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III.
Äther am Abend

Was quillt und stillt wird Bild. Wir wissen nicht
Wo wir nicht schaun. Denn Zwei ist Eines: Aug und Licht.

Wo das Gebirge absinkt zur Hochebene, dort erhebt sich die Anhöhe aus der Mitte ebener Felder.

Von dem Scheitel der Bodenwelle aus umspannt der Blick ungehindert den Himmel und das Meer, bis weit in die Ferne, wo am Horizonte Erde und Äther sich berühren.

Es ist Abend. –

Gräser und Wiesenblumen, Hunderte von Arten, umworben von Schmetterlingen, von Bienen umsummt, überwuchern den Hügel.

Der Himmel, tiefblau, wölbt sich über der Erde. Aber vom Meer kommen herangezogen: Goldbeglänzte Wolkenzüge. Sie verändern das ruhigklare Antlitz.

 

Epikur und seine Schüler, Klearchos, Eusebios, Trasyllos, und die drei Mädchen, Aspasia, Diotima und Lais, sowie das Hündchen Margo, haben sich am Hange gelagert. In Blumen und Kraut.

Zwanglos kauern die Sieben um ihren Meister. Sie blicken in die Wolken. Die Wolken wandern vor dem Winde. Blutrot will der Sonnenball niedersinken in die Umarmung des Meers.

Die Stimme des Weisen tönt wie feierliche Glocken in den Abendfrieden.

Vom Abend

»Dies ist die Stunde des Abends: die Zusammenfassung unsres Tags!

Denn ehe, Freunde, die Welt in Nacht zurücksinkt, da versammeln sich einmal noch am Quell: Alle schönen Gestalten.

Das Getrennt-Vereinzelte will schwinden. Ununterschiedlich. Denn die Götter, welche des Tages vierfachen Ring führen, haben einander befriedet.

Blicket bin nach Westen! Was seht ihr? Ihr seht den Flammengott und die Lebenspenderin Hochzeit bereiten.

Blicket hin nach Osten! Was seht ihr? Ihr seht die Erde und den Himmel verschmelzen im Kuß.

Was in der ersten Hälfte des Tages erschien als Ausgleich von Wasser und Feuer; in der zweiten Hälfte kehrt es wieder als Austausch von Äther und Erde.

Der Kreis aber des Jahres wiederholt den Zirkeltanz der Viere.

Frühling gleicht dem Morgen, unter der Herrschaft frischer Gewässer.

Sommer gleicht dem Mittag, mit erfüllendem Siege des Lichts.

Herbst gleicht dem Abend, wo im klaren Äther jede Farbe einmal noch entbrennt.

Und Winter endlich gleicht der Nacht, die die Seele heimleitet in die Hut der mütterlichen Materie.

 

Jetzt also: Abend! Noch einmal sehn wir am Lichtquell: Alle Bilder, alle Farben.« –

*

»Erzähle von den Wolken, Epikur!« bat der junge Trasyllos. »Schon als Kind bin ich es nie satt geworden, im Grase hegend, in die Wolken zu starren. Dann wurde mir die Wirklichkeit des wachen Tages traumhaft. Ich glaubte selber Wolke zu sein, dahinziehend durchs Unendliche.«

»Du bist es!« erwiderte Epikur. »Das Gefühl der Heimat zieht dich hinan, den für kurze Zeit Verbannten. Es läßt dich sehnsüchtig nachblicken dem über Wassern schwebenden Abendvogel.

Danach heißen wir: ›Anthropoi‹; die zum Himmel Blickenden.«

 

Während Epikur mit Trasyllos sprach, hatten die Mädchen Primeln und Veilchen gepflückt. Dazu auch Farnblätter und Eppich. Sie begannen ein langes Gewinde zu binden, wahllos aus mannigfaltigen Blumen.

Epikur aber wob weiter am Gewinde der Worte:

Von Wolken und Seelen

»Die Wolken droben sind das Selbe, was wir sind: Vom Lichte aufgesogene, zu Gestalt geronnene, geheime Bildmacht bergende Tröpfchen: Kinder des Zeus und der Gäa. Wie aus einem Glase, gefüllt mit Wein, beständig feine Perlen aufsteigen, ohne daß wir sie sehn, so steigen aus dem Blute der Erde, aus Meeren, Flüssen und Seen, Milliarden Dampfatome himmelan. Ein Menschenauge kann sie nicht merken.

Wir gewahren sie dann erst, wenn sie sich verdichtet haben zu Wolke.

So auch können wir die uns umspielenden Uratome nicht gewahren. Wir gewahren sie dann erst, wenn sie vorüberwandelnd verdichtet sind zu Gestalt. –

Gestalt ist sichtbar gewordenes Bild!

Auch in unsrer Seele liegen Bilder alles Lebens. Sie kommen über Nacht als wirre Träume.

Wir können die ›Bildkräfte‹, die aus unsrer Seele steigen wie Wassernebel aus einem Flusse, nur wahrnehmen, wenn sie in unserm Haupte sich verdichten: zu Phantasmen, zu Gedanken.

Diesen Wolken gleich, die aus den Wassern kommen.

Ein Gedanke hält uns wach, ein Gefühl ergreift uns. Woher? Wir wissen es nicht –

Nun wollt ihr erfahren: Welche Macht ballt die ›Atome des Lebens‹ zu Gestalt?

Die Macht heißt: Ananke: die Not!

Wäre überall wohlige Wärme, lindes Licht, dann müßten die aufsteigenden Wassertropfen zu Nichts zerfließen in reinem Äther. Aber Not herrscht! Dunkel schluckt das Licht. Frost beißt die Sterne an.

