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V

Nachdem er den Bahnhof verlassen hatte, wandte sich Le Goutelier dem Büro der Transozeanischen Gesellschaft zu. Er ging rasch, den Kopf gesenkt, die Hände in den Taschen, so zerstreut, daß er vor der Halle war, ohne es gemerkt zu haben.

Es wurde dunkel. Es war die Stunde, wo er gewöhnlich die Post unterzeichnete. Während zwanzig Jahren war er nie länger fort gewesen als zwanzig Tage. Die Gesellschaft war sein eigentliches Heim, ja fast seine Familie. Er hatte sie entstehen sehen, wachsen, war mit allen Einzelheiten ihrer Entwicklung verknüpft und hatte an all ihren Erfolgen so teilgenommen, als ob es seine eigenen gewesen wären. Wenn er Zeit hatte, liebte er es, die Geschäftsräume vom Erdgeschoß unten bis ganz oben zu durchqueren, dieses Bienenhaus zu betrachten, dessen Leben durch seine Befehle geordnet wurde, diese Angestellten, die zu ihm »Chef« sagten, während sie den wirklichen Gebieter nur »Herr« nannten.

Herr Hardant war oft abwesend, reiste geschäftlich oder zu seinem Vergnügen. Dann erst erfreute sich Le Goutelier ganz seiner Macht. Obwohl er eine Stellung innehatte, die der des Direktors gleichkam, fühlte er sich, wenn dieser da war, nur als »Angestellter« und litt im Grunde an dieser Abhängigkeit. Herr Hardant behandelte ihn indessen mehr wie einen Teilhaber und nicht wie einen Untergebenen, – zumindest behauptete er es, – aber gerade diese Behauptung betonte den Unterschied: zwei Gleichgestellte haben es nicht nötig, hervorzuheben, daß ihre Tätigkeit und ihre Rechte gleichwertig sind. Manchmal ließ sich Le Goutelier durch diese Illusion täuschen und sagte sich:

»In Wahrheit gibt es hier weder einen Herrn noch einen Angestellten; sondern da sind zwei Männer, die in aller Unabhängigkeit voneinander arbeiten.«

Es kam vor, daß er die Reisen des Herrn Hardant mit Ungeduld erwartete, herbeiwünschte, ja sogar herbeiführte, nur des etwas kindlichen Vergnügens wegen, sich in den Sessel des Direktors zu setzen, hauptsächlich aber, um nicht einem Klingelzeichen folgen zu müssen wie ein Lakai. Seine zurückhaltende Art verwandelte sich dann in Mitteilsamkeit, seine Wangen röteten sich, und ein verbindliches Lächeln breitete sich über sein Gesicht. Er machte übrigens von dieser Unabhängigkeit keinen anderen Gebrauch, wie noch pünktlicher zu sein, noch besorgter um die Interessen, die er zu überwachen und zu verwalten hatte.

An solchen Tagen kam er als erster ins Büro, inspizierte die abfahrenden Schiffe, prüfte die Ladungen, erkundigte sich nach den Wünschen der Mannschaft, sprach mit den Offizieren und zeigte durch seine Fragen und seine Ratschläge, daß ihm hier nichts fremd war, daß er das Schiff ebensogut kenne wie der tüchtigste Ingenieur und das Meer wie ein alter Seebär. Abends, nachdem der letzte Angestellte gegangen war, setzte er sich vor seine Zahlen und ging erst in der Frühdämmerung. Heute aber zögerte er eine Sekunde, nachdem er einen Blick durch das Fenster geworfen hatte, stieg in sein eigenes Büro hinauf und, ohne den Hut abzunehmen, drückte er auf einen Knopf und sprach ins Telephon:

»Geben Sie mir den Generalsekretär ... Hallo, sind Sie's, Grossette? Was Neues? Nun ja, selbstverständlich, die laufenden Sachen, aber sonst nichts? Nichts? Dann unterzeichnen Sie die Post, außer den besonderen Sachen, die ich morgen selbst durchsehen werde ...«

