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Drittes Kapitel.
Marschmusik unter blühenden Kastanien

Der Sonntag kam, ein Sonntag, genau wie ihn sich Elisabeth und Erwin ersehnt und erwünscht haben.

Hoffentlich wird es nicht regnen, dachte Erwin, während er Konten nachschlug, Unterschriften verglich und Zahlenreihen zusammenrechnete. Hoffentlich wird es nicht regnen. Nicht als ob ihn selbst etwas störte, wenn es goß, das Unwetter möchte er sehen, das ihn hindern könnte, eine Verabredung einzuhalten. Aber die Mädchen, und selbst die bei Hitler, sind so zimperlich und haben Angst um ihre Kleider und Hüte. Und wenn es regnet, denken sie gar nicht mehr an den Treff im Tiergarten und gehen einfach ins Kino mit dem ersten besten, der in der Nähe ist.

Der Prokurist Melchior brüllte ihn an: »Was ist endlich mit dem Konto Hauswirt und Haas? Ich möchte nur wissen, Herr Dobbien, wo Sie eigentlich immer Ihren Kopf haben.«

Wenn das endlich ein Ende nehmen würde, die Konten und die Zahlenreihen und der Herr Melchior mit seinem Gebrüll! –

Wenn es nur nicht regnet am Sonntag. Elisabeth kniete vor einer Dame, der sie die Schuhe anpaßte, als betete sie. Auch ihr Gesicht drückte inbrünstiges Flehen aus.

Vielleicht hat er die Verabredung schon längst vergessen. Man weiß doch, wie die Männer sind. Aus dem Auge, aus dem Sinn! Ich würde natürlich auch hingehen, wenn es regnete. Aber im Regen vergeblich zu warten, das ist scheußlich. Nicht, als ob ich Angst hätte vor dem Regen, aber es wäre doch so trostlos.

Aber die Befürchtungen waren überflüssig. Der Sonntag im Tiergarten war schön. Blauseiden fiel der Himmel auf den grünsamtenen Rasen. Das war ein gepflegter Rasen, wie geduscht und rasiert. Mit bunten Blumen bestickt. Wie schön ist der Tiergarten, denken beide. Sie haben ein bißchen Angst, sie könnten sich nicht gleich wiedererkennen.

Sie brauchen die bronzenen Hirsche, die die Zeit mit grünen Fingern ganz sachte berührt hatte, nicht wartend zu umkreisen. Beide sind vor der verabredeten Zeit da.

Aber wie sollten sie sich nicht wiedererkennen! Sie kennen sich nicht seit einigen Tagen, sie kennen sich seit ewigen Zeiten.

»Sie sehen heute so mädchenhaft aus«, sagte der Junge und nahm die Hand Elisabeths.

Sie trug ein geblümtes Organdykleid – der Stoff war aus dem Ausverkauf, und beim Zuschneiden hatte ihr Gilda geholfen. Bis jetzt hatte sie sich nicht viel aus Kleidern gemacht, es war ihr gleich, wie sie aussah, aber jetzt war das anders. Doch sie war auch heute ohne Hut. Hüte waren so spießig! So bürgerlich!

Erwin blickte lächelnd auf ihre Haare, auf diese leuchtende Kappe, die ihren Kopf umschloß.

»Jedesmal, wenn ich ein Mädchen mit sehr hellen, glatten Haaren sah, dachte ich, Sie sind es. Ich bekam ganz kalte Hände, komisch, nicht? Aber wenn die Mädchen näher kamen, sahen sie Ihnen nicht ein bißchen ähnlich.«

»Und ich habe bei jedem SA-Mann erst gedacht, Sie sind es. Aber keiner –«, erst wollte sie sagen, keiner sei so schön gewesen, aber nein, so was sagt man doch nicht.

