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XIV. Der Jungbrunnen

Ein seltsamer Anblick! Unter ihnen in einer tiefen Arena, aus der das Wasser abgeflossen war, erstreckten sich über das ganze, von den ehemaligen Uferfelsen eingefaßten Gelände, endlos viele Ruinen und alte Tempel mit angenagten Stufen und zerbrochenen Säulen. Die Häuser hatten keine Giebel und keine Dächer. Da stand ein Wald; die Bäume hatte ein Blitz enthauptet; es waren armselige Stümpfe, aber sie hatten noch den edlen Reiz des Lebens. Von ganz hinten kam die römische Heerstraße, die Triumphstraße, an deren Rand zerborstene Statuen und symmetrische Tempel standen, bis ans Ufer und endete in der Grotte, in der die Opfer stattfanden.

All das war feucht und funkelte; stellenweise waren die Ruinen mit Schlamm bedeckt; man sah Versteinerungen, dazwischen blitzte ein Stück Gold oder Marmor in der Sonne auf. Rechts und links verliefen zwei silberne Streifen: die Wasserfälle hatten ihr steinernes Bett wiedergefunden.

»Das Forum ...,« sagte Raoul, das Forum ... ungefähr die gleichen Dimensionen und die gleiche Anlage. Die Papiere des alten Marquis enthalten einen Plan und Erklärungen, die ich heute nacht studiert habe. Die Stadt Juventia lag unter dem großen See. Unter diesem wieder lagen die Thermen und die den Göttern der Gesundheit und der Kraft geweihten Tempel; alle lagen im Kreise um den Tempel der Jugend, dessen Säulenhalle man von hier aus sehen kann.«

Er faßte Aurelie um die Hüfte und ging mit ihr den Weg hinunter. Die großen Steinfliesen waren schlüpfrig. Moos und Wasserpflanzen wechselten mit feinem Kies ab, in dem bisweilen ein Geldstück zu sehen war. Raoul hob zwei davon auf; sie trugen das Bildnis des Konstantin.

Dann kamen sie an das kleine, der Jugend geweihte Tempelchen. Auch die Überreste waren köstlich; man konnte sich mühelos den zierlichen Bau vorstellen: über einige Stufen gelangte man zu einem Bassin, in dessen Mitte vier pausbäckige und dralle Kinder ein Gefäß hielten, über dem sich die Statue der Jugend aufrichtete. Große Bleiröhren, die früher wohl nicht zu sehen gewesen sein mochten und die irgendwo her von der Klippe zu kommen schienen, tauchten aus dem Bassin auf. Am Ende der einen Röhre befand sich ein erst kürzlich angelöteter Hahn. Raoul drehte ihn auf. Ein lauwarmer Strahl mit etwas Schlamm floß heraus.

»Das Verjüngungswasser«, sagte Raoul. »Diese Flüssigkeit befand sich in der Flasche unter dem Kopfkissen deines Großvaters. Und das Etikett enthielt die Analyse.«

Zwei Stunden spazierten sie durch die Fabelstadt. Um sechs Uhr riefen die Glocken von Clermont-Ferrand zum Hochamt. Aurelie und Raoul waren bis zum Eingang des Engpasses gelangt. Die beiden Wasserfälle drangen dort ein, liefen rechts und links von der Triumphstraße weiter und stürzten in die vier offenen Abflußlöcher.

Raoul schloß sie; dann drehte er langsam am Schleusenwerk, um die Türen nach und nach zu öffnen. Das Wasser sammelte sich sofort, der große See ergoß sich in breiter Ebene, und die beiden Wasserfälle sprangen aus ihren steinernen Betten. Sie gelangten auf den schmalen Weg, den Raoul am Vorabend mit den beiden Banditen gegangen war, und sahen von dort aus, wie schnell das Wasser stieg.

