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V

Die Reise ging weiter. Therese zählte die Tage nach den Fortschritten, die sie machte.

»Noch eine Woche,« scherzte der Kommandant, »und Valmont kann erkranken; wir würden eine Stellvertreterin an der Hand haben.«

»Lachen Sie nicht«, antwortete der Leutnant; »Fräulein Hardant wird bald ebenso geschickt sein wie ein Berufstelegraphist; sie übermittelt Nachrichten, als wäre sie vom Fach und liest fast geläufig nach dem Klang, ohne den Bleistift zu Hilfe zu nehmen.«

Im Verlaufe der Zeit wurde die Stimmung Valmonts, die vorher gedrückt war, heiterer. Manchmal kam es noch vor, daß er die Brauen zusammenzog, ohne Grund die Zähne aufeinander preßte; es genügte aber, daß Therese erschien oder sprach, damit sein Gesicht sofort die Ruhe wiederfand.

Andere Male wieder kam er frühmorgens auf Deck oder in den Salon, elend aussehend, mit müden Augen, wie nach einer schlaflosen Nacht. Aber auch das dauerte nicht lange. Auf jeden Fall versuchte er seine Müdigkeit zu verbergen oder entschuldigte sie mit einer umfangreichen Arbeit, die ihn beschäftigte und die er vor seiner Rückkehr nach Frankreich beenden wollte, oder mit einem neuen Anfall des Fiebers, das er sich in den Kolonien geholt hatte.

Eines Morgens, als man das Kap der Guten Hoffnung passierte, sagte ihm Therese Hardant, die in die Funkkabine eintrat:

»Wollen Sie, mein lieber Lehrer, daß ich die erste Nachricht, die durchkommt – selbstverständlich unter Ihrer Kontrolle –, aufnehme, damit Sie sich von meinen Fortschritten überzeugen?«

»Machen wir!« sagte Valmont lustig.

Sie setzte sich an das Tischchen und schnallte sich die Kopfhörer um; er setzte sich neben sie. Sie verspürten nicht den geringsten Wunsch, zu sprechen. Ihre Vertrautheit war so groß, daß sie keine Worte brauchten, um sich zu verstehen. Bei Therese war dieses Vertrauen von allein gekommen; bei Valmont entfaltete es sich ganz langsam. Immer zurückhaltend in bezug auf alles, was seine Vergangenheit betraf, seine Neigungen, wenn er welche hatte, seine Hoffnungen, wenn er welche faßte, gab er sich nur ganz allmählich. Selbst das, was er durchblicken ließ, blieb unbestimmt, war nur halb gesagt mit rätselhaften Sätzen; dann verfiel er wieder in eisiges Schweigen. An diesem Tag war er besonders gut aufgelegt; er hatte schon mehrmals in einer für ihn ungewöhnlichen Weise gescherzt. Das Warten dauerte ihm zu lange, und er wollte gerade die Hörer abnehmen, als ein Anruf diese Bewegung unterbrach.

Er wechselte einen belustigten Blick mit Therese Hardant.

»Haben Sie's?«

»Ich hab's.«

Im selben Augenblick rief ihn ein Funker. Er wandte sich an den Mann, der am Empfangsapparat saß und sagte:

»Folgen Sie?«

Dann, zum jungen Mädchen:

»Es ist nicht etwa, weil ich an Ihren Fähigkeiten zweifle, gnädiges Fräulein; vorläufig sind Sie aber nur überzählig und das Reglement ...«

»Sie haben vollkommen recht.«

Die Nachricht war kurz; als Valmont zurückkehrte, fand er Therese Hardant stehend und ein wenig verlegen.

»Das war für Sie, Herr Valmont.«

Er wunderte sich über den Ton und die Blässe des jungen Mädchens.

