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Die Stellung, die Frédéric Chopin in der Kunstgeschichte einnimmt, ist eine ganz aparte. Wo sonst in der Welt grosse Komponisten aufgetreten waren, standen sie fast immer inmitten einer nationalen Kunst. In Deutschland, Italien, Frankreich, den Niederlanden, England, immer und überall war eine heimische Kunst, eine Tradition vorhanden. Anders in den slavischen Ländern. Polen hatte eine Geschichte von vielen Jahrhunderten hinter sich, aber von einer nationalen Kunst der Musik ist nicht viel von Belang zu melden. Freilich wurde auch in Polen viel Musik getrieben. Viele polnische Musiker werden genannt. Dennoch ist man genötigt, mehr von Musik in Polen, als von polnischer Kunstmusik zu reden. Ausländer, vornehmlich Italiener und Deutsche waren es, die sich als Musiker in Polen hauptsächlich auszeichneten. Von wahrhaft bedeutenden polnischen Meistern hören wir nichts, wenigstens im ganzen 18. Jahrhundert nichts.
Aus der Schaar mittelmässiger Musiker seiner Nation tritt nun Chopin weit heraus. Als einziger seines Volkes wird er den grossen Meistern der Tonkunst zugerechnet. Unmittelbar vor ihm, wie nach ihm ragt kein Pole als Musiker besonders hervor.
Fehlte auch in Polen eine eigentliche nationale, künstlerische Tradition, so war doch ein Schatz von lebendiger Volksmusik, Tänzen und Liedern vorhanden, und so wurde der Mangel an eigener Kunstmusik einigermassen wieder wett gemacht. Chopin verstand es – darin besteht ein Teil seiner Bedeutung – die polnische Volksmusik allgemein gültig künstlerisch zu gestalten. Aus dem, was vor aller Augen offen dalag, wusste er allein Edelmetall zu prägen. Kaum ein moderner Musiker klebt so eng, so unmittelbar an der heimischen Scholle, wie Chopin. Nicht auf Vorgängern fusste er, wie die Meister anderer Nationen, nicht mühsam über sie hinweg brauchte er sich den eigenen Weg zu bahnen – er stand vollkommen unbefangen auf einem jungfräulichen Boden. So hat er auch keine Fortschritte gemacht über die vor ihm, er hatte nicht nötig, andere zu überholen, – auf seinem Wege war eben noch keiner gegangen. Dies mag vielleicht seine merkwürdige Frühreife und Ursprünglichkeit zum Teil erklären. Was er nachahmend von seinen Mustern, nicht Vorgängern, hauptsächlich von Hummel und Field übernahm, waren nur äusserliche Manieren, die er überraschend schnell so umwandelte, dass sie bald wie eigenes erscheinen.
Von den Biographen wurde bis vor wenigen Jahren immer der 1. März 1809 als Chopin's Geburtstag angegeben. Wie aus einer Anzahl von Familienbriefen hervorgeht, galt auch in der Chopin'schen Familie und bei Chopin selbst der l. März als Geburtstag. Trotzdem haben archivalische Studien polnischer Forscher Die Dokumente, Eintragungen im Kirchenbuch der Pfarrkirche in Brochowie, wo Chopin's Eltern getraut, Chopin selbst getauft wurde, und einer Warschauer Kirche findet man in Karlowicz' Buch S. 387-90. Niecks berichtet fälschlich, dass Graf Friedr. Skarbek Pate Chopins war; ein Freund Nicol. Ch.'s. Franciszek Grebecki war Pate, Graf Skarbek war zur Zeit in Paris. Siehe Hoesick S. XVI. in den letzten Jahren ergeben, dass irgend ein unaufgeklärtes Missverständnis hier walte, dass Chopin am 22. Februar 1810 geboren ist, also ein volles Jahr jünger ist, als man gewöhnlich annahm. Er war das zweite Kind seiner Eltern, nicht, wie in allen Biographien zu lesen ist, das dritte. Die ältere Schwester, Luise, war 1807 geboren, die zweite, Isabella, 1811, die jüngste, Emilia, 1813. Seine früheste Jugend verbrachte Chopin in seinem Geburtsorte Zelazowa Wola bei Warschau, dem Gute der gräflich Skarbek'schen Familie, wo sein Vater, Nikolaus Chopin, eine Stellung als Erzieher im gräflichen Hause einnahm. Schon zum 1. Oktober 1810 jedoch siedelte die Chopin'sche Familie nach Warschau über, nachdem Nikolaus Chopin eine Anstellung als Lehrer des Französischen am neuen Lyceum erhalten hatte.
Ueber Nikolaus Chopin Die glaubwürdigsten Nachrichten über Nic. Chopin finden sich in den Memoiren (Pamiatki) seines Zöglings Graf Friedr. Skarbek. Ausführliches siehe bei Hoesick, S. 9 ff, daselbst über die polnischen und französischen Vorfahren Ch.'s. wird berichtet, dass er am l7. August 1770 in Nancy geboren wurde. Er stammte aus einer polnischen Emigrantenfamilie. Sein Grossvater soll aus Polen nach Frankreich gekommen sein. Stanislaus Leszczinski, 1704-1709 König von Polen, residierte später als Herzog von Lothringen und Bar lange Jahre in Nancy, und so ist es erklärlich, dass viele Polen gerade nach Nancy gezogen wurden. Gegen 1787 kam Nikolaus Chopin nach Polen, wie berichtet wird als Buchhalter mit einem Franzosen, der in Warschau eine Tabak-Manufaktur begründete. In die ersten Jahre seines Warschauer Aufenthaltes fielen die Wirren, die mit der zweiten und dritten Teilung Polens (1793 und 95) ihr vorläufiges Ende erreichten. Chopin schloss sich der allgemeinen Erhebung unter Kosciuszko an, diente in der Bürgergarde und brachte es bis zum Kapitän. Später erteilte er Unterricht im Französischen, nahm Hauslehrerstellen an und kam schliesslich zu den Skarbeks nach Zelazowa-Wola. In dieser Stellung machte er die Bekanntschaft eines jungen Mädchens aus verarmter Adelsfamilie, Justina Krzyzanowska, die er im Jahre 1806 heiratete.
Schon als ganz kleines Kind Viele Züge aus der Jugendzeit berichtet Karasowski nach Mitteilungen der ihm befreundeten Familienangehörigen. zeigte Frédéric eine abnorme Empfänglichkeit für Musik, die sich freilich zunächst darin äusserte, dass er beim Hören von Musik zu weinen begann. Früh hatte er eine solche Vorliebe für das Klavier, dass die Eltern beschlossen, ihm zusammen mit seiner älteren Schwester Klavierunterricht geben zu lassen. Als Lehrer wählten sie Adalbert Zywny Albert Zywny, geboren 1756 in Böhmen, war während der Herrschaft des Königs Stanislaus August Poniatowski (1764-95) Klavierspieler in Diensten des Fürsten Casimir Sapieha. Später war er in Warschau ein beliebter Klavierlehrer. Bis an sein Lebensende (1842) gehörte er zu dem engeren Freundeskreise der Chopin'schen Familie., der sich in Warschau einen guten Ruf erworben hatte. Wie alt Chopin war, als er den ersten regelrechten Unterricht erhielt, wird nirgends mitgeteilt. Doch ist es sicher, dass er schon im Alter von 8 Jahren zum ersten Mal mit grossem Erfolg öffentlich als Pianist auftrat. Das Debüt fand am 24. Februar 1818 statt, bei Gelegenheit eines Wohltätigkeitsfestes. Der kleine Chopin spielte ein Konzert von Gyrowetz, einem damals beliebten Wiener Komponisten. Ueber den Unterricht, den Zywny dem jungen Chopin erteilte, wissen wir nicht viel. Er galt als Anhänger der klassischen deutschen Schule; man wird wohl nicht irre gehen in der Annahme, dass Chopin bei ihm das wohltemperirte Klavier, vielleicht auch Suiten u.a. von Bach spielte, wie auch Sonaten von Haydn, Mozart, Beethoven, Hummel, Gyrowetz, Ries, Field, Etüden von Cramer und Clementi. Ein ganz ähnliches Repertoire studierte Chopin später seinen Schülern während der ersten Studienzeit als Grundlage für die höhere Virtuosität ein.
Wie gut der Knabe schon damals in den besten Warschauer Kreisen bekannt war, geht daraus hervor, dass einer der bedeutendsten Männer Warschau's, Ursin Niemczewiz, als Schriftsteller und Politiker hervorragend, es war, der ihn zur Teilnahme am Konzert einlud. Als neunjähriges Kind war er in den aristokratischen Salons von Warschau ganz heimisch, und dieser frühe Umgang mit den höchsten Gesellschaftskreisen gab ihm wohl den Schliff der Manieren, die weltmännische Eleganz, die ihn zeitlebens auszeichneten, bestärkte zweifellos die ihm wohl angeborenen aristokratischen Neigungen. Eine Menge Namen der ersten Häuser werden genannt, in denen der kleine Chopin verkehrte: die Fürsten Czartoryski, Sapieha, Czetwertynski, Radziwill, Lubecki, die Grafen Skarbek, Wolicki, Hussarzewski und viele andere luden ihn oft zu sich. Im Salon der Fürstin Czetwertynska machte er auch die Bekanntschaft der Fürstin Lowicka, geborenen Gräfin Grudzinska, der Gattin des gefürchteten Grossfürsten Konstantin. Die Polen brachten der schönen Frau schwärmerische Verehrung entgegen wegen des Einflusses, den sie zu Gunsten ihrer Landsleute auf ihren Gemahl, den Statthalter von Polen, ausübte. Nicht selten geschah es, dass eine vierspännige Hofequipage vor Nicolaus Chopin's Haus hielt, um den kleinen Frédéric mit dem kleinen Paul, unehelichen Sohn des Grossfürsten und seinem Gouverneur, dem Grafen Moriolles zu einer Spazierfahrt aufzunehmen. Bei der Fürstin Lowicka traf Chopin auch den Grossfürsten und spielte oft in dessen Gegenwart. Eine seiner ersten Kompositionen, einen Marsch, der später ohne Chopin's Namen gedruckt wurde, widmete er dem Grossfürsten, und dieser nahm die Widmung des zehnjährigen Knaben an und liess den Marsch oft von der Militär-Musik spielen.
Auch durch sein Improvisationstalent hatte sich der Knabe schon einen Ruf verschafft. Seine kompositorische Begabung war auffallend gross; schon bevor er irgend welchen theoretischen Unterricht empfangen hatte, versuchte er sich in allerlei Stückchen. So existiert z.B. noch eine Polonaise Siehe Hoesick S. 105. Autograph im Besitz von Herrn Aleksander Polinski., die er als achtjähriger komponiert hat. Als Pianist entwickelte er sich so rasch, dass sein Lehrer Zywny die Stunden einstellte, als sein Zögling 12 Jahre alt war. Er konnte ihm nichts mehr beibringen und meinte, der Knabe könne sich weiterhin ohne Gefahr selbst überlassen bleiben. Einen anderen Klavierlehrer hat Chopin nicht mehr gehabt.
