. Sie ist auch eine Schädigung des Vaterlandes, die in den ernsten großen Zeiten, deren es gewürdigt worden ist, vor dem Gewissen des Einzelnen und dem Urteil der Gesamtheit nicht bestehen kann.

Es wird weder der Einzelne noch die Gesamtheit auf die Dauer dabei ungestraft bleiben, denn jede Vernachlässigung einer natürlichen Pflicht trägt ihre Strafe in sich selbst.

Ehelosigkeit des Weibes.

Die Ursachen der Ehelosigkeit sind bei den Geschlechtern grundverschieden. In der Regel liegt es so: Der Mann hat nicht gewollt, das Weib ist nicht gewählt worden. Jedes natürlich empfindende Weib verlangt nach dem Manne, aber ihrer viele werden nicht gewählt.

Folglich sind auch die Wirkungen verschiedene. Das Weib blieb ohne seine Schuld allein, demnach bleibt sein Leben nicht so nutzlos, wie das des Mannes. Es waltet überall eine ewige Gerechtigkeit, wenn auch viele sie nicht sehen können.

Jedenfalls ist die Zahl der wertvollen Frauen, die ehelos bleiben mußten, weit größer als die Zahl der Männer. Für den Mann ist die freiwillige Ehelosigkeit nur berechtigt, wenn er, den Durchschnitt weit überragend, seine Dienste der Menschheit wertvoll machen kann. Die Frau vermag auch ohne Ehe in den weitaus meisten Fällen sehr Nützliches zu leisten.

Ehelosen Frauen verdankt die Familie, die Gesellschaft, die Menschheit, sehr wesentliche Güter. Unendlich viel selbstlose Hilfe in der Krankenpflege, Kinderzucht, allgemeinen gesellschaftlichen Mißständen, geht gerade von der Frau aus, die mit mütterlichem Scharfblick die Not sah und empfand und ihre Hilfsbereitschaft für die Allgemeinheit einsetzte, wo ihr die treue Arbeit am eigenen Herde versagt blieb. Dazu kommt noch, daß weitaus die meiste Arbeit solcher Frauen ohne Lärmen in der Öffentlichkeit, oft in unscheinbarster Verborgenheit, geleistet wurde und wird.

Tatsächlich steht es so, daß ohne weibliche Hilfskräfte das Leben noch ungleich schwerer wäre, als es ist. In unseren deutschen Kolonien in Rußland gab es keine verschmähten Frauen, denn jedes Mädchen wurde früher oder später geheiratet. Da sah man erst, wie wertvoll die Hilfskraft unverheirateter Frauen ist. Die Führung eines Haushaltes war unsagbar schwer, weil es überall an weiblichen Kräften fehlte.

Es kommt bei der weiblichen Ehelosigkeit noch eines in Betracht. Das Weib empfindet geschlechtlich jedenfalls zarter als der Mann. Die Auswahl seiner möglichen Verbindungen ist folglich weit geringer als bei dem Manne, die innere Unmöglichkeit, eine Ehe einzugehen, größer. Die ehelosen Frauen sind keineswegs alle verschmäht oder nicht beachtet worden, sondern viele konnten sich einfach zu den gebotenen Möglichkeiten nicht entschließen. Sie folgten darin einem sehr feinen Empfinden und gehorchten auch einer Stimme der Natur.

Die Natur will keineswegs nur das Geschlecht erhalten. Sie will es auch veredeln. Gerade diesem Streben dient das weibliche Empfinden. Folglich gebietet ihr oft die Stimme der Natur, mögliche Verbindungen nicht einzugehen.

In solchen Fällen sollte die Frau, auch wenn sie umworben ist, freiwillig ehelos bleiben, bis sie wirklich mit ganzer Seele zustimmen kann. Unter Umständen kann sie's nie. Gehorcht sie diesem Triebe nicht, so wäre ihr unter allen Umständen eine sehr schwere Ehe vorauszusagen, deren Last sich obendrein noch durch verkümmerten Nachwuchs erschweren könnte.

Es ist ganz verkehrt und unbeschreiblich roh, ein Mädchen zwingen zu wollen, eine Verbindung einzugehen, gegen die sich feine Natur sträubt, auch wenn sie anscheinend noch so günstig und metallisch gleißend ist. Würden wir mehr auf die Stimme der Natur achten, bliebe uns unsagbar viel Not und Elend erspart. Jede Familie, jedes Volk, die ganze Menschheit sollte dafür sorgen, daß erzwungene Verbindungen als Verbrechen gebrandmarkt werden.