»Ist Ihnen nicht gut? Es ist so heiß hier ...«

»Nur ein bißchen schwindlig ... es ist nichts ... es ist schon vorbei ...«

Der Funker hielt ihm ein Blatt hin; er warf einen Blick darauf und errötete, sichtlich gerührt; Therese Hardant flüsterte:

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung, daß ich eine Mitteilung las, die Sie betraf, aber ich hatte eben Dienst, und bis zuletzt dachte ich, daß es sich um eine Depesche ohne besondere Bedeutung handelte ... Übrigens kenne ich nicht die Unterschrift, denn im Augenblick, wo ich erkannte, daß es sich um eine persönliche Nachricht handelte, hörte ich nicht weiter ...«

Während sie sprach, hatte sie die Tür erreicht; er faßte sie sanft am Arm, um sie zurückzuhalten:

»Sie hätten ruhig lesen können, gnädiges Fräulein: es war von meiner Mutter ... Ich weiß wohl, daß der Ton zärtlicher ist als sonst zwischen Mutter und Sohn üblich; sie hat aber nur mich, und ich bin alles für sie, genau so, wie sie alles für mich ist und sein wird.«

»Dann brauch ich mich ja nicht mehr zu entschuldigen, rief Therese fröhlich.

Die Gelegenheit war günstig für ein Geständnis; alles drängte dazu: die Erregung eines Augenblicks, die beiderseitige Unruhe, ein durch ein Lächeln verjagter Zweifel und die Milde eines strahlenden Vormittags. Valmont ließ sie sich aber entgehen, ein Schatten trübte seinen Blick. Sie stiegen eine Treppe hinauf, gingen langsam über das Spardeck; Therese spielte mit dem Blatt, auf dem sie die ersten Worte der Depesche notiert hatte, Valmont, die Hände auf dem Rücken, sprach mit beruhigter Stimme:

»Sie müssen nach und nach mein Leben kennenlernen. So, wie es ist, darf ich mich nicht beklagen, denn ich wurde durch eine unvergleichliche Mutter erzogen.

Ich kann sagen, daß ihr nicht ein einziger meiner Gedanken fremd ist, und daß ich all die ihren kenne. Das wenige, was ich geworden bin, schulde ich ihr. Weder die Härten des Lebens, noch der Kummer haben ihr stets gleichmäßiges Wesen verändert, ihre unvergleichliche Güte und eine Selbstverleugnung, wie sie nur Heiligen eigen ist. Seit ich denken kann, habe ich sie nie sich beklagen hören ... und erst jetzt kann ich die Energie ermessen, deren sie bedurfte, um mich erziehen zu können.«

Er schwieg, seine ganze Kindheit rollte sich vor seinen geschlossenen Augen ab. Therese fragte zögernd:

»Haben Sie keinen Vater mehr?«

»Nein.«

»Waren Sie noch sehr jung, als er starb?«

Er zögerte einen Augenblick:

»... Ganz jung.«

»Ich begreife, daß es schmerzlich für Sie ist, von ihm zu sprechen«, sagte sie.

Er hob den Kopf und ein Rot überflog sein Gesicht, als er antwortete:

»Ach nein, nein!«

Zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, um das plötzliche Aufleuchten seines Blickes zu bemerken, sagte Therese:

»Wenn ich nicht oft von Mama spreche, so ist es deswegen, weil ich sie verlor, als ich noch ganz klein war. Ich habe nur Trauer, aber keine Erinnerung. Sie wenigstens haben ...«

Er lächelte bitter.

»In der Tat, gnädiges Fräulein, ich habe sowohl das eine als auch das andere.«

»Und Sie sind unglücklich darüber?«

Er rieb die Handflächen gegeneinander, als ob er etwas abschütteln wollte, und murmelte:

»Um darauf antworten zu können, müßte ich wissen, was man unter Glück versteht!«

Von Wort zu Wort zog eine gesteigerte Traurigkeit seine Mundwinkel tiefer herab.

Therese versuchte ihre eigene Erregung zu meistern und jene Valmonts zu zerstreuen:

»Wie schade, daß ich nicht Ihren Kummer zu lindern vermag! ... Trotzdem, Herr Valmont, Sie können mir glauben, ich könnte eine Freundin sein, eine treue Freundin ...«

»Ich zweifle nicht daran, und ich wünschte, ich könnte Ihnen vieles erzählen ...«

»Welche Bedenken halten Sie zurück?«

»Meine Leiden sind solcher Art, daß niemand sie mit mir teilen kann.«

Durch eine geheuchelte gute Laune versuchte sie ihn aufzuheitern:

»Ist gerade jetzt, wo Sie vom einzigen Wesen, das Ihnen teuer ist, Nachrichten erhalten haben, der richtige Augenblick, um sich Ihrer Schwermut hinzugeben?«