Trotz aller Erfolge als Musiker sollte Chopin nach des Vaters Wunsch dennoch nicht von vornherein ausschliesslich zur Kunst erzogen werden. Der Vater sorgte dafür, dass des Sohnes allgemeine Bildung über den musikalischen Studien nicht Schaden litt. Nicolaus Chopin hatte in jenen Jahren ein Pensionat eröffnet, in dem die Söhne zahlreicher angesehener Familien erzogen wurden. Mit den Zöglingen seines Vaters erhielt Frédéric Unterricht in den Schulfächern bis zum Jahre 1823. Niecks gibt fälschlich 1824 an anstatt 1823 für Ch.'s Eintritt in das Lyceum, siehe Hoesick S. XVII u. 161 In diesem Jahre trat er in die vierte Klasse des Lyceums ein und setzte dort seine Gymnasialstudien weiter fort. Auf dem Lyceum zeigte sich Chopin als ein aufgeweckter, lebhafter Knabe, der zu allerlei mutwilligen Streichen aufgelegt war. Eine Anzahl von Anekdoten wird aus diesen Schuljahren erzählt. Seine Lust an Karrikaturen betätigte er in einem Porträt des würdigen Rektors Dr. Linde, dem Chopins Meisterstück in die Hände fiel. Der erfahrene Pädagoge liess die Schandtat unbestraft vorübergehen, erteilte Chopin sogar noch Lob für die gute Zeichnung. Hoesick weist eine Anzahl Zeichnungen Chopins und Malversuche nach, in Albums der Bekannten u. dgl. Die Predigt eines deutschen Pastors, der ein sehr mangelhaftes Polnisch sprach, karrikierte Chopin einst in höchst komischer Weise im Freundeskreise. Schon damals zeigte er ein grosses mimisches Talent, so dass ein tüchtiger polnischer Schauspieler, Piasecki, allen Ernstes behauptete, an Chopin gehe ein grosser Schauspieler verloren. Aehnlich sprachen sich später in der Pariser Zeit französische Schauspieler von Bedeutung über ihn aus. Zum Geburtstag des Vaters i. J. 1824 verfasste Chopin mit seiner Schwester Emilia eine kleine Komödie in Versen. Ueberhaupt liebte er als Knabe sich in allerlei zu versuchen, er malte und zeichnete, machte gelegentlich Verse.
Noch mehr liess er seiner übermütigen Laune die Zügel schiessen, als er, vom Schulzwang befreit, während der ersten Schulferien (1823 u. 24) als Gast einer befreundeten Familie, der Dziewanowski's, auf deren Gut Szafarnia in Masovien weilte. Seinen Briefen nach Hause gab er die Form einer Zeitung: »Kurjer Szafarski«, sogar der Censor in Person des Frl. Louise Dziewanowski waltete bei jeder Nummer seines Amtes. Einmal heisst es in diesem Kurier (nach dem Vorbilde des »Warschauer Kurier«): »Am 15. Juli produzierte sich Herr Pichon in der musikalischen Gesellschaft zu Szafarnia, die aus einigen Personen und Halbpersonen besteht. Er spielte das Konzert von Kalkbrenner, welches jedoch besonders bei den jugendlichen Zuhörern, nicht soviel Furore machte, als das Liedchen, ebenfalls von Herrn Pichon vorgetragen.« Allerlei lustige Erlebnisse werden im Kurier geschildert. Einmal lud Chopin im Dorfe Obórow mehrere getreidekaufende Juden in sein Zimmer ein und spielte ihnen »Majufes« vor, eine Art jüdischer Hochzeitsmusik. Darob gerieten die Zuhörer in helles Entzücken und riefen aus: »Er spielt wie ein geborener Jude,« fingen an zu tanzen und forderten ihn auf, bei einer bevorstehenden Hochzeit ihre Glaubensgenossen gleichermassen zu erfreuen. Von mancherlei anderem mutwilligeren, nicht immer löblichem Schabernack wird aus jenen Tagen berichtet Bisher ungedruckte Briefe Chopins über die Erlebnisse in Szafarnia und auf den Ausflügen teilt Hoesick mit, S. 258-262..
Doch gab es ausser solchen Streichen und Vergnügungen auch mancherlei Anregendes auf dem Lande. Da war z.B. die nationale, ländliche Musik, die man zur damaligen Zeit noch mehr als jetzt in Polen hören konnte. Bei Kirchweih und Erntefest, an Feiertagen, zu Tanz und Hochzeit, bei hundert Gelegenheiten gab sich der polnische Bauer mit Leidenschaft seinem Hange zur Musik hin. War es auch eine kunstlose Musik, die er machte, so hatte sie doch Feuer und sinnlichen Klang, Schwung und Grazie. Mit reger Lust lauschte der Knabe den Volksweisen; was er hier künstlerisch erlebte, wurde der Kern, um den seine eigene Kunst später wuchs und reifte. So wurde sein künstlerischer Instinkt geschärft und auch sein Horizont wurde erweitert durch Berührung mit neuem, fremdartigem. Ausflüge nach den Städten jenseits der nahen preussischen Grenze wurden von Szafarnia aus gelegentlich gemacht, Thorn und Danzig wurden besucht.
So gereift und geistig entwickelt, konnte er sich allmählich grösseren Aufgaben zuwenden, und so finden wir, dass die ersten künstlerischen Taten von grösserer Bedeutung in das nächstfolgende Jahr 1825 fallen. Sein opus 1, das Rondo in C-moll, erschien im Druck, – er war mit einem Schlage als 15jähriger unter die ernst zu nehmenden Komponisten gestellt. Auch als Klavierspieler trat er in diesem Jahr öfter als je vorher und bei wichtigeren Anlässen öffentlich auf. Der Konservatoriumsprofessor Javurek veranstaltete im Konservatoriumssaal am 27. Mai und 10. Juni zwei Wohltätigkeitskonzerte. In einem wirkte Chopin mit; er spielte ein Allegro aus einem F-moll Konzert von Moscheles und improvisierte auf dem Aeolopantalon, einem harmoniumartigen Instrument, das ein Warschauer Instrumentenbauer konstruiert hatte. Die »Leipziger Allgemeine musikalische Zeitung« enthält einen kurzen Bericht ihres Warschauer Mitarbeiters über dieses Auftreten Chopins. Darin heisst es: »Unter den Händen des talentvollen, jungen Chopin, der sich durch einen Reichtum musikalischer Ideen in seinen freien Phantasien auszeichnet und ganz Herr dieses Instruments ist, machte es grossen Eindruck.« In demselben Jahre weilte Kaiser Alexander I. in Warschau. Er wünschte das Aeolomelodicon, ein ähnliches Instrument, zu hören, und Chopin wurde berufen, vor dem Kaiser darauf zu spielen. Als Erinnerung an diese Auszeichnung bewahrte Chopin einen Diamantring auf, den ihm der Kaiser geschenkt hatte.
Wir sehen hier den jungen Chopin schon als wichtige Persönlichkeit mitten im Warschauer Musikleben stehen.
Dass er so früh bedeutende Erfolge erringen konnte, verdankte er ausser seinen Talenten der sorgsamen Erziehung, die ihm die Eltern angedeihen liessen, und der Gunst der Verhältnisse. Wenigen Musikern waren die Pfade so geebnet, wie ihm. Das Familienleben seiner Eltern war ein ungemein glückliches. Der Vater war ein gebildeter, rechtlicher Mann, der sich des grössten Ansehens erfreute. Seine sympathische Persönlichkeit lässt sich aus dem erhaltenen Briefwechsel zwischen ihm und seinem Sohn sehr wohl erkennen. Die Mutter scheint eine stille Frau gewesen zu sein, die in ihrer Familie völlig aufging. Von ihrer Hand sind nur wenige Briefe erhalten. Doch ist es sicher, dass der Gatte und die Kinder mit zärtlichster Liebe an ihr hingen. Mit den Schwestern war Chopin von Jugend an zeitlebens aufs innigste verbunden. Die geachtete Stellung des Vaters, die geordneten häuslichen Verhältnisse konnten auf die Entwicklung des Kindes nur vom günstigsten Einfluss sein.
Aber auch geistig bot das Vaterhaus dem heranwachsenden Knaben eine Fülle von Anregungen. Nikolaus Chopin war in ständigem Verkehr mit einer Anzahl der hervorragendsten Gelehrten, Literaten und Künstler, und so lernte der Knabe im Elternhause die besten Köpfe Warschau's kennen. Es seien genannt der schon erwähnte Rektor Dr. Samuel Bogumil Linde, Bibliothekar an der Nationalbibliothek, Verfasser eines umfangreichen Wörterbuchs der polnischen Sprache und vieler philologischer Arbeiten; der Universitätsprofessor Waclaw Alexander Maciejowski, als Historiker bekannt; der Literat Casimir Brodzinski, dessen Namen als Dichter und Kritiker die polnische Literaturgeschichte mit Auszeichnung nennt; der Maler Brodowski; Graf Friedrich Skarbek, Professor der Nationalökonomie, früher Schüler von Nic. Chopin; Anton Barcinski, Lehrer am Chopin'schen Institut und an der polytechnischen Schule, später Gatte von Chopins Schwester Isabella; die Musiker Zywny, Elsner und Josef Javurek; der Zoologe Dr. Jarocki u. v. a.
Eine Periode von grosser geistiger Regsamkeit war in Warschau in den zwanziger Jahren eingetreten. Nach den Stürmen der Napoleonischen Kriege war allmählich Ruhe eingekehrt, der Wohlstand begann sich zu heben; Künste und Wissenschaften fanden Verständnis und Pflege. Besonders für die polnische Literatur brach eine grosse Epoche an. Brodzinski und der grosse Dichter Mickiewicz, um nur die bekanntesten zu nennen, hatten den Hauptanteil an dem Umschwung von der formalen, klassischen Dichtung zur Romantik. Der junge Chopin, im häufigen Verkehr mit Brodzinski, einem der heftigsten Vorkämpfer für die Romantik, wird wohl romantische Ideen an der Quelle eingesogen haben.
Wichtig für Chopin's Charakterbildung war ferner der glühende Patriotismus, das Nationalgefühl, die alle Kreise beseelten, mit denen er in Berührung kam, sowohl die hohe Aristokratie, wie auch die geistige Elite der Besucher im Vaterhaus und seine Lehrer.
