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Dreizehntes Kapitel.
Hüterin der Rasse

Fräulein Kuczinsky schlief in Baracke eins, die gleichzeitig Wirtschaftsgebäude war und die Vorräte und Wäsche des Lagers beherbergte. Die Leiterin verfügte über ein Führerbett Nr. 2, eine Führermatratze Nr. 1, mit Roßhaar gefüllt, und über einen Schrank in einer Ausstattung, wie sie nur der Führerschaft zugebilligt war.

Aber sie hielt sich nur selten in ihrem Schlafraum auf. Ihr Hauptquartier befand sich in der »Kommandantur«; dieses Gebäude hatte merkwürdigerweise durch die vielen Jahre den Namen seiner früheren Bestimmung beibehalten. Damals, in der Kriegszeit, lebten die jeweiligen Lagerleiter hier; sie wechselten oft, denn jeder betrachtete es als eine Art Verbannung, diesem öden, versteckten Lager vorzustehen.

So wurde auch die Kommandantur von ihren flüchtigen Bewohnern nur mit wenig Liebe ausgestattet. Für Fräulein Kuczinsky aber sollte sie eine Pflegestätte des neuen deutschen Geistes werden.

Das Ziel, das sich Fräulein Kuczinsky gesetzt hatte, war ungeheuer. Doch wer war sie selbst, diese Leiterin des Lagers Ost 2/68?

Sie hatte schon in ihrer Ansprache an ihre Zöglinge angedeutet, daß sie der nationalen Sache schwere Opfer gebracht hatte.

Fräulein Kuczinsky hatte nie unterlassen – auch nicht in den Zeiten der tiefsten Schmach, wie sie sich auszudrücken pflegte –, das Anrecht auf Deutschlands Vorherrschaft zu betonen. Ihre Feinde versicherten immer, daß ihre Einstellung begreiflich sei, ihr fremdländischer Name zwinge sie, ihr Deutschtum besonders hervorzuheben. Da waren überdies ihre weitausladenden Backenknochen, die ihrem Gesicht einen exotischen, fast mongolischen Ausdruck gaben, da war das harte R, das wie ein Widerhall ihrer Grenzheimat klang.

Fräulein Kuczinsky war Lehrerin an einer städtischen Mädchenschule in Frankfurt an der Oder, sie wurde durch eine Ohrfeige aus ihrer vorgeschriebenen Laufbahn geworfen, einer Ohrfeige, die sie mit großer Kraft einer ihr frech erscheinenden Schülerin verabreichte. Die Geohrfeigte, die Tochter eines sozialdemokratischen Stadtverordneten, mußte sich sofort mit schmerzendem Ohr in ärztliche Behandlung begeben. Die Folgen aber waren noch schlimmer für Fräulein Kuczinsky. Sie wurde wegen pädagogischer Unfähigkeit aus dem städtischen Dienste ohne Entschädigung entlassen. Das war ein furchtbarer Makel gerade für Fräulein Kuczinsky, die sich wie niemand für das edle Amt der Erziehung berufen fühlte. Diese leidenschaftliche Pädagogin war überzeugt, daß der wahre Grund ihrer Leiden und aller Verfolgungen ihre nationale Gesinnung war. – Die Roten, die Untermenschen, hatten ihr Martyrium verursacht.

In welcher Welt mußte sie leben! Haß trieb sie nachts aus dem Bett, ihre Fäuste hämmerten gegen die Wand ihres Zimmers, als wäre dies eine Gefängnismauer, die sie von der Welt abschloß. Ihre Feinde gönnten ihr nicht die Luft zum Atmen, sie nahmen ihr den Lebenszweck. Was gab es für sie anderes, als Kinder zu formen? Die Feinde, das waren der sozialdemokratische Rektor, ihre Kollegen, die sie verrieten, preisgaben, um sich bei den Behörden lieb Kind zu machen. Der maßlose Haß mengte sich wie ein bitteres Gewürz ihren Speisen, ihrem Trank, ihren einsamen Spaziergängen und ihren Träumen bei. Gleichzeitig mit ihm aber entstand und wuchs in ihr eine Liebe. Diese Liebe mußte genauso maßlos werden wie ihr Haß; eine einfache menschliche Liebe konnte kein Gegengewicht sein. Dieser dem gewöhnlichen Leben Entrückte, dieser Angebetete sollte sie auf schreckliche und vollständige Art rächen; er sollte ihre Feinde vernichten, er war der einzige, der das konnte, er würde die roten Untermenschen ausrotten. Er sollte Deutschlands Retter werden, ihr Retter!