Diese Unbekümmertheit gehörte so wenig zu seinen Gewohnheiten, daß er glaubte, sie erklären zu müssen: »Ich muß dringend fort, die ›Havane‹ geht in einer Stunde ab ...«

Er hing an und ging hinunter. Der Hafen, im grauen Lichte der Dämmerung, leuchtete auf. Alle Schiffe zündeten ihre Lichter an. Bei einigen waren es nur wenige rote oder grüne Punkte; jene aber, die in See stechen sollten, glänzten mit all ihren Feuern, und das Wasser spiegelte in beweglichem Schimmer die punktierte Linie der Bullaugen, die sich an den Schiffsplanken hinzogen. Er sah die »Paris«, die »Savoie«, die »Lorraine«, die großen imposanten Überseedampfer, andere, kleinere, weniger elegante und die »Havane«, die fast der »Shanghai« glich. Die Schiffsbrücke verband noch das Packboot mit dem Kai. Im Schiffseingang stehend, rief ihm der zweite Offizier zu:

»Kommen Sie herauf, Herr Direktor?«

Er antwortete:

»Nein ... keine Zeit, es sei denn, Sie hätten mir etwas Besonderes zu sagen?«

»Nein, nichts, gar nichts.«

»Dann gute Reise und viel Glück!«

Darauf machte er kehrt, verließ den Hafen, sprang in eine Taxe und sagte:

»Fahren Sie Saint-Adresse entlang; ich werde Ihnen schon sagen.«

Frau Deherche bewohnte in diesem neuen Teil von Havre, der in der Sonne liegt und den Hafen überragt, eine kleine, hinter Bäumen und Blumen verborgene Villa.

»Wenn ich beim Erwachen das Meer nicht sehen würde,« pflegte Deherche zu sagen, »käme ich mir gestorben vor.«

»Wenn ich die Sonne im Wasser untergehen sehe,« pflegte seine junge Frau zu sagen, »habe ich das Gefühl, an der Riviera zu sein.«

Diese zwei Aussprüche, die ihre Temperamente kennzeichneten, charakterisierten ihren Geschmack und ihre Wünsche.

In dieser Jahreszeit, wo der Wind in wilden Stößen wehte, machte das Haus den Eindruck verzweifelter Einsamkeit. War es nicht auch trotz des Ziegeldaches, der hölzernen Balkone, der grünen Balken, der geharkten Alleen und der Glocke, die lustig klingelte, als Herr Le Goutelier das Tor öffnete, ein Haus der Verzweiflung? Ein junges Dienstmädchen machte auf. Er fragte:

»Ist Frau Deherche zu Hause?«

»Die gnädige Frau ist ausgegangen; wenn der Herr aber warten will, sie wird bald zurück sein.«

»Ich werde warten.«

Das Dienstmädchen wollte ihn in den Salon führen; er aber zeigte auf das Arbeitszimmer von Deherche, wo eine Lampe brannte.

»Ich werde lieber hier bleiben.«

»Der kleine Herr Eduard ist nämlich drin ...«

»Um so besser, ich werde mich freuen, das Kind zu sehen.«

Beim Öffnen der Tür hob der Junge den Kopf und kam ihm entgegen; er streichelte seine Wange.

»Laß dich nicht stören, Kleiner. Was machst du da? Deine Schularbeiten?«

Herr Le Goutelier setzte sich an den Tisch, auf dem Hefte ausgebreitet waren, und warf einen Blick darauf.

»Du bist fleißig. Bist du einer der ersten?«

»Ja, Herr Le Goutelier.«

»Das ist sehr nett. Du mußt auch weiter fleißig sein, um deiner Mutter Freude zu machen, deiner armen Mutter.«

Das Kind sagte nochmals: »Ja, Herr Le Goutelier«, aber mit einer Stimme, die kaum zu verstehen war und wandte den Kopf. Le Goutelier nahm ihn zwischen seine Knie und flüsterte:

»Armer Kleiner, armer Kleiner! ...«

Das Kind blieb unbeweglich. Es hatte einen dunklen Teint, blonde, dichte Haare, Augen von seltsamem Glanz, ein energisches Kinn; seine schwarzen Kleider unterstrichen noch den sinnenden Ausdruck des Gesichts. Die Ähnlichkeit mit seinem Vater war so überwältigend, daß Le Goutelier, während er mit ihm sprach, zweimal verstohlen eine Träne trocknen mußte. Der Knabe sah es; ein Schluchzen stieg aus seiner Brust; er nahm sich aber zusammen, preßte die Hände aufeinander und weinte nicht; er hatte nicht nur die Züge seines Vaters, er hatte auch seinen Stolz.