In jedem Falle ist's für die Frau viel leichter, ganz ehelos zu bleiben, als ohne innere Freudigkeit einem Manne geopfert zu werden. Und der Nutzen, den ihr Leben bringen kann, ist sehr wertvoll. Gerade mit der Hilfe, die eine Frau leisten kann, wenn sie ihrem natürlichen Empfinden ungehemmt zu folgen vermag, ist das gegeben, was die Natur will, die Veredelung des Geschlechts. Eine Frau kann Dinge leisten, die auch dem besten Manne versagt bleiben. Sie muß nur frei ihrer edelsten Natur folgen können, sich mit vollem Herzen als freier Mensch gewähren oder versagen. In diesem Falle gewährt ihr auch ein eheloses Leben hohe Befriedigung. In wessen Leben hätten nicht Frauen, deren Freundschaft außer der Sinnlichkeit stand, veredelnden und fördernden Einfluß gehabt! Wer das nicht erlebt hat, dem ist ein hohes Lebensgut versagt geblieben.

Jedenfalls ist's hohe Zeit, daß mit der törichten Vorstellung gebrochen wird, als seien ehelose Frauen durchaus verschmäht und folglich verbittert.

Es gibt freilich nicht wenig verschmähte Frauen, die durchaus die Ehe als dringendstes Lebensbedürfnis empfinden. Es ist kein Wunder, wenn ihrer viele verbittert und schwierig werden, weil ihnen gerade der Hauptinhalt des Lebens versagt blieb, und weil es eine öffentliche Meinung gibt, die ihnen unter dem Vorgeben der Sittlichkeit mit unglaublicher Rohheit und Fühllosigkeit begegnet, indem sie jede außereheliche Verbindung als unsittlich brandmarkt.

Ich hoffe, es wird einmal als wahre Sittlichkeit gelten, in jedem Menschen den Menschen zu ehren, und ihn nicht nach Buchstaben und Anschein wegzuschätzen, sondern sich die Mühe zu geben, seinen wahren Wert aufzusuchen.

Frauen, die der Ehe bedürfen, haben's sehr schwer, wenn sie ihnen versagt bleibt. Aber auch hier gilt, daß kein Ding und kein Entbehren in sich selbst ein Glück oder ein Unglück ist. Es hängt alles nur ab von unserer Haltung. Auch zum Unglück kann etwas nur werden, wenn wir's ihm gestatten. Nehmen wir's aber mutig her und probieren unsere Kräfte daran, so kann jedes Schwere umgewandelt werden in goldenes Glück.

Es hat auch viele ehelose Frauen gegeben und gibt es noch, die gerade in der Ehelosigkeit die ganze Schönheit ihres Wesens offenbaren. Äußere Schönheit verwelkt, diese ist unverwelklich. Ich habe nicht wenig ehelose Frauen kennen gelernt, von denen Sonnenschein über ihre ganze Umgebung strahlte. Aber freilich, es waren Menschen, die sehr ernst arbeiteten, und deren Leben viel Schweres aufwies.

Glück und Unglück schaffen die Menschen, nicht die Verhältnisse, und wer einsam ist, der suche eine ernste Arbeit unter den Menschen. Dadurch wird bald die Einsamkeit ihre Herbheit verlieren. Wer von der Ehe ausgeschlossen ist, ist's noch lange nicht vom Glück des Lebens. Nur wer die Arbeit meidet, der ist's und bleibt's auch.

Die Ehescheidung.

Man soll Ehen nicht scheiden. Gewiß nicht. Man wird aber nicht verhindern können, daß sie gelegentlich zerbrechen. Darf man sie dann scheiden?

Auf diese Frage darf der Freund des Menschen keine andere Antwort haben als ein klares, unbedingtes Ja.

Wir leben heute noch in Zuständen, die in ihrer unnötigen Erschwerung von Ehescheidungen einfach unerträglich sind. Diese Zustände sind behördlich, gesetzlich verfestigt und wehe den Unglücklichen, die oft mit geringer Kenntnis paragraphenmäßiger Aktenweisheit sich aus den Netzen der Kleinlichkeitskrämer zu befreien suchen müssen.

Augenblicklich sind Menschen, die in unerträglicher Ehe leben, ganz auf sich allein angewiesen, diese Ketten zu zerreißen. Es wäre die Pflicht aller vernünftig denkenden Menschen, sonderlich der Volksvertretungen, unser gesamtes Eherecht einer so weitgehenden Durchsicht zu unterwerfen, daß Ehen schließenden Menschen auch auf ehrliche, menschenwürdige Weise ein Ausweg geöffnet wird.

Ist die Ehe ein Boden der Wahrheit, so muß die Wahrhaftigkeit auch zu ihrem Rechte kommen, wo Ehen gelöst werden müssen.

Haben Mann und Weib das Recht, eine gesetzlich gültige Ehe zu schließen, so müssen sie auch das Recht haben, sie vor den Augen des Gesetzes zu lösen.