»Aber keiner?«

»Keiner waren Sie.«

Sie gingen ganz langsam zwischen den Wiesen und den Bäumen. Die Bäume standen nahe beieinander, so dicht, daß ihr Schatten grüne Kühle ausströmte und den Duft gefallener Blätter, die sich, in langsamem Tod modernd, in neues Leben, in neue Säfte wandeln. Wunderbar war dieser Waldatem, der die gelassene, ruhige Gemächlichkeit, mit der die Natur waltete, verriet. Eingehüllt von ihm, wurden die Menschen von der Ahnung ihrer Unvergänglichkeit berührt und von der Gewißheit, daß der Tod nur ihre Gestalt ändern könne.

Es waren auch andere Menschen da, viele Menschen, junge Paare, die genauso selbstvergessen dahinwandelten wie sie. Alle lebten so sehr ihr eigenes Leben, daß sie so wenig störten, als wären sie Tiere oder Bäume.

Der Junge hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt. Durch den leichten Stoff spürte seine Hand das leichte Pochen ihres Blutes, diese Begleitmusik des Lebens. Es teilte sich seinem Handteller mit; es war, als verbinde sich ihr Blut und wäre in denselben Kreislauf eingeschlossen.

Sie fühlt seine warme, starke Hand, und sie kann nur langsam weitergehen. Es ist, als wären sie zusammengewachsen, unlöslich verbunden.

Die Bäume haben bald nicht mehr die Dichte des Waldes; sie lassen die Stadt hereindringen; Häuser schimmern durch ihr Grün. Von den beiden ist das weiche Dahinträumen, ohne daß sie es gewahr wurden, gewichen. Schon ist die Hand, die unlöslich schien, von der Schulter des Mädchens gewichen. Ihr Gang wird straff, sie reißen die Glieder zusammen, sie marschieren.

Sie merken die Wandlung selbst erst, als Musik, Trompetenklirren, Trommelgewirbel klar ihr Bewußtsein erreichen.

Sie lachen.

»Mein Gott, wir sind wie brave Zirkuspferde; wenn die die Musik hören, auf die sie abgerichtet sind, traben sie gleich im Kreise«, sagte Elisabeth.

»Das gerade ist schön, die Marschmusik ist wie ein Schlachtruf, sie rüttelt uns auf.«

Jetzt hatten sie den Wald hinter sich. Das breite, weiße Band einer Autostraße teilte das Grün. Die Luft erzitterte von Hupen, Geschrei, Lachen, Musik; Staub- und Benzinwolken hingen schwer über ihr. Schwarz standen die Menschenreihen, alle wollten sie Musik hören, sehen, wie andere Menschen sich bewegten, sich kleideten; ihr eigenes Leben hatten sie gelangweilt abgehängt.

Aus allen Cafés sickert Musik, sie trifft sich ohne Ordnung, sie wirbelt wie in einem rauschenden, reißenden Schlund chaotisch durcheinander.

Die beiden standen da wie geblendet.

»Wollen wir in die ›Zelten‹ gehen?« fragte der Junge, »Militärmusik ist doch zu schön.«

»Ach ja«, sagte das Mädchen.

Die Kaffeegärten waren nebeneinander gereiht, Menschen und Musik strömten aus ihnen im Durcheinander. Es war ein ständiges Kommen und Gehen.

»Wir sehen uns erst alle an, bevor wir uns irgendwo hinsetzen.«

»Ja, wir suchen uns den Garten aus, der uns am besten gefällt.«

Von überall lockte gleich stark, gleich klirrend, mit dem gleichen militärischen Schmiß die Musik.

In dem einen Café spielten Matrosen. Der Kapellmeister war als Kapitän gekleidet, Goldtroddeln tanzten im gleichen Takt wie sein Dirigentenstab. Die Matrosen marschierten auf dem Podium und verbanden die Musik mit einer Schiffsübung. Am Ende zogen sie an einem Mast eine Hakenkreuzfahne in die Höhe. Ein Teil des Publikums klatschte im Takt.

