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Sechstes Kapitel.
Kostenanschlag des Familienglücks

»Wieviel würdet ihr im Monat brauchen, wenn ich nicht zu Hause wäre?« fragte Elisabeth.

Sie verfolgt mit den Augen, die wie die Linse einer leeren Kamera die Bilder aufnimmt, ohne sie festzuhalten, die tätigen Hände ihrer Mutter. Sie kramen in dem Wäschekorb, in dem jedes Stück, wie ein Invalide des Lebens, der Pflege harrt.

»Willst du denn fortziehen?«

»Nein, Mutter, ich frage nur so. Ich meine, wieviel braucht ein Ehepaar, um leben zu können?«

Elisabeth blickt der blitzenden Nadel nach, die gierig von einem Loch gefressen wird.

»Willst du denn heiraten?«

»Mutter, ich frage nur; ich habe mich bis jetzt gar nicht darum gekümmert, was das Leben kostet, ich habe dir nur ganz gedankenlos das Geld gegeben und wußte nicht, wie du es in Essen, Wohnen, Licht und Wärme aufteilst. Man sollte doch wissen, was das Leben eigentlich kostet.«

»Welches Leben? Du kannst so leben und so leben.«

»Ich meine das einfachste Leben.«

Elisabeth hatte ein weißes Blatt vor sich liegen, sie malte darauf Zahlen; eine steile Falte zeichnete sich zwischen den Augenbrauen ab, als schrieben die Gedanken hinter der Stirn schon andere Ziffern, die ihr Sorge machten.

»Die Miete! Wieviel Miete zahlen wir ganz genau?«

Aber ihr Bleistift wartete auf gar keine Antwort, er schrieb allerlei Zahlen durcheinander.

Die Miete? Was nützt es ihm, wenn er weiß, in dieser alten, verfallenen Mietskaserne kostet die Wohnung soundsoviel. Könnte man Erwin eine solche Wohnung zumuten? Mit den Gerüchen, die sich aus den Wohnungen der verzweifelten Armut befreien und, wie nach Gefährten suchend, zu den Nachbarn dringen! Mit der Feuchtigkeit, die sich frech ausbreitet, weil keine Wärme sie verjagen kann! Mit dem Klosett im Hof links! Mit dem Lärm, der, gemischt aus Kindergeschrei, Zank, Radiogedröhn, Geschirrgeklapper, wie eine lästige Begleitmusik jeden Gedanken und jeden Traum begleitet!

Aber eine Neubauwohnung! Schreib nicht, Blei! Es hätte doch keinen Zweck!

»Was kostet Licht?«

»Es kann viel kosten, es kann wenig kosten. Du kannst in Helligkeit leben oder im Dunkeln.«

»Was kostet Heizung?«

»Was hat es für einen Sinn, zu fragen, was alles kostet? Du kannst frieren, und es kann dir warm sein.«

»Aber sag doch, wieviel ist das Wenigste, was man braucht?«

»Das Wenigste? Du kannst, solang du da bist, immer zwischen Leben und Tod wandern; fehlen dir einmal ein paar Mark, dann bist du schon nach der bösen Seite gekippt, der Tod kann dich leicht haben. Dann bekommst du doch die paar Mark, immer nur die armseligen Pfennige, die dich gerade vor dem Schlimmsten retten, aber nicht mehr. Nie so viel, daß du aufatmen könntest. Von wieviel kannst du leben? Von soviel, daß du jeden Tag denkst: Jetzt ist es zu Ende! Und dann geht es doch weiter! So war es bei mir, meist war es so.«

»Aber, siehst du, Mutter, es ging doch, man muß nur kämpfen. Es ist vielleicht ganz schön, wenn man so für sein Leben kämpfen muß?«

»Ich hätte dir Besseres gewünscht. Ihr Jugend von heute, ihr denkt doch überhaupt nicht an die Zukunft, euch ergeht es noch schlechter als uns. Als ich so alt war wie du, hatte ich schon einen Teil meiner Ausstattung beisammen, Leintücher, Kissen, Handtücher, alles haltbar, nicht so ein Zeugs, was man heute verkauft. Und zwei Federbetten hatte ich, sie waren so leicht, als wären sie mit Daunen gefüllt gewesen; beste Gänsefedern, nicht solche, wie man sie in der Stadt bekommt. Aber ich habe sie hergeben müssen im Kriege. Die Unterstützung reichte doch nicht, ich habe sie gegen Mehl und Fett getauscht.«

Die Mutter schwieg. Elisabeth wußte, sie hatte ein Kind begraben. Vielleicht hatten das Mehl und das Fett nicht gereicht.