Die Gesetzgebung hat dann die Pflicht, Vorkehrungen zu treffen, daß im Bereiche der beiden Beteiligten und ihrer Kinder rechtlich alle Folgen geregelt werden. Aber eine Ehescheidung mit allen Kniffen rechtsprecherischer Schwerfälligkeit zu hindern, hat sie nicht das Recht.

Es ist verwunderlich, daß diese Erkenntnis dem zwanzigsten Jahrhundert noch immer nicht aufgehen zu wollen scheint. Ist es überhaupt menschlich vernünftig, das, was einmal nicht zusammenhält, künstlich zusammenzuschweißen? Es mag das bei Dingen oft von glänzendem Erfolge begleitet sein, bei Menschen ist's roh, ist's unmöglich.

Der tief eingesessene Irrtum in der Haltung der Gesetzgebung Ehescheidungen gegenüber, kann nur verstanden werden, wenn man ihn einmal geschichtlich rückwärts nach seinem Ursprunge zu verfolgt.

Da fällt zunächst auf, daß er offenbar religiöse Ursachen hat, und damit wäre sowohl seine Langlebigkeit als auch seine Unnachgiebigkeit genügend verständlich.

Es ist besonders eine Gesetzgebung christlicher Beeinflussung, die die Ehescheidung so schwierig gestaltet hat. Das Judentum hat eine leicht lösliche Ehe. Es verlangt nur beiderseitige Einwilligung zur Scheidung und löst sie dann ohne Weitläufigkeiten, nur darauf bedacht, daß die Verhältnisse aller Beteiligten vernünftig und gerecht geregelt werden.

Dagegen gibt's christliche Religionsgebilde, in denen die Ehe überhaupt für unlöslich gilt. Dahin gehört z. B. das griechische und russische Christentum, für fast unmöglich sieht das römische Christentum die Ehescheidung an. Merkwürdigerweise sind das alles solche, die sich zugleich einer Eheverachtung schuldig machen und lehren, der ehelose Zustand sei vor Gott wohlgefälliger.

Verfolgt man nun die Gesetzgebung der Staaten, so sieht man, daß sie überaus stark gerade von diesen Christentümern, die die Ehe offenbar nicht richtig zu würdigen verstehen, beeinflußt worden sind.

Dabei ist auffallend, daß sich alle in ihrer Haltung gemeinsam auf keinen geringeren berufen, als auf Jesus. Das ist an sich verwunderlich. Wir kennen Jesus als den großen Menschenfreund, der die Menschen von jeglicher Hölle erlösen wollte. Sollte an der ehelichen Hölle seine Macht scheitern? Etwa, weil er selbst ehelos war und die Ehe aus eigenem Erleben nicht kannte? Dann dürfte aber der Schluß sehr naheliegen, daß jemand, der in Ehesachen nicht helfen und raten kann, in anderen Fragen auch versagen müßte.

Wir müssen durchaus einen Augenblick bei dieser Frage verweilen, denn sie hat tief in unsere Entwicklung eingegriffen und ist's noch heute, die zahllose Menschenleben zur Hölle umgestaltet.

Oder sollte am Ende Jesus jahrhundertelang mißverstanden worden sein? Ich weiß genau, daß das in erdrückendem Umfange geschehen ist. Besonders schmerzlich und wehtuend ist's in dieser Frage geschehen. Ihre Behandlung möge hier breiteren Raum finden.

*

Die Worte Jesu lauten: Es ist gesagt: Wer sich von seinem Weibe scheidet, der soll ihr einen Scheidebrief geben. Ich aber sage euch: Wer sich von seinem Weibe scheidet – es sei denn um Ehebruch – der macht, daß sie die Ehe bricht, und wer eine Abgeschiedene freiet, der bricht die Ehe.

Dieses Wort wird verständlich gemacht durch ein zweites, das überhaupt das treuere sein dürfte: Wer sich scheidet von seinem Weibe und freiet eine andere, der bricht die Ehe; und wer die Abgeschiedene freiet, der bricht auch die Ehe.

Aus diesen Worten zog das Christentum folgenden wundersamen Schluß: Ehescheidung ist gleichwertig mit Ehebruch, Ehebruch ist aber verboten. Folglich ist auch die Ehescheidung gesetzlich zu verbieten.

Eine Ausnahme war vorgesehen: der Ehebruch eines Teiles. Also der weitere Schluß: Ehebruch des einen Teiles ist berechtigte Ursache der Ehescheidung. Der unschuldige Teil darf sich aufs neue verehelichen, der schuldige aber nicht. Denn wer den schuldigen Teil heiratet, begeht bekanntlich auch einen Ehebruch.

Natürlich konnte sich mit diesem allgemeinen Satz die Gesetzgebung nicht zufrieden geben. Sie mußte klar aussprechen, was Ehebruch heißt. Jesus gab glücklicherweise darüber keinen Aufschluß, also tat es das Gesetz und erklärte: Ehebruch ist die außereheliche Geschlechtsverbindung.