Aber aus dem Nachbargarten prasselten viel stärkere Beifallsbezeugungen herüber, und Erwin zog Elisabeth weiter mit sich. Sie wären am liebsten überall gleichzeitig gewesen.

Drüben spielten friderizianische Grenadiere. Sie trugen weiße Hosen, lange, rote Röcke und hohe Helme, die sich wie Zuckerhüte über ihre weißen Perücken stülpten.

»Was für Riesenkerle!« sagte anerkennend Erwin. »Man könnte meinen, es seien Soldaten und nicht Musiker.«

Er drückte vergnügt Elisabeths Arm.

Die Grenadiere streckten gleichzeitig riesige Posaunen in die Luft. Die lauten Töne überspülten die Zuhörer mit anfeuernden Rhythmen. Die durcheinanderschwatzenden Tisch- und Zaungäste wurden aus ihrer kleinen Eigenwelt gerissen und von den gleichen klirrenden, aufreizenden, kriegerischen Klängen umfaßt. Sie marschierten zwischen den Tischbeinen auf ein unbekanntes Ziel los. Es war schön, so zu marschieren, während man bequem im Stuhl saß, Bier trank und sich an die Schulter seines Mädchens lehnte. Sie wurden in Zentauren verwandelt; ihr Körper spaltete sich, die Beine marschierten abenteuernd, während sich die Ellenbogen heimatlich auf den Tisch stützten und die Hände das Bierglas umfaßten.

Die Begeisterung war ungeheuer, und doch schien es, im Nachbargarten war sie noch größer. Eine dichte Menschenmenge pilgerte ohne Unterlaß dahin, und Erwin und Elisabeth drängelten in froher Laune dazwischen.

Hier spielten »Husaren«. Sie trugen eine Phantasieuniform: rote Pumphosen und hohe, schwarze Lackstiefel, blaue Jacken mit goldenen Schnüren und rote Kappen, auf denen goldene Knöpfe glänzten.

Die Husaren spielten:

»Der Gott, der Eisen wachsen ließ.«

Einige traten vor die Kapelle und sangen:

»Der wollte keine Knechte!«

Von allen Ecken des Gartens ertönten Beifallsrufe.

Die Husaren sangen weiter:

»Drum gab er Säbel –«

einer der Husaren zog seinen Säbel und ließ ihn in der Sonne erglänzen –

»Schwert und Spieß
dem Mann in seine Rechte.«

Zwei andere traten vor und fuchtelten mit irgendwelchen Instrumenten, die wahrscheinlich Schwert und Spieß darstellten.

Ein Teil des Textes ging im Beifallssturm unter.

Dann aber verschaffte sich wieder der Chor Gehör:

»Laßt brausen, was nur brausen kann
in hellen, lichten Flammen,
ihr Deutschen alle, Mann für Mann,
zum heilgen Krieg zusammen.
Und hebt die Herzen himmelan
und himmelan die Hände,
und rufet alle, Mann für Mann:
Die Knechtschaft hat ein Ende!«

Eine Menge brauner, schwarzer, aber auch ziviler Arme hoben sich in die Höhe. Die Biergläser klangen lauter. Aus verschiedenen Teilen des Gartens kam im Durcheinander das Echo:

»Die Knechtschaft hat ein Ende!«

Dann hörte man einige Augenblicke nur den gedämpften Klang der Biergläser, die auf ihre Filzplatten gestellt wurden.

Die Husaren-Musikanten schlugen jetzt mit voller Kraft auf die Trommeln, die Blechinstrumente ertönten im lauten Baß, Flöten versüßten mit weichen Trillern die scharfen Diskante. Der Chor sang:

»Laßt klingen, was nur klingen kann,
die Trommeln und die Flöten,
wir wollen heute, Mann für Mann,
mit Blut das Eisen röten,
mit Henkerblut, Franzosenblut,
o süßer Tag der Rache,
das klinget allen Deutschen gut,
das ist die große Sache!«

Der Jubel war groß, die Menge drängte sich in die Nähe des Podiums, um sich von der Musik berauschen zu lassen.