Er schwieg, die Augen auf das Meer gerichtet; Therese fragte:

»Woran denken Sie?«

»Ich frage mich, ob es nicht Glück wäre, Ihnen antworten zu können ...«

Sie errötete; mit der Hand auf eine schwache Linie am Horizont zeigend, fragte sie:

»Was ist das für eine Küste?«

»Das Kap der Guten Hoffnung.«

»Sehen Sie nicht in diesem Namen in einem solchen Augenblick eine gute Vorbedeutung? ›Hoffnung ...‹!«

Er schüttelte den Kopf:

»Das ist wieder so ein Wort, dessen Sinn mir abgeht.«

Am Abend dieses Tages tanzte man im Salon, als der Kommandant erschien und, durch die Gruppen hindurch, sich schnell Herrn Hardant näherte:

»Herr Direktor, es geht etwas Ungewöhnliches vor. Sie wissen, daß ich nicht empfindsam bin, und daß ich außer Ihnen der einzige hier war, der den unerklärlichen Rufen keine Bedeutung beimaß. Dieses Mal aber muß ich zugeben, daß ich nichts mehr verstehe, absolut nichts! Seit fünf Minuten spreche ich mit dem Phantom ...«

Herr Hardant sprang auf; der Kommandant Craille setzte fort:

»Ja, Herr Direktor, so unglaublich die Sache auch scheinen mag, muß ich zugeben, daß sie wahr ist. Die Leute in der Funkkabine haben ebenso wie Valmont und ich gehört ... Wir sind alle miteinander weder verrückt noch haben wie Halluzinationen ... und ich bitte Sie, mir zu folgen, um festzustellen, daß ...«

Therese hatte sich genähert:

»Komm«, sagte Herr Hardant; »es gibt was Neues.«

Die Paare blieben stehen, als sie sahen, wie die beiden, durch eine heftige Erregung gepackt, sich erhoben, und befürchteten ein Unglück. Der Kommandant beruhigte sie:

»Tanzen Sie nur immer weiter; es ist alles in bester Ordnung, Sie können unbesorgt sein.«

Das Orchester begann wieder, die Tänzer drehten sich von neuem; Hardant, Craille und Therese durchschritten die Tür. Als sie in der Funkkabine anlangten, fanden sie Valmont über seinen Tisch gebeugt, den Bleistift in der Hand, bereit, die erwarteten Zeichen zu notieren. Zwei Funker, die neben ihm saßen, hatten die gleiche aufmerksame Haltung, dasselbe ängstliche Gesicht.

»Nun, Herr Valmont,« sagte Hardant, »was geht vor?«

Der Offizier warf die Kopfhörer ab, die sein Gesicht umspannten:

»Das, was der Kommandant Ihnen bereits erklärt hat ... Der Unbekannte, der seit einigen Tagen schwieg, hat sich von neuem an uns gewandt. Aber dieses Mal hat er gesprochen, wahrhaftig gesprochen. Nachdem er gefunkt hatte: ›An alle‹, dann S. O. S., sagte er: › Hier spricht ein Franzose: nur die französischen Schiffe mögen antworten.‹

Durch diesen Anfang verwundert, fragte ich:

›Wer sind Sie? Krieg oder Handel?‹

Er antwortete:

Weder, noch.‹

Ich fragte wieder:

›Wer sind Sie?‹

Er antwortete:

Land.‹

Wirkt das nicht wie eine Geschichte, die man erfunden hat, um eine Zuhörerschaft außer Atem zu halten? Dabei führe ich nur die Fragen und Antworten Wort für Wort an: meine Gehilfen haben nacheinander beides kontrolliert ... Aber Sie werden noch mehr staunen, genau so wie wir auch noch mehr haben staunen müssen. Beim Wort Land dachte ich sofort an die Lösung, die Sie vorgeschlagen hatten, das heißt an eine Station auf irgendeinem Punkt des Erdballs – obwohl man bedenken muß, daß eine solche Einrichtung nur schwerlich insgeheim aufgestellt werden kann, und daß man nicht einsehen kann, welcher Grund mitten im Frieden zu einer derartigen Diskretion zwingt. Gleichwohl, nachdem mir diese Idee gekommen war, formulierte ich meine Frage genauer:

›Name Ihrer Station?‹

Antwort:

Kein Name.‹«

»Kein Name?« rief der Direktor, »was soll das bedeuten?«

»Ich weiß nicht, Herr Direktor ... Ich wiederhole nur, was gesagt worden ist ... Ich erläutere nicht, ich begnüge mich mit der wörtlichen Wiedergabe. Ich fragte also, da ich unbedingt die Sache zu Ende bringen und jeden Gedanken an eine Irreführung, so unmöglich er auch erscheint, ausschließen wollte:

›Breitengrad? Längengrad?‹

Antwort:

Ich weiß nicht. Mitten im Meer.‹«

Je weiter Valmont in seiner Erzählung kam, um so abgehackter wurden seine Bewegungen, die Worte kamen ihm stoßweise über die Lippen, und jeder Satz klang so, als ob er durch eine plötzliche Überlegung unterbrochen wäre, um dann durch eine zweite in seinem Fluß beschleunigt zu werden. Er trocknete seine Stirn und fuhr nach einem kurzen Schweigen fort:

»Von diesem Augenblick ab überstürzten sich die Zeichen; auch ich selbst dürfte wohl eine gewisse Nervosität in meinen notwendigerweise kurzen Fragen gezeigt haben. Immerhin verstand ich, daß man mich fragte:

Wer antwortet da?‹

Ich sendete sofort:

›Therese Hardant, Handelsdampfer der Transozeanischen.‹

Eine lange Pause, dann:

Wiederholen. Wiederholen. Wiederholen.‹

Ich wiederholte:

›Therese Hardant, Handelsdampfer der Transozeanischen.‹

Neue, diesmal längere Pause, dann:

Nur ›Therese Hardant‹ soll antworten.‹«

Die Anwesenden blickten sich verdutzt an; Valmont wandte sich an Craille:

»Herr Kommandant, sage ich auch nur ein Wort, das nicht der absoluten Wahrheit entspricht?«

»Nicht ein einziges.«

»Wenn ich mich so ausdrücken darf, so standen wir, mein geheimnisvoller Unbekannter und ich, uns nun Aug' in Aug' gegenüber. Jetzt würde ich alles erfahren, denn man wandte sich an uns unter Ausschaltung aller anderen ... Und ich muß zugeben, daß meine Angst außerordentlich groß war. Doch von diesem Augenblick ab wurde alles still, als ob ein ungünstiges Schicksal es darauf angelegt hätte, die Lösung des Rätsels zu hintertreiben. Da bat ich den Herrn Kommandanten, Sie über dieses ungewöhnliche Ereignis unterrichten zu wollen, denn es unterliegt keinem Zweifel, daß die unterbrochene Unterhaltung fortgesetzt werden wird.«

Herr Hardant saß auf einem Stuhl, den Ellenbogen aufs Knie gestützt; er hielt sein Kinn in der geöffneten Hand und überlegte. Von Zeit zu Zeit, sobald ein Funker irgendeine Bewegung machte, erkundigte er sich:

»Ist er's?«

Hatte man dann »nein« geantwortet, so vertiefte er sich wieder in seine Gedanken. Nach etwa einer halben Stunde Wartens war er ungeduldig geworden. Er stand auf:

»Teufel nochmal! Soll er sprechen, wann er Lust hat! Was mich anbelangt, so habe ich genug davon ... Ich geh' schlafen, kommst du, Therese?«

»Wenn du nichts dagegen hast, so möchte ich noch ein wenig bleiben.«

»Wie du willst. Kommen Sie, Craille?«

Um ihre Unruhe nicht zu zeigen, fingen Valmont und Therese an, über gleichgültige Dinge zu plaudern; gegen Mitternacht sagte Valmont zu dem Funker, der seinen Posten nicht verlassen hatte:

»Gehen Sie, ruhen Sie sich aus, mein Freund; ich werde heute nacht den Dienst selbst versehen.«

Das junge Mädchen und der Offizier, nun allein, schwiegen. Sie empfanden dieses Alleinsein weder als beunruhigend noch als ungewöhnlich. Von Zeit zu Zeit warf Valmont einen Blick auf die Antworten, die er übertragen hatte: eine starke geistige Anspannung zog dann seine Augenbrauen zusammen.