»Wie alt bist du?« fragte Le Goutelier.

»Elf Jahre.«

»Was willst du werden, wenn du groß bist?«

»Ich wollte Seemann werden; meine Mutter will es aber nicht mehr.«

»Tut es dir leid?«

Das Kind überlegte einen Augenblick und antwortete mit Bestimmtheit:

»Ja.«

In diesem Augenblick trat Frau Deherche ein; der Knabe ging ihr entgegen, hielt ihr die Stirn hin; dann klappte er seine Hefte zu. Le Goutelier war sofort verblüfft über die Veränderung, die mit der jungen Frau vor sich gegangen war.

Das Gesicht war noch hübsch, die Bewegungen ausgeglichen, aber ihr Lebensinhalt schien ein anderer geworden zu sein. Der Teint war durchsichtig, der Körper zerbrechlich, die Bewegungen waren müde. Sie sprach mit einer Stimme, die von fernher zu kommen schien.

Trotzdem verriet ihre Sprache nicht die mindeste Neigung, sich selbst zu bemitleiden. In der Tat, sie sprach wenig und begnügte sich, in kurzen Sätzen zu antworten, von denen jeder die Unterredung zu beenden schien. Le Goutelier suchte nach Worten. Schließlich sagte er ohne Umschweife:

»Das, was ich Ihnen zu sagen habe, gnädige Frau, ist ein wenig heikel. Sehen Sie darin bitte nichts anderes wie das Bestreben unserer Gesellschaft, Ihnen ihre Anteilnahme zu beweisen. Deherche war nicht reich ...«

Er hielt einen Augenblick inne; Frau Deherche blieb unbeweglich; dann fuhr er fort, durch ihre aufmerksame Ruhe in größerer Verlegenheit, als wenn sie widersprochen hätte.

»Meine alte Freundschaft für ihn gibt mir das Recht, von Dingen zu sprechen, in die Fremde sich nicht einzumengen haben. Aber er hat mir oft über seine ... Geldverlegenheiten, über den Wunsch, seine Lage zu verbessern, gesprochen. Kurz und gut, es könnte sein, daß, ehe die Versicherungsgesellschaft die Ihnen zustehende Summe auszahlt, Sie in Verlegenheit kämen, ... und Herr Hardant hat mich beauftragt, Ihnen zu sagen, daß Sie in diesem Falle auf uns rechnen könnten, ich will sagen, auf ihn.«

Die gerunzelten Brauen der jungen Frau zeigten ihm, daß sie sich durch seine letzten Worte getroffen fühlte. Er tat so, als ob er es nicht bemerkt hätte. Frau Deherche sagte:

»Ich bitte Sie, Herrn Hardant vielmals zu danken, aber ich brauche nichts.«

»Vielleicht nicht für den Augenblick; aber die Zeit vergeht schnell ... und, ohne durchblicken lassen zu wollen, daß das besondere Wohlwollen des Herrn Hardant Ihnen gegenüber sich verändern könnte ...«

Jetzt zerknüllte Frau Deherche das Taschentuch in ihrer Hand und betonte mit gereizter Stimme:

»Ist es Zufall oder Absicht, daß Sie fortwährend den Namen von Herrn Hardant an Stelle desjenigen der Gesellschaft nennen? Nochmals, ich verlange nichts; aber käme ich je in diese Lage, so würde ich nur von der Gesellschaft und nicht von ihrem Direktor eine Hilfe erwarten und annehmen.«