Elisabeth und Erwin wurden vorwärts geschoben. Er wollte etwas sagen, aber seine Stimme ging in dem Lärm unter. Er drückte seinen Mund an Elisabeths Ohr: »Ist es nicht herrlich?«

Aber das Lied war noch nicht zu Ende. Zwei Husaren sprangen vor, sie mußten einen höheren Rang unter den Musikanten bekleiden, denn ihr Dolman war von oben bis unten goldglänzend. Sie griffen hinein in dieses schimmernde Uniformenstück und entnahmen ihm, als hätten sie sie ihrem Herzen entrissen, eine Hakenkreuzfahne, die sie kunstvoll hin und her flattern ließen.

Dann sang wieder der Chor:

»Laßt wehen, was nur wehen kann,
Standarten wehn und Fahnen,
wir wollen heut uns Mann für Mann,
zum Heldentode mahnen.
Auf, fliege, hohes Siegspanier,
voran den kühnen Reihen,
wir siegen oder sterben hier,
den süßen Tod der Freien!«

Die sonntäglich geputzte Menge klatschte, schrie »Sieg Heil!«; mit geröteten Köpfen und winkenden Armen riefen die Männer die Kellner zu neuen Bestellungen, die Frauen wandten sich zufrieden lächelnd wieder den Kuchentellern und Kaffeetassen zu.

Elisabeth und Erwin wurden – es erschien ihnen wie ein Wunder – zu einem leeren Tisch hingedrängt.

Es war ein kleiner Ersatztisch, der etwas abseits stand. Es war wunderbar, sie konnten ungestört an einem Tisch zusammensitzen. Jetzt waren sie zusammengehörig hier in der großen Menge. Der Tisch stand unter Kastanien, die wie zu einem Freudenfest ihre duftenden Kerzen angezündet hatten.

Konnte es etwas Schöneres geben?

Die beiden sahen sich in die Augen und schwiegen.

Erst als das kühle Bier schon vor ihnen stand, sagte Erwin:

»Ich finde diese Begeisterung herrlich, findest du nicht auch?«

»Waren deine Eltern auch dagegen?«

»Wogegen?«

»Daß du zu Hitler gingst.«

»Ach, nein, mein Vater lebt nicht mehr, aber er wäre sicher dafür gewesen, er haßte die Novemberverräter. Er war ja nur in der Reserve, aber ein echter Offizier. Meine Mutter war auch für Hitler. – Und deine Eltern waren dagegen?«

»Ganz und gar, ich hatte zu Hause viel zu kämpfen, sie wollten es mir verbieten, daß ich in die Hitlerjugend eintrete. Sie haben mich ausgelacht; sie haben mich dumm gescholten, sie wollten mein Hitlerbild zerreißen.«

»War denn dein Vater ein Roter?«

»Er hat keiner Partei angehört, er ist schwerkriegsverletzt und sehr verbittert. Er ist Nachtwächter bei Siemens und Schuckert in Reinickendorf. Aber mit Verbitterung und Geschimpfe kommt man doch nicht weiter.«

»Ja, das denke ich auch.«

»Weißt du, unsere Gegend war ganz rot, und die Nachbarn haben jeden scheel angesehen, der braun war. Sie haben natürlich oft mit mir diskutiert. Wenn ich die Kommunisten gefragt habe: ›So, nun sagt mir, wann kommt euer Paradies?‹, da haben sie geantwortet: ›Ein genaues Datum können wir dir nicht angeben, vielleicht hängt es auch von dir ab, Elisabeth. Wir müssen erst die Mehrheit der Arbeiter gewinnen, ja, wir müssen die Mehrheit des Volkes überzeugen, daß es für sie keinen anderen Ausweg gibt als die soziale Revolution. Und dann noch müssen wir zu den schwersten Kämpfen bereit sein, denn die Besitzenden werden ihren Besitz mit Krallen und Zähnen verteidigen. Vielleicht werden wir das Paradies selbst nicht mehr erleben.‹«