Fräulein Kuczinsky war die erste Frau in Frankfurt an der Oder, die mit einem sichtbar an der Brust befestigten Hakenkreuz durch die Straßen ging.

Sie fing die spöttischen, wütenden, haßerfüllten Blicke mit wahrer Wollust auf, und als zum ersten Male ein Unbekannter dieses Zeichen des rotierenden Lichts an ihrer Brust mit erhobenem Arm und dem »Heil Hitler«-Rufe begrüßte, empfand sie sich eingereiht in die Gemeinschaft der Höheren, der Lichten. Vielleicht war sie kein Übermensch, nein, sie war nicht so vermessen, das zu glauben, aber sie gehörte zu jenen, die die Höheren und Niederen erkannte, die von der Ahnung beseelt war: Ich erkenne anbetend den Übermenschen, und ich weiß, wer Untermensch, wer verdammt ist!

Vielleicht hatte ihr uneingestanden die nationale Erhebung Enttäuschungen gebracht. Sie hatte den Gedanken genährt, daß man von ihr an höherer Stelle wußte, daß der Hohe, Helle ihren Traum erraten und erfüllen würde. Man würde sie zur Kommissarin der Mädchenschule ernennen und sie beauftragen, das rote Gewürm zu strafen und zu entlassen, das Gewürm, das gegen sie ausgesagt hatte, das sie zu heftig, zu unbeherrscht genannt hatte. Sie hatte auch schon von einer ferneren Zukunft geträumt; sie dachte, daß sie, nachdem sie ihre Aufgabe in Frankfurt an der Oder erfüllt haben würde, eine Berufung nach Berlin an das Ministerium für Volkserziehung bekäme. War sie nicht ausersehen, neue Wege der Menschenformung zu weisen?

Aber zum Kommissar in Frankfurt an der Oder wurde ein ihr unbekannter Lehrer ernannt, der es wahrscheinlich besser verstanden hatte, mit seiner nationalsozialistischen Gesinnung zu protzen und sich vorzudrängen. Sie kam auch nicht nach Berlin in die Nähe des Angebeteten; erst nach verschiedenen Gesuchen wurde sie zur Lagerleiterin des Lagers Ost 2/68 ernannt, dieses Lagers, das in Kriegszeiten als eine Art Sibirien galt. Heute freilich war es eine nationale Erziehungsstätte, in der zu leben eine Ehre, eine Auszeichnung war!

Wie zum Trost sagte sie sich jeden Tag: diese Aufgabe, die ihr der Führer gestellt hatte, war doch die schönste: die Erziehung der Geeigneten zu starken Menschen. Die nationalsozialistische Erziehung wollte nicht Gleichmacherei sein, sondern Auswahl; man sollte die Spreu vom Weizen scheiden, das Böse vom Guten, den Hohen vom Niedrigen. Der Mensch ist nicht gleich!

Welch ungeheure Aufgabe harrte der Erziehung im neuen Reich. Die Frage war nicht nur die, Böses vom Guten zu scheiden; man müßte auch aus Deutschlands Körper die kranken Keime ausmerzen, nur so könnte Deutschland gesund und mächtig werden, so mächtig, daß die Welt wieder vor ihm erzittern würde.

Äußerlich hatte sich der Büroraum der »Kommandantur« nur wenig verändert.

Dort, wo früher der Kaiser seinen Ehrenplatz hatte, hing jetzt Hitler in etwas kleinerem Format, wie der ungebleichte Streifen anzeigte.

