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Die im Jahre 1835 veröffentlichten Kompositionen sind: op. 20, Premier Scherzo (T. Albrecht gewidmet, einem Attaché der sächsischen Gesellschaft und Weinhändler, der zu Chopins begeistertsten Verehrern zählte); op. 24, 4 Mazurkas (dem Comte de Perthuis, Adjutanten Louis Philippes gewidmet). 1836 erschienen: op. 22, Konzert in F-moll (der Gräfin Delphine Potocka gewidmet, bis zu Chopins Todesstunde eine seiner treuesten Freundinnen); op. 27, 2 Nocturnes (der Gräfin v. Appony, Gemahlin des österr. Botschafters gewidmet); op. 23, Ballade G-moll (dem hannöverschen Gesandten Baron v. Stockhausen gewidmet); op. 21 Grande polonaise brillante précédée d'un andante spianato mit Orchesterbegleitung (einer Lieblingsschülerin, der Baronesse d'Est gewidmet); op. 26, 2 Polonaises (dem Komponisten Josef Dessauer aus Prag gewidmet).
Von allen diesen Kompositionen weist die bravouröse Polonaise op. 22 im Stil am meisten auf Chopins erste Epoche zurück. Sie wurde wahrscheinlich schon 1830 oder 1831 komponiert. Ueber op. 22 siehe Brief Chopins vom 18. Sept. 1830, Karasowski S. 132. Der grosse Unterschied im Charakter zwischen dem einleitenden Andante und der Polonaise selbst legt die Vermutung nahe, dass Chopin das Andante später hinzufügte. 1835 spielte er das Werk mit Orchester in einem Konservatoriumskonzert in Paris (unter Habenecks Leitung). Vielleicht schrieb er das Andante bei dieser Gelegenheit. Es ist an künstlerischem Wert der Polonaise weit überlegen. Hell und ruhig strömt das Stück dahin; man möchte es beinahe den Nocturnen zuzählen, wenn es nicht so durchaus Tagesstimmung atmete. Freilich ist es in den Farben ein wenig blass, in der Anlage nicht von überzeugender Logik – besonders der Schluss, die Wiederkehr des 6/8 Taktes nach dem Mittelsatz im ¾ Takt hätte wohl weniger das Ansehen eines blossen Anhängsels haben können. Doch hat es trotzdem einen ganz eigenen Reiz, besonders in dem fast choralartigen Mittelsatz mit seinen 3taktigen Phrasen, mit seinem Schweben zwischen C und G-dur. Die Polonaise ist ein weit ausgeführtes brillantes Stück, nicht gerade von sehr grossem poetischen Gehalt, jedoch formell op. 13 und 14 weit überlegen; sie verfehlt als brillantes Vortragsstück auch heute ihre Wirkung nicht. Bezeichnend für Chopins Behandlung des Orchesters ist es, dass dieses Werk auch ganz ohne Orchester gespielt, kaum an Wirkung einbüsst. Op. 22 erschien kürzlich bei Breitkopf u. Haertel, neu instrumentiert v. Xaver Scharwenka. Nach dem op. 22 hat Chopin nie mehr für Klavier und Orchester geschrieben. Er mochte erkannt haben, wie wenig er mit dem Orchester anzufangen wisse.
Von den übrigen Kompositionen wird später im Zusammenhang die Rede sein.
1837 erschienen: op. 25, 12 Etudes (der Comtesse d'Agoult, Liszts Freundin gewidmet).
Es ist hier am Platze, die beiden Etüdenwerke op. 10 und 25 in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Die einzelnen Stücke entstanden im Lauf der Jahre, ein grosser Teil geht noch in die Warschauer, vielleicht auch Wiener Zeit zurück. Gerade solche Stücke sind erstaunlich wegen der bei einem jungen Menschen von 20 Jahren kaum glaublichen Vollendung und Ursprünglichkeit.
Die 24 Etüden gehören zu Chopins unvergänglichsten Leistungen. Sie sind schlechthin unvergleichlich. Ein ganz neues Genre ist hier zum erstenmal aufgestellt und auch sogleich zur Vollendung gebracht worden, zu einem Höhepunkt, der seitdem nicht mehr erreicht worden ist. Nur die Lisztschen Etüden kommen neben Chopin noch in Betracht, in ziemlich weitem Abstand dann die besten Etüden von Moscheles. Man denke an den Stand der Etüdenliteratur um 1830, als Chopin schon an seiner Sammlung arbeitete. Obenan stand Moscheles op. 70, dann Cramer, dessen auch musikalisch wertvolle Etüden technisch etwa den Anforderungen der früheren Beethovenschen Sonaten entsprechen. An Cramer und Moscheles knüpfen Ludwig Bergers feine, Kesslers interessante Etüden an. Neben Cramer ist Clementi zu nennen, dessen Gradus ad Parnassum zwar trockene, aber zu Studienzwecken vorzüglich geeignete Stücke enthält, auch Bertini. Schliesslich kommt Czerny in Betracht, der nur Fingerexerzitien bietet, dessen Studien als Musik jeglichen Kunstwerts bar sind. Da kam Chopin, schuf eine grosse Anzahl Stücke, die als Kunstwerke in die erste Reihe gehören, die eine vollkommen neue Tonwelt auftun, Klangeffekte aufweisen, von denen vorher kaum einer etwas geahnt hatte, die eine Umwälzung und kolossale Erweiterung der Technik des Klavierspiels bedeuten und ausserdem als Studienwerke in Wirksamkeit unübertroffen sind. Mit den Etüden allein hätte Chopin sich ein unvergängliches Denkmal gesetzt.