Auch darin erwies sich des Vaters Fürsorge als weise, dass er seinem Sohne eine gründliche allgemeine Bildung zuteil werden liess, so dass Chopin nicht, wie die meisten Musiker der vorangegangenen Generation, mit kümmerlichen Schulkenntnissen in die Welt zu treten brauchte. Alle Gymnasialfächer wurden im Lyceum tüchtig betrieben, mit alten und neuen Sprachen, Geschichte, Naturwissenschaften, Mathematik u.a. machte der junge Chopin gründliche Bekanntschaft. Hoesick teilt aus den Schulprogrammen lange Auszüge mit, die uns mit dem damaligen Lehrplan und der Unterrichtsmethode genau bekannt machen. Niecks berichtet, dass die Schlussprüfungen für Chopin weniger günstig ausfielen, als die Prüfungen der früheren Jahre. Diese Behauptung lässt sich durch nichts stützen. Siehe Hoesick S. XVII. Die Anstrengungen waren für die zarte Körperbeschaffenheit des Knaben zeitweilig zu gross. Füllt die Schule mit ihren Aufgaben die Zeit anderer Knaben schon zum grössten Teil aus, so kam bei Chopin hinzu, dass er die freien Abendstunden für seine Kompositionsversuche in Anspruch nahm. Sogar in der Nacht liess ihn der künstlerische Trieb oft nicht zur Ruhe kommen. Manchmal stand er mitten in der Nacht auf, um ein paar Akkorde anzuschlagen, einen Gedanken zu fixieren. Die Bediensteten des Hauses tuschelten deshalb mitleidig aus, der junge Herr wäre nicht recht bei Verstande. War nun auch sein Geist ganz gesund, so litt der Körper doch so sehr, dass im Sommer 1826 eine Badereise notwendig wurde. Die Mutter reiste mit ihm und zwei seiner Schwestern nach Reinerz zur Kur. An den Aufenthalt erinnert ein Denkstein, der vor einigen Jahren in Reinerz gesetzt wurde. Chopin tat sich dadurch hervor, dass er zum besten zweier mittelloser Waisen ein Konzert veranstaltete. Die Rückreise ging, ebenso wie die Hinfahrt, über Breslau. Siehe Hoesick S. 296 f. Von diesem Breslauer Aufenthalt weiss Niecks nichts. Er berichtet vielmehr (I, 58), dass Chopin von Reinerz aus in Strzyzewo und von da in Antonin beim Fürsten Radziwill Besuche abstattete. Diese Annahme ist irrig. Erst im folgenden Sommer 1827 war Chopin in Strzyzewo und Antonin. Siehe Hoesick S. 353 f. Dort wurden Bekanntschaften mit den tüchtigsten Breslauer Musikern angeknüpft, dem Kapellmeister Schnabel, Berner, an die Chopin durch seinen Lehrer Elsner gewiesen worden war.
Elsner war es, der sich in den nächsten Jahren um den jungen Chopin die grössten Verdienste erwarb. Im Sommer 1826 hatte Chopin das Lyceum absolviert. Er konnte sich nun vollständig der Kunst widmen. Noch im nämlichen Jahre trat er als Kompositionsschüler Elsner's in das Warschauer Konservatorium ein. Obschon dies nicht besonders berichtet wird, kann man wohl als sicher annehmen, dass er bis 1826 nicht Autodidakt in der Kompositionslehre geblieben ist: eine so glatte, sichere, gefeilte Technik, wie sie sein 1825 erschienenes op. 1 zeigt, setzt ernsthafte, fachgemässe Kompositionsstudien voraus. Elsner hatte zweifellos schon vor 1826 Chopin Privatunterricht erteilt.
Josef Elsner, einer der tüchtigsten Musiker seiner Zeit, hat sich in vielen Zweigen der Kunst ausgezeichnet. Er wurde am 1. Juni 1769 in Grottkau i. Schl. geboren. In Breslau besuchte er das Gymnasium und die Universität, später studierte er in Wien. Das medizinische Fach, für das sein Vater ihn bestimmt hatte, sagte ihm nicht zu. Er betrieb musikalische Studien immer eifriger, sang in Breslau im Chor einer Kirche und fand dann am Theater Beschäftigung als Sänger und Violinist. 1791 war er Orchestergeiger in Brünn, 1792 Kapellmeister in Lemberg, etwas später kam er nach Warschau, wo er den Rest seines Lebens, bis 1854 zubrachte. Eine Reise nach Paris, wo er seine Kompositionen aufführte, fällt in das Jahr 1805. Obschon Deutscher von Geburt, war er seinem zweiten Heimatlande so zugetan, dass die Polen ihn den ihrigen zurechneten. In Warschau nahm er unter den Musikern weitaus die erste Stelle ein; als Theaterkapellmeister, Direktor der Musikschule, Professor an der Universität, und hauptsächlich als Komponist war er hochgeschätzt. Seine zahlreichen Opern, Sinfonien, Messen, Variationen u.s.w. waren ihrer Zeit sehr beliebt. Leichtigkeit der Erfindung, Gewandtheit der Gestaltung wird ihm zuerkannt, Tiefe und Eigenart sollen seinen Werken gemangelt haben. Lebendig ist nichts von ihnen geblieben. Für die Nachwelt besteht Elsner's grösster und dauerndster Ruhm darin, dass er als Lehrer Chopin's diesen in einsichtiger Weise seiner Anlage gemäss unterrichtete und aufs glücklichste förderte. Er erkannte die seltenen Fähigkeiten seines Schülers, und unterwies ihn so, wie ein genialer Schüler unterwiesen werden soll: er liess ihn gewähren, hemmte seine Fantasie nicht durch kleinliche Schulmeisterei, gab ihm weitesten Spielraum, und sorgte bei aller Freiheit doch dafür, dass Chopin nicht als verwahrloster Naturalist aufwuchs. Chopin's überaus sorgsam gefeilter, reiner Klaviersatz ist wohl nicht zum geringsten auch auf Elsner's Unterweisung zurückzuführen.
Wir wissen jetzt, dass Chopin drei Jahre lang als Schüler Elsners das Konservatorium besuchte, und dort die Kurse in Harmonielehre und Kontrapunkt gründlich absolvierte. Elsner pflegte über die Leistungen der Schüler Buch zu führen. Unter vielen anderen Namen findet sich in drei Rapporten Elsner's auch Chopin's Name. So notiert Elsner am 17. Juli 1827: Kompositions-Unterricht, Kontrapunkt. Schüler des ersten Jahrgangs: Chopin, Fryderik, (fähiger Schüler). Im nächsten Rapport heisst es: Chopin, Fr. (tüchtiger Schüler, im zweiten Jahrgang, reist ab zur Besserung seiner Gesundheit). Endlich am 20. Juli 1829: Chopin, Fr. (Schüler des dritten Jahrgangs, grosse Fähigkeiten, musikalisches Genie).« Siehe Hoesick S. 379, 427.
Ueber Lehrplan, Programme der öffentlichen Vorträge, Lehrerkollegium, Leistungen der Schule sind wir jetzt gut unterrichtet, und wir wissen nun, dass dort sehr ernsthaft gearbeitet wurde. Auch den Vorträgen Elsner's an der Universität über Musiktheorie wohnte Chopin bei. Aus allem geht hervor, dass Chopin einen sorgfältigen Unterricht genossen hat. Ueberdies hatte er Gelegenheit, ausserhalb der Musikschule in Warschau viel Musik zu hören, und dass er mit allem wichtigeren bekannt war, was zu seiner Zeit an Musik nach Warschau gedrungen war, bekunden seine Briefe.
Das musikalische Leben in Warschau war in den zwanziger Jahren sehr rege. Oper und Konzert-, wie auch Kirchenmusik wurden eifrig gepflegt. Man hörte in Warschau alles, was in den grösseren deutschen Städten geboten wurde: französische und italienische Oper, viel Mozart und Weber, Instrumental-Musik von Haydn, Mozart, Beethoven, Hummel, Spohr, Weber u.s.w. Mozart's Requiem, Haydn's Sieben Worte, Cherubini's Messen wurden oft aufgeführt. Dazu kamen die heute vergessenen Modekomponisten der Zeit, die Pleyel, Ries, Kalkbrenner, Gyrowetz u.s.w., auch die einheimischen Komponisten, Elsner, Kurpinski, Dobrzynski, Soliva u.a.
Ein musikalisches Ereignis des Jahres 1828 mag Chopin's besonderes Interesse erregt haben: Hummel's Konzerte im Warschauer Theater. Niecks' Mitteilungen über die Studienzeit bei Elsner sind vielfach ungenau und lückenhaft, Einzelheiten siehe bei Hoesick. Hummel galt damals neben Field und Moscheles als einer der hervorragendsten Pianisten und war als Komponist berühmt. Er spielte viele seiner Kompositionen und improvisierte in jedem Konzert über ein gegebenes Thema. Chopin wurde mit Hummel persönlich bekannt; Hummel zeigte für den jüngeren Kollegen Interesse und bewahrte Chopin seine Zuneigung auch später, wenigstens zeigte er sich bei Chopin's Aufenthalt in Wien sehr freundschaftlich. Chopin wurde durch Hummel stark beeinflusst; er verarbeitete in seiner Spielart und in seinen Kompositionen Hummel'sche Elemente und hatte für Hummel als Künstler sein Leben lang viel übrig.
Mancherlei ernste und freudige Ereignisse unterbrachen den ruhigen Fortgang der Studien. Im Jahre 1827 wurde die Familie in tiefe Trauer gestürzt durch den Tod der jüngsten Tochter Emilia. Sie hatte ein ganz auffallendes litterarisches Talent gezeigt, das in seiner Art ebenso bemerkenswert war, wie die musikalische Begabung ihres Bruders. Den Sommer dieses Jahres verbrachte Chopin wiederum auf dem Lande als Gast der Frau v. Wiesolowska, einer Schwester von Nikolaus Chopin's ehemaligem Zögling, Graf Friedrich Skarbek. Sie hatte eine Besitzung im Posen'schen, in Strzyzewo. Nicht weit davon entfernt war Antonin (bei Ostrowo in Posen), der Landsitz des Fürsten Radziwill. Fürst Radziwill, Gouverneur von Posen, hatte vielfache Beziehungen zu den Warschauer Adelshäusern und hatte Chopin in Warschau im Jahre 1825 spielen hören. Die Leistungen des jungen Künstlers hatten ihm solchen Eindruck gemacht, dass er ihn näher an sich heranzog. Chopin folgte nun einer Einladung des Fürsten nach Antonin.
Zum zweitenmal weilte Chopin im nächsten Sommer (1828) in Strzyzewo, mag wohl auch von da aus in Antonin wieder Besuch abgestattet haben. Das wichtigste Ereignis der Jugendjahre jedoch war eine Reise nach Berlin im September 1828.