Und wo Licht und Wärme nicht hindringen, im Kalten und Finstern, da dichten sich nun feine Seelchen zu Gestalt.

So wird der Hauch unsres Mundes sichtbar, wenn wir atmen in einen kalten Raum, kälter als unser Hauch.

Überall durchwaltet das All dieser Wechsel: Sichtbarwerden von Gebild; Wiederzerfließen ins Unsichtbare. Je nachdem Wärme die Gebilde lockert oder der Frost zu Geprägen ballt!

Jede Ballung birgt Unlust, jede Lösung: Lust.

 

Wie die See hier zu unsern Füßen wogt als ein beständiger Wechsel von Ebbe und Flut, bald erkaltend, bald erwarmend, so wiederholt sich der gleiche Rhythmus zu unsern Häupten in dem zweiten Meer: dem Luftmeer.

Auch das Luftmeer offenbart den alten Kreislauf: Erkalten – Erwarmen.

Ja, wir können wähnen, daß die beiden Meere, das Äthermeer und das Wassermeer, zwischen denen wir im ›Garten der Mitte‹ wohnen, einander spiegeln, daß sie Austausch unterhalten, dessen Mittler wir selber sind, wir Geschöpfe der Erde.

Darum erscheinen uns die Kinder der Luft und die Kinder des Meeres als einander entsprechende Gebilde auf getrennten Ebenen. Die stummen Fische sind Gegenbild der singenden Vögel. Der Ozean: Gegenbild des Äthers.

 

Von Wäldern und Bäumen, aus Moosen, Flechten und Gräsern, aus Bächen und Quellen, aus Kelchen der Blumen, aus dem Atem der Tiere, aus dem freien Odem der Menschenherzen strömt Sturm-Hauch in die Lüfte. Dieser Hauch der Erde bildet: das Luftmeer!

Nachdem er sich verdichtet hat (zu Wolken und Nebeln, Schneeflocken oder Eiskristallen), kehrt das Atma zur Erde zurück. Die Gebilde des Himmels lösen sich, und, die Erde befruchtend, locken sie aufs neue hervor: die Bilderwandelschau: ›Welt‹.

So kann denn nichts auf Erden geschehn, was nicht zu Wolke wird. Und was als Wolke wandert, webt morgen neu am Gestaltenreigen.

Auch die scheinbar Leblosen: Steine und Felsen, Berge und Gletscher nehmen teil an diesem Zusammenballen und Wiederauflösen der Wolkenbilde.

Auch Steine wechseln zwischen lichtem Erwarmen und frostigem Verkalten. Sie nehmen auf das belebende Wasser. Sie geben heraus das belebende Wasser. Im großen Austausch zwischen Himmel und Erde.

Und wären die fernen Sterne Kristalle von Eis oder wären sie Stoff- und Gesteinsmasse, dann wären sie doch nichts Anderes als Vorratsbehälter des Kosmos: Urbilder bewahrend.

 

Über den höchsten Gipfeln schwebt ewiger Nebel. Auf letzten Kulmen liegt ewiger Schnee.

Aus Nebel und Schnee erzeugen die starren Giganten: leichthin tanzende Wolkentöchter. Sie flattern über die Welt. Sie singen: ›Ich komme von den Bergen.‹ ›Ich durchwandere diese Nacht.‹' ›Ich werde beim Lichte mich einkörpern dem Stoff.‹ ›Wir sind Abgeschiedene! Die durch den Himmel ziehn.‹

 

Wenn der Flammengott das belebende Wasser aufgesogen hat, wenn er gesättigt-trunken ist, dann quillt das Äthermeer über und hat Flutzeit: Ab Regen, als Tau, als Schnee, als belebende Frische. Und so kehrt das Lebendige neu zur Erde! Die Bilder in den Wolken werden Gebilde aus erdhaftem Stoff. Sichtbar, greifbar für Sinne.

Diese schweren schwarzen Wolken, die uns trennen vom göttlichen Licht, sind eine wandernde Herde, aus deren Eutern nährende Milch tropft. Wir müßten verdorren ohne den Austausch aus Wasserstürzen, aus Wolkenbrüchen, die der Gott, der sie aufsog, jäh entläßt und zurückgibt an die aufatmende Erde.

So tanzen Äther und Erde, tanzen Wasser und Licht ewige Reigen.« –

 

Epikur schwieg.

Von einem heiteren Gedanken erfaßt, sprangen Trasyllos und Aspasia sowie Eusebios mit Lais vom Rasen empor und begannen, den Meister umkreisend, anmutig zu tanzen, wobei sie sich bemühten, das eine Paar den Apoll und die Thetis, das andere Zeus und Gäa darzustellen. Einander sich austauschend, schienen sie sich bald zu fliehn und bald wiederzufinden, indessen sie in den Händen die lange Blumenranke festhielten, so daß es scheinen mochte, als ob der Tanz selber an der Blumenkette wöbe.

Epikur blickte ermutigend und froh auf das Treiben der holden Kinder, bis sie, hochaufatmend erhitzt, eines nach dem andern in den Rasen sanken; dann sprach er:

 

»Alles Menschentreiben ist solcher Tanzreigen, webend die Girlande aus Blumen und Blättern. Blumen und Blätter sind tot, wenn unser Finger sie pflückt. So auch schwand schon das Leben, wenn der Gedanke das Leben ergreift. Zum Worte pressend.

Darum wollen wir keine Hirnweber sein, keine Richtigsteller, wollen nicht länger Trauben pressen und abziehn auf die Flasche des Begriffs. Nein! Wir wollen hier im Grase liegen und den Abend verträumen, bis Epicharm kommt mit Musik und Nacht. Wir starren in die Wolken. Ein jeder von euch möge zu künden versuchen, was er in den Wolken sieht.