Op. 10. No. 1 ist eine Studie in gebrochenen Akkordpassagen. Als Chopinsche Neuerung sind die weiten Griffe, meistens Decimen- anstatt der gewöhnlichen Oktavenarpeggien zu bezeichnen. Prächtige Klangeffekte werden erzielt durch die Verschränkung der Decimenpassagen bei niedergehaltenem Pedal (s. letzte 4 Zeilen); die Resonanz wird durch diese neue Satzweise ungemein verstärkt, ein Rauschen und Klingen entsteht, wie es die gleichen Akkorde, auf ältere Weise arpeggiert, niemals annähernd hervorbringen können. Von den herrlichen harmonischen Effekten möge der zitierte Schluss einen Begriff geben.
No. 2, A-moll, ist eine Studie für den dritten, vierten und fünften Finger der rechten Hand bei gleichzeitiger Inanspruchnahme der beiden anderen Finger. Die chromatische Figur ist für ihren technischen Zweck geistreich erfunden und harmonisch interessant durchgeführt.
No. 3, E-dur, ist ein Idyll herrlichster Art. Niecks erzählt, Chopin habe seinem Schüler Guttmann gesagt, er hätte niemals im Leben wieder eine so schöne Melodie gefunden. Einmal als Guttmann die Etüde spielte, habe Chopin die gefalteten Hände in die Höhe gehoben mit dem Ausruf: »Oh, ma patrie!« Dem ruhig dahinfliessenden ersten Teil folgt ein bewegterer Mittelsatz in grosser Steigerung. Die Art wie Chopin hier den verminderten Septimenakkord verwendet (bei der Stelle con bravura und vorher in schnell wechselnden Akkordreihen), ist klanglich ebenso neu wie wirksam. Liszt und Wagner haben an solchen Stellen sicherlich wohl aufgemerkt. Die Ueberleitung zur Rückkehr der zarten Anfangsmelodie gehört zum allerschönsten, was jemals für das Klavier ersonnen worden ist. In lieblichen Klängen verhallt das Stück.
No. 4, Cis-moll, hat nicht den gleichen poetischen Wert, ist aber in ihrer kräftigen, drängenden Bewegung, ihrer interessanten Harmonik, ihrem leidenschaftlichen Gewoge, besonders gegen den Schluss hin von grosser Wirkung.
No. 5, Ges-dur, ist in der rechten Hand durchweg für die schwarzen Tasten geschrieben. Eins der beliebtesten Chopinschen Stücke, brillant und gefällig, ohne jemals ins Flache hinabzusteigen.
Zu den wertvollsten Stücken der Sammlung gehört No. 6, Es-moll, andante. Ein im wesentlichen drei-, manchmal vierstimmiges Gefüge. Eine Melodie von schmerzlichem, elegischem Ausdruck über einem langsam, fast träge dahin schleichenden Bass, dazwischen eine sich hin- und herwindende Mittelstimme, die bei aller Kleinheit des äusseren Umfanges doch eine grosse innere Erregung hineinbringt. Rein als Etüde betrachtet, eine Uebung im polyphonen Spiel, dem klaren Herausbringen dreier verschiedener Stimmen, und doch, welch ein Gedicht! Als Harmoniker zeigt sich Chopin hier gross: Man sehe sich den Uebergang vom E-dur des Mittelsatzes zum Es-moll des Hauptsatzes an, und frage sich, wo man vor Chopin dergleichen finden könne – nirgends. Eminent modern ist das plötzlich aufleuchtende A-dur in der Es-moll-Kadenz am Schluss. Das ganze Stück hat viel von Tristan-Chromatik an sich.
No. 7, C-dur, führt als technisches Problem den schnellen Fingerwechsel auf derselben Taste durch, und zwar des Daumens und ersten Fingers in einer Mittelstimme. In seiner zweiten Ballade hat Chopin die nämliche Figur verwendet. Hoesick sieht in diesem Stück »die grenzenlose, schneebedeckte Steppe, auf der im Schneegestöber eine Kibitka mit Gefangenen nach Sibirien dahineilt, ... rings leblose Stille, nur der Wind klagt (Melodie der linken Hand), die Glöcklein am Gespann läuten unaufhörlich (die Doppelnoten in der rechten Hand)«. Ein Klingeln und Glitzern wie Schnee in der Sonne ist in der Tat unverkennbar.
No. 8, F-dur. Bravour im guten Sinne ist das Wesen dieser Etüde. Ein schnelles Zusammenziehen und Dehnen der Hand verlangt die wirksam durchgeführte Tonformel.