Dieser Ehebruch muß aber gesetzlich nachgewiesen werden, um ein klar geformter Ehescheidungsgrund zu sein. Und nun erfanden die theologischen und juristischen Gesetzgeber die tolle Forderung, daß ein Ehebruch nicht durch das Geständnis der Beteiligten, sondern nur durch dritte Menschen als Zeugen erhärtet werden könne. Also schied für das wirkliche Leben dieser Ehescheidungsgrund fast völlig aus, und das Auseinandergehen wurde ungemein erschwert.

Für die Wirklichkeit des Lebens war man gezwungen, nur einen einzigen Ehescheidungsgrund zuzugeben, das bösliche Verlassen. Sogar der Staat sah ein, daß eine Ehe gelöst werden müsse, in der die Ehegatten einander völlig verlassen. Aber in diesem Falle kostet eine Ehescheidung viel, viel Zeit. In der Regel sind's Jahre. Außerdem sind die Kosten so hoch, daß nicht jedermann den Rechtsweg beschreiten kann.

Sollte Jesus das wirklich alles gewollt haben? Hat man ein Recht, um seiner Worte willen solche Gesetze zu erlassen? Ich sage euch, wer solche Gesetze gibt, der macht, daß sie die Ehe brechen.

Warum hat Jesus eigentlich die in Rede stehenden Worte gesprochen? Sie sind unzweifelhaft an Menschen gerichtet, denen er ansah, daß sie das Reich Gottes erfaßt hatten. Ihnen wurde bei dieser Gelegenheit ins Gewissen geschoben, daß schon ein Ehebruch in Gedanken, ein begehrlicher Blick, von denen auch sehr religiöse Menschen nicht immer frei sind, vor Gott ein wirklicher Ehebruch ist.

Diesen Ausnahmemenschen kann allerdings gesagt werden: Ihr dürft euch überhaupt nicht scheiden, außer ein Ehebruch liegt vor.

In diesem Falle seid ihr selbstverständlich dem Ehegatten nicht mehr verpflichtet.

Also behandelt Jesus die Ehe als Gewissensfrage. Folglich können doch seine Ausführungen nicht Grundlage eines Staatsgesetzes sein. Der Staat kann nur Gesetze erlassen, die der Wirklichkeit und den Bedürfnissen seiner Angehörigen entsprechen. Also keine Gewissensregeln. Es kann doch Menschen geben, die weder von Jesus, noch vom Reich Gottes, noch vom Christentum etwas wissen wollen. Auch damals gab's solche, und der Staat muß ihnen Daseinsmöglichkeit bieten, denn sie sind oft sehr brauchbare und wertvolle Staatsbürger. Sobald solche nur in der Minderheit da sind, darf der Staat sich nicht einmal christlich nennen und gebärden. Ein christlicher Staat wäre der Verführer zur gemeinsten Heuchelei.

Das staatliche Eherecht christlicher Herkunft beruht also auf der unglaublichsten Verwechslung von Gewissens- und Rechtsfragen. Man begreift gar nicht, wie sich durch die Jahrhunderte solche Gesetze und Rechte als ewige Krankheit fortschleppen konnten.

Wenn Theologen und Juristen in ihrer oft so rührenden Verkennung des Tatbestandes ein Gericht zusammensetzen, so darf die Menschheit sich nicht wundern, wenn es ungenießbar ist.

Hier sollte der gesunde Menschenverstand sich endlich durchsetzen. Dieser sagt aber: Der Staat hat ausschließlich die Rechtsfragen zu entscheiden. Was vor dem Staate gilt, muß vor dem Staat verantwortet werden. Die Gewissensfragen sind heiliges Privateigentum der Leute. Da hat kein Mensch das Recht hineinzusprechen. Auch die Religionen haben nur das Recht der allgemeinen Belehrung. Sonderberatung dürfen auch sie erst gewähren, wenn sie nachgesucht wird.

Der Staat hat die Aufgabe, jeden Beteiligten vor bürgerlicher Ungerechtigkeit zu schützen, und die Folgen einer Ehescheidung, die an sich schwer genug sind, bürgerlich rechtlich zu ordnen. Will er zum Schutze der Ehe irgendwelche Zwangsmaßregeln ausüben, so wird er nicht die Ehe schützen, sondern geheimen Ehebruch und Heuchelei fördern. Man braucht den Kindern unserer Tage nicht erst zu sagen, daß das im gänzlichen Mißverstehen des reinsten Menschen reichlich geschehen ist.

Es wird aber hohe Zeit, daß endlich, endlich Licht werde in der rechtlichen Begriffsverdunkelung und neuzeitliche Wahrheiten auch in das Eherecht eindringen, damit die wahre Ehe allmählich die Zwangsehe ersetzen kann. Die wahre Ehe gedeiht nur in der Freiheit, nicht im Zwang, und die Freiheit erhebt heute zu mächtig ihre Stimme, als daß sie länger ungehört verhallen dürfte.