Du dort an der äußersten Linken, helläugige Aspasia, erzähle deinen Wolkentraum.«

 

Aspasia:

»Blick' ich in die streifigen Federwölkchen, dann seh' ich weiße Schäfchen und rosige Lämmlein vorüberklingeln. Seh' ich aber über dem Meere die Haufwolke geballt, dann erblicke ich Berge mit Schluchten und gesteilte Zacken.

Und ach! Eure Aspasia wird sich unwahrscheinlich-traumhaft.

Das Leben zerrinnt! Aber nicht schmerzhaft, wie mit jähem Rucke der Tod, der bittere Tod, unser wissendes Ich abreißt und den Faden zerschneidet. Nein, ich verblute feierlich, wie Musik verklingt. Ich versinke friedlich, wie das Kind in den Mutterarm zum Schlafen sich bettet. Ich vergleite in Abend, wie die Blume sich schließt. Ich sterbe, wie wenn ein Greis ruhig vor die Pforte tritt und das dämmernde Haus hinter sich abschließt.

Sie sagen: ›Unser Leib soll in Erde zurück. Denn der große Kreislauf darf nicht unterbrochen werden. Und wie herabfallendes Laub düngt die Wurzel des Baums für das neue junge Laub, so sollen auch wir teilhaftig bleiben am Leben der Mutter.‹

Wohl! Aber schöneren Tod zu feiern, scheinen mir jene, die in Flamme verlodern.

Ich preise die Weisheit der Perser, die den Leib auf Türmen preisgeben Winden und Lüften.

Denn ich fühle: Geister sind um uns! Die Wolken sind nichts als die uns umschwebende Geisterkarawane. Lausche ich aber auf die Stimmen im Winde, horche ich nachts in den Sturm, wie es weint und stöhnt, tobt und seufzt, oh, so wird keine Wissenschaft mir je ausreden meinen Glauben: Das sind die Lieder der Gewesenen und Verwesenen. Die tongewordenen, zu Musik erlösten Bilder des Lebens.« –

 

Indes Aspasia verstummend die Veilchen und Himmelsschlüssel betrachtete, die frommen Augen der Erde, blickten die andern Gefährten schweigend zu den Wolken.

Die Gewölke standen nun stille über dem Meer. In unnennbaren Farben erglühend, erschien in ihnen eine hochgebaute Stadt mit goldglänzenden Zinnen.

Seitab aber bildeten andere Wolken Streifen, Bänder, Dämme und Bänke. Auf den Dämmen schienen im silberklaren Äther himmlische Gestalten zu schlummern.

Epikur ergriff Aspasias Hand und sprach:

»Du erblicktest den schönen Tod, weil du noch angeglüht bist von der versunkenen Sonne ferner Tage. Denn unsre Vorgeschlechter meinten mit dem Worte Odem, mit Atem, Seele, Geist, Gott, ja mit den Worten Tod und Leben nie etwas Anderes als die Wirklichkeit jener Wolkengestalten: Die dahinwehenden Wesen, genannt Eidola, welche zeitlos dauern und deren Erinnerung oder Niederschlag die Gebilde der Erde sind, uns bewußt als die ›harten Dinge im Raum‹, welche sich doch alle so bald wieder zerlösen in jene reinen stofflosen, unbegreiflichen Ätherbilde. –

Nun aber kommst du, mein Klearchos, und sollst uns erzählen, was du, im Grase hegend, am Himmel gelesen hast.«

 

Klearchos:

»Es mag nur ein Menschliches sein, und für Götter dürfte es anmuten wie das hülflose Tasten eines verfangenen Falters – aber wenn ich im Grase liege, die Arme ausgebreitet und wie gekreuzigt hangend am Marterpfahle der Erde, und wenn ich, der Gekreuzigte – ein Opfertier, gebunden und bekränzt – hinanstarre in den seligen Äther, nun, so kann ich nicht loskommen von dem Gedanken: ›Hier bist du nur dienend ein Zellchen im Leibe eines atmenden Riesen. Du blickst mitten hinein in sein riesiges Haupt.‹

Denn wie über meinem eigenen Leibe sich wölbt die klargebildete Kapsel des Schädels, luftige Gedanken bergend, so wölbt sich der Himmel über dem Leibe der Erde. Luftige Wolkenbilder ziehen hindurch, den Wassern entstiegen, so wie auch mir Gedanken steigen aus dem Blut. Und also verzeiht, daß ich den Kosmos für einen ›Makranthropos‹ halte, dessen Knochen die Berge und dessen Blut die Gewässer sind. Aber der Himmel ist sein Haupt, die Wolken sein Hirn. Durch das Hirn ziehn Gespinste – Gespenster: die bildkräftigen Eidola – des Kosmos Gedanken

 

»Nicht übel!« lachte Epikur. »Darum haben die Weisen der Vorzeit den Weltäther zum Weltgott gemacht und haben aufgestellt ihre Lehre von der Schöpfung durch den Weltgeist, weil sie glaubten, Gedanken seien zeugende Kräfte und der Riese Kosmos könne seine Gedanken einkörpern in Baum und Tier, Mensch und Blume, gar nicht anders, als wie der Mensch (dem Weltwoller nachwollend, dem Weltdenker nachdenkend) nun seinerseits wieder die Bilder jener Bilder verkörpert in einem wunderbaren zweiten Reich, im Reiche der Kunstdinge. Also: In Bildsäulen von Helden und Göttern. In Gemälden. In Musik. In Geräten, Maschinen, Techniken. In Millionen Werken, die doch alle nur nachahmen den bilderdenkenden Demiurg.