Nach einer Weile sagte die Mutter:

»Und du, du hast gar nichts.«

Plötzlich wurde das Gesicht Elisabeths ganz hell, die Falte zwischen den Augenbrauen verschwand, ihre Hand berührte leicht den Arm der Mutter.

»Siehst du, heute haben wir es gar nicht nötig, Groschen auf Groschen zu legen, um uns sauer Stück für Stück zu kaufen. Hitler hilft der Jugend. Du vergißt, Mutter, die Ehestandsbeihilfe ...!«

»Hör doch auf mit dem ewigen Unsinn. Das nennst du Hilfe!«

Die Mutter hatte einen ganz roten Kopf bekommen.

»Du bekommst ein paar Möbelstücke, und dafür kann man dir vorschreiben, was du in Zukunft zu tun und zu lassen hast, ob du arbeitest oder nicht, ob du Geld verdienst oder nicht. Du bekommst Ehestandsbeihilfe, ja, aber dafür mußt du deine Stellung aufgeben, dafür fragen sie dich nach deiner Gesinnung und nach deinen Urahnen. Und damit bist du zufrieden, ja, das findest du schön und richtig?«

»Ach, Mutter, du bist ungerecht. Ist es nicht selbstverständlich, daß man für Hilfe auch Gegenleistung verlangt?«

Elisabeth kritzelt nicht mehr, sie denkt an die Ehestandsbeihilfe und wie man sie erlangen würde:

Wie gut, wie herrlich, daß wir beide der gleichen Rasse angehören. Wie schrecklich wäre es, wenn Erwin Jude wäre oder ich eine Jüdin. Würden wir deshalb anders fühlen? Aber wozu solche Gedanken? Wie wunderbar, daß wir die gleichen Ansichten haben, daß wir beide zu Hitler gehören, daß er für uns beide der Führer ist. Wie wäre es, wenn Erwin Kommunist wäre, würde ich ihn dann auch lieben? Ich glaube, ja. Aber wie schrecklich wäre es! Oder ich wäre Kommunistin! Würde Erwin mir dann auch gehören? Nein, ich kann es nicht glauben, bestimmt würde er von mir nichts mehr wissen wollen. Ich liebe ihn mehr als er mich! Meine Gefühle würden sich nicht ändern. Aber was für unsinnige Gedanken – wir gehören zusammen, nichts braucht uns zu quälen!

Die Mutter begann wieder zu sprechen:

»Deine großartige Ehestandsbeihilfe – als ob man nicht jeden Pfennig zurückzahlen müßte. Bei den Henkels oben in der vierten Etage haben sie die Möbel wieder zurückgeholt, weil sie die Raten nicht bezahlen konnten. Schöne Hilfe!«

»Aber warum konnten sie die Raten nicht bezahlen? Weil der Mann seine Stellung verloren hat. Und warum hat er sie verloren? Wegen politischer Unzuverlässigkeit. Meinst du, der Staat soll noch seinen Feinden Geschenke machen?«

»Ja, du hast recht, alle, die nicht bei Hitler sind, sollen verhungern und krepieren. Aber du, du bist doch bei ihm; warum sitzt du denn dann da mit so 'nem sorgenvollen Gesicht? Denkst du, ich kenne dich nicht?«

»Ich bin nicht bei Hitler, weil ich jede Sorge los sein will. Aber du, Mutter, du gibst mir keine Antwort auf meine Frage.«

»Weil du keine Antwort hören willst. Da brüstest du dich groß mit der Ehestandsbeihilfe. Jeder Möbelhändler gibt dir eine solche Beihilfe, wenn er eine Sicherheit hat. Arbeitslosen gibt der Staat auch keine Ehestandsbeihilfe, nur wenn du deine Arbeit aufgibst, dann – Ein Möbelhändler wird das nicht von dir verlangen.«

»Wenn man ein Kind bekommt, muß man nicht alles zurückzahlen. Ein Drittel wird erlassen.«

Elisabeth lauschte erschrocken dem heiser belegten Ton ihrer Stimme nach: Ich hätte nichts sagen sollen; wozu ihren Verdacht erregen?!