Der Ehescheidungsgrund

Es gibt nur einen einzigen wirklichen Grund, eine Ehescheidung vor dem Gesetz wirklich zu beantragen. Diesen hat schon vor mehr als 3000 Jahren die jüdische Gesetzgebung erkannt und erkennt ihn heute noch an. Mit ihr sind vermutlich einig aller Völker Gesetze außer den christlichen, und dieser eine Grund ist menschlich vernünftig und naturgeschichtlich begründet. Das ist der klare Wille von Mann und Weib, eine eingegangene Ehe nicht weiterzuführen.

Ob die Ursachen, die zu diesem einmütigen Entschlusse brachten, unüberwindliche seelische oder körperliche Abneigung, Ehebruch, oder auch nur Unfruchtbarkeit sind, ist ganz gleichgültig. Eine Ehe, die zwei Menschen einfach nicht mehr führen wollen, ist zerbrochen und kann nur von ihnen selbst, aber von keinem Außenstehenden, weder Eltern, noch Kirche, noch Staat geheilt werden.

Die Beteiligten werden auch alle Folgen der Ehescheidung zu tragen haben. Darüber sollen sie sich völlig klar sein. Zerbrochene Ehen bedeuten zugleich zerbrochene Leben. Das sind Nöte, von denen man sich nie völlig erholen kann. Nöte für zwei Geschlechter, das gegenwärtige und das kommende.

Darüber müßte vor der Eheschließung die ausführlichste Belehrung erteilt werden, ebenso durch die Eltern als durch Kirche und Staat. Aufgabe der Gesetzgebung ist es dann, genau die bürgerlichen Folgen zu regeln, daß jede Ungerechtigkeit tunlichst vermieden wird, und jeder Beteiligte sein menschliches Recht zugebilligt bekommt. Namentlich dem Manne wird es zufallen, dafür Sorge zu tragen, daß das Weib und die etwaigen Kinder sichergestellt werden. Das alles gerecht zu ordnen, ist schwer, aber nicht unmöglich.

Besonders schwer ist's, wenn Kinder vorhanden sind. Für sie bedeutet die zerbrochene Ehe der Eltern zugleich ein zerbrochenes Elternhaus, eine verstörte Jugend. Für sie müßten die eingehendsten Schutzvorrichtungen getroffen werden.

Für Kinder ist aber oft genug eine geschiedene Ehe der Eltern besser als dauernde Unstimmigkeit bei zwangsweisem Beisammenleben. Letzteres bedeutet unabwendbar eine vergiftete Jugend, die die schwersten Lebensfolgen haben kann.

Der inneren Gründe, die zwei Menschen zu einem so furchtbaren Entschlüsse, wie eine Ehescheidung ist, treiben können, sind mancherlei. Auf sie einzugehen, verbietet sich im Rahmen dieses Buches. Sie können auch nur in jedem Falle besonders besprochen werden.

Es soll aber ja niemand glauben, daß Gründe zur Ehescheidung auch ohne weiteres Verpflichtungen zur Ehescheidung sind. Nicht einmal Ehebruch verpflichtet zur Trennung. Das gehört auch zu der religiös angebahnten Verwirrung, daß die Menschen meinen, sie müßten gesetzlich berechtigten Ursachen ohne weiteres gesetzliche Folgen geben.

Es läßt sich, um das Schulbeispiel festzuhalten, ebensowohl bei dem Ehebruch der Frau als des Mannes denken, daß die Ehe nicht gelöst wird, weil zwischen den Beteiligten das große Verzeihen wohnt. Verzeihen ist viel größer als Rechtsverfolgung.

Berechtigte Ehescheidungsgründe können geradezu dienen, die Ehe zu festigen, und Festigung der Ehe ist ein Lebensbedürfnis für Mann und Weib, Gesellschaft und Staat.

Würde ich jemals von Eheleuten um Rat gefragt, ob sie eine Ehe weiterführen sollen oder nicht, so würde ich in erster Linie unbedingt bejahen. Es ist gewissenlos, dritte Leute zur Scheidung zu mahnen, aber es gibt genug neuzeitliche Propheten, die dafür kein Empfinden haben.

Jede Ehescheidung stellt eine Unfähigkeit zweier Menschen dar, mit Schwierigkeiten des Lebens fertig zu werden. Die Nöte des Seins sind da, und wir werden sie nicht wegräumen. Gott sei Dank, daß sie da sind. Nur an der Not wächst sich das Sein des Menschen zu wahrer Vollkommenheit aus. Der Mensch und vollends zwei Menschen, ein Mann und ein Weib, sind stark genug, auch sehr große Nöte zu überwinden.

