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Erstes Kapitel.
Begegnung am 1. Mai

Sie glich einer Schwimmerin. Mit hastigen Armbewegungen zerteilte sie die Menge, die wie aufspritzend zur Seite wich und eine schmale Rinne frei ließ. Sie schlüpfte durch sie hindurch, während schon im nächsten Augenblick die Menschenwoge wieder über ihr zusammenschlug.

Diese Menge schien wie das Meer ganz ohne Grenzen. Zur Bewegungslosigkeit gebannt, hielt sie doch innerer Aufruhr in ständigem Auf und Ab.

Das Mädchen erreichte eine kleine Erhöhung. Von hier gewann sie einen ganz neuen Blick. Jetzt sah es aus, als wäre auf diesem Feld die ganze Stadt, das Wesentlichste der ganzen Stadt zusammengepreßt.

Unzählige Tafeln schwebten über den Köpfen der Menge: »Belegschaft AEG«, »Ullstein«, »Brotfabrik Wittler«, »Aschinger«, »Siemens u. Schuckert«, »Kaufhaus Wertheim«, »Industriewerke Karlsruhe«, »Haus Vaterland«, »Tiefbau-Gesellschaft«. Wie auf dem primitiven Theater beschworen sie stärker als Bilder, die nur den schwachen Abklatsch der Wirklichkeit geben, die Stätten, die sie nur mit einem Wort andeuteten: Maschinenhallen, Kessel, aufglühenden Stahl, Kanonen und Flugzeuge, Wege und Bagger, knetende Eisenfinger der Brotmaschinen, Hochhäuser und Schächte.

In diesem unübersehbaren Tafelwald suchte das Mädchen ihren Platz. Könnte sie ihn doch endlich wiederfinden.

Die Gruppen waren kahl. Die Fahnen mit den Hakenkreuzen, die so weit waren, als wollten sie den Himmel bedecken, umflatterten das Feld, aber sie gehörten nicht zu den Gruppen.

In den Augen des Mädchens sammelte sich gespannte Aufmerksamkeit. Erst flossen die Gesichter gesichtslos ineinander. Nur langsam begannen sich die einzelnen zu unterscheiden, so wie man sich an das Dunkel langsam gewöhnen muß, bevor man allmählich die Umgebung erkennt.

Wie verschieden waren die Gesichter, die sich plötzlich gegen den harten Hintergrund der Masse abzeichneten! Sie zerbrachen die scheinbare Einheit. Es tauchten entschlossene, triumphierende, verzweifelte, aufleuchtende, müde, haßerfüllte, aufrührerische, dumpfe, entschlossene, verängstigte, stolze, stumpfe, vergrämte, kampfbereite Antlitze auf.

Manchmal fühlte das Mädchen, wie Haß auf ihre Person übersprang. Sie wußte, er galt ihrem Kleid. Ihrem Ehrenkleid, auf das sie stolz war. Dem blauen Rock, der weißen Bluse, dem schwarzen Tuch, das von einem braunen geflochtenen Lederschlupf gehalten wurde, der braunen Kletterweste.

Einigemal erreichte sie, zwischen zusammengepreßten Zähnen abschätzend geflüstert, das Wort: »Hitlerika.«

Laß sie nur, dachte das Mädchen, laß sie nur. Das wird schon anders werden. Es ist schon jetzt viel besser. Früher waren sie schlimmer. Aber sie alle, auch die erbittertsten Feinde, werden merken, daß sie richtig, daß sie aus dem Elend geführt werden.

Doch es tat jetzt weh, in diesem Menschenlabyrinth allein herumzuirren. Langsam begann sie aus den dichtesten Massen herauszufinden. Die Menge wurde dünner. Man konnte jetzt an manchen Stellen das Feld sehen mit schütterem, krankem Gras. Rostig hatten sich gelbliche Flecke in das armselige Grün eingefressen. Gruppen lagen verstreut auf der mageren Wiese.

Die Stimmen der Verkäufer, die laut ihre Ware anpriesen, konnten sich jetzt ungehindert Gehör verschaffen.

»Warme Würstchen gefällig?« – »Saure Drops, die beste Erfrischung!« – »Die Riesensalzstangen, kauft die Riesensalzstangen!« – »Limonade, wer kauft Limonade?«

Es war wie auf einem Jahrmarkt.