Den Platz, den früher die Landkarte der Kriegsschauplätze mit kleinen Fähnchen einnahm, schmückte jetzt ein Ausspruch Alfred Rosenbergs, der jedesmal auf Fräulein Kuczinsky wie eine Erleuchtung wirkte:

»Das Wesen der deutschen Erneuerung besteht darin, sich einzufügen in die ewigen Naturgesetze des Blutes und durch eine bewußte Auslese das willenmäßig Starke und Schöpferische wieder an die Spitze zu führen.«

Die Aktenschränke, die lange Zeit leerstanden und in denen nur Holzwürmer ihr Unwesen trieben, waren zu neuem Leben erwacht. Jeden Tag füllten sie sich mit neuen Papieren, die meisten in der sorgfältigen, ordentlichen Handschrift Fräulein Kuczinskys.

An dem grausam malträtierten Rollschreibtisch, auf den die Offiziere im Exil Flüche und Frauennamen geschnitzt hatten, verharrte die Leiterin nicht nur in ihrer Freizeit, sie opferte auch bedeutende Teile ihrer Nächte. Notizbücher häuften sich, es gab die verschiedensten Hefte, blaue und braune, längliche und breite, es gab Stammrollen, Gesundheitspässe, Ahnentafeln. Sie führte Tagebücher, in denen sie über die psychologischen und moralischen Eigenschaften ihrer Zöglinge genaueste Eintragungen machte; sie notierte sich ihre Reaktionen bei ihren weltanschaulichen Vorträgen.

Wie ein amerikanischer Filmgewaltiger die Wirkungen auch bei dem namenlosen, unbedeutendsten Teil des Publikums registrieren läßt, so verfolgte Fräulein Kuczinsky den Widerhall ihrer Worte bei ihren Zöglingen.

Die Leiterin des Lagers Ost 2/68 korrespondierte mit Krankenhäusern, Ärzten, Standesämtern und Pfarren. Sie wollte zurückgehen zu den Müttern, wie sie sich vor sich selbst ausdrückte, zu dem geheimnisvollen Ursprunge, zu dem Blut, das über das Schicksal jedes einzelnen Menschen entscheidet.

Sie wollte ein Archiv anlegen, in welchem jede einzelne als Wert oder Unwert der Nation gebucht werden sollte; hier sollte die Keimzelle entstehen nicht nur für die Erziehung, sondern auch für die Erkenntnis: Wer ist nützlich, wer ist schädlich für die Nation? In Zeiten höchster Gefahr könnten solche Menschenarchive der ringenden Nation unersetzliche Dienste leisten. Man könnte bei geringen Vorräten an Hand dieser Dokumente die Wertvollen bevorzugt behandeln; so könnten die kranken Keime leichter ausgemerzt werden.

Neben dem Hitlerbild hing ein Verzeichnis ihrer Vortragsreihen:

»Kämpfertum – Normannen, Cherusker und die alten Germanen«
»Preußentum – Soldatentum«
»Schlageter oder der Kampf gegen Unterdrückung«
»Unsere Kolonien«
»Gleichheit und Erbgut«
»Mutterschaft und Heldentum«
»Volk ohne Raum«
»Durch Sozialismus zur Nation«
»Führertum – Adolf Hitler«

Die blau unterstrichenen Vorträge hatte sie schon gehalten. Manche ließen die Mädchen ganz ungerührt. Sie boten ihr nicht die Möglichkeit, überhaupt festzustellen, was die Mädchen sich über ihre Worte dachten. Andere aber erregten sie so stark, daß sie ihre Angst überwanden und aufrichtig wurden. Dann erst spürte Fräulein Kuczinsky die ganze Schwere ihrer Aufgabe, jetzt sah sie, daß die Mädchen in einer anderen Welt lebten als sie, daß ihre Überlegungen, die ganz an der Erde hafteten, unfähig waren dem Flug ihrer Gedanken zu folgen.

Die Vorträge, die solche Stürme hervorriefen, waren die über »Gleichheit und Erbgut« und »Mutterschaft und Heldentum«.

In »Gleichheit und Erbgut« suchte Fräulein Kuczinsky den Mädchen ihre Lieblingsidee, die gleichzeitig Grundlage des nationalsozialistischen Staates war, klarzumachen.

Wie wunderbar, wie vollkommen könnte das Leben sein, wenn die Menschen endlich begreifen wollten, daß die Natur in ihrer unendlichen Weisheit Herren und Knechte, Hohe und Niedrige haben wollte. Daß es eine Vermessenheit gegen die Gesetze des Weltalls sei, die Schranken zwischen den Rassen niederreißen zu wollen. Was schwächte Deutschland? Das Unbegreifen der Unerschütterlichkeit dieser Grundfesten der Gesellschaft!