Wird das Verstehen eines dritten Menschen in Ehescheidungsfragen in Anspruch genommen, so ist ein Raten zur Trennung nur dann denkbar, wenn man an der Kraft und Fähigkeit der Auseinanderstrebenden verzweifeln muß. Dann aber muß die ganze Last dieses furchtbaren Bruches ihnen aufs Gewissen gelegt werden. Wehe dem Menschen, der sein Ansehen einsetzt für einen so entscheidenden Schnitt in das Leben anderer Leute!

Es soll sich ja niemand unterwinden, sich dabei auf Jesus zu berufen. Vor ihn hatten sie ja auch einmal ein Weib geschleppt, dessen Ehebruch sie ausgelauert hatten. Da sagte er nur: Ich verurteile dich nicht. Offenbar ließ er den Ehebruch nur als Scheidungsursache gelten, »um der Herzenshärtigkeit willen« der Seinen.

Ebenso dürfte es mit allen anderen Gründen stehen. Wenn zwei Menschen, trotz aller Möglichkeiten auseinanderzugehen, dennoch festhalten und aneinander glauben, die haben das gute Teil erwählt. Wer von seinem Rechte Gebrauch macht, mag zusehen, wie er's vor sich selbst verantworten kann. Es gibt einen strengen Richter, der unbestechlich und unnachsichtig ist, das ist der Mensch selbst.

Das Gesetz mag den Menschen die Ehescheidung erleichtern. Das schadet gar nichts. Es gehört zur Aufrechterhaltung der Würde des Menschen.

Man sieht das ganz deutlich am Judentum. Niemand kann behaupten, daß seine leicht lösliche Ehe der christlichen, fast unlöslichen, an Festigkeit irgendwie nachstünde. Oft ist das Gegenteil der Fall.

Die Ehe wird durch größere Freiheit noch lange nicht entheiligt, auch dann nicht, wenn zunächst eine Zeit hereinbrechen sollte, in der die Menschen unglaublich leichtsinnig auseinandergehen. Das wäre ein Übergang, der nicht viel zu bedeuten hat und sicher bald überwunden würde.

Aber der Mensch muß so erzogen und belehrt werden, daß den Leuten die Ehescheidung zur innerlichen Unmöglichkeit wird. Nicht Gesetz und Sitte, wohl aber die Anschauung des Einzelnen muß die Lösung der Ehe als Verbrechen am Leben aller Beteiligten erkennen lernen.

Es ist eines, nur kann man es mit keinem Paragraphen des Staatsgesetzes verurteilen. Wer immer seine Ehe scheidet, bringt einen Riß in sein und seines Ehegatten und aller Kinder Leben.

Das kann wohl berechtigt sein, aber nur, wenn dieser Riß weniger gefährlich ist als der, den das Beisammenbleiben reißt. Trennung vermag oft heilend, Zusammenleben zerstörend zu wirken. Das ist schwer zu erkennen und mit voller Sicherheit festzustellen. Aber nur in solchem Falle ist jemand fähig, die Verantwortung für den Riß auf sich zu nehmen.

Es geht wie bei dem Arzte. Er muß zuweilen in ehrlichster Überzeugung ein Menschenleben durch einen tiefen Eingriff gefährden. Er kann es aber nur tun, wenn jede andere Haltung den sicheren Verlust bedeuten würde. Solche Eingriffe werden ja sehr häufig mit vorzüglichem Erfolge vorgenommen, und diese Erfolge sind Verteidigung genug. Aber ein also Behandelter wird trotz des Gelingens nur in sehr seltenen Fällen sagen können, daß er seine frühere Kraft und Frische wiedererlangt hat.

Ehescheidungen sind oft notwendig und verbessern unhaltbare Zustände, aber in der Regel bleibt irgendwo eine Narbe, die gelegentlich schmerzt. Da aber einzig Mann und Weib die Verantwortung auf sich nehmen können, soll man sie dabei weder drängen noch hindern.

Freie Liebe.

Mit diesem Schlagworte wirb heute so viel gearbeitet, daß wir es nicht übergehen können, wenn von der Ehe die Rede ist.

Namentlich ist hier eine strenge Abgrenzung notwendig. Von freier Liebe als Jagdgebiet sinnlichen Genusses können wir hier nicht sprechen. Solches Begehren ist weder frei noch Liebe. Das Verlangen würde auch nicht gerade von der Frau ausgehen, denn es wäre nicht notwendig, auch gar nicht denkbar, daß sie solche Wünsche in breiter Öffentlichkeit äußerte. Es sind aber sehr ernst zu nehmende Frauen, die heute von freier Liebe reden.