»Hier ist's richtig«, sagte ein älterer Mann, der mit einer größeren Gesellschaft auf der Wiese lagerte. »Keine Lautsprecheranlagen, diesen Winkel haben sie vergessen. Man braucht nicht zuzuhören und wird doch vom Feuerwerk etwas sehen können.«

Das Mädchen haßte ihn. Warum mußte sie gerade hierher geraten, fern von den Kameraden? Vielleicht sprach schon der Führer, und sie war gezwungen, diese Leute zu hören, die ungläubig waren, die immer nur das Schlechte sehen wollten.

Ihre Augen suchten so verzweifelt, so dringlich, daß sie einen SA-Mann, einen jungen Menschen, der schlendernd vorbeikam, zum Stehen brachten.

Der Junge streckte ihr den Arm entgegen und sagte: »Heil Hitler!«

Auch sie hob den Arm und rief mit heller, wie befreiter Stimme: »Heil Hitler!«

Der Junge hatte den Arm wieder heruntergelassen und fragte sie: »Suchen Sie etwas, Fräulein?«

Sie antwortete ihm erst nicht; ihr Blick verlor sich an ihm. Jetzt suchte sie nicht mehr, oder doch, sie suchte nur noch dieses Gesicht, diese Gestalt, diese Augen.

So möchte ich aussehen, wenn ich Junge wäre, dachte das Mädchen. Genau so, ein scharfes, vorspringendes Kinn möchte ich haben, eine so gerade Nase, solche blauen Augen und zwei solche goldenen Pfeile im tiefbraunen Gesicht, das brauner ist als seine braune Uniform.

Dann sagte sie ihm: »Ob ich etwas suche? O ja, ich suche das Warenhaus Alderman.«

Beide lachten.

Das Mädchen sprach weiter: »So was Dummes, ich habe meine Kolonne verloren und kann sie nicht wiederfinden. Schon seit einer Stunde irre ich hier herum in der Menge. – Ist das nicht großartig, so viele Menschen? Aber ich hätte zu gern unter meinen Kolleginnen gestanden, ich hätte ihre Gesichter während der Rede des Führers beobachtet; und Sie? Haben Sie auch Ihren Betrieb verloren?«

»Ich muß, offen gestanden, sagen, ich bin einfach ausgerückt. Wenn Sie diese Büromenschen aus dem Bankhaus Wallenberg sehen würden, dort arbeite ich nämlich – unser Prokurist hat einen Regenschirm mit; stellen Sie sich das vor, mit einem Regenschirm vor dem Bauch marschiert er seit acht Stunden.«

»Sie müßten die Parfümerie-Abteilungsleiterin von unserem Warenhaus sehen, mit sooo hohen Absätzen, da kann sie natürlich nicht genug jammern: Sind wir eigentlich Soldaten, und so ähnlich. Von unseren Lehrlingen und Verkäuferinnen sind ja einige ohnmächtig geworden, das ist Unterernährung. Aber das wird anders werden. Und Ihre Kollegen, wie sind die sonst?«

»Ach, ich mag gar nicht ihre Redensarten hören; wissen Sie, wie diese älteren Leute sprechen?«

»Ich kann es mir vorstellen.«

»Das kennen wir, sagen sie. Alles kennen sie, alles haben sie schon erlebt. Diese Begeisterung, kennen sie, die Fahnen, kennen sie, den Krieg, kennen sie. Man kann es ihnen nicht klarmachen, daß sie diese Begeisterung, diese Fahne nicht kennen, daß unser Krieg nicht sein würde, wie der ihre war.«

»Aber wir werden ja gar keinen Krieg haben.«

»Ich meine, wenn wir zu einem gezwungen werden sollten. Sehen Sie, mit Ihnen verstehe ich mich. Sie sind nicht wie diese Ewig-Unzufriedenen.«

»Denken Sie, bei uns gibt es auch solche. Gestern, als ich eine Schuhschachtel öffnete – ich arbeite nämlich in der Schuhabteilung –, fand ich ein Flugblatt darin.«