Mit welchem Feuer trug Fräulein Kuczinsky diese Gedanken vor. Sie fühlte sich dann als ergebene Schülerin des Führers, als Treuhänderin seines Willens.

»Dem Christentum blieb es vorbehalten«, rief sie, »die naturgegebenen Schranken zwischen den Rassen niederzureißen. Die Wahnidee der Rassengleichheit war schuld daran, daß sich die nordische Schicht mit der rassisch wertloseren vermischte. Das Christentum wollte das Naturgesetz, daß Rasse Schicksal sei, verwischen. Das urgermanische Prinzip von Gefolgschaft und Führer, von Freien und Unfreien ging verloren.«

Da geschah etwas Unerhörtes. Ein blasses Mädchen, das in der ersten Reihe saß, Cäcilie Scherer, eine Bauerntochter aus dem Münsterischen, stand auf und sagte im Tone ruhiger Feststellung – doch mit dem Bewußtsein, daß diese Feststellung ungeheuerlich war –: »Sie reden gegen Christus!«

»Setz dich sofort, du Unverschämte!«

Fräulein Kuczinsky blätterte wie im Fieber in ihren Papieren: Cäcilie Scherer – ihre Familie war bei den Behörden auch nicht gut angeschrieben. Sie wird ins Strafkommando kommen, die kleine Duckmäuserin.

Dann sagte sie voller Hoheit: »Wir werden noch abrechnen, aber jetzt wünsche ich, nicht mehr unterbrochen zu werden!«

»Noch viel weiter in der Zerstörung der Naturgesetze ging die Französische Revolution, die die Irrlehre von der Gleichheit der Menschen aufgebracht hatte. Die Franzosen, die schon durch Vermischung mit Negern und anderen niederen Rassen rassisch verdorben waren, hatten versucht, indem sie ganz Europa in ein Blutbad tauchten, diese Irrlehre zu verbreiten.

Es war Rousseau, der diesen verderblichen Ausspruch tat: ›Die Menschen sind gleich; von sich aus ist alles gut, nur die Welt ist böse.‹

Ein anderer Sohn dieses rassisch so tief gesunkenen Volkes, der Franzose Lamarck, lehrte, daß die Ursache für die Umbildung der Arten und Eigenschaften auf Umwelteinflüsse wie Klima, Ernährung, Erziehung zurückzuführen sei. – Wie falsch, wie grundfalsch! Das, was der Mensch ißt, diese materielle Nebensächlichkeit, soll auf ihn Einfluß haben, und nicht das Blut, nicht das Erbe seiner Ahnen!? Nur ein in die materiellen Niederungen verstricktes Volk konnte solche Gedankengänge entwickeln.«

Aus den niedrigen Bänken kam leises, unterdrücktes Murmeln und Murren.

Die Zöglinge folgten keineswegs den geistig hohen Ausführungen. Sie dachten weder an Rousseau noch an Lamarck. Aber die Theorie vom Essen brachte ihnen ihre leeren Mägen in Erinnerung. Sie flüsterten sich zu:

»Ich möchte was Anständiges zu fressen haben!«

»Der Reis war heute wieder zum Kotzen!«

»Muffig und angebrannt!«

»Was wird's heute abend für 'n Fraß geben?«

Fräulein Kuczinsky gebot Ruhe und rief mit einer Stimme, in der tiefe Erregung mitklang:

»Das Erbgut kann niemals durch äußere Einflüsse verändert werden. Ein kriminell veranlagter Mensch kann auch durch die beste Erziehung, durch die beste Umgebung nie ein nützliches Glied der Gesellschaft werden. Ungeheuer sind die Fehler der liberalistischen Epoche, die diese Tatsache verkannt hat.