Ebensowenig kann hier gesprochen werden von einem Verhältnis, das zwei Menschen bewußt für vorübergehende Zeit eingehen, sei es zum Zwecke von Kindererzeugung, wie es bekanntlich seiner Zeit der Prophet Hosea tat, oder bloß geschlechtlichen Umgangs. Solche Möglichkeiten gehören deshalb nicht hierher, weil von Ehe geredet wurde. Das ist aber keine Ehe. Es ist sogar ein Zustand, gegen den sich Sitte und Gesellschaft sehr wehrt, weil der Staat der Ehe ausschließlich zur Vermehrung bedurfte und zu befürchten steht, daß bei nicht sehr hochstehenden Menschen durch solche Möglichkeiten die Vermehrung leiden würde. Das ist auch nicht der Zustand, den alle meinen, wenn sie von freier Liebe reden.

Was von freier Liebe hierher gehört, ist so gut eine Eheschließung wie jede andere und birgt so viel Pflichten wie jede Ehe. Eigentlich noch mehr. Denn sie wird vor Richtern geschlossen, die man mit Paragraphen nicht betrügen kann, vor zwei Menschen, die vor sich selbst die Achtung verlieren würden, wenn einer dem andern seine Versprechungen nicht einhalten wollte.

Daraus folgt allein, daß freie Liebe nur unter hochstehenden Menschen mit zarten Gewissen möglich ist, die ihrer Ehrenhaftigkeit bewußt sind.

Gibt es heute solche? Ohne Zweifel mehr als der Durchschnitt ahnt. Aber man bedarf noch mehr dazu als zartfühlende Menschen. Auch eine zartfühlende Gesellschaft, eine richtig empfindende Gesetzgebung.

Davon sind wir sehr weit entfernt. Solange Ehescheidungsprozesse geführt werden, die in verborgensten und unaussprechlichsten Verhältnissen herumwühlen, ist die Verwirklichung freier Liebe fast unmöglich. Ebenso solange die vermeintlichen Sittlichkeitsanschauungen einer Gesellschaft so steif sind, daß sie nur sich und ihre Weise anerkennen.

Freie Liebe ist kein gutes Wort, jedenfalls ein sehr mißverständliches Wort. Es sollte heißen »Gewissensehe«. Damit würde scharf ausgedrückt werden, was gesagt werden soll.

Zweifellos würde die Gewissensehe einen großen Fortschritt der Menschheit bedeuten, das Ersteigen einer ganz neuen Stufe der Sittlichkeit.

Die unterste Stufe war die Keinehe. Darauf folgte die Vielehe, darauf die Einehe, darauf die Zwangsehe. Die höchste Stufe wäre die Gewissensehe.

Diese nimmt nicht weniger Pflichten auf sich, sondern mehr, denn sie stellt alles auf die empfindliche persönliche Ehre. Unser heutiges Ehrbewußtsein ist aber viel zu schwach entwickelt, als daß wir im allgemeinen Ehen mit dem ganzen Gewicht ihrer Schwere und Lebensbürde darauf aufbauen könnten. Unser Ehrbewußtsein stützt sich auf Standes- und Buchstabenrecht, und dieses bestimmt unsere Sitte und den Begriff unserer Sittlichkeit. Erst wenn uns der Begriff aufgeht, daß Ehre gleichbedeutend ist mit Menschlichkeit und alles Unmenschliche zugleich das Unehrenhafte ist, erst dann erreichen wir die höhere Stufe, auf der eine Gewissensehe nicht nur möglich, sondern auch sehr wünschenswert ist.

Es war ein großer Fortschritt, als in das Bewußtsein einiger abendländischer Völker der Grundsatz eindrang: gleiches Recht für alle. Ein noch größerer Fortschritt wird sein, wenn es heißt: gleiche Ehre für alle.

Wer heute der freien Liebe dienen will, den werde ich nie hindern. Aber zur Erwägung möchte ich ihm doch folgendes stellen.

Er kommt seinem Ziele nicht dadurch näher, daß er unter Mißachtung bestehender Gesetze und Anschauungen neuartige Verbindungen kurzerhand eingeht, sondern am besten ist dem Fortschritt zur Gewissensehe gedient, wenn er sich vorläufig noch unter überlebte Rechte beugt, aber durch sein ganzes Sein und allen ihm zu Gebote stehenden Einfluß dafür sorgen hilft, daß die Menschheit so hoch gehoben wird, daß sie staatlichen und kirchlichen Zwanges entraten kann und über das Gesetz gestellt wird, weil sie die wahre Freiheit und Menschlichkeit erlangt.

Heute ist unsere sehr verbesserungsbedürftige Sitte und allgemeine Anschauung eine zähe Macht, an der auch starke Geister zerbrechen können. Man kann sie nicht so bekämpfen, daß man sich einfach über sie hinwegsetzt.

Schon der Kampf gegen die bestehende Sitte kann Menschen zerreiben, aber schwerlich wird jemand obsiegen, wenn er noch den Kampf und die Sorge für Nachkommen dazu hat und ihnen das Recht in ihrem einstweilen ungesetzlichen Dasein erringen soll. So viel Kraftaufwand wird selten Menschen gelingen.