Die Veranlassung dazu bot ein Naturforscher-Kongress in Berlin unter dem Vorsitz von Alexander von Humboldt. Der Zoologe Prof. Jarocki aus Warschau war zur Teilnahme eingeladen worden. Er war mit Nicolaus Chopin befreundet, und dieser nahm die Gelegenheit wahr, seinen Sohn unter der Obhut des Freundes nach Berlin zu senden. In einem Briefe an seinen Freund Titus Wojciechowski (9. September 1828) gibt Chopin seiner Freude über die Reise Ausdruck: »Jetzt schreibe ich dir wie ein Wahnsinniger, denn ich weiss faktisch nicht, was mit mir vorgeht. Ich fahre nähmlich heute nach Berlin.« In Berlin hoffte er mit Musikern von Bedeutung in Verbindung treten zu können und viel gute Musik zu hören. Die Absicht, sich öffentlich als Klavierspieler und Komponist zu zeigen, bestand dabei nicht. Am 14. September 1828 kam Jarocki mit Chopin in Berlin an und stieg im Gasthaus »zum Kronprinzen« ab. In drei langen Briefen an die Eltern (vom 16., 20. und 27. September) beschreibt Chopin seine Erlebnisse in Berlin. Jarocki nahm ihn zu Professor Lichtenstein (Direktor des zoologischen Museums) mit. Lichtenstein, der Gönner und Freund Weber's, war Mitglied der Singakademie und hatte Fühlung mit manchen Musikern von Ruf, besonders mit Zelter. Er versprach, Chopin bei den Künstlern einzuführen. Chopin's Gönner, Fürst Radziwill, dessen Ankunft erwartet wurde, hätte eine Empfehlung an Spontini geben können. Doch Chopin's Hoffnungen wurden nicht erfüllt. Zwar sah er Mendelssohn, Zelter, Spontini bei einer Aufführung in der Singakademie, doch schrieb er: »ich habe aber keinen dieser Herren gesprochen, da ich es nicht für schicklich hielt, mich ihnen selber vorzustellen.« Lichtenstein hatte mit den Kongressangelegenheiten alle Hände voll zu tun, Fürst Radziwill war noch nicht eingetroffen. Chopin hörte in Berlin viel Musik: in der Oper Spontini's Ferdinand Cortez, Cimarosa's heimliche Ehe, Winter's Unterbrochenes Osterfest, Onslow's Hausierer und den Freischütz. Besonders grossen Eindruck machte auf ihn Händel's Cäcilienode: »Dieses nähert sich am meisten dem Ideale, das ich von erhabener Musik in den Tiefen meiner Seele hege.« Das zoologische Museum und die königliche Bibliothek langweilten ihn, dagegen hatte er das grösste Interesse für Schlesingers grosses Musikalienlager: »bestehend aus den interessantesten Werken der Komponisten aller Länder und Zeiten. ... Mein Trost ist, dass ich auch noch zu Schlesinger kommen werde und dass es immer gut ist für einen jungen Mann, wenn er viel sieht, denn aus allem lässt sich etwas lernen.« Seine Neigung zu Satire und Karrikatur fand auf der Reise nach Berlin und in Berlin reichliche Nahrung. An mehreren Festmahlen der Gelehrten nahm er teil: »viele erschienen mir wie Karrikaturen, die ich schon in Klassen eingeteilt habe.« In der Singakademie wundert er sich, dass die Fürstin von Liegnitz mit einem Mann sprach »der einen livréartigen Anzug trug.« Der vermeintliche »königliche Kammerdiener« war Alexander von Humboldt. An anderer Stelle jedoch berichtet er in ehrerbietigen Worten von dem bedeutenden Eindruck, den Humboldt auf ihn gemacht hatte. Ueber das zweite Diner schreibt er:
»Es war wirklich sehr lebhaft und unterhaltend. Viele passende Tafellieder wurden gesungen, in welche jeder mehr oder minder laut einstimmte. Zelter dirigierte; er hatte auf einem roten Piedestal einen grossen vergoldeten Becher vor sich stehen, als Zeichen seiner höchsten musikalischen Würde, welche ihm viel Freude zu machen schien. An diesem Tage waren die Speisen besser als gewöhnlich; man sagt, weil die Herren Naturforscher sich in ihren Versammlungen vorzugsweise mit der Vervollkommnung der Fleischspeisen, Saucen, Suppen und dergleichen beschäftigt haben sollen.«
Am Schluss eines Briefes heisst es: »Die Zahl der Karrikaturen wächst!« Ueber die Berliner Damen schreibt der durch den Geschmack der vornehmen Polinnen verwöhnte: »sie putzen sich, das ist wahr, aber es ist schade um die schönen Stoffe, die für solche Puppen zerschnitten werden«. Auch die Reisegefährten in der Postkutsche werden weidlich belacht und verspottet. Diese Züge von Spottsucht und Ironie müssen hervorgehoben werden, weil sie für Chopin charakteristisch sind. Schon aus den frühen Knabenjahren war ähnliches zu erzählen, später tritt dieser Zug noch oft hervor. In Zusammenhang damit steht auch Chopin's mimisches Talent, die Fähigkeit, alle möglichen Menschen in ihren Eigenheiten nachzuahmen, worüber seine intimeren Bekannten vielerlei komische Episoden zu erzählen wussten.
Der Berliner Aufenthalt nahm nach vierzehntägiger Dauer am 28. September ein Ende. Die Rückreise ging über Züllichau In Züllichau trug sich die oft als Anekdote erzählte, wahrscheinlich reichlich ausgeschmückte Szene zu: Chopin spielte auf dem alten Klavier des Postmeisters, um sich die Zeit zu vertreiben; sein Spiel lockte alle Hausgenossen herbei und veranlasste sie zu begeisterter Huldigung. und Posen. Dort folgten Jarocki und Chopin der Einladung des Erzbischofs Wolicki während zweier Tage. Ein grosser Teil des Aufenthalts wurde im Palais des Fürsten Radziwill mit Musizieren hingebracht. Am 6. Oktober langten die Reisenden wieder in Warschau an.
Von dieser Zeit an ungefähr datiert eine Reihe Briefe Chopin's an seinen vertrautesten Freund Titus Wojciechowski, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband. Diesen Briefen verdanken wir einen grossen Teil der biographischen Nachrichten. Ueber die persönlichen Erlebnisse, über Kompositionen, Musik- und Theaterereignisse geben sie mancherlei Auskunft. So heisst es z.B. am 27. Dezember 1827: »Die Partitur meines Rondo à la Krakowiak (später op. 14) ist fertig.« Das Rondo in C-dur für zwei Klaviere (erst nach Chopin's Tode als op. 73 veröffentlicht) wird auch erwähnt: »Dies verwaiste Kind hat in Fontana Chopin's Freund Fontana studierte damals in Warschau die Rechte und war gleichzeitig Schüler von Elsner. Später wurde er Pianist und Musiklehrer. Noch in den vierziger Jahren stand er zu Chopin in freundschaftlichen Beziehungen. Er war es, der nach Chopin's Tode eine Anzahl der nachgelassenen Kompositionen herausgab. einen Stiefvater gefunden; über einen Monat hat er es studiert.« Dieses Rondo war (nach Chopin's Brief vom 9. September 1828) im Sommer 1828 in Strzyzewo umgearbeitet worden.
Nicht lange darauf, 1829, erregte Paganini in Warschau Sensation und sein Auftreten mag auch für Chopin ein Ereignis gewesen sein. Sicherlich hat er durch Paganini einen kräftigen Anstoss erhalten, wie später Liszt. Ob nicht manche Etüden Chopin's durch Paganini angeregt sind? Paganini mag ihm geholfen haben, endgiltig über den Hummel-Field'schen Horizont hinauszukommen. Ein Zeugnis von Chopin's Begeisterung für Paganini ist erhalten geblieben: er schrieb ein Variationenwerk »Souvenir de Paganini.« Ueber das »Souvenir de Paganini« siehe Warschauer Echu muzyczne, Nr. 6, 1881 und Hoesick S. 426. Das Werk ist in Deutschland kaum zugänglich; nach dem Urteil polnischer Kritiker soll es ziemlich wertlos sein. Von den zahlreichen musikalischen Veranstaltungen seien nur einige hier genannt.
Mehrere Wunderkinder traten im Jahr 1829 auf. Stephen Heller, später in Paris mit Chopin befreundet, damals 14 Jahre alt, liess sich als Pianist hören. Er spielte u.a. ein eigenes Konzert (D-moll). Auch ein junger Schüler von Field, Franz Lopatta trat auf. Heller hat Niecks setzt Heller's Aufenthalt in Warschau fälschlich 1830 an, anstatt 1829. Siehe Niecks I, 64 und Hoesick S. 405. später als Musiker Ruf erworben, von Lopatta ist als Künstler nichts weiter gehört worden. Die Krönung des Kaisers Nikolaus am 24. Mai 1829 gab Anlass zu grossen Musikaufführungen. Elsner schrieb aus diesem Anlass seine »Krönungsmesse«, Ueber die »Krönungsmesse« siehe Elsner's eigene Bemerkungen in seinen Memoiren, mitgeteilt von Hoesick S. 413. die für eins seiner besten Werke gilt. Auch der Geiger Lipinski trat wiederum auf.
Im Sommer dieses Jahres nahmen Chopins Studien am Konservatorium ein Ende. Elsner stellte ihm das schon erwähnte glänzende Zeugnis aus. Dass Elsner ihn als einen reifen Künstler betrachtete, geht auch daraus hervor, dass Chopin im Jahre 1829 seine erste Kunstreise machte: der gewissenhafte Meister hätte Chopin sicherlich nicht entlassen, wenn dieser noch etwas Schülerhaftes gezeigt hätte. Diesmal war Wien das Ziel. Es lag zunächst nicht in Chopin's Absicht, öffentlich aufzutreten; vielmehr wollte er Verbindungen anknüpfen, seine Kompositionen zeigen, lernen, wo es zu lernen gab.