»Na, ich habe mich auf Diskussionen mit der Kommune gar nicht eingelassen.«

»Ja, aber wenn wir sie überzeugen wollten bei Diskussionen. Ich kann aber auf das Besserwerden nicht warten, bis ich alt geworden bin. Ich will jetzt glücklich sein, wo ich jung bin. Hitler hat nichts von ›Vielleicht werden wir das Paradies nicht mehr selbst erleben‹ gesprochen. Er hat gesagt, es würde gleich, sofort anders werden. Es interessiert mich nicht, was in hundert Jahren geschieht!«

»Du hast recht, Elisabeth.«

»Und Hitler sagt: ›Die Frau soll Mutter werden und ihr eigenes Heim haben.‹ Das finde ich auch sehr richtig. Das ist doch nicht schön, zu Nutzen des Herrn Alderman das ganze Leben lang Schuhe zu verkaufen. Und dabei immer noch zittern zu müssen, man könnte noch diese jämmerlich bezahlte Arbeit verlieren.«

»Du gefällst mir, wenn du sprichst, du gefällst mir sehr.«

Einige rotgetönte und sahnefarbene Kastanienblüten fielen auf die Tische und Biergläser. Es war schön, hier zu sitzen.

Dann aber erinnerte sich Erwin wieder an die Eltern Elisabeths und fragte mit etwas Mißtrauen:

»Und jetzt, sind sie vielleicht auch jetzt noch gegen Hitler? Du mußt sie genau beobachten, auch wenn du ihr Kind bist.«

»Ach, ich gebe schon acht, schon weil ich Angst um meinen Vater habe. Einmal, das war noch ganz am Anfang, kam nachts SA in unser Haus. Da wohnte ein berüchtigter Kommunistenführer. Es war so still, die Leute horchten angestrengt. Man konnte Schläge hören und Geschrei, einen furchtbaren Schrei. Das war sicher die Frau; es war abscheulich, es zu hören. Wir waren alle wach und standen am Fenster. Mein Vater sah mich an, so von Wut erfüllt, als wäre ich schuld an dem, was da unten geschah. Aber wie sollte es mein Fehler sein, daß dieser Kommunist weiter hetzte. Ich habe es meinem Vater erklärt, warum niemand das Aufbauwerk des Führers stören dürfte. Ich glaube, daß er seitdem eingesehen hat, daß ich recht habe. Sie sehen, daß wir gesiegt haben; sie sagen jetzt nichts mehr. Ich kann ruhig mein Hitlerbild aufhängen, sie würden es nicht mehr anrühren.«

»Wo wohnt ihr?«

»In der Vinetastraße, im Norden. Ich glaube, es ist nicht sehr schön da. Aber ich weiß das nur, wenn ich unsere Straße mit ganz fremden Augen ansehe. Sonst gefällt es mir eigentlich. Die armseligen Blumen auf den Balkons, die Kinder, die ich alle kenne – ich kenne auch alle Katzen und Hunde in der Gegend. Und du, wo wohnst du?«

»Wir wohnen in der Schlüterstraße.«

»So? Das ist ja im Westen, am Kurfürstendamm. Ihr seid wohl reich?«

»Ach, du dummes Kleines! Was machst du für ein besorgt-betrübtes Gesicht! Wir reich? Hast du 'ne Ahnung, mein Kind. Wir haben weiter nichts wie Geldsorgen. Zu Hause höre ich nur Gejammere.«

»Ja, das ist doch aber eine feine, teure Gegend. Im ›Kundendienst‹ haben wir alle Straßen von Berlin durchgenommen, damit wir die Kunden entsprechend bedienen können. Die Kurfürstendamm-Gegend ist die teuerste.«