»Ich sehe wohl den Unterschied und kann Ihre Bedenken nachempfinden, ... und wenn ich zweimal den Namen unseres Direktors statt des Namens unserer Gesellschaft genannt habe, so war es weder Zufall noch Unachtsamkeit. Verstehen Sie mich, bitte, recht. Herr Hardant kann, – weniger als Direktor der Transozeanischen Gesellschaft denn als Privatmann etwas tun, was die Gesellschaft nicht tun kann.«

Er schwieg; Frau Deherche blieb still, überlegte und sagte dann:

»Ich verstehe nicht.«

»Wie soll ich es Ihnen erklären? Das ist ziemlich heikel ...«

Sie wurde blaß und ihre Augen richteten sich auf den kleinen Jungen, der mit aufgestützten Ellenbogen am Tisch las. Le Goutelier erriet in ihrem Blick eine solche Angst, daß er hinzufügte:

»Oh, beruhigen Sie sich! Es ist nichts Ernstes, nichts, das das Andenken Ihres Mannes trüben könnte. Lediglich eine verwaltungstechnische Frage, die ich gezwungen bin, zu erwähnen.«

Eine leichte Röte überflog die Wangen der Frau Deherche; sie legte ihre Hand dem kleinen Jungen auf den Kopf und sagte:

»Eduard, geh in dein Zimmer spielen, mein Liebling.«

Als das Kind hinausgegangen war, wandte sie sich Herrn Le Goutelier zu:

»Also bitte.«

»Es handelt sich in wenigen Worten darum: Deherche, leichtsinnig, unvorsichtig, gab viel aus und rechnete nicht. Seine Einnahmen reichten nicht immer ... Kurz und gut, er nahm einige Male Vorschuß.«

»Ich weiß es«, flüsterte Madame Deherche; »im übrigen bin ich verantwortlich für einen großen Teil des ... Leichtsinns und der Unvorsichtigkeiten meines Mannes ...«

»Um so besser werden Sie verstehen, worauf ich hinaus will. Wenn Herr Hardant Ihnen persönlich eine Summe übergibt, so ist es ein Freundschaftsdarlehen; wenn die Gesellschaft Ihnen denselben Dienst erweist, so geht das durch die Buchhaltung. Denn die Gesellschaft besteht aus Aktionären, und der Aktionär kennt nicht unsere persönlichen Angelegenheiten; er urteilt nach Ziffern und kümmert sich nicht um Gefühlsdinge. Wie kann man ihn in einem Augenblick, in dem man ihm eröffnen muß, daß er dieses Jahr wenig oder gar keine Dividenden erhalten wird, gleichzeitig bestimmen, mit der Bewilligung eines Kredites an die Witwe eines Offiziers einverstanden zu sein, dessen Konto bereits mit sechzigtausend Francs belastet ist?«

Frau Deherche fuhr auf:

»Sechzigtausend Francs? ... Sie sagen sechzigtausend Francs?«

»Einundsechzigtausend, genau.«

»Dann bin ich ja verloren ... mein Kind ist verloren ...«

Sie zitterte und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Le Goutelier machte einige Schritte und wußte nicht, was er zu ihrer Beruhigung sagen sollte: er hielt inne und zwang sie mit einem sanften Druck, sich wieder hinzusetzen:

»Verzweifeln Sie nicht. Die Versicherung, die Ihr Mann aufnahm, bevor er sich einschiffte, lautete über hundertdreißigtausend Francs, – Sie sehen, er hat mich in seine Angelegenheiten eingeweiht – folglich bleiben Ihnen, nachdem Sie die Gesellschaft bezahlt haben, noch siebzigtausend Francs. Das ist zwar kein Vermögen, gewiß, aber damit können Sie abwarten ... Außerdem wird Ihnen die Gesellschaft nicht das Messer an die Kehle setzen ...«

Die junge Frau seufzte; er fuhr in freundschaftlichem Tone fort:

»Sie haben noch sieben oder acht Tage Zeit, bis wir unsere Bilanz der Generalversammlung unterbreiten; inzwischen werden Sie ...«

»Nein«, erwiderte Frau Deherche mit dumpfer Stimme.