* * *
Mitte Juli 1829 brach Chopin mit seinen Freunden Cielinski, Hube und Franz Maciejowski von Warschau auf. Unter den Freunden und Bekannten Chopins aus der Jugend finden sich die folgenden: Celinski, Hube, Marylski, Franz Maciejowski (ein Neffe des Prof. Maciejowski), Dziewanowski; über diese wie die folgenden siehe näheres bei Hoesick S. 428-537. Stephan Witwicki und Dominik Magnuszewski, die sich als Literaten einen Namen gemacht haben, verkehrten noch später in Paris mit Chopin freundschaftlich. Chopin komponierte später mehrere Gedichte von Witwicki. Ausserdem werden genannt Stanislaus Kozmian, später in Posen ansässig, dort Präses des wissenschaftlichen Vereins, und Wilhelm Kolberg, später Staatsrat. Unter den jungen Musikern hatte Chopin wohl viele Bekannte, doch wenig intimere Freunde, ausgenommen Fontana, der damals noch Dilettant war, den jungverstorbenen Pianisten Alexander Rembielinski; Chopins Mitschüler Ignaz Felix Dobrzynski wird wenigstens von einer Seite (in Sowinski: Les musiciens polonais) unter Chopins Freunde gerechnet, obschon sonst wenig von ihm die Rede ist. Die vertrautesten Freunde waren der schon genannte Titus Wojciechowski, später Gutsbesitzer in Poturzyn; Johann Matuszynski, studierte Medizin in Warschau, promovierte in Tübingen, später in Paris, wo er eine Zeit lang mit Chopin gemeinsam wohnte, starb dort 1842 als Professor an der Ecole de Médicine; der schon genannte Fontana; Grzymala, Schriftsteller und Journalist, in Paris mit Chopin sehr vertraut. Schliesslich sind zu nennen die Brüder Wodzinski, aus vornehmem Hause, Pensionäre des Vaters Chopin; ihre Schwester Maria entflammte später Chopin's Liebe. Viele andere Namen, die sich in der Korrespondenz finden, haben kein allgemeines Interesse. Die Reise ging über Krakau. Von hier aus machten die Freunde einen Abstecher in die sogenannte »polnische Schweiz« nach Ojców. Der erste Brief aus Wien Siehe Karasowski S. 61. enthält eine eingehende Schilderung der in Ojców empfangenen Eindrücke; Natur und Sage hatten um diesen Ort einen romantischen Schimmer gebreitet, der Chopin zu Aeusserungen des Entzückens hinriss. Am 31. Juli trafen die Reisenden in Wien ein. Hier ging es Chopin besser als in Berlin. Die Empfehlungsbriefe, die er mitgebracht hatte, verschafften ihm Zugang zu leitenden Persönlichkeiten, und von diesen wieder weiter empfohlen, stand er bald mitten im Treiben des musikalischen Wien. Zuerst meldete er sich bei dem Verleger Haslinger, an den ihm Elsner ein Schreiben mitgegeben hatte. Schon früher hatte Chopin einige seiner Kompositionen an Haslinger gesandt. Dieser erinnerte sich jetzt der noch immer ungedruckten Werke und versprach, die Variationen über »Là ci darem la mano« in kurzer Zeit in der Sammlung »Odeon« zu veröffentlichen. Er nahm Chopin mit ausgesuchter Höflichkeit auf. Die Fähigkeiten des jungen Künstlers muss er bald erkannt haben, denn er redete Chopin zu, seine Kompositionen in einem eigenen Konzert selbst vorzuführen. Nicht leicht war Chopin dazu zu bewegen. Haslinger brachte Chopin in Verbindung mit dem Leiter des Kärnthnerthor-Theaters, Grafen Gallenberg (Gatten der aus Beethovens Lebensgeschichte bekannten Gräfin Giulia Guicciardi). »Diesem stellte mich Haslinger als einen Feigling vor, der sich fürchte, öffentlich aufzutreten. Der Graf war so gefällig, mir das Theater zur Verfügung zu stellen; ich aber war schlau genug, dankend abzulehnen.« Von vielen anderen Personen wurde Chopin jedoch auch zu einem Konzert gedrängt, so besonders in einer von vielen Aristokraten besuchten Gesellschaft bei dem polnischen Grafen Hussarzewski, auch von dem Journalisten Blahetka, der, wie Chopin, etwas selbstgefällig schreibt, von ihm gesagt hätte, »er sei Künstler ersten Ranges und nehme einen würdigen Platz ein neben Moscheles, Kalkbrenner und Herz.« Der Kapellmeister am Kärnthnerthortheater, W. Würfel, früher Klavierlehrer am Warschauer Konservatorium, der Chopin von Warschau aus schon kannte, nahm sich seiner ganz besonders an. Er war es auch, der das Arrangement des Konzertes leitete, zu dem Chopin sich hauptsächlich auf sein Zureden endlich entschlossen hatte. Auch die Klavierfabrikanten Graff und Stein überboten einander in Liebenswürdigkeiten. Das Konzert fand am 11. August 1829 im Kärnthnerthortheater statt.
»Da ich kein Honorar beansprucht hatte, beschleunigte Graf Gallenberg mein Auftreten. Das Programm lautete: Ouvertüre von Beethoven (Prometheus), meine Variationen (über la ci darem la mano), Gesang von Fräulein Veltheim, mein Krakowiak (Rondo à la mazur op. 5), zum Schluss ein kleines Ballet.« Brief vom 12. Aug.).
Der Erfolg war ausserordentlich gross, trotzdem die Probe sehr schlimm verlaufen war.
»Die Orchestermitglieder zeigten mir auf der Probe saure Gesichter; am meisten verdross es sie, dass ich sofort mit neuen Kompositionen auftreten wollte. ... Die Variationen gelangen gut, während das Rondo so schlecht ging, dass wir zweimal von vorne anfangen mussten, wobei die schlechte Schrift Schuld haben sollte (die Stimmen waren in der Tat voll von Fehlern). ... Genug, die Herren schnitten solche Grimassen, dass ich schon Lust bekam, mich für den Abend krank zu melden.«
Diese verunglückte Probe bestimmte Chopin am Abend das Rondo aus dem Programm zu streichen und dafür eine freie Fantasie einzulegen über ein Thema aus der »weissen Dame« und das polnische Lied »Chmiel.«
[Endnote. Aus technischen Gründen an der Verweisstelle eingepflegt.Re] Karasowski teilt S. 69 die Melodie mit. Sie war in Polen als Hochzeitslied weit verbreitet; man sang sie während die Schwestern der Braut die Haube aufsetzten:
»Das Publikum, dem derartige Nationalmelodien fremd waren, war wie elektrisiert.« Doch schreibt er: »Ich gestehe, dass ich mit meiner freien Phantasie nicht ganz zufrieden war.« Nicht nur das Publikum applaudierte begeistert, auch die Orchestermitglieder, die vorher raisonniert hatten, waren nach der Improvisation umgewandelt und stimmten in den allgemeinen Beifall mit ein.
Durch dieses Konzert war Chopin in der vornehmen Wiener Gesellschaft der Held des Tages geworden. Er kam in die höchsten Kreise. Zwei Tage darauf machte er die Bekanntschaft des Grafen Lichnowski.
»Er wusste nicht, was er alles zu meinem Lobe sagen sollte, so entzückt war er von meinem Spiel. ... Es ist derselbe, der Beethovens bester Freund war, und dem dieser grosse Meister viel zu verdanken hat. ... Schwarzenbergs, Wrbnas usw. waren von der Zartheit und Eleganz meines Vortrages ganz enthusiasmiert; als Beweis diene auch, dass Graf Dietrichstein mich auf der Bühne aufgesucht hat.«
Auch die Musiker hielten mit ihrem Lob nicht zurück.
»Czerny hat mir viel Komplimente gesagt, wie auch Schuppanzigh und Gyrowetz. An einem Tage lernte ich alle grossen Künstler Wiens kennen, darunter: Mayseder, Gyrowetz, Lachner, Kreutzer, Schuppanzigh etc.«
Nach diesem Erfolg kann es nicht Wunder nehmen, dass Chopin dem ersten schnell ein zweites folgen liess, wiederum im Kärnthnerthortheater und ohne Honorar zu nehmen.
»Dies geschieht, um mir den Grafen Gallenberg zu verbinden, mit dessen Geldbeutel es nicht besonders gut bestellt ist.« .... »Ein drittes Konzert würde ich auf keinen Fall geben; schon das zweite hätte ich nicht veranstaltet, wenn ich nicht dazu gezwungen worden wäre, und dann dachte ich mir, in Warschau könnte man sagen: ein Konzert hat er nur gegeben und dann Wien wieder verlassen: wahrscheinlich hat er nicht besonders gefallen. Ich bin heute schon bei einem Recensenten gewesen, der sehr gut für mich disponiert war und gewiss eine günstige Kritik schreiben wird.«
Man sieht, dass er ganz geschäftsmässig kalkulierte, ein Zug, der auch später noch oft hervortritt. Mit Recht konnte er von sich sagen: »Jetzt bin ich wenigstens um 4 Jahre klüger urd erfahrener.«
Das zweite Konzert fand am 18. August statt. Diesmal spielte er das Rondo à la mazur, nachdem sein Freund Nidecki die Stimmen korrigiert hatte.
»Mit meinem Rondo habe ich alle Musiker von Fach für mich gewonnen; vom Kapellmeister Lachner bis zum Klavierstimmer, loben alle die Komposition. Gyrowetz hat ungeheuer gelärmt und Bravo gerufen«
schreibt er am 19. August. Bezeichnend für ihn ist im nämlichen Briefe der Satz: »Ich weiss, dass ich den Damen und den Musikern gefallen habe.« Die Variationen spielte er wiederum »auf speziellen Wunsch der Damen.« In derselben »musikalischen Akademie«, wie man die Koncerte damals nannte, kam auch Lindpaintners Ouvertüre zum »Bergkönig« und eine Polonaise von Mayseder zum Vortrag, gespielt von einem jugendlichen Geiger, Joseph Khayl.
Dem grossen Publikumserfolg entsprachen auch die Urteile der Presse. Eingehende Rezensionen über beide Konzerte erschienen im »Sammler«, in der »Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode« (22. und 29. August 1829), auch in der »Allgemeinen musikalischen Zeitung« (No. 46, 18. November 1829). Ueberall wird Chopin als »Meister« behandelt, und im wesentlichen zollen alle Besprecher ihm fast uneingeschränkte Anerkennung. Besonders eingehend ist der Bericht der »Wiener Theaterzeitung« vom 20. August. Ueber ein anderes Urteil der Zuhörer berichtet Chopin selbst: »Es ist fast eine Stimme, dass ich zu leicht oder vielmehr zu zart für das hiesige Publikum gespielt habe. Man ist nämlich an das Pauken der hiesigen Klaviervirtuosen gewöhnt.« Der Flügel, auf dem Chopin spielte, war »ein wunderbares, zur Zeit vielleicht das allerbeste Wiener Instrument von Graff«. Graf Lichnowski war der Meinung, dass der schwache Ton des Instruments vielleicht nicht ausgereicht habe, und bot Chopin für das zweite Konzert seinen eigenen Flügel an. Chopin erwiderte, der zarte Klang sei »seine Art zu spielen, die den Damen so sehr gefiel, – und besonders dem Fräulein Blahetka«, setzte er für den Freund (Wojciechowski) hinzu. »Sie mochte mir freundlich gesinnt sein, nebenbei gesagt, sie ist noch nicht zwanzig Jahre alt, und ein geistreiches, selbst schönes Mädchen«. In der Korrespondenz aus dieser Zeit ist von Frl. Blahetka, die eine vorzügliche Pianistin war, noch mehrmals die Rede. Mit Bezug auf die Beurteilung, die seine Konzerte erfuhren, schrieb er ferner: »Niemand will mich hier mehr für einen Schüler ansehen. Blahetka sagte mir, dass man sich am meisten darüber wundert, dass ich dies alles in Warschau habe lernen können. Ich erwiderte, dass bei den Herren Elsner und Zywny selbst der grösste Esel etwas lernen müsse.«
Chopin berichtet von »einigen mittelmässigen Konzerten«, die er in Wien gehört habe und von den Opern: »Die weisse Dame« von Boieldieu, »Cenerentola« von Rossini, »Il Crociato« von Meyerbeer. Ueber die Wiener Künstler schreibt er nicht viel. »Mayseder habe ich als Solisten bewundert,« heisst es einmal. »Mit Czerny bin ich sehr genau bekannt geworden; ich spielte mit ihm sehr oft auf 2 Klavieren. Er ist ein guter Mann, aber auch nichts weiter.« Von Schubert ist mit keinem Wort die Rede – er war kaum 3/4 Jahre tot, von Beethoven scheint Chopin nur die Prometheus-Ouvertüre gehört zu haben.