Ja, auch ich, der Alte, will einen wunderlichen Glauben eingestehn. In meiner Jugend, droben im Norden unter bedrängteren kälteren Völkern wandernd, habe ich geschaut die weiten Haiden und die brachen Ebenen im Schnee. Und die dunklen Stuben des Winters.

Da stand ich wohl oft als Jüngling vor einem Fensterglase und blickte fremd in die gedankenschwere, wolkenverhangene Landschaft. Mein lebendiger Hauch schlug sich nieder am kalten Glas. Dann träumte ich: ›Hier im Norden ist der Mensch: Gottvater. Jetzt erschaffe Ich neu: die ganze Welt.‹

Und kräftig-bewußt hauchte ich wider das Glas. Und siehe! Im Glase erschien der Palmenwald meiner Heimat. Und es kamen: Die Blumen und die Farne meiner Kindheit. Und die Zypressen kamen, nach denen ich mich sehnte. Und alles erschien, wovon ich träumte. Geronnene Musik! Mitten inne: schöne Menschengesichte.

Ich aber dachte: Da wird sichtbar, was die Seele birgt. Die Musik meiner Worte setzt sich um in geordnete Form gefestigter Gestalt.

Da ahnte mir: Anders nicht entsteht die Welt: Aus beseelendem Hauch!

So verfestigt sich immer neu, wie Wasser niederschlägt zu Eiskristallen und zu kristallisiertem Gebild: die unendliche Fülle gedanklicher Kraft.

Sie wird sichtbar ein Weilchen dank des Dunkels. Sie verschwindet wieder im bildauftrinkenden Licht.«

 

Auf einen Wink des Lehrers ergriff nun den fallenden Faden Trasyllos – Epikurs Lieblingsschüler, neben ihm zur Linken.

 

Trasyllos:

»Ich weiß es nicht, Meister, warum deine Worte von den Gedankenkräften mich so traurig machen. Warum sie mir unwahr erscheinen angesichts des Himmels und seiner Wirklichkeit. Unwahr und leer.

Und ich denke an das Rätselwort des Meisters von Ephesos, jenes Sinn- und Unsinn-wort, das du uns gedeutet hast: ›Die Sonne ist sechs Fuß breit.‹

Du sprachest: ›Was er sagen will, der Rätselhafteste, Trübeste, mit diesem offenkundig sinnleeren Satze, den jedes Kind belächelt, das birgt einen feinen Spott auf Wissenschaft. Er will sagen: Die Sonne, welche wir denken, ist eben – gedachte Sonne. Gedanken sind nicht das Erste, sondern ein Zweites. Und wir müssen uns hüten, eine zweitrangige Gedankenwahrheit an die Stelle unsrer unmittelbar gelebten zu setzen.

Denn doppelt haben wir Alles: als Erlebnis und als Gedanknis.

Ich aber, ich, der Rätselerrater, traue meinen Sinnen mehr als meinem Denken. Selbst wenn wir dort mitten in der Sonne weilten, ja selber Sonne wären, so wäre die gelebte Sonne etwas Anders als – – wir denken. Nicht ein mathematischer ›Gegenstand‹, sondern: Lebendiges.

Die Sonne der Astronomie wird nie je ein lebendes Wesen tasten, schauen, fühlen, sein. Nur das Bild, das wir sinnenhaft erleben, hat an uns selber Anteil, und wir sind selber seines Wesens und Lichts.‹ –

So sprachest du, Epikur, an jenem Tage, wo du uns die ›Zweitrangigkeit des Denkens‹ erschlossest.

Darum nun ist es mir heute zuwider, daß du die wandernden Wolken mit Gedanken vergleichst und den Himmel über uns mit einem denkenden Gehirn.

Es ist wahr: Das Denken ist gebunden an Dasein von Gehirn. Aber ist denn Seele gleichsinnig mit Denken?

War etwa Seelisches je an Hirn gebunden? Sind nicht Träume und Bilder auch dort, wo weder Geist noch Hirn ist? Im Grase und in der Blume. Im Wassertropfen und in den Perlen des Tau! Ja! Ich fühle es … wenn ich im Grase liege und zum Himmel träume: Träume sind es, und auch ich: ein Traum.

Wenn ich als Knabe abends beim Elternhaus im großen Garten mich in das Heu bettete vor Schlafenszeit und ich sah die Wolkenzüge kommen: Reiter mit Rossen und Rüden, freundliche Genien mit Frühlingskränzen, feurige Vulkane, verschollene Drachen, Hydern, Greifen, dann dachte ich: ›Nun kommen die Träume!‹

Die Träume, sie kommen vor Nacht dahergezogen über die Brücken und Landstraßen. Über die Wiesen und die Gärten. Sie ziehn im Abendäther und lassen sich auf die Städte nieder. Jedes Lebendige überkommt nun sein Traum! Jedes spinnt mit am Teppich des Lebens! So grübelte ich im Grase und spürte, daß Gedanken blaß sind. Bilder nur: wirklich.«

 

»Du hast Recht, mein Knabe«, sprach Epikur. »Es ist wahr: die Ketten der Gedanken sind bleiche Nachbilder einer Wirklichkeit, die nur in Träumen lebt. Und wie ein kleines Fünklein hie und da aufblitzt und schnell wieder untertaucht ins große Dunkel, so blüht das wache Bewußtsein am denkenden Tage wohl manchmal hervor und spiegelt die Lebenstraumbilde in Begriffen und spricht von ›Atomen, Elektronen, Energie, Bewegung‹, von ›Kraft und Stoff‹, von ›Raum und Zeit‹ und spürt nicht mehr das lebendige Wesen und wähnt wohl gar: daß jene Sterne, welche im Himmelsgrau leise aufschimmern, ›Stoffe‹ sind, ›Gegenstände‹ in ›Zeit und Raum‹, nicht aber: zeitlos ewige Dämonen und Götter.