»Das lernt ihr alles? Das ist ja witzig.«

»Das ist gar nicht so witzig. Aber du sagst, ihr seid arm. Wovon lebt ihr denn in der teuren Gegend?«

»Also, mein Kind, du sollst alles ganz genau erfahren. Mein Vater war Regierungsrat, und so bekommt meine Mutter eine Pension. Aber die vielen Notverordnungen – hier wird abgezogen, dort wird abgezogen! Wir haben eine große Wohnung und dadurch viele Sorgen. Die Frauen hängen so an dem alten Kram und können sich von nichts trennen. Ach, wieviel die Damen lamentieren, das kannst du dir gar nicht vorstellen.«

»Wohnen denn bei euch mehrere Damen?«

»Das will ich meinen. Erstens mal haben wir zwei Zimmer vermietet, an eine Dame, natürlich aus unserem Bekanntenkreis. Dann wohnt meine Großmutter noch bei uns, die Mutter meiner Mutter. Früher war sie wohlhabend, aber durch die Inflation hat sie ihren letzten Pfennig verloren. Dann wohnt auch noch die Schwester meiner Mutter bei uns; meine Tante hat auch nichts. Ihr verstorbener Mann hat ihr etwas Geld hinterlassen, sie hat damit einen kleinen Antiquitätenladen aufgemacht, aber natürlich ging der Laden gar nicht, sie mußte ihn aufgeben. Die Leute können in schlechten Zeiten keine Kunstgegenstände kaufen. Ich kann's ja überhaupt nicht begreifen, wie Leute wegen irgendeiner ollen Dose oder Tasse aus dem Häuschen geraten können. Kannst du das verstehen?«

»Ich weiß nicht. Bei Alderman gibt's auch eine Antiquitätenabteilung. Aber ich habe nie daran gedacht, mir die alten Sachen anzusehen.«

»Also, glaubst du mir nun, daß wir nicht reich sind?«

»Ja, schon, es ging ja alles darnieder. – Und deine Damen waren für Hitler?«

»Ja. Sie haben es selbst immer gesagt, es muß anders werden. Aber freilich, daß ich in die SA ging, das gefiel ihnen schon weniger. Sie möchten den Nationalsozialismus, aber so einen ganz feinen, damenhaften. Doch gerade deshalb wurde ich SA-Mann. Ich mußte mich vor diesen Frauen, die mich verzärtelten und verhätschelten, retten. Ich wollte kein Muttersöhnchen werden. Es war herrlich, unter Männern zu sein, harte Disziplin zu fühlen. Ich war erst sechzehn – damals war ich noch kein richtiger Mann.«

»Aber jetzt bist du einer.«

»Ja, jetzt bin ich einer. Siehst du, so lange ist es schon her, daß ich bei Hitler bin.«

Die roten »Husaren« begannen zwischen der Hecke der neugierigen und begeisterten Zuschauer zu dem Podium zu marschieren. In völligem Durcheinander holten sie zur Probe Töne aus ihren Instrumenten hervor. Es war wie eine Ouvertüre der chaotischen, ziellosen Erwartung.

Die Biergartenbesucher sehnten den Moment herbei, daß die Musik sie wieder aufrüttle und zu einer Einheit peitsche.

»Es ist herrlich, so zwischen Begeisterten zu sitzen«, begann wieder der Junge, »hier fühlt man, daß wir in Deutschland eine Revolution haben. In der Bank, da ist es anders. Dort bin ich enttäuscht. Dort scheint es mir, daß sich nichts geändert hat. Die Reichen haben ihr ganzes Geld behalten, die Zinsen werden ihnen ins Haus geschickt, sie haben ihre Aktien, genau wie früher.«