Am 19. August reiste Chopin mit seinen Freunden ab. Er erzählt in den Briefen von seinen Abschiedsbesuchen, dass er im Café gegenüber dem Theater mit Gyrowetz, Kreutzer, Lachner, Seyfried u.a. zum Abschied zusammentraf, dass er schliesslich die Diligence bestieg
»nach einem rührenden Abschied, – es war wirklich ein rührender Abschied, da mir Frl. Blahetka zum Andenken ihre Kompositionen mit eigener Unterschrift gegeben hat, und ihr Vater Dich, mein guter Papa, und Dich, meine liebe Mama, herzlich grüssen und Euch beiden zu einem solchen Sohn gratulieren liess, da der junge Stein (Sohn des Klavierfabrikanten) weinte und Schuppanzigh, Gyrowetz, mit einem Worte, alle Künstler, sehr ergriffen waren.«
Die Reise führte zunächst nach Prag. Hier besuchten die Freunde den Philologen und Bibliothekar des Nationalmuseums, Wenzel Hanka, an den Maciejowski ein Empfehlungsschreiben hatte. Im Museum trugen sie sich in das Fremdenbuch ein, Chopin schrieb einige Mazurka-Takte unter Verse von Maciejowski. In Prag lernte Chopin den Violinspieler Pixis und den Komponisten Klengel kennen. Ueber diesen schreibt er:
»Von allen Bekanntschaften, die ich mit Künslern machte, erfreute mich am meisten die von Klengel, den ich in Prag bei Pixis kennen lernte. Er spielte mir seine Fugen vor, (man kann sagen, dass diese eine weitere Fortsetzung von Bach sind. Es gibt deren 48, und ebenso viele Kanons). Welch ein Unterschied zwischen ihm und Czerny!« An anderer Stelle heisst es: »Ich habe Klengel über 2 Stunden seine Fugen vorspielen hören; ich spielte nicht, da man mich nicht darum ersuchte. Klengel's Vortrag gefiel mir, aber ich hatte offen gestanden noch etwas besseres erwartet.«
Nach dreitägigem Aufenthalt in Prag fuhren die Freunde nach Teplitz weiter, wo sie in Gesellschaft vieler Polen und Aristokraten einen angenehmen Tag verbrachten. Beim Fürsten Clary wurde Chopin von der Gräfin Chotek gebeten, etwas zu spielen. Er improvisierte über ein von den Damen gegebenes Thema:
»ich hörte die Damen, die sich an einen Tisch niedergelassen hatten, flüstern: Un thème, un thème. Drei junge, hübsche Fürstinnen berieten sich, bis sich endlich eine an Herrn Fritsche, den Erzieher des einzigen Sohnes des Fürsten wandte, welcher mir unter allgemeiner Zustimmung zurief: Das Hauptthema aus Rossini's Moses.«
Am 26. August kam Chopin in Dresden an, nachdem er vorher das Wallenstein-Schloss in Dux besucht hatte. Er sah sich in der Stadt um, besuchte die Gärten, die Gallerie, das Theater, gab seine Empfehlungen ab.
»Morgen früh,« schreibt er sehr selbstgefällig und etwas eitel, »erwarte ich Morlacchi um mit ihm zu Fräulein Pechwell zu gehen; das will sagen, ich gehe nicht zu ihm, sondern er kommt zu mir. Ja, ja, ja.«
Dabei muss man daran denken, dass Morlacchi damals als Königlicher Kapellmeiser in Dresden musikalischer Alleinherrscher war. Klengel hatte Morlacchi gebeten, Frl. Pechwell, Klengel's beste Schülerin, mit Chopin bekannt zu machen. Erwähnenswert ist ferner, dass Chopin in Dresden Goethe's Faust sah. Sein Urteil darüber ist von einer verblüffenden Einsilbigkeit:
»Eine fürchterliche, aber grossartige Phantasie.«
Aus einer Bemerkung in einem Brief aus Dresden geht hervor, dass Chopin von Dresden nach Breslau reiste. Ueber den Aufenthalt dort sind jedoch keine Nachrichten vorhanden. Sicher ist nur, dass er am 12. September wieder in Warschau war.
Nach seinen grossen Erfolgen in Wien fand Chopin den Aufenthalt in Warschau eintönig und wenig anregend. In einem Briefe an Titus Wojciechowski vom 3. Oktober 1829 klagt er:
»Du glaubst nicht, wie traurig Warschau für mich ist; wenn ich mich nicht in meiner Familie glücklich fühlte, möchte ich nicht hier leben. O wie bitter ist es, wenn man niemand hat, mit dem man Trauer und Freude teilen kann, wie entsetzlich, wenn man sein Herz bedrückt fühlt und gegen keine Seele seine Klagen aussprechen kann! Du weisst schon, was ich damit sagen will.«
Dieses jammervolle Bekenntnis des jungen Chopin, der gerade jetzt nach seinen Triumphen am wenigsten Grund zur Klage hätte haben sollen, dem es in jeder Beziehung vortrefflich ging, ist bezeichnend für den Menschen. Zudem ist es nicht das einzige seiner Art. Ein kleines, manchmal nur eingebildetes Hindernis genügte, um ihn in tiefe Betrübnis zu versetzen. In dem selben Brief erwähnt er auch den Grund seiner Erregung: »Ich habe – vielleicht zu meinem Unglück – schon mein Ideal gefunden, das ich treu und aufrichtig verehre. Ein halbes Jahr ist es schon her, und ich habe mit ihr, von der ich allnächtlich träume, noch nie eine Silbe gesprochen.« Er ist von der Geliebten nicht etwa zurückgewiesen worden. Aus weiter Ferne schwärmt er sie an und wird ob dieser Tätigkeit melancholisch. Das Ideal war Constantia Gladkowska, eine junge Sängerin an der Warschauer Oper. Keinem gegenüber macht Chopin so vertrauliche Mitteilungen wie Wojciechowski. Es sind deswegen die Briefe an diesen Freund als biographische Quelle von grosser Wichtigkeit. Ihnen verdanken wir fast ausschliesslich die Nachrichten über Chopin's Leben während der Jahre 1829 und 30, auch über diese Herzensaffäre. Auffällig ist in ihnen eine Ueberschwänglichkeit im Ausdruck, eine Vertraulichkeit und Zärtlichkeit, wie sie in Briefen eines jungen Menschen an die Geliebte wohl erklärlich sein mögen. Hier einige Proben:
»Bitte, behalte mich lieb ..., Du weisst garnicht, wie lieb ich dich habe ... was würde ich darum geben, könnte ich dich wieder einmal so recht herzlich umarmen ... ich möchte nicht mit Dir reisen, denn auf den Augenblick, in welchem wir uns zum erstenmal im Ausland treffen und umarmen werden, freue ich mich von ganzem Herzen; er wird für mich wertvoller sein, als 1000 einförmige mit dir auf der Reise verlebte Tage ... Deine Briefe umschlinge ich mit einem Bändchen, das mir einst mein Ideal geschenkt. Ach der Briefträger! Ein Brief ... von Dir! ... Ich denke Deiner fast bei Allem, was ich nur vornehme; ich weiss nicht, ob es darin liegt, dass ich bei Dir fühlen und empfinden lernte ... Glaube mir, dass ich stets bei Dir bin und Dich bis an mein Lebensende nicht vergessen werde. –
Von Umarmungen und Küssen ist auffallend oft die Rede; man muss dabei an die polnische Sitte des Bruder- und Freundschaftskusses denken. Ist er dem Freund gegenüber an Liebesbeteuerungen zu verschwenderisch, so scheut er sich dagegen, der Geliebten nahe zu kommen. Das Auftreten der vergötterten Constantia in der Oper »Agnese« von Paer gibt ihm natürlich wieder Anlass zu verzückten Schwärmereien. Im übrigen aber scheint die Liebschaft mit Constantia mehr in Chopin's Fantasie existiert zu haben, als in Wirklichkeit. Nirgends erfahren wir, dass Constantia ihm mehr als freundschaftlich entgegengekommen sei, es ist sogar zweifelhaft, ob sie jemals von Chopin's heisser Liebe direkt erfahren habe, sicherlich kam er niemals zu einem Geständnis. Ueberdies scheint es, dass Constantia zwar den ersten Platz in seinem Herzen innehielt, aber nicht den einzigen. Einmal schreibt er mit Bezug auf seine Abreise:
»Jedenfalls will ich vor Michaeli alle meine Schätze zurücklassen. In Wien werde ich zu ewigem Seufzen und Schmachten verdammt sein! Das kommt davon, wenn man kein freies Herz mehr hat.«
Einige Zeilen weiter erfahren wir näheres:
»es ist schon 1/2 12 Uhr, und ich sitze noch hier im tiefsten Negligé, während Mariolka sicherlich schon auf mich wartet, um mit mir zu C. zum Diner zu gehen ... Ich bin nach meiner Rückkehr noch nicht bei ihr gewesen und muss dir ganz offen gestehen, dass ich oft die Ursache meines Kummers auf sie schiebe ... Der Vater lächelt dazu; aber wenn er Alles wüsste, würde er vielleicht weinen. Ich bin auch scheinbar ganz vergnügt, während mein Herz ...«
Hier bricht er plötzlich ab. Ueber Mariolka schweigen alle früheren Biographen vollständig. Erst Ferd. Hoesick hat Mitteilungen über sie gebracht. Die schöne Mariolka war die junge Komtesse Alexandra de Moriolles, deren Vater am Hof des Grossfürsten Konstantin als Erzieher von Konstantin's Sohne Paul fungierte. Ihre Mutter war Hofdame der Grossfürstin. Alexandra war es, die Chopin zu häufigen Besuchen im Belvedere veranlasste. Die Komtesse soll der Neigung Chopin's entgegengekommen sein; doch muss ihm die Aussichtslosigkeit seiner Liebe wohl zum Bewusstsein gekommen sein und diese Erkenntnis mag seinen geheimen Kummer genährt haben. Das Rondo à la Mazur op. 5 ist Alexandrine de Moriolles gewidmet.