Aber nicht die Gedanken unsrer wachen Tage erzeugen die Träume unsrer Nächte, sondern umgekehrt: Wovon wir selbunbewußt dunkel träumen, das lenkt uns am wachen Tage. Das wird für kurze Dauer: Gedanke: Sinn und Wort.

Dies aber, merkt Freunde, ist der Unterschied von lebendigem Leben und Nur-Gedachtem: Alles Lebendige lebt außerhalb von Zeit und Raum! Gedachtes dagegen, Leben als ein Gedachtes, tritt ein in die lineare Reihe. Gedachtes wird zu Geschichte: wird zur Kette der Geschehnisse oder der Gegenstände, gewoben und verknüpfbar am Leitfaden Ursache-Wirkung.

Habt ihr je beobachtet, wie Träume kommen?

Wahrlich völlig anders als jene eklen ›Analytiker der Psyche‹ wähnen, welche aus Träumen immer gerade Das herausdeuten, was für sie selber noch allein-verständlich, noch allein-erkennbar ist: Die Gier des Geschlechts, den verdrängten Machtwillen, die Sucht nach Geltung oder all die Millionen Ersatzräusche ihrer entlebten, von der Natur ins logische Bereich ausgespieenen toten Rasse – eine Welt der Ehrgeizlinge und Eitelkeitler, nichts mehr fühlend, gar nichts als: ›Geschichte und Zeit!‹ Sogenannte: ›Wirklichkeit‹. –

Ach, lassen wir die Menschen und blicken, im Grase liegend, in die Wolken, kindlicher Weisheit froh.

 

Wie also kommen Träume? Gleich Wolken! Beständig einander durchdringend, kriecht Gestalt in andere Gestalt. Nun ist's Löwe, nun Burg, nun Purpurlager, darauf eine Jungfrau schläft, und nun Zackengebirge aus Schnee.

Das sind nicht wie Gedanken zeitlich-ursächlich aneinander reihbare Ketten mit zählbar-erzählbaren Zeit- und Zahlenschnitten. Das sind nicht: Reihen aus Gliedern. Nein –! Das sind ›Eidola‹, die wallend webend ineinander sich wandeln und deren Gleichnis nur Musik, nur ein Symbol zu fassen vermag, nie aber: das Denken und Wissen, welches angewiesen ist auf das integrierende Zählen und Erzählen nach Raum, Zeit, Bewegung und Reihe.

So aber wie Wolken, so sind Träume! Und wie Traum, so ist (jenseit unsres wachenden Tages) alles Leben: Zeitloses Ineinander von Bildern, die wir nicht sehn, aber sind. Sie rinnen zu Gestalt, sichtbar für Sinne. Und lösen sich in Äther und Hauch.

Darum, Trasyllos, hast du richtig erfühlt, daß der Himmel dir malt das Gemälde des Wachstums; daß die deutende Kraft wachen Gedankens nur ein verblaßtes, zuletzt nur zu künstlichem Nachbilden, künstlichem Nachahmen dienliches Gleichnis ist jener urbildnerischen Urmacht zeitlosen Traums ohne Ur-Sache, ohne Gegen-Stände.

Denn Gegen-Stände vergehn mit dem Wissen. Dämonen aber dauern. Wir sind, was wir nicht sehn!

 

Nun aber sollst du, kluge Diotima, die du, kaum zuhörend, schon lange in die Wolke überm Meer starrst, uns beichten, was du da droben Geheimnisvolles erfuhrst.«

 

Diotima:

»Einem Zugvogel blickte ich nach, einem wilden Storch. Und ich bedachte die wunderbare und rätselhafte Gewalt, welche die Kinder der Luft, die Vögel, lenkt und sie wiederfinden läßt über Tausende von Meilen die alte Eiche im Nord, die vertraute Palme im Süd.

Oft als Kind sah ich die Lerche über dem Kornmeer. Und dachte: Dieses Weizenfeld hat Myriaden Halme. Jeder Halm ist genau wie der andere Halm. Ununterscheidbar sind die Felder. Aber irgendwo in diesem stundenweiten Kornmeer hat die fröhliche Lerche ihr kleines Nest. Und darin: junge Brut. Sie schwebt tausend Meter über den Korn wellen. Droht aber auf der Erde die geringste Gefahr ihrem seligen Neste, husch! ist die Singerin herabgeschossen und grade an der Stelle, wo das Nest und die Jungen sind.

Wie kann sie das wissen?

Sie kann es nicht sehn. Sie kann es nicht wittern. Welche Wissenschaft ist es, die aus einer Myriade Weizenhalmen grade einen bestimmten sie wiederherausfinden lehrt? –

Dann betrachtete ich die wanderfrohe Schwalbe, welche am Firste des Tempels nistet im Winkel unter zerbrochenem Stein. Und ich staunte, als die im Frühling gen Norden Ziehende zum Herbste wiederkam und hinter derselben Säule genau denselben zerborstenen Mauerstein wieder auffand. Und dachte: Ungezählte Städte tragen ungezählte Tempel, und alle Mauern sind die gleichen; ununterscheidbar. Und die Schwalbe findet über das Rund der ungeheuren Erde hin wieder den alten Stein, untrüglich.

Welche Wissenschaft ist es, die aus Myriaden weißen Steinen grade nur den einzigen sie herausfinden lehrt?

Dann, noch halb ein Kind, gaben mich die Eltern zu dir, Epikur. Ich kam in unser Thiasos der Freien, Frohen.