Die Mutter hatte die Brille abgelegt, als könnten die Gläser sie hindern, klar die Wahrheit zu sehen. Elisabeth hatte sich schnell wieder über das Blatt gebeugt und schrieb ordentlich und sauber hintereinander die Worte, die in ihrer Gesamtheit die Grundlagen des Lebens waren: Brot, Mehl, Butter, Fleisch, Margarine, Eier. Man mußte nur danebenschreiben, was das alles kostete, und schon hatte man den Preis des Lebens.

»Ein Drittel wird dir erlassen?«

»Nicht mir, ich spreche doch im allgemeinen, nicht von mir.«

»Ich spreche auch nicht von dir, ich spreche von denen, die es betrifft. Ein Drittel wird erlassen, aber die Frau darf nicht mehr arbeiten. Verdient heute der Mann mehr, oder verdient er weniger? Ein Drittel wird erlassen, aber meinst du, es kostet nichts, ein Kind aufzuziehen?«

»Was kostet ein Kind, was kostet Milch, Mutter? Was kostet Butter, was kostet Margarine? Warum sagst du mir nicht einfach die Preise?«

»Ich sage dir nicht die Preise, weil andere die Preise machen. Was willst du aufschreiben? Morgen ist doch wieder alles teurer.«

Warum kann die Mutter nie ruhig und sachlich antworten? Elisabeth weiß, was hinter den Worten der Mutter klingt. Sie will sagen: Deine großen Herren machen das Leben der kleinen Leute teuer.

»Versuch nur, fein säuberlich alles aufzuschreiben, morgen schon macht man einen Strich durch deine Rechnung.«

»Du stichelst nur immer, Mutter.«

»Geh nur, du, geh nach deinem eignen Kopf, gib nur acht, daß du ihn dir nicht einrennst.«

Es ist gut, daß ich weit von hier wegkomme, denkt Elisabeth. Es wird schön sein, mit einem Menschen zu leben, der genauso denkt wie ich.

Wie ein Geizhals immer an Geld denkt, so gaukeln vor Elisabeths Augen Bedarfsdeckungsscheine. Sie sind schöner als Geld, sie sind wie eine Bürgschaft des Heimes, sie strahlen Wärme aus wie der eigene Herd. Sie sind nicht unpersönlich wie Geld, das unnütz und unrecht vergeudet werden kann.

Wieviel werde ich bekommen? Tausend Mark? Nein, so viel nicht, wir könnten das auch gar nicht zurückzahlen; Erwin verdient zu wenig. Die Dekorateurin, die den Filialleiter geheiratet hat, bekam tausend Mark, aber die hatte ja auch eine bessere Stellung als ich. Wieviel würden wir bekommen? Achthundert Mark? So viel wohl auch nicht, aber sechshundert, so viel bestimmt! Wir sind doch beide schon so lange bei Hitler. Es wird großartig sein, mit so viel Bedarfsdeckungsscheinen Einkäufe zu machen.

Elisabeth umkreiste die Möbelgeschäfte. Da sah sie wie in einem Zauberspiegel ihr zukünftiges Leben. Hinter den Fensterscheiben standen in jeder Preislage die Träume vom bürgerlichen Glück. Sie suchte das Billigste. Aus der Ferne wirkte alles gleich, Mahagoni und Fichtenholz mit Mahagonianstrich, die Eisbärfelle und die Bettvorleger aus weißen Baumwollresten, das Kristall und das Preßglas, Silber und das billigste Alpaka.

Elisabeth begann zu rechnen. Wieviel Bedarfsdeckungsscheine kostet dieser Tisch, an dem sich die Familie schmausend niedersetzen kann? Wieviel die Lampe, die so sanftes Licht ausstrahlt, wieviel das Bett mit weichen Polstern und schneeweißem Überzug, das die Flanierenden zum Ruhen einlädt. Das Heim im Schaufenster!

Elisabeth sieht die Bedarfsdeckungsscheine dahinschmelzen, bevor sie sie noch bekommen hat. Was braucht man nicht alles, und warum braucht man es?

Elisabeth sieht eine Rechnung ohne Grenzen:

Miete
Licht
Gas
Wäsche
Möbel
Kleider
Nahrung
Schuhe
Fahrgelder
Reparaturen
Kinderzeug

Unendlich lang, ohne Grenzen scheint ihr die Rechnung, die ihr das Familienglück präsentiert.

Werden sie sie bezahlen können?


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