Um diese Zeit gehörte Chopin zu den beliebtesten Persönlichkeiten Warschau's. Nach wie vor war er in den vornehmen Salons heimisch. Fast jeder Mensch von einiger Bedeutung in Warschau war ihm bekannt. Merkwürdig ist es, dass er mit den jungen Musikern nur oberflächlich verkehrte, dagegen mit den Litteraten auf gutem Fuss stand. Brodzinski, Witwicki, Zaleski neben anderen, die sich in der polnischen Litteratur einen Namen gemacht haben, verkehrten freundschaftlich mit ihm. Es lag nahe, dass er zu ihren Gedichten Musik machte, und so entstand der grösste Teil der erst nach Chopin's Tode veröffentlichten »chants polonais.« Viel bedeutsamer, als diese kleinen Gelegenheitsstückchen war jedoch die Tatsache, dass dieser Litteratenkreis auf Chopin's Empfinden nachhaltigen Einfluss übte, wurde er doch hier Parteigänger der jungen, aufstrebenden romantischen Schule, sog er doch hier den romantischen Geist ein, den ihm der Umgang mit den weniger begabten jungen Musikern wohl schwerlich konnte vermittelt haben. Die Geistesrichtung, die schon von Jugend auf im Vaterhause angebahnt war, wurde nun gefestigt. Immerhin blieb er natürlich auch in regem Kontakt mit den musikalichen Begebenheiten. Bei Kessler, einem der besten Warschauer Musiker, Komponisten von Etüden, die auch jetzt noch nicht ganz vergessen sind, fanden allwöchentlich Hauskonzerte statt: »Da kommen fast alle hiesigen Künstler zusammen und spielen, was gerade aufgelegt wird, prima vista.« Eine Menge neuer Werke lernte er bei Kessler kennen: »Gestern spielten sie unter anderem das Octett von Spohr, ein wundervolles Werk.« Er erwähnt ein Konzert (Cis-moll) von Ries, Trio (E-dur) von Hummel, ein Quintett von Spohr für Klavier und Blasinstrumente, »das letzte Trio von Beethoven (wohl op. 97, B-dur), das ich als herrlich und grossartig bewundern muss, ferner ein Quartett des Prinzen Ferdinand von Preussen, alias Dussek.« In Betreff des Prinzen mochte wohl unter den Musikern geredet worden sein, dass dessen Lehrer Dussek der eigentliche Komponist gewesen sei. Doch war der Verdacht unbegründet.
Ein anderes Mal teilt er mit, dass er nächstens bei Kessler seine Wojciechowski gewidmeten Variationen (op. 2) vortragen werde. Mehrfach erwähnte er auch Etüden »nach meiner Art komponiert«, die dann später in das op. l0 übergingen. Auch ein Konzert-adagio, der Mittelsatz des F-moll-Konzerts, wird genannt, »Elsner hat es gelobt, er sagte, es sei etwas neues darin.« Ueber andere seiner Kompositionen spricht er in einem langen Brief, der seine Erlebnisse in Antonin schildert, wo er als Gast der Radziwills im Oktober 1829 weilte.
»Ich war eine Woche dort. Du glaubst nicht, wie schnell und angenehm mir dieselbe vergangen ist ... Was mich betrifft, so wäre ich dort geblieben, bis man mich fortgejagt hätte; aber meine Beschäftigungen und vor allen Dingen mein Konzert, das noch ungeduldig auf sein Finale harrt, haben mich gezwungen, von diesem Paradiese Abschied zu nehmen. Es waren, m. 1. Titus, zwei Evas da, die jungen Fürstinnen, ausserordentlich liebenswürdige, musikalische, gemütvolle Damen. Auch die Frau Fürstin, die ganz genau weiss, dass nicht nur die Herkunft des Menschen dessen Wert bedingt, ist so liebenswürdig und fein im Umgang mit jedermann, dass es unmöglich ist, sie nicht zu verehren. Du weisst, wie der Fürst die Musik liebt; er zeigte mir seinen »Faust«, und ich habe manches darin gefunden, das wirklich schön, ja sogar teilweise genial gedacht ist. Im Vertrauen, ich hätte solche Musik einem Statthalter garnicht zugetraut Die nämliche Faust-Musik, die noch bis in die neueste Zeit bei Faust-Aufführungen verwendet wurde. .... Ich habe während meines Besuches eine »Alla Pollacca« mit Violoncell geschrieben (später als op. 3 veröffentlicht). Es ist dies nichts weiter als ein brillantes Salonstück, so recht für Damen! Ich möchte gern, dass die Fürstin Wanda sie einstudiert. Es soll so heissen, als ob ich ihr Stunde gegeben hätte. Sie ist erst 17 Jahre alt, schön, und es wäre eine Wonne, ihre zierlichen Finger auf die Tasten setzen zu dürfen. Doch Scherz bei Seite, in ihrer Seele wohnen wahrhaft musikalische Empfindungen, und man braucht ihr nicht zu sagen, ob sie crescendo, piano oder pianissimo spielen soll.«
Chopin erbittet vom Freund die Zusendung seiner F-moll-Polonaise (op. 71),
»welche die Fürstin Elise sehr interessiert ... Du kannst Dir den Charakter der Fürstin danach ausmalen, dass sie sich alle Tage die Polonaise von mir vorspielen lässt. Ganz besonders gefiel ihr immer das Trio in As dur.«
Liszt erzählt, dass die jungverstorbene Fürstin Elise auf Chopin besonderen Eindruck gemacht habe: »Sie hinterliess ihm das Bild eines Engels, der für kurze Zeit auf die Erde verbannt war.«
Ausser dem Besuch in Antonin hatte Chopin auch im folgenden Jahre Gelegenheit zu Ausflügen aufs Land. Er besuchte seinen Freund Titus Wojciechowski auf dessen Besitzung Poturzyn und hielt sich dann noch beim Grafen Skarbek in Zelazowa-Wola, seinem Geburtsort, auf. Der Besuch in Poturzyn war eine Erwiderung des Besuches, den Titus im Sommer 1830 in Warschau gemacht hatte. Am 28. Mai 1830 war in Warschau seit Jahren zum ersten Male ein Reichstag wieder zusammengetreten. Aus diesem Anlass füllte sich die Stadt mit einer grossen Zahl von Adligen und hohen Beamten. Auch Titus hatte die Gelegenheit benutzt. Die auffallend vielen Virtuosenkonzerte dieses Jahres mögen in dem Zusammenströmen der besten Kreise ihren Grund gehabt haben. Chopin weiss viel darüber zu berichten. Da heisst es z. B. von dem »kleinen Worlitzer«, Pianisten des Königs von Preussen : »Er spielt sehr schön und ist, da jüdischer Abstammung, von Natur sehr befähigt.« Die Leistungen des 16jährigen Knaben lobt Chopin, besonders seinen »wahrhaft excellenten« Vortrag von Mocheles' damals berühmten Alexandermarsch-Variationen. Aber noch »zehnmal besser« als Worlitzer gefällt ihm eine französische Pianistin, Frl. Belleville. Sie hatte Chopins Variationen (op. 2) in Wien gespielt. Besonders die Konzerte der grossen Sängerin Henriette Sonntag geben ihm zu begeisterten Schilderungen Anlass. Durch Fürst Radziwill wurde Chopin der Sonntag vorgestellt.
»Sie ist nicht schön, aber im höchsten Grade fesselnd Sie bezaubert alle mit ihrer Stimme, die zwar nicht sehr gross, aber prachtvoll ausgebildet ist. Ihr diminuendo ist das non plus ultra, was man hören kann, ihr portamento wunderschön, ihre chromatische Tonleiter hauptsächlich nach der Höhe zu unerreicht.«
Er hörte von ihr u. a. Arien von Mercadante, aus Rossini's Barbier, Semiramis, und diebische Elster, dem Freischütz, Variationen von Rode, solche über ein Schweizerthema. Einmal, als Chopin bei der Sonntag war, erschien Soliva mit seinen Schülerinnen, der Gladkowska und der Wolków. Chopin musste von der Sonntag das wenig erfreuliche Urteil hören, dass die Stimmen, auch die seines Ideals, »ganz schön, aber schon etwas ausgeschrien seien,« und dass eine Veränderung der Gesangsmethode dringend notwendig sei. Die Erfolge der Sonntag in Warschau waren kolossal. Auch in ihrer Wohnung war sie von Besuchern geradezu belagert. »Senatoren, Woiewoden, Kastellane, Minister, Generäle und Adjutanten belästigten sie,« wie Chopin als Augenzeuge berichtet.
»Sie hat in ihrem Vortrag«, heisst es an anderer Stelle, »manche ganz neue Broderie, mit der sie grossen Effekt macht, aber nicht so wie Paganini. Vielleicht hat es darin seinen Grund, dass es eine kleinere Art ist. Es scheint, als ob sie den Duft eines frischen Blumenbouquets auf das Parterre haucht, und ihre eigene Stimme bald liebkost, bald mit ihr scherzt, aber selten rührt sie bis zu Thränen.«
Wichtiger jedoch als alle diese Mitteilungen sind die Berichte über die zwei eigenen Konzerte, die Chopin im Frühjahr 1830 gab. Am 17. März fand das erste Konzert im Theater statt. Das Programm lautete:
Erster Teil.
Zweiter Teil.