Ich verstand nicht viel von deinen Gedanken, aber ich merkte, daß sie um die Erde wanderten gleich der Schwalbe und immer das Ziel fanden, untrüglich. Ich sah, wie dein Geist über der Welt schwebte gleich dem kleinen Liederherzen Lerche und immer zurückkehrte zu dem Nest, wo die sechs Jungen auf dich warteten.

Da dachte ich: Der Gedanke eines Großen übt die selbe Wissenschaft, welche Schwalbe und Lerche lenkt.

Es sind Wellen im Äther, unerkannt, unerkennbar: Ätherwogen, welche Alles binden und verbinden, die auch wir Menschen mit unsern Begriffen ahnend erfassen und in Worte zwingen. Und rundum schwingt dies Lebendige und hält auch mich mitumschlossen und ich schwinge mit.

Immer ein Schritt trennt mich vom Letzten. Und wir wandern: Das Dunkel, das Lichte und Ich zu Dritt ober schwingendem Wellenmeer; schwingen so mit und finden den Heimweg.

Dies waren wirre Gefühle, wenn ich als Kind in die Wolken blickte. Aber es war mir nie gegeben, sie klar zu erfassen und in Begriffen zu deuten. Bis zu einer Stunde, wo du – es war im Heiligtum der Athene und wir hatten getanzt und ruhten im Grase – zu uns sprachest vom Wesen der Musik.

Du sprachest von der Lehre der Pythagoräer: Die Gestirne über uns seien in kreisender Bewegung. Und es sei nichts als bewegter Tanz, der den verschiedenen Sinnen, auch unsern menschlichen Zufallssinnen, sich verschieden kundgebe. Dem Ohre als Musik, dem Auge aber zugleich als wohlgefugte edle Gestalt.

In jener Stunde blitzte in mir auf eine Ahnung der Wahrheit:

Unerkannte Wellen des Äthers erscheinen unsern begrenzteren Sinnen als Musik und Bild. Aber die Vögel des Himmels haben weitere Sinne. Sie fühlen genauer die unmerkbare Bewegung und werden ihr nachgezogen, so wie der Magnet das Eisen nach sich zieht.

Was als Bild im Liedfünkchen Lerche lebt: ›Nest und die Jungen‹, dessen Bewegungswelle spürt sie durch alle Räume. Denn sie schwingt eben selber in diesen Wellen.

Und (so sagtest du) immer nur fühlen wir verwandten Dämon. Ich aber weiß wohl, daß meine Worte selber nur tastende Flüge sind zu einem Ziele, mir unbewußt.

So wie die Schwalbe immer sucht den alten Mauerstein. Das bist du, unser Lehrer.«

 

Da lächelte der Meister und legte sorgsam die Hand auf die glühende Stirne des Mädchens.

»Ja,« sprach er, »Diotima, auch deine Gedanken sind Wellen im All, unvergänglich wie jede Bewegung. Denn Jede war Jedes. Jedes mündet in den Strom.

Ein jedes Sichtbare will Auge, um gesehn zu werden. Ein jedes Hörbare will Ohr, um vernommen zu werden. Jedes kehrt zur Heimat.

Der Klang sucht den Klang. Und der Duft den Duft. Und jede Welle wird aufgenommen von verwandter Welle.

Ihr aber vergeßt nicht, daß jeder Gedanke mitzeugt in Ewigkeit. Und daß auch Überzeugungen – Zeugungen sind.

Wie sollten wir Schmutziges denken? Wie Häßliches suchen? Wie Niederes tun? Da wir Alles bleiben, was wir sind. Da wir alles, was wir sind, ewig sind! …

Nun Eusebios, bist du uns schuldig deinen Wolken träum.«

Eusebios:

»Wenn du, Epikur, der Meinung bist, daß Alles, was auf der Erde atmet, empor muß an den Himmel, dann eine Weile durch ewige Felder zieht und schließlich zurückkehrt zu Wiedergeburten auf die bittere Erde, so finde ich in deinen Worten Rechtfertigung eines Spiels, das ich schon als Knabe mit Wolken und Winden gespielt habe, und ich nannte es: ›Ich träume Weltgeschichte!‹

 

Alles und alle, was je auf der Erde getobt, gelärmt, gelitten hat, Ninives und Babylons unzählbare Scharen, Pharaonen und ihre Völker, Cäsaren und ihre Legionen, die Weisen und die Narren, die Sklaven und die Despoten, die Lieblichen und die Verzerrten … alle ziehn da droben am Himmel und schlagen noch einmal ihre alten Schlachten, gründen Städte, verbrennen Städte, hassen, lieben, hetzen ihr Wild oder werden gehetzt.

Alles Das hat geprahlt, geredet, sich wichtig genommen, sich aufgebläht, sich gefühlt als Mittelpunkt. Wo sind sie nun?

Ich aber im Grase unter den stillen Blumen sehe Marathon und Salamis, die Heldenfahrt der Argonauten, das brennende Ilion. Dort kommen Homer und Hesiod. Helena schwebt ewig über die Länder und Achilleus steht ewig im Männerkampf.«

 

»Sie kehren wieder!« sagte ruhig Epikur. »Es gibt keinen Sinn, es gibt kein Ziel, denn es gibt keinen Untergang. Morgen läßt ein neuer Tag dieselbe Sonne sehn.

Im Frühling wird die Erde jung. Und es ist doch der alte Garten.