No. 9, F-moll. Der technische Zweck ist geschmeidiges Gleiten der linken Hand über grössere Strecken der Klaviatur im legato. Die Anfangsmelodie könnte auch Mendelssohn geschrieben haben – man würde sich nicht wundern, sie etwa in den Liedern ohne Worte zu finden. Erst beim crescendo und der leidenschaftlichen Steigerung zum ff spricht Chopin selbst unverkennbar; hier klingen Nocturnen-Töne an.
No. 10, As-dur. Eins der klangvollsten Stücke der Sammlung. Technisch neu ist darin das legatissimo beider Hände in sehr schneller Bewegung mit Ueberspannen weiter Entfernungen. Die Etüde verlangt eine Geschmeidigkeit der Handgelenke wie wohl kein Klavierstück vor Chopin. Sie zeigt eine Chopin ureigene Technik.
No. 11, Es-dur, besteht nur aus arpeggierten Akkorden in ganz weiter Lage, ebenfalls eine Chopinsche Spezialität. Mit ihrer eleganten Linienführung, der einschmeichelnden Melodie,
dem vollen und doch zarten Klavierklang, den harmonischen Feinheiten eine der schönsten Etüden.
No. 12, C-moll, das leidenschaftlichste Stück der ganzen Sammlung. Ein Wogen und Brausen und Grollen durchzieht es, dazu mächtige Akkordschläge in der anderen Hand. Die sogenannte »Revolutionsetüde«. Chopin hat sie in Stuttgart geschrieben, als er die Nachricht von der Einnahme Warschaus durch die Russen erhielt.
Kaum minder bedeutend als op. 10 ist die zweite Etüdensammlung op. 25.
Ueber No. 1 und 2 sei auf Schumanns Bericht (s. S. 65) verwiesen.
No. 3, F-dur. Ein graziöses Wiegen und Neigen, ein heimliches Flüstern und Kosen. Blumenstück möchte man es nach Schumannschem Muster nennen.
No. 4, A-moll. Eine staccato Etüde, fast guitarrenartig. Das agitato spricht sich auch in der synkopierten Melodie aus. Das technische Motiv ist der Gegensatz zwischen einer legato-Melodie in der rechten Hand und einer ziemlich vollgriffigen Stakkato-Begleitung. Bei Weber (Konzertstück z.B.) findet man bisweilen ähnliches.
No. 5, F-moll. Vivace e leggiero. Hat Familienähnlichkeit mit No. 3 und 4, auch etwas guitarrenartig. Den getragenen Mittelsatz (breite Tenor-Melodie, umspielt von Arpeggiofiguren der rechten Hand) könnte Thalberg in einem glücklichen Moment vielleicht auch erfunden haben.
No. 6, Gis-moll. Terzenetüde. Rapide Terzenläufe in der rechten Hand. Aparte harmonische Effekte werden durch chromatische Fortschreitungen erzielt. Auch hier denke man an Wagnersche Stellen, Partien aus dem Feuerzauber in der Walküre, z. B.
No. 7, Cis-moll. Lento. Ein düsteres, von tiefster Melancholie erfülltes Tonstück. Man erinnere sich dabei mancher Ausbrüche von hoffnungsloser Melancholie in Chopins Briefen. Der Bass ist durchwegs die führende Stimme, gelegentlich tritt, wie im Dialog, eine Oberstimme entgegen. Durch alle Schattierungen der Melancholie führt dieser Cellopart; bald leise klagend, schmerzlich verzagt, dann wieder momentan sich zuversichtlicher aufrichtend, oder nach gewaltigem Aufbäumen kraftlos in die dumpfe Oede zurückfallend.
No. 8, Des-dur. Brillante Sextenetüde, der Terzenetüde verwandt.
No. 9, Ges-dur. Mehr zierliches Tonspiel. Oktavenspiel im ganz leichten Anschlag, leggierissimo wird zum Schluss verlangt.
No. 10, H-moll. Wiederum eine Oktavenetüde, aber von ganz entgegengesetzter Art. Ein donnerndes Rollen von Oktavenpassagen in beiden Händen, die stärkste Klangwirkung, deren das Klavier überhaupt fähig ist. Eine solche tosende Klangmasse sucht man vor Chopin vergebens; man könnte etwa an die Oktavengänge im ersten Satz des Beethovenschen Es-dur-Konzerts denken, dort aber kommt das ganze Orchester hinzu.
No. 11, A-moll. Könnte eroica überschrieben sein. Ein ehernes Marschmotiv in der linken Hand, dagegen die kühnsten Figurationen in der rechten. Von kolossaler Wucht und Gewalt.
No. 12, C-moll. Ueberaus leidenschaftliches Arpeggiengewoge in beiden Händen. Stellenweise tauchen Spuren einer melodischen Phrase hervor. Im Ausdruck der letzten Etüde aus op. 10 verwandt.
Auch in den Etüden sollen bisweilen volkstümliche Weihnachtslieder verarbeitet sein.
Drei später einzeln veröffentlichte Etüden kommen den genannten nicht gleich, obschon auch sie durchaus vorzügliche Musik enthalten.