Es ist freilich wahr. Unsere Enkel werden einmal das zwanzigste Jahrhundert sehr mitleidig belächeln und es völlig unbegreiflich finden, daß unter uns noch Menschen zur Welt kamen, deren bloßes Geborensein einen Makel bedeutete. Daß ein Mensch entehrt ist, bloß weil er geboren ist, weil seine Zeugung nicht nach den Regeln und unter dem Schutze gestempelter Papiere vor sich ging, klingt wie ein Märchen vor den Ohren des Menschenfreundes. Es ist aber eine harte, unerbittliche, wenn auch geistig überlebte Tatsache, die noch heute besteht. Es wäre zu wünschen, daß es einmal unmöglich wird, daß Menschen schon einen gesetzlichen Mangel durch ihre bloße Geburt mit zur Welt bringen.

Noch besteht die Tatsache grausam, daß wir geliebte Kinder haben können, deren bloßes Dasein ungesetzlich ist, und denen mit allen unschönen Beigaben des Spottes und Hohnes der Eintritt in Schulen, Staats- und sogar Privatdienst erschwert und unmöglich gemacht wird. Darum mag man sich wohl überlegen, ob man kurzerhand auf freie Liebe seine Ehe gründet.

Wir haben Pflichten auch gegen ungeborene Kinder. Darüber muß eine verständige Erziehung schon jedes Schulkind aufklären. Der natürliche Zweck einer ehelichen Verbindung, mag sie Zwangsehe oder Gewissensehe sein oder heißen, muß durchaus die Möglichkeit der Nachkommenschaft einbeziehen. Also muß die entscheidende Frage sein: Wie werden unsere Kinder unsere Verbindung, der sie alle Lebensbedingungen verdanken, beurteilen? Kinder sind strenge Richter und werden einmal richten, wenn wir längst nicht mehr darauf eingerichtet sind. In das Licht dieser Erkenntnis muß jede Betätigung der freien Liebe gestellt werden.

*

Trotzdem ist nichts wünschenswerter, als daß alle denkenden Menschen auf die Ermöglichung der Gewissensehe hinarbeiten. Ich meine aber, man sollte ohne zwingende Gründe den zweiten Schritt nicht vor dem ersten tun. Der erste Schritt ist die Änderung der Rechtslage der Nachgeborenen. Es muß endlich als Rechtsgrundsatz anerkannt werden: Gleiches Recht für alle Geborenen. Ferner die unbedingte Zuerkennung des Namens und aller damit verbundenen Rechte, sobald ein Vater ein Kind als das seine erklärt. Und noch etwas. Die gesellschaftliche Anerkennung jeder Mutter.

Sind wir so weit? Noch lange nicht. In meiner Erfahrung habe ich einen wertvollen Gradmesser unserer Fortschritte in der Beobachtung, wie sich Mütter verhalten. Solange Frauen es nicht über sich gewinnen können, vor aller Welt ihre Mutterschaft zu verteidigen und für die Folgen ihrer eigenen Schritte einzutreten, solange glaube ich nicht an die heute allgemeine Möglichkeit einer Gewissensehe.

Wenn unter den Hunderten, die alltäglich in den Spalten unserer Tagesblätter ihre Kinder in falscher Scham feilhalten, nur einige wenige, wären's auch nur geschäftlich unabhängige Frauen, ihre Mutterpflichten offen ausüben wollten, würde es bald anders stehen um die heute geltenden, vielfach verkehrten Anschauungen.

Ich wünsche sehr die Herbeiführung der Gewissensehe. Aber wir brauchen wahre Menschen dazu. Solche Dinge lassen sich nicht machen, sie müssen wachsen. Aller Fortschritt kommt wachstümlich. Aber das ist ganz gewiß. Über unsere verkehrte Zwangsehe muß die Gewissensehe hinauswachsen, wie die Einehe über die Vielehe hinauswuchs.

Die Gewissensehe ist nicht leichter löslich als die Zwangsehe, sondern schwerer. Es ist schon heute ein schwerer Irrtum, wenn jemand meint, man könne ebenso glatt auseinandergehen, wie man leicht zusammenkam. An diesem Irrtum hat schon bei manchem Menschen ein verfehltes oder gar plötzlich abgebrochenes Leben gehangen.

Die Gewissensehe ist heiliges Menschenrecht, wird aber nur gegründet auf die ernste Menschenpflicht. Es soll ja niemand wähnen, daß er ohne schwere Pflichten große Rechte erlangt. Aber es ist kein Zweifel, die Menschheit wird sich auch auf die höchsten Stufen des Seins emporkämpfen. Ob wir's erleben oder nicht, ist gleichgültig. Uns ziemt es einstweilen, alle Pflichten auf unsere Schultern zu nehmen.


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