»So ergeht es mir bei Alderman. Wir haben gegen die Warenhäuser gekämpft, aber im Grunde hat sich nichts geändert. Der Besitzer heißt jetzt Elderman und nicht Alderman, oder die Bank hat Aktien übernommen. Aber das ist für uns, die Angestellten, ohne Bedeutung. Die Mädchen meckern, und ich spüre, daß ich nicht fähig bin, sie wirklich zu überzeugen. Sie sind ungeduldig, und ich weiß, man muß Geduld haben, nicht hundert Jahre, aber einige Monate. Aber manchmal fällt es sogar schwer, einige Monate zu warten.«

»Bald wird wieder die Musik spielen. Da wird man spüren, wir sind ein einig Volk von Deutschen, die bereit wären, sich für ihr Vaterland zu opfern. Diese Menschen, die von Adolf Hitler geführt werden, würden niemals einen Verrat begehen. Mit diesen Menschen und mit diesem Führer hätte der Krieg anders geendet.«

»Meine Mutter sagt, im Krieg hätte man gehungert.«

»Aber wenn wir gesiegt hätten, wären die Opfer nicht vergeblich gewesen. Wegen des Verrats müssen wir leiden, wir, die Jugend. Wir tragen die Lasten des Verrates.«

»Ich bin schon im Krieg geboren, ich kann mich ganz verschwommen erinnern, daß ich viele kalte Nächte in ein Tuch gewickelt draußen schlief. Das Gesumme vieler durcheinanderredender Frauen begleitete meinen Schlaf. Es war wie ein trauriges Lied. Vielleicht aber weiß ich nur davon, weil es meine Mutter oft erzählt hatte. Damals, weißt du, mußten sich die Frauen nächtelang für einige Kartoffeln, für ein Stückchen Brot anstellen.«

»Ich bin genau ein Jahr vor dem Kriegsausbruch geboren, am 2. August 1913. Die Leute dachten damals, der Krieg würde 1913 ausbrechen, weil es eine Unglückszahl war. Da haben sie auch so viel vom Krieg gesprochen, wie jetzt. Ich glaube, der Krieg war schön. Mein Vater hat mir viel davon erzählt. Die Menschen wurden aus dem grauen Alltag gerissen, sie konnten sich für das Vaterland opfern, sich begeistern. Sie erlebten vielerlei Abenteuer, es war kein Leben mit Bürostunden und Wecker und ewigem Einerlei. Ich fand nichts schöner, als wenn mein Vater Kriegsgeschichten erzählte. Schon als ganz kleines Kind war ich glücklich, wenn ich seinen Säbel anrühren durfte.«

Plötzlich begann wieder die Musik und begleitete klirrend seine Worte.

Die Köpfe und Hände gaben dem Rhythmus nach und bewegten sich im Takt. Der Chor der roten »Husaren« sang:

»Viele Jahre zogen dahin,
geknechtet das Volk und betrogen,
Verräter und Juden hatten Gewinn,
sie forderten Opfer, Legionen.
Im Volk uns geboren, erstand uns ein Führer,
gab Glaube und Hoffnung an Deutschland uns wieder,
Volk ans Gewehr!
Volk ans Gewehr!«

Der rote Husar mit dem goldstrotzenden Dolman hatte die Hakenkreuzfahne, die er vorhin aus seiner Brust gezogen hatte, auf eine Stange aufgepflanzt und umklammerte sie fest, als müßte er sie gegen eine Welt von Feinden verteidigen.

Der Chor sang:

»Jugend und Alter und Mann für Mann
umklammern das Hakenkreuzbanner;
ob Bürger, ob Bauer, ob Arbeitsmann,
sie schwingen das Schwert und den Hammer.
Für Hitler, für Freiheit, für Arbeit und Brot,
Deutschland erwache! Juda den Tod!
Volk ans Gewehr!
Volk ans Gewehr!«

Durcheinander tönten die Stimmen: »Volk ans Gewehr!«

Erwin sang: »Volk ans Gewehr!«

Auch Elisabeth sang: »Volk ans Gewehr!«

So konnten sich ihre Stimmen miteinander vermengen.


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