Indem man Erbkranke künstlich züchtete auf Grund des Naturgesetzes der höheren Vitalität der minder wertvollen Lebewesen, vernachlässigte man Erbgesunde in jeder Weise und führte so, statt der in der Natur vorhandenen Auslese des Guten, eine Gegenauslese der Schlechten herbei!«

Die Gesichter ihr gegenüber blickten gelangweilt und ermüdet ins Leere; Fräulein Kuczinsky wollte sie aufrütteln. Ihre Stimme quoll über von Bewegung: »Der Mensch ist dekadent geworden, eine falsche Humanität führte ihn dazu, entgegengesetzt den Gesetzen der Natur zu handeln. Das Gefühl für den Mitmenschen und sein Leiden erstickte das natürliche Gesetz vom Kampf, dem Urantrieb alles Welterlebens.«

Wieder stand Cäcilie Scherer auf und sagte: »Fräulein Kuczinsky, Sie haben nicht recht. Man darf nicht ohne Mitleid sein!«

Die Leiterin konnte sich nur mit größter Anstrengung beherrschen, um sich nicht auf das Mädchen zu stürzen, aber ihre Stimme kippte auch so über: »Wegen solch einer, wie du bist, haben wir den Krieg verloren, wegen dieser Kreuzkriecher, die sich vor dem Feinde demütigten, die den eigenen Volksgenossen predigen, die andere Wange hinzuhalten, wenn sie vom Gegner eine Ohrfeige erhalten; die gegen das Gesunde sind und nur für das Kranke schwärmen, die das Ungesunde wuchern lassen wollen und so das Gesunde ausrotten. Solche wie du sind der Verderb unseres Volkes. Aber jetzt kommen andere Zeiten; jetzt werden die Kranken ausgerottet, und die Gesunden werden leben!«

Dann fiel sie wieder in den belehrenden, dozierenden Ton ihres Vortrages zurück: »Wir müssen im Volke die Idee verwurzeln, daß jeder, der Erbanlagen in sich trägt, die nicht gut, rein und für das Volk nützlich sind, auf eine Fortpflanzung verzichtet.«

Die Mädchen blieben stumm; aber Fräulein Kuczinsky fing einen höhnischen haßerfüllten Blick Hildes auf.

Kleiner Untermensch! dachte die Leiterin, die den Kampf um die Seelen der Mädchen immer schwerer fand. Aber sie gab ihn nicht auf.

Die Zwischenfälle bei ihrem Vortrag »Mutterschaft und Heldentum«, einem Thema, das ihr besonders am Herzen lag, waren überraschender, weil der Ausbruch von einer Seite kam, die sie nie als feindlich empfand.

Fräulein Kuczinsky sprach von den Zeiten des Niederganges, bevor der Retter und Führer kam. Damals wollte das deutsche Volk keine Kinder.

»Nachdem wir den Krieg verloren hatten, meinten einige weise Köpfe: Reizen wir nicht die anderen Völker; um jeden Preis müssen wir Frieden halten. Wir dürfen nicht andere Völker reizen. Damit wir alle mit Brot und Arbeit versorgen, beschränken wir die Geburten. – Das war ein großer Fehlschluß, denn: hält man ein Volk künstlich klein, dann wird die Auslesemöglichkeit immer geringer, die Schwachen werden sämtlich erhalten, und das ganze Volk wird kraftlos. Es ist immer so gewesen, daß sich die Grenzen zugunsten der volkreichen Nationen verschieben.

Die Folgen des Pazifismus wirkten sich bei den Frauen katastrophal aus, die Frau wurde zu bequem, Kinder zu bekommen. Man verkannte den wahren Sinn der Ehe, die geheiligt ist, weil in ihr die Zukunft des Volkes liegt. Im Dritten Reich ist das anders geworden; die Frau bringt jetzt stolz ihr Kind zur Welt. Aber das, was bis jetzt geschah, sichert noch nicht die Zukunft unseres Volkes. Im Dritten Reich müssen durchschnittlich vier Kinder auf eine Ehe kommen.«

Dieser Ausspruch brachte die Zungen in Bewegung.

Grete Barth rief ganz laut: »Wird man die Löhne erhöhen?«

Ein anderes Mädchen, das sich dann schnell hinter dem Rücken einer Kameradin verbarg, fragte: »Müssen auch die Arbeitslosen vier Kinder haben?«

»Ist ja alles viel zu teuer für vier Kinder!«

»Dann müßten ja alle Kohldampf schieben!«

Die Fragen und Zurufe kamen so schnell, daß Fräulein Kuczinsky gar keine Möglichkeit fand, die Ungehörigkeiten zu rügen.