»Zumindest werden Sie einen Teil erhalten haben. Solche Sachen werden gewöhnlich schnell erledigt, und ...«

»Gewöhnlich vielleicht, aber nicht in dem Fall, der mich betrifft. Bevor die Gesellschaft den Betrag auszahlt, möchte sie einige Sicherheiten haben ...«

»Was für Sicherheiten? Was für eine neue Komplikation hat man schon wieder ausgeheckt? Es handelt sich doch nicht um einen fragwürdigen Tod, um ein Verschwinden, mit dem sich die Gerichte beschäftigen, und für welches das Gesetz eine Frist vorsieht? Der Tod von Deherche ist nur allzu sicher ... Folglich?«

»Folglich, mein Herr, folglich,« rief die junge Frau schluchzend, »fragen Sie mich nicht mehr, als ich weiß. Ich sage Ihnen, was man mir gesagt hat ...«

»Hat man einen Termin festgesetzt?«

»Keinen.«

»Das ist unverständlich«, rief Le Goutelier.

Seine Stirn verfinsterte sich, er knirschte mit den Zähnen.

Ohne diese Summe gab es einen unbezahlten Wechsel, die Bitte um eine Prolongation, etwas, das unter den gegenwärtigen Umständen unbedingt vermieden werden mußte. In seiner üblichen Leichtfertigkeit hatte Herr Hardant geglaubt, alle Schwierigkeiten gelöst zu haben, indem er ihm sagte: »Ich gebe Ihnen freie Hand«. Zum Teufel! Das war die alte Geschichte: dem einen die großen Einfälle, dem anderen die täglichen Sorgen, die enttäuschenden Berechnungen, die Lösung von fast unlösbaren Aufgaben.

Er stampfte wütend mit dem Fuß auf und brummte:

»Verfluchter Kerl!«

Frau Deherche mißverstand den Sinn seines Ausrufes und, da sie annahm, seine Wut richtete sich gegen den Verschwundenen, sagte sie mit schmerzlicher Würde:

»Wie immer es auch kommen mag, die Gesellschaft wird nichts verlieren.«

Er bereute es, daß er sich so hatte gehen lassen und fuhr mit gemäßigter Stimme fort:

»Ich weiß wohl, mein armes Kind, daß Sie nicht die Frau sind, die die Unterschrift ihres Mannes verleugnet. Wenn die Zeit nicht drängte, würde ich weder Ihnen noch mir irgendwelche Sorgen machen. Es mag unwahrscheinlich klingen, aber so schön auch unsere Fassade aussieht und unser Unternehmen gedeiht, wir befinden uns zur Zeit in einer Krise, von der unser Schicksal abhängt. Was waren schon sechzigtausend Francs für uns vor drei Monaten? Ein Tropfen Wasser; – die Leichtigkeit, mit der wir damals diese Summe vorstreckten, beweist es. Heute und für einige Wochen noch ist sie unerhört ... Um so schlimmer! Ich werde meinen letzten Sou draufgeben ... ich werde alles, was irgendeinen Wert hat, veräußern, ich werde zur Not borgen, aber die Transozeanische Gesellschaft wird nicht zu Protest gehen.«

Er hatte seinen Hut genommen und schickte sich an, zu gehen; Frau Deherche hielt ihn zurück.

»Ehe das geschieht, Herr Le Goutelier, würde ich alles verkaufen, was mir gehört. So gering auch der Betrag sein mag, um soviel weniger werden Sie zusammenbringen müssen ... Ich könnte Ihnen diesen Teilbetrag unverzüglich übergeben. Als ich Ihnen vor einem Augenblick erklärte, nichts zu brauchen, sagte ich nicht die Wahrheit. Das flüssige Geld, das ich besaß, verwandte ich, um kleine laufende Schulden zu bezahlen und einige andere, die ich erst später hätte regeln können, wenn mein armer Mann gelebt hätte ... Da er nicht mehr da ist, haben die Leute – und das ist ganz natürlich – versucht, sofort zu ihrem Geld zu kommen; folglich ... Aber das interessiert Sie nicht. Kurzum, soeben war ich bei einem Juwelier, um meine Ringe zu verkaufen.«

»Sie haben sie verkauft? ...«

Sie lächelte matt.