»Haben Sie es gleich angezeigt?«

»Nein, das konnte ich nicht tun, ich hatte Angst, es hätte ein Mädel aus unserer Abteilung sein können: Tilly, Gilda oder Anna. Wenn ich höre, daß einem Kommunisten, den ich nicht kenne, dies oder jenes geschehen ist, da freue ich mich. Wieder so ein Hetzer unschädlich gemacht worden. Aber wenn ich jemanden kenne, dann ist das doch anders, finden Sie nicht?«

»Ich weiß nicht, ob Sie da recht haben. Was stand denn in dem Flugblatt?«

»So genau habe ich es nicht gelesen, es war ein Aufruf zum Roten Mai.«

»Es gibt keinen Roten Mai mehr, es gibt nur einen deutschen Mai, in dem alle einig sind.«

»Ja, schade nur, daß so viele Menschen nicht verstehen wollen, daß wir jetzt einig sind. Aber wir stehen hier und haben gar nicht die Rede des Führers gehört.«

»Das Feuerwerk dürfen wir nicht auch noch versäumen. Wir wollen einmal das Gelände vom strategischen Standpunkt betrachten, wie unser Sturmbannführer immer sagt. Wir müssen den richtigen Punkt finden, von dem man am besten alles übersehen kann. Geben Sie mir die Hand, sonst könnten wir uns wieder verlieren. Ich wäre dann so allein.«

»Allein unter so vielen Menschen?«

»Wenn wir uns wieder verlieren würden, wäre ich sehr einsam. Und Sie?«

»Also, hier ist meine Hand.«

»Gehen wir hier auf diese Terrasse.«

 

»Schauen Sie, wie schön, wie bunte Sterne für den Weihnachtsbaum.«

»Aber jetzt kommt noch etwas Schöneres, der Niagarafall.«

»Ach, das ist herrlich, dieser unendliche Lichterfall, der den ganzen Himmel überrieselt.«

»Möchten Sie mit mir zu dem Niagarafall?«

»Sie dürfen jetzt nicht sprechen, sonst kann ich nichts sehen.«

»Aber jetzt kommt was ganz Tolles: Trommelfeuer an der Westfront.«

»Aber nein, das ist ja schrecklich, mein Trommelfell! Das hört ja gar nicht auf. Ist es nicht wie Kanonendonner?«

»Lehnen Sie sich doch an mich, dann werden Sie keine Angst haben. Eine Frau ist eben dem Trommelfeuer nicht gewachsen, auch wenn sie ein Hitlermädel ist. Aber einem Mann macht so was Spaß. Was meinen Sie, wenn es wirklich losgehen würde; das hier ist ja ein Kinderspiel. Aber es ist gut, wenn sich die Leute langsam daran gewöhnen.

Hätten Sie Angst um mich, wenn es Ernst würde? Wenn das Feuer kein Feuerwerk mehr wäre?«

»Das dürfen Sie gar nicht sagen.«

»Wir müssen weitergehen, es ist zu Ende.«

Die Massen überfluteten, wie Wasser, das über die Ufer tritt, das Feld. Sie versickerten in tausend Adern, die alle den Lichtern der Stadt zuströmten. Der ganze Raum war von Tönen erfüllt, aber es war wie das sinnlose Rauschen und Raunen des Wassers.

Nur hier und da wurden einzelne Sätze deutlich:

»Nein, so was von Menschenmengen!« – »Das Feuerwerk war wirklich großartig.« – »Viel Gerede, wenig Sinn.« – »Großer Rummel.«

Das Mädchen und der Junge hielten sich wieder an den Händen.

»Haben Sie das gehört?« sagte der Junge, und seine Stimme klirrte vor Empörung. »Überall lauern noch Feinde, man muß wach sein.«

»Ja, das muß man, das glaube ich auch.«

»Wie gut, daß Sie ein Hitlermädel sind, ich glaube, ich hätte Sie sonst gar nicht angesprochen.«

»Und ich hätte Ihnen vielleicht gar nicht geantwortet, wenn Sie nicht ein SA-Mann wären.«

»Wir müssen uns wieder treffen, ja? Am Sonntagnachmittag im Tiergarten bei den Hirschen, sagen Sie: ja.«

»Ja.«

»Aber ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Gestatten Sie, mein Name ist Erwin Dobbien.«

»Sind Sie aber förmlich! Ich heiße Elisabeth Weber.«

»Elisabeth.«

»Erwin.«


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