Chopin schreibt darüber am 27. März 1830:
»Das erste Konzert – zu dem schon drei Tage vorher weder Loge noch Parquet zu bekommen war – machte im Ganzen nicht den Eindruck, den ich erwartet hatte. Das erste Allegro vom F-moll-Konzert (nicht für alle verständlich) wurde zwar mit Bravo belohnt, aber ich glaube, dies geschah mehr, weil das Publikum zeigen wollte, dass es ernste Musik versteht und zu schätzen weiss. Es gibt ja in allen Ländern Leute, die gern die Kennermiene annehmen. Das Adagio und Rondo haben sehr viel Effekt gemacht ... allein das Potpourri über polnische Lieder (op. 13) hat seinen Zweck vollständig verfehlt; man applaudierte zwar, aber nur, um dem Spieler zu zeigen, dass man sich nicht gelangweilt habe.«
Mehrfach wurde an Chopins Spiel ausgesetzt, es wäre nicht laut genug gewesen: »Ich wusste ganz genau, wo diese Kraft steckt, und in dem zweiten Konzert habe ich nicht auf meinem, sondern auf einem Wiener Instrumente gespielt.«
Das zweite Konzert fand innerhalb einer Woche nach dem ersten statt. Ueber das Programm schreibt Chopin:
»Das zweite Konzert ist mit einer Symphonie von Novakowski (einem Studiengenossen) par complaisance eröffnet worden, worauf wieder das erste Allegro aus meinem Konzerte (F-moll) folgte. Darauf spielte der Theater-Konzertmeister Bielowski ein air varié von Rode, dann ich wieder mein Adagio und Rondo. Den zweiten Teil eröffnete ich mit dem Rondo Krakowiak (op. 14); die Meier sang eine Arie aus der Oper ›Helene und Malwina‹ von Soliva, und zum Schluss improvisierte ich über das Volkslied: ›Wmiéscie dziwne obyczaje‹ (In der Stadt sind besondere Sitten), was den Leuten im ersten Rang sehr gefallen hat.«
Im allgemeinen aber scheint es nach Chopin's Bericht, dass er mit dem Publikum nicht zufrieden war, trotz des grossen Beifalls. Man verstand das Beste und Wesentlichste in Chopin's Spiel und seinen Kompositionen nicht. Doch nach aussen hin war der Erfolg grossartig. Die Zeitungen brachten sehr günstige Kritiken, im Kourier erschien sogar ein Sonett auf Chopin, Verehrer sandten ihm ein grosses Bukett mit einem Gedicht, der Musikalienhändler Brzezina verlangte Chopin's Porträt, nach den Themen seiner Kompositionen wurden Mazurken und Walzer arrangiert. Sehr bezeichnend für Chopin ist die Art, wie er das überaus günstige finanzielle Ergebnis en bagatelle abtut: »Mir ist es ja nicht um die Einnahme zu tun, denn auch das Theater hat mir nicht viel eingebracht. Von beiden Konzerten hatte ich nach Abzug der Unkosten noch nicht einmal 5000 Gulden (ca. 2500 Mark).«
Dass der grosse Erfolg dem jungen Künstler nicht zu Kopfe gestiegen war, beweisen die folgenden Zeilen, in denen er sich gegen übertriebenes Lob verwahrt:
»Eine der Nummern (des amtlichen Blattes) enthält – obwohl gut gemeint – solche Dummheiten, dass ich bis zu dem Moment ganz verzweifelt war, wo ich die Antwort in der ›Gazeta Polska‹ gelesen hatte, die mir gerechterweise wieder abnimmt, was die andere mir in ihrer Uebertreibung angedichtet hatte. Es wird nämlich in diesem Artikel behauptet, dass, wie die Deutschen auf Mozart, so einstens die Polen auf mich stolz sein werden; offenbarer Unsinn! Aber noch mehr; er sagt weiter: Dass, wenn ich einem Pedanten oder Rossinisten (dieser dumme Ausdruck!) in die Hände gefallen wäre, ich das nie hätte werden können, was ich sozusagen jetzt bin. Obwohl ich nun zwar noch nichts bin, so hat der Kritiker doch insofern recht, dass ich noch weniger leisten würde, als ich in der Tat leiste, wenn ich nicht bei Elsner studiert hätte.«
Von vielen Seiten wurde Chopin gedrängt, noch ein drittes Konzert zu geben. Er will dies aber erst vor seiner Abreise ins Ausland geben. Fast ein ganzes Jahr lang ist in seinen Briefen von der Abreise die Rede, ehe es dazu kommt – hauptsächlich war Chopins charakteristische Unentschlossenheit an dieser Verzögerung schuld, dann wohl auch seine Schwärmerei für Constantia Gladkowska. Er war so weit vorgeschritten, dass er sich als Klavierspieler und Komponist im Auslande einen Namen machen konnte, und überdies war zur weiteren Fortbildung Warschau nicht der geeignete Ort. Zunächst war Wien in Aussicht genommen. Doch immer wieder schob er die Abreise hinaus. Am 4. September 1830 schreibt er:
»Ich sage Dir, ich habe immer tollere Einfälle. Ich sitze noch hier – und kann mich nicht entschliessen, den Tag meiner Abreise definitiv festzusetzen. Mir ahnt immer, als verliesse ich Warschau, um nie wieder nach Hause zurückzukehren; ich trage die Ueberzeugung in mir, dass ich meiner Heimat für immer Lebewohl sage. O wie traurig muss es sein, wo anders, und nicht da, wo man geboren ist, zu sterben! Wie würde es mir schwer fallen, statt der mir so teuren Gesichter meiner Anverwandten einen gleichgültigen Arzt und einen bezahlten Diener an meinem Sterbebett zu sehen! Glaube mir, lieber Titus, ich käme manchmal gern zu Dir, um dort Ruhe für mein beklommenes Herz zu suchen; aber da das nicht möglich ist, so eile ich oft, ohne zu wissen weshalb, auf die Strasse. Aber auch dort wird meine Sehnsucht durch nichts gestillt oder abgelenkt, ich kehre wieder nach Hause zurück, ... um mich von neuem namenlos zu sehnen« ...
»Ich weiss nicht, weshalb ich eigentlich noch immer hier bin; aber mir ist hier so wonnig zu Mut, und die Eltern sind damit ganz einverstanden ... Wenn Du etwa den Verdacht hegst, dass mich hier etwas Teures fesselt, so irrst Du Dich, wie viele. Ich versichere Dir, dass ich gern jedwedes Opfer zu bringen bereit wäre, wenn es sich nur um mein eigenes Ich handelte, und ich: obwohl ich verliebt bin – noch einige Jahre länger diese unglückseligen Gefühle in meinem Innern verborgen halten müsste.«
Am 22. September schreibt er:
»Ich muss Dir zunächst erklären, wie es zusammenhängt, dass ich noch hier bin. Ich habe indessen den festen Willen und die heimliche Absicht, Sonnabend über 8 Tage, ohne pardon, trotz aller Lamentos, des Weinens und Klagens, wirklich abzureisen.«
Und ferner am 5. Oktober: »Acht Tage nach dem Konzert bin ich sicherlich nicht mehr in Warschau,« mit Bezug auf sein letztes Konzert am 11. Oktober, doch dauerte es schliesslich noch bis zum November, ehe er wirklich abreiste. Die letzten Wochen brachten mannigfache Erregungen. Während des Sommers war das E-moll-Konzert vollendet worden. Die Vorbereitungen zum letzten Konzert machten viel Mühe, dazu kam die Furcht vor der Abreise, und die Aussicht, Constantia und Mariolka und vielleicht noch andere geliebte Wesen nun endgiltig verlassen zu müssen:
»Ich bin mitunter so verrückt, dass ich vor mir selbst erschrecke ... In der Kirche, von einem Blicke meines Ideals getroffen, in einem Moment angenehmer Erstarrung, bin ich sofort auf die Strasse gelaufen, und gebrauchte beinahe ¼ Stunde, ehe ich wieder zum vollen Bewusstsein kommen konnte.«
Mit besonderer Sorgfalt stellte er diesmal sein Programm zusammen: »Um ein im wahren Sinne des Wortes schönes Konzert zu veranstalten und die unglücklichen Klarinetten- und Fagott-Solonummern zu vermeiden, werden die Damen Gladkowska und Wolkow einige Gesangsvorträge übernehmen.« Nach vieler Mühe, er musste bis zum Minister gehen, erlangte Chopin, dass den Damen gestattet wurde, mitzuwirken. »Kurpinski, Soliva und die auserwählteste musikalische Welt wird zugegen sein; indessen habe ich zur musikalischen Urteilsfähigkeit derselben – Elsner natürlich ausgenommen – nicht viel Vertrauen.«
Am 11. Oktober fand endlich das Konzert statt. Darüber berichtet er:
»Das gestrige Konzert ist vollständig gelungen ... ich habe mich nicht im geringsten geängstigt und spielte als ob ich zu Hause wäre. Der Saal war überfüllt. Die Symphonie von Görner eröffnete den Reigen; dann spielte ich das erste Allegro aus dem E-moll-Konzert, welches ich leicht hingerollt auf dem Streicher'sehen Flügel vortrug. Rauschender Applaus ertönte dafür. Soliva war sehr zufrieden; er dirigierte seine Arie mit Chor, von Frl. Wolków sehr gut vorgetragen. In ihrem hellblauen Gewande sah sie aus wie eine Fee. Auf diese Arie folgte mein Adagio und Rondo (aus dem Konzert) und hierauf die übliche Pause. Kenner und Musikfreunde kamen zu mir auf die Bühne, um mir über mein Spiel die schmeichelhaftesten Komplimente zu machen. Der zweite Teil begann mit der Tell-Ouvertüre (von Rossini). Soliva dirigirte ausgezeichnet. ... Er dirigierte nachher die Cavatine aus (Rossini's) ›La donna del lago‹, welche Frl. Gladkowska sang. Sie trug ein weisses Kleid und Rosen im Haar und war reizend schön. So wie diesen Abend hatte sie (die Arie in ›Agnese‹ ausgenommen) noch nie gesungen. ›O! quante lagrime per te versai‹, das ›tutto detesto‹ bis zum unterem h kam so herrlich zu Gehör, dass Zielinski erklärte, dieses h allein sei 1000 Dukaten wert. Nachdem ich die Damen von der Bühne heruntergeführt, spielte ich meine Phantasie über polnische Lieder. Diesmal habe ich mich selbst verstanden, das Orchester verstand mich und das Parterre verstand uns. Am Schluss machte der letzte Mazur grossen Effekt und ich wurde stürmisch gerufen, sodass ich mich viermal bedanken musste. Ich tat dies, glaube mir, gestern Abend mit gewisser Grazie, denn Brandt hatte mir's ordentlich beigebracht.«
Endlich, am 2. November schlug die Abschiedsstunde. Sehr schwer mochte die Trennung gewesen sein. Mit Konstantia tauschte er Ringe aus. Am Tage vor der Abfahrt hatten die Freunde in der Wohnung eines seiner Bekannten, Rheinschmidt's, sich zu einem Abschiedsmahle mit ihm eingefunden. Während dieses Mahls komponierte er die »Hulanka« des Witwicki Siehe dar. Hoesick S. 722. Niecks weiss nichts von der »Hulanka«, setzt auch mit Karasowski das Abschiedsmahl fälschlich zu spät an; es fand nicht in Wola, sondern in Warschau statt., eins der polnischen Lieder. Ein silberner Pokal mit heimatlicher Erde gefüllt, wurde ihm als Ehrengabe überreicht. »Mögest Du, wo immer Du wandern und weilen magst, nie Dein Vaterland vergessen, niemals aufhören es mit warmem, treuem Herzen zu lieben. Gedenke Polens, gedenke Deiner Freunde, die Dich mit Stolz ihren Landsmann nennen, die grosses von Dir erwarten, deren Wünsche und Gebete Dich begleiten«, waren die Worte des Sprechers, wie Karasowski sie mitteilt. Sei die Rede nun wirklich so gewesen oder anders, sie drückt, wie sie hier steht, vortrefflich den Geist aus, der damals die polnische Jugend beseelte, sie entsprach sicher den Gefühlen aller Anwesenden. Noch eine Ueberraschung wurde Chopin bereitet. Eine Stunde hinter Warschau, am Wirtshaus des Dorfes Wola hatte sich der alte Elsner mit einer Anzahl Schülern des Konservatoriums aufgestellt. Als Chopin nach der Abreise von Warschau mit der Post nach Wola kam, liess Elsner von dem Schülerchor eine Abschiedskantate mit Guitarrenbegleitung singen, die er eigens für die Gelegenheit geschrieben hatte. Hoesick teilt S. 724 den Text der Kantate mit. Elsner selbst spricht darüber in seinen Memoiren: »Kantate für gemischten Chor mit Guitarrenbegleitung, geschrieben aus Anlass des Abschieds meines Schülers Chopin, zur Ausführung durch seine Mitschüler in den Kompositionsklassen des Konservatoriums, in einem Gasthaus bei Wola ...«
Chopin's Ahnung sollte ihn nicht täuschen. Es war ihm nicht beschieden, das Vaterland jemals wiederzusehen.