»Ich hab' es versucht ...«

»Na, und? ...«

»Es kam, wie ich es voraussah. Ich hatte drei Steine: einen Saphir, einen Smaragd, einen Rubin; der Saphir, welcher falsch oder, genauer gesagt, künstlich hergestellt war, ist nur einige hundert Francs wert; der Smaragd hat eine Trübung, die seinen Wert um drei Viertel vermindert. Man hat mir oft verargt, was man meinen tollen Luxus, meine kostspieligen Launen nannte; selbst bei der Gesellschaft ...«

Le Goutelier widersprach durch eine Geste; sie ging darüber hinweg.

»Ich weiß wohl, ich weiß ... Es wäre klüger gewesen, diese Steine, die nur anderen eine Illusion verschafften, nicht mit diesem kindlichen Vergnügen zu tragen. Es bleibt schließlich noch ein Rubin, den mir mein armer Mann kurz vor seiner Abreise schenkte; für den hoffe ich, einen größeren Betrag zu erzielen.«

Le Goutelier schien zu überlegen und murmelte:

»Ein Rubin? ...«

»Ich trug ihn am Tage, an dem ich die furchtbare Nachricht erhielt, können Sie sich entsinnen?«

»Kaum ...«

»Sie und Herr Hardant konnten Ihre Blicke nicht davon losreißen ...«

»Jetzt erinnere ich mich ... Auch künstlich hergestellt, wie der Saphir?«

»Man konnte es nicht feststellen; aber, selbst wenn man es annehmen würde, hätte er einigen Wert, versicherte mir der Händler. Um sich zu überzeugen, bat er mich, ihm den Ring anzuvertrauen. Er erwartete einen Sachverständigen aus Paris. Morgen werde ich Antwort bekommen.«

Le Goutelier hob den Kopf:

»Es war unklug von Ihnen, diesen Schmuck einem Händler anzuvertrauen; diese Leute sind selten vertrauenswürdig ... Und schließlich, warum Fremde in seine Geldverlegenheiten einweihen? Das ist nicht gut ... Hätten Sie mir Ihre Absicht mitgeteilt, so würde ich Ihnen abgeraten haben ... Für die zwei- oder dreitausend Francs, die Sie aus diesem Verkauf erzielen würden ... nein, wahrhaftig, das lohnt nicht. Wissen Sie was, noch ist es Zeit, telephonieren Sie, daß man Ihnen den Ring zurückgibt ... Es tut mir in der Seele weh, zu sehen, wie Sie sich der letzten Andenken berauben, ohne jemand zu nützen.«

»Sie sind gut, Herr Le Goutelier.«

»Reden wir nicht davon«, antwortete er abweisend. »Es war dumm und ungeschickt von mir, meine Sorgen Ihrem Kummer hinzuzufügen. Ich werde mir anders helfen. Sobald der Direktor zurück sein wird, werden wir die Angelegenheit gemeinsam überlegen ... er wird Wertpapiere verkaufen; auf jeden Fall, er wird sich zu helfen wissen ...«

Sie beharrte:

»Ich lege Wert darauf, soviel als möglich zurückzuzahlen; diese Schuld befleckt den Namen meines kleinen Jungen ...«

»Ach, gehen Sie! Da Sie auf jeden Fall, sobald Sie von der Versicherungsgesellschaft Geld bekommen, zahlen werden ... Ob das vierzehn Tage früher oder später geschieht, was macht das? ... Wie heißt der Juwelier?«

»Serrièges.«

»Haben Sie ein Telephonbuch? Danke.«

Er verlangte:

»812. Ist dort Serrièges? Ich spreche im Auftrag von Frau Deherche. Frau Deherche hat Ihnen soeben drei Ringe anvertraut. Wollen Sie, bitte, den Auftrag, sie zu verkaufen, annullieren? Wie? Sie sind nicht der Inhaber? Herr Serrièges ist gerade fortgegangen? Richten Sie es ihm dann, bitte, aus, sobald er zurückkommt. Wie? Er geht zu ihr hin? ... Ah ...«

Er hing den Hörer an.

»Sie brauchen sich nicht zu bemühen, er wird in einem Augenblick hier sein.«


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