Und da geschah das Unerwartete: Elisabeth, die Schweigsame, war aufgesprungen, hob die Arme wie zur Anklage und rief mit einer Stimme, in der Verzweiflung klang: »Wie sollen wir denn überhaupt Kinder bekommen, auch nur eines?«

Das von Unwillen gerötete Gesicht Fräulein Kuczinskys konnte dem allgemeinen Wiehern und Gelächter, das diesem Ausruf folgte, keinen Einhalt tun.

»Ich erwarte auch gar nicht, daß ihr hier Kinder bekommt. Dazu habt ihr noch reichlich Zeit.«

»Nein, wir haben keine Zeit«, antwortete Elisabeth trotzig.

»Daß du so sprichst!« sagte Fräulein Kuczinsky, und aus ihrer Stimme klang aufrichtige Trauer, »von dir hätte ich keinen so ungehörigen Ton erwartet.«

Kleine Materialisten! Wenn man von dem Höchsten spricht, denken sie an ihren Suppentopf und an die Margarinestulle. Man sucht das Urgeheimnis des Blutes, man will eine Nation zu dem höchsten Gipfel führen, und sie kommen mit ihren kleinen Berechnungen. Sicher erfährt der Führer auch ähnliche Enttäuschungen!

Sie rang weiter um die ihr anvertrauten Seelen, sie suchte weiter nach dem Geheimnis der Abstammung dieser Mädchen, die sich ihr so schwer fügen wollten.

An Sonntagnachmittagen lud Fräulein Kuczinsky die Mädchen, die sie interessierten und über die sie zu wenig offizielle Daten besaß, zum Kaffee.

Der Kaffee war dünn, aber er bildete doch die Sensation des Lagers.

»Echten Bohnenkaffee hat sie gegeben, Würfelzucker, Büchsenmilch und Keks dazu«, brüsteten sich die Eingeladenen.

Aber trotz der ungewohnten Genüsse, die ihnen geboten wurden, fühlten die Mädchen doch Unbehagen in der »Kommandantur«!

Der unauslöschliche Forschungsdrang trieb Fräulein Kuczinsky zu endlosen Fragen.

Ida Merrein aus Baracke zwei, eine frühere Zigarettenarbeiterin, saß am Kaffeetisch der Leiterin.

Fräulein Kuczinsky fragte.

»Leben deine Eltern?«

»Ja.«

»Was ist dein Vater?«

»Ich weiß nicht.«

»Wieso weißt du das nicht?«

»Er war arbeitslos.«

»Und jetzt hat er Arbeit?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Wie ist er denn politisch eingestellt? Du kannst ruhig darauf antworten, ich frage nur privat und zu deinem Besten.«

»Ich weiß nicht.«

Fräulein Kuczinsky fragte nach den Geschwistern, was sie sind, was sie denken, was sie tun; ob sie krank waren, wie lange sie krank waren, was ihnen gefehlt hat. Sie fragte nach den beiderseitigen Großeltern; wie alt sie waren, als sie starben; was sie waren.

Ida antwortete einsilbig, immer wieder tröpfelte ihr langweiliges »Ich weiß nicht« in das Gespräch. Die Kaffeekanne blieb unter der gestrickten wärmenden Hülle verborgen; die Schüssel mit den Biskuits schob sich nicht gastlich vor Ida.

Die Mädchen, die gesprächig waren, sahen öfters die Porzellankanne sich über ihre Tassen neigen; ihnen wurden die besten Schokoladenplätzchen geboten.

Aber die arme Ida wußte rein gar nichts.

»Was waren deine Großeltern?«

»Sie lebten auf dem Lande.«

»Waren sie Bauern?«

»Ich weiß nicht, aber sie haben uns nie Lebensmittel geschickt. Sie waren sicher sehr arm.«

»Aber auch wenn man arm ist, kann man doch wissen, was man ist«, sagte Fräulein Kuczinsky. Es war traurig, wie wenig sich diese Geschöpfe um ihre Familien kümmerten.

Die Mädchen nannten Fräulein Kuczinsky »die Zange«.


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