Der Baum dort am Wege ist derselbe Baum, unter dem Deukalion saß. Und die Amsel auf seinem Ast sang schon, als Theben prangte und Ilion brannte. Es sind immer die alten Samen aller Dinge, die in andern Dingen wandelnd wiederkommen. Und jedes sagt: ›Ich‹ und jede fühlt: ›Mit mir beginnt die Welt.‹ Und keines doch ist etwas Anderes als zeitlicher Leib für zeitlosen Traum. Nicht anders wie Wolken dort wandern im Wind: Dämonen sind es.«

Klearchos: »Es deucht uns Reihe, aber es ist nur Kreis. Nur von Uns aus oder zu Uns Hin ordnet sich Natur in: Geschichte. Mit Anfang, Fortschritt, Ende.

Aber in Wahrheit ist Alles, was je gewesen, immer auch irgendwo wieder neu. Und Alles, was möglich ist, das ist auch wirklich.

Du sagst: ›Es ist Abend!‹ Aber am jenseitigen Ufer, wo die für uns untergehende Sonne aufgeht, sprechen die Seelen: ›Es ist Morgen!‹ Du sagst: ›Frühling kommt!‹ Aber am jenseitigen Pole sprechen die Seelen: ›Jetzt ist Winter kommen.‹«

Eusebios: »Die dort sichtbar werden für Augen, die Dämonen, sie werden auch tönbar für Ohren. Denn was mir als Gesicht zuteil ward, ›der Zug der Weltgeschichte‹, die Völker und Helden, die Züge aller Tiere, die Gewinde aller Blumen, eben das Selbe scheint auch dem Ohre sich zu künden in der Sprache des Äthers: Stürmen und Winden.

Es klagt und weint in Kaminen, ächzt, schaudert, stöhnt in den Schloten, bettelt und buhlt in den Birken, grollt, grimmt, grämt sich im Wald, lispelt, schmachtet … ja, was ist Das Alles?«

Epikur: »Hast du gemerkt, mein Eusebios, daß jedwede Landschaft ihre andere Windstimme hat, daß jedes Gelände andere Ätherklänge verkündet? Wirbelstürme, Zyklone, Fallwinde in den Steppen und Alpen. Wüstenwinde Arabiens, Ägyptens, Samum der Sahara. Die Sonnenböen wie Luftsäulen rasend durch hohen Kamin. An des Stoßes Spitze, dort die Haufenwolke. Dann wieder Frühlingswinde, mir Fieber ins Blut ätzend. Winde mit Eis, das Herz versteinend. Möge nun unser Wissen ergründen, wie Jedes entsteht, Leben und Wesen kennt nur der Dämon, von Sprache verwandten Dämons berührt.«

Aspasia: »Die Eltern sind es, sind ferne Geschwister! Es ist Sprache wie unsre Sprache, wenn der Wind der Weite singt und der Wind der Talmulde und der Wind vom Berge. Wenn das Stöhnen knarrt im Nord aus den Eichen, jahrtausendealt. Wenn die Lüfte spielen auf Harfen der Wettertanne. Wenn der ganze Wald erbraust im Chore. Aber am schrecklichsten ist es auf dem Meere in den sieben Nächten vor der Geburt. Das ist, wie wenn Wasser drängen vor zu enger Pforte. Wer kommt hindurch? Wer bleibt zurück?«

Epikur: »Wer Das in Menschenworte übersetzen könnte, der kündete: Seele der Welt. Aber was treibt da unsre Jüngste? Lais! Sie tollt über die Wiese mit dem Hündchen. Höre, Lais! Du und das Hündchen … was wißt denn ihr von den Dämonen um euch, über euch? …«

Lais hatte einen Löwenzahn gepflückt, welcher abgeblüht, stolz seine Frucht trug: eine zierliche Haarkrone aus wolligen Federchen. Blies sie dagegen, so segelten die dreieckigen Luftschiffchen feierlich durch den blauen Raum.

Auf den Zuruf Epikurs stellte sich mutwillig die Lachende vor die Gefährten und pustete die Federkähnchen von dem hohlen Stengel, als wollte sie künden: »Seht! Da fliegen die Dämonen! Da segeln die Helden. Und die Legionen. Und die große Weltgeschichte!«

 

Epikur, lachend auf das holde Kind blickend, das sich eifrig mühte, auch das letzte Federkähnchen von dem Blütenstengel herunterzublasen, sagte freundlich:

»Du, Lais, hast nichts gesprochen und bist doch die Weiseste von allen. Denn du hast uns mit deiner Atemkraft hingewiesen auf das wahre Geheimnis der Wolken.«

Nach einer Weile richtete er an Klearchos die Frage: »Ist es nicht wunderbar, daß wir und die Tiere leben vom Atem dieser Blumen und Pflanzen und daß die Bäume und Pflanzen hinwiederum leben von unserm Hauch?«

Klearchos: »Ist vielleicht Alles ein einziger Austausch von Odem? Der Äther aber, der lebendige Gott, ewiger Windstrom durch Milliarden Gestalt?«

Epikur: »Müßte dann nicht Einer, der die Macht hätte, diesen Kreisstrom zu unterbrechen, das Sein selber zur Ruhe bringen?«

Klearchos: »Beginnen nicht alle Magier mit dem Beherrschen des Atems?«

Epikur: »So läge also das Geheimnis des Äthers im Atem? Daher nennen wir ›Mystik‹, ›Verschluß‹: die Gabe: ›Abzustellen den Strom‹.«

Eusebios: »Wenn also an einem Punkte der Austausch versagt, so schwiege das Sein?«

Epikur: »Altes Weistum raunt: ›Bringt ein Einziger von Innen Ich zum Erlöschen, dann steht Ixions Rad.‹«

Klearchos: »Warum, wenn das Ich ertötet ist, lebt das Es fort?«

Epikur: »Was kannst du töten? Das Ich! Was ist das Ich? Der blinde Fleck, an dem du nicht siehst. Der tote Punkt im Gefälle, wo du nicht strömst.