»Haben Sie gar keine Idee?« fragte Therese Hardant, die erraten hatte, daß der Offizier seine Gedanken von diesen Mitteilungen nicht loszulösen vermochte.

»Nein ... vielmehr ist die, die ich habe, so unerhört ... so überraschend, ... daß es für meinen Verstand besser wäre, wenn ich mich nicht mehr mit ihr beschäftigte ... Und dennoch! ...«

Er machte einige Schritte kreuz und quer durch die enge Kabine und blieb plötzlich stehen:

»Gnädiges Fräulein, glauben Sie an Vorahnungen, an Geistererscheinungen, wie die Spiritisten sagen?«

»Wollen Sie damit sagen, daß die ›Geister‹ in all dem eine Rolle spielen?« flüsterte Therese, die durch das, was sie sagte, erregter war, als sie zeigen mochte.

»Ich sehe,« sagte er, »daß meine Frage Ihnen seltsam vorkommt, und werde mich nicht wundern, wenn Sie an dem Verstand eines Menschen, der derlei ausspricht, zweifelten. Sie brauchen sich nicht zu verteidigen, das ist ganz natürlich. Nun wohl, auf die Gefahr hin, dadurch in Ihren Augen herabgesetzt zu werden, werde ich Ihnen antworten, daß es Augenblicke gibt, in denen ich nicht weit davon entfernt bin, an unheimliche Einflüsse zu glauben. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die Beobachtungen, die nicht einer peinlich genauen wissenschaftlichen Prüfung unterzogen wurden, als beweiskräftig anerkennen ... Ich kann aber nicht Empfindungen leugnen, deren Ursprung durch nichts erklärt ist. Die Alten erkannten nur fünf Sinne an; die Wissenschaftler haben einen sechsten entdeckt, den Lebenssinn ... Weshalb sollten wir nicht auch einen siebenten besitzen, den ›Jenseitssinn‹? So viel Dinge umgeben uns, die unserer Erkenntnis unzugänglich sind, auf die unser Gehirn reagiert, als wäre es plötzlich durch einen wer weiß woher gekommenen Schlag getroffen, der sich manchmal in Unruhe, Angst, ein anderes Mal in Wohlgefühl, Beruhigung, fast in Freude umsetzt. Unsere Sinne sind so zerbrechlich! Darf man wagen – weil wir gewisse Dinge nicht sehen – daraus zu schließen, daß sie nicht existieren? ... Hätte unser unvollkommenes Auge ohne Hilfe des Mikroskopes die Millionen Lebewesen in einem Tropfen Wasser je entdeckt? Und dabei kennen wir erst die Riesen! Dasselbe gilt für unser Ohr: das Mikrophon lehrt uns, daß die Stille von Donnern bewohnt ist ... Und diese Wellen, die durchgehen, und die wir zum Halten bringen? ... Alles, alles! ... Ist es Ihnen, in einer ruhigen Nacht, in der Einsamkeit Ihres Zimmers, im Dunkel, das Sie umhüllte, niemals vorgekommen, daß Sie plötzlich das Gefühl hatten, nicht allein zu sein? ...«

»Das ist wahr.«

»Nun denn, seit dem Tage, an dem ich meinen Fuß auf dieses Schiff gesetzt habe, fühlte ich dunkel eine Gegenwart ... eine zunächst unbestimmte, die um so deutlicher wurde, je mehr wir uns dem Süden näherten; nachdem wir St. Helena hinter uns gelassen hatten, wurde sie – wenn sie auch nur zeitweise auftrat – ganz klar, später fast anhaltend und jetzt zäh, unabweislich ... und in dieser Minute, in der ich spreche, so sicher, daß ich fühle, wie schattenhafte Hände mich berühren, wie ein Hauch mein Gesicht erhitzt, und ich habe die Überzeugung, daß in einer Sekunde die Stimme, die große Stimme des Unbekannten ertönen wird.«

Während der letzten Worte hatte er die Hörer wieder umgeschnallt; plötzlich schrie er:

»Er ist's! Ich habe es Ihnen gesagt! Hören Sie!«

Außer den Kopfhörern, die sich an seine Ohren schmiegten, gab es jetzt nichts mehr für ihn, und Therese, die durch das Geheimnis, das über ihren Köpfen schwebte, ebenso bestürzt und erstarrt war wie er, hörte:

» Therese Hardant soll sich melden

»Therese Hardant hört«, sendete Valmont.