Unser Leben im Ich ist ein frevelhaftes Sichablösen. Das wird gestraft. Der Tod ist der Sold dieser Sünde. Schritte aber wirklich durch Uns der Odem des Seins, so wäre jede Veränderung in Uns auch Veränderung im All. Und unser Erlöschen: Allerlöschen.«

Eusebios: »Wenn aber jedes Einzelne auslischt, warum soll dann nicht auch Alleben enden?«

Epikur: »Weil Einzelsein gehemmter Atem ist, also: Schmerz. Alleben aber ist Lust. Und Lust: ewig.«

*

Von dem Felsen am Meer trug der Wind den Klang einer Flöte. Es war eine sanfte Hirtenweise, über die Wasser schwebend und durch den blauen Äther: sanft klagende Melodie.

Lais sagte: »Das ist Epicharm. Er gibt uns ein Zeichen.«

»Horch!« sprach Trasyllos, »er spielt auf dem Felsen die alte indische Weise.«

Sie lauschten. »Sie gibt die Lösung für unsre Fragen, die Stimme des Abends; das Lied vor der Nacht.«

»Es sind die Gesänge der wandelnden Wolken, ich kenne die Worte«, sprach Aspasia leise:

»… Wo das letzte Licht seine Strahlen hat
Hinterm Rande des rötlichen Saums,
Kennst du die Zinnen der Gnadenstadt
Hart an den Ufern des Traums?
Wo der Sträfling schüttelt die Kette ab,
Wo des Kranken Wange blüht rot …
Wir aber wehe Uns! wir Wachenden wehe uns!
Stets dröhnt im Hof die Trommel vor Tag:
›Komm zurück zur sehnenden Not!‹«

Sie lauschten lange in den Abend. –

»Ist denn die Seligkeit«, fragte versonnen Epikur, »ein Nichtmehrwissen, Nichtmehrwollen? Lockt uns der Abend so tief in den süßen Tod?

Seht die Sonne! Sie verströmt ihr Blut über die Schneeberge: Gott, der dahingeht und durch sein Blut erlöst.

In Wolkenschiffen fahren sie hinab: Zeus, der die Ägis schwingt, daß die Sterblichen zittern; Apollo, dessen goldene Pfeile den nachtgeborenen Drachen erlegten, Athene, waffenklirrend aus dem Haupt des Kroniden entsprungen; Hermes, aus dämmernder Höhle die Sonnenstiere beschleichend; stillhinschwebende Wolkenschiffe tragen sie dahin; und die Sehnsucht schickt ihnen nach ihre Tauben.«

 

In grellen Tönen, brandrot und schwefelgelb, glühte nun der Himmel. Weißes Gewölk verschied im letzten Blau. Das Sonnenrund hatte das Wasser erreicht. Über den kahlen Felsenbergen im Ost schwamm der Mond herauf. Aus Nebelmilch traten die Sterne.

 

»Wir aber,« sprach Aspasia in das letzte Rot, »wir müssen wachen.«

»Wo das letzte Licht seine Strahlen hat,
Eh dich verlassen der Schein,
Blicken du darfst in die Gnadenstadt,
Aber du kannst nicht hinein,
Wir schleppen verbannt vom schützenden Wall
Lichtsucher uns, bis in den Tod,
Stets dröhnt im Hof die Trommel vor Tag:
›Komm zurück zur sehnenden Not!‹«

Diotima: »Wenn die Sonne schwand, läuft ein Zittern durch die Berge. Das Meer schwillt empor. Die Wurzeln, die Bäume beben: der Sonne nach!«

»Hört die Trommel! die Trommel!« rief Epikur. » Was ruft sie? Marschiert! Vorwärts, Kolonne! Es gilt zu wachen, gilt zu wehren. Es gilt, zu bewahren das Rückgrat der Welt. Sehe ich die sinkende Sonne, so sehe ich den rollenden Wagen. Das Leben ist Rennbahn. Wir rollen zum Ziel!«

Klearchos: »So meinst du, daß Gestirne Götter sind, denen wir nachtrachten, unser Los erfüllend, unter ihrem Gebot?«

Epikur: »Was wir sind, danken wir Sternen. Und nichts je wird die Menschheit erfinden und richten, was nicht Nachbild wäre der Bilder ihrer Sterne. Wir hätten keinen Wagen, wenn nicht das Sonnenrad rollte. Und keine Sichel mähte unsre Saat, wenn nicht die Mondsicheln mähten.

Vielleicht erobern wir nachbildend Alles, was in Wolkenträumen zum Werden schreitet. Denn Menschen weit ist Natur noch einmal! Das Schiff ist der Fisch noch einmal! Das Flugzeug ist der Vogel noch einmal! Das Beil ist die Faust noch einmal! Der Rechen ist der Finger noch einmal! Der Napf ist die Hohlhand noch einmal! Der Blasebalg ist die Lunge noch einmal! Der Schrank ist der Brustkorb noch einmal! Der Stuhl ist der Hockende noch einmal! Wir erfinden nicht; wir finden. Mögen die Dämonen uns gnädig sein.«

 

Die Musik auf dem Felsen verstummte. Aber das silbergeglättete Meer begann zu leuchten. Und zugleich begannen die kahlen Felsen zu glühn. Da erhoben sie sich aus den Gräsern und bildeten ein Gewinde gleich Blumen, indem sie einander die Arme um den Nacken legten, und so, leise singend, halb wie Kinder, halb wie Bacchanten, schritten sie still entgegen der Nacht.


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