» Wo befinden Sie sich

»Bei den Maskarenen ... Peilung um zweiundzwanzig Uhr.«

» Richtung

»Australien, Melbourne.«

» Kommandant

»Fregattenkapitän Craille.«

» Guter Offizier

Kaum daß er den letzten Buchstaben der Antwort geschrieben hatte, stieß Valmont einen furchtbaren Schrei aus; Therese Hardant sah ihn erschrocken an. Er stammelte:

»Haben Sie gehört? ... Begreifen Sie? Man kennt uns!«

Und er begann zu senden, während seine Lippen unzusammenhängende Worte ausstießen, die Finger um den Knopf des Apparates geklammert, in abgehackten Sätzen, so als ob er gesprochen hätte und nicht den Blitz elektrischer Entladungen durch das All schleuderte.

»Sprechen Sie! ... Noch! ... Bleiben Sie!«

Seine linke Hand krampfte sich ins Leere, er stampfte, knirschte mit den Zähnen; Therese nahm die Hörer ab und fragte, bereit, zur Tür zu stürzen:

»Soll ich jemand rufen? ... Den Kommandanten? ... Meinen Vater?«

Er wehrte wütend ab:

»Nein! Nein! Auf keinen Fall! ... Lassen Sie mich ... Man soll mich in Ruhe lassen! ... Merken Sie denn nicht, daß ich vor Angst sterbe ... daß jemand dort unten in den letzten Zügen liegt ... Sehen Sie ... er schweigt ... er schweigt! Ach! Wenn er nicht mehr spricht, mich nicht mehr hört! Wenn Sie wüßten ... wenn Sie wüßten ... Wenn Sie wüßten! ... Er schweigt ...«

Einige Sekunden furchtbarer Stille, dann stieß Valmont ein Freudengebrüll aus:

»Er ist da! Ich höre! ... Wer sind Sie, um Himmels willen?«

Sie zitterte so sehr, daß sie ihre Kopfhörer nicht mehr umzuschnallen vermochte und las die Frage nach dem Klang ab, hörte aber nicht die Antwort. Und diese Antwort mußte furchtbar sein, denn Valmont zerbrach seinen Bleistift beim Schreiben der ersten Buchstaben. Doch mit übermenschlicher Anstrengung ergriff er einen anderen Bleistift vom Tisch und schrieb zu Ende:

» Ein Toter

Trotz dieser unerhörten Antwort – oder gerade deswegen – schien er seine Kaltblütigkeit wieder erlangt zu haben. Diese steinerne Ruhe, die auf eine wahnsinnsnahe Aufregung folgte, hatte etwas Furchtbares. Valmont schien dem Leben entrückt. Die gestrafften Muskeln drückten eine Maske auf sein wirkliches Gesicht; Therese streckte den Arm aus, um nach den Hörern zu greifen; durch eine Geste bedeutete er ihr, nichts zu tun. Er hatte bereits wieder angefangen, Zeichen aufzunehmen, sie mit sicherer Hand zu übertragen, und Therese, über seine Schulter gebeugt, las:

»Name des Funkers, der spricht?«

Valmont sandte so schnell, daß die Zeichen fast ohne Unterbrechung aufeinanderklapperten:

»D.E.H.E.R.C.H.E.«

Kaum war der letzte Buchstabe punktiert, so schien er aus einem Traum zu erwachen, ließ den Bleistift fallen, drehte sich zu Therese Hardant und warf ihr einen entsetzten Blick zu. Sie zitterte so heftig, daß man ihre Zähne klappern hörte. So betrachteten sie sich zwei unendliche Sekunden lang, dann sprach der Offizier:

»Gnädiges Fräulein ... können Sie nach dem Klang ablesen?«

Unfähig, zu sprechen, schüttelte sie mit dem Kopf: »Nein.«

»Warum zittern Sie dann so? ... Warum sind Sie so bleich? ... Warum wagen Sie es nicht mehr, mich anzusehen? ...«

Sie stammelte:

»Ich weiß nicht ...«

»Würden Sie bei der Gesundheit Ihres Vaters schwören?«

Ein Raunen, ein Hauch kam über die Lippen des jungen Mädchens:

»Nein.«

Der Offizier verbarg seine Stirn in den Händen:

»Jetzt kennen Sie mein Geheimnis! Dieses Geheimnis, das mich seit zwölf Jahren erdrückt, entschlüpfte mir, weil eine Kraft, die stärker war als alle anderen Kräfte, es so gewollt hat. Das Wort, das niemals mehr ausgesprochen werden durfte, habe ich den Weltwinden hingeworfen. Ich hatte gewollt, daß Sie das einzige Wesen wären, das es nicht kennt: Sie haben als erste gehört ... Aber auch die am sorgfältigsten versiegelten Gräber öffnen sich schließlich. Lazarus steht wieder auf, sobald es dem Schicksal beliebt. Mein Name ist der, den Sie soeben lasen: ich bin Eduard Deherche; mein Vater war dieser Unglückliche, der mit der ›Shanghai‹ verschwand. Das ist ein Name, den kein Seemann ausspricht, ohne zu schaudern; es ist der Name eines Monstrums, eines Verbrechers, neben dem die schlimmsten Verbrecher der Geschichte und der Sage Unschuldige sind; es ist der Name eines Piraten, der Schatten eines Meuchelmörders, den die Schatten von zweihundert Opfern quälen, und den ebensoviel Witwen und Waisen verdammen ...«

»Herr Valmont! ...«

»Sehen Sie! Sie wagen nicht einmal diesen furchtbaren Namen auszusprechen! ... Versuchen Sie, zu sagen: ›Deherche ... Deherche ...‹ Nicht wahr, die Silben bleiben Ihnen in der Kehle stecken? ... Während vieler Nächte, allein, bei heruntergezogenen Vorhängen, verlöschten Lampen und verriegelten Türen habe ich ihn ganz leise ausgesprochen, um mich an seinen Klang zu gewöhnen ... Eines Tages sagte ich ihn – gegen meinen Willen – laut. Das war gegen Morgen; ich hatte nicht gemerkt, wie die Zeit verronnen war; ein Kamerad trat in meine Kabine ... Mein Entsetzen darüber, daß er's gehört haben könnte, war so groß, daß ich schier hintenüber fiel. Er hatte aber nicht gehört ... Und heute klage ich mich der schändlichsten Feigheit an; ich beschuldige mich, diesen Namen nicht mit Stolz getragen zu haben, denn, passen Sie gut auf, was ich Ihnen jetzt sage, trotz aller Beschuldigungen, trotz aller Beweise ist es der Name eines ehrlichen Mannes, eines Märtyrers.«

Therese betrachtete mit verzweifelter Bewunderung diesen Sohn, der das Andenken seines Vaters mit solcher Leidenschaft verteidigte, und tausend Kindheitserinnerungen, viele Dinge, die ihr ehemals unverständlich waren, Worte, die man aussprach, ohne auf ihre Anwesenheit zu achten, kamen ihr ins Gedächtnis.

Sie wagte es nicht, die furchtbare Sicherheit, der sie sich nicht mehr entziehen konnte, in Worte zu kleiden, und bot dem Offizier nur den unbestimmten Trost ihres Mitgefühls:

»Welch Unglück, daß Sie nicht imstande sind, zu beweisen, daß ...«

Er antwortete mit der ganzen Macht unzerstörbarer Überzeugung:

»Diesem Werk habe ich mein Leben gewidmet.«

Durch diese Versicherung, die allem, was sie über das Verbrechen wußte, zuwiderlief, unwillkürlich gereizt, murmelte sie:

»Ein Beweis? ... Ein Beweis? ... Wer könnte das entscheidende Wort sprechen, das alles erklärt? ...«

Er legte beide Hände auf ihre Schultern und blickte ihr gerade in die Augen:

»Wer? Mein Vater selbst.«

Die anfängliche Furcht hatte sie wieder ergriffen, als sie ihn ansah; er endete:

»Binnen kurzem wird man so wundersame Dinge erleben, daß die Welt erschauern wird ... Ja, der Augenblick ist nahe ... Bis dahin verlange ich von Ihnen, flehe ich Sie an, meinen Namen nicht zu verraten.«

»Nicht einmal meinem Vater?«

»Nicht einmal ihm.«


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