»Ein magischer Brunnen«, sagte Raoul, »so hat es auch der Marquis genannt. Außer den Elementen der Wasser von Royat enthält er so kräftigende Bestandteile, daß man ihn wirklich einen Jungbrunnen nennen kann, eine Wirkung, die auf seine eminente Radioaktivität zurückzuführen ist. Die reichen Römer kamen im dritten und vierten Jahrhundert hierher, um sich zu kräftigen, und der letzte Prokonsul der Provinz Gallien wollte nach dem Tode des Kaisers Theodosius und dem Zusammenbruch des Reiches die Wunder von Juventia vor den Augen und den Unternehmungen der barbarischen Eindringlinge verbergen. Unzählige Inschriften weisen darauf hin.

Jahrhunderte sind inzwischen vergangen, fünfzehn Jahrhunderte! Und all das wäre auf ewig verborgen geblieben, wenn dein Großvater nicht eines Tages bei einem Spaziergange durch den Besitz seines Freundes den Schleusenmechanismus entdeckt hätte. Die beiden Freunde tasten, suchen, grübeln. Man macht Wiederherstellungsarbeiten. Und das Wunder ist vollbracht.

Das ist alles, Aurelie, und das alles hast du mit sechs Jahren gesehen. Als dein Großvater gestorben war, hat der Marquis seinen Besitz Juvains nicht mehr verlassen und sich mit Leib und Seele der Wiedererweckung der unsichtbaren Stadt gewidmet. Mit seinen beiden Hirten hat er sein Werk unermüdlich verbessert. Und dieses wunderbare Geschenk hat er dir zugedacht. Es bringt dir nicht nur ein ungeheuerliches Vermögen, denn der auszubeutende Brunnen ist wirksamer als die von Royat und Vichy, sondern eine Anhäufung von Kunstschätzen, die einzigartig ist.«

Aurelie schwieg. Er fühlte schließlich, daß sie mit ihren Gedanken abwesend war und fragte sie. Endlich sagte sie leise:

»Wissen Sie denn auch, was aus dem Marquis de Talençay geworden ist?«

»Nein,« sagte Raoul, der sie nicht betrüben wollte, »aber ich glaube, er ist zu Hause im Dorf geblieben, vielleicht ist er krank ... oder er hat die Verabredung vergessen ...«

Eine schlechte Ausrede. Aurelie schien sich auch mit ihr nicht zufriedenzugeben. Sie schien die Wahrheit zu ahnen.

»Gehen wir«, sagte sie.

Sie gingen bis zu der zerstörten Hütte hinauf, wo die Banditen die eine Nacht gehaust hatten. Von dort aus wollte Raoul bis zur hohen Mauer und bis zu dem Ausgang gehen, durch den die Hirten den Besitz verlassen hatten.

Aber als sie um den nächsten Felsen bogen, machte sie Raoul auf ein ziemlich umfangreiches Paket aufmerksam, auf einen Sack, der am Rande der Klippe lehnte.

»Man könnte meinen, er bewegt sich«, sagte sie.

Raoul sah hin, bat Aurelie um einige Minuten Geduld und eilte hinunter. Als er den Sack fassen konnte, griff er mit der Hand hinein: zuerst kam der Kopf, dann der Körper eines Kindes zum Vorschein. Raoul erkannte den kleinen Helfer von Jodot, der die Flasche hatte suchen helfen.

Das Kind schlief ziemlich fest. Mit einem Schlage konnte Raoul das Rätsel lösen, das ihn gequält hatte, und er schüttelte den Jungen heftig:

»Lausbub! Du bist uns also nachgeschlichen? Jodot hat dich im Koffer hinten am Automobil versteckt, nicht wahr? So bist du mit uns nach Clermont-Ferrand gefahren und hast dann eine Karte geschickt, was? Gestehe, oder du bekommst ein paar Ohrfeigen!«

Der Junge verstand nicht recht, was mit ihm geschah, sein lasterhaftes Jungengesicht wurde bleich, und er stammelte:

»Ja, Tonton wollte das ...«

»Tonton?«

»Jawohl, Onkel Jodot.«

»Und wo ist dein Onkel jetzt?«

»Heute nacht sind wir alle drei fortgegangen, aber dann sind wir noch einmal zurückgekommen.«

»Und?«

»Und heute morgen sind sie da hinuntergegangen; als das Wasser verschwunden war, haben sie überall gesucht und allerlei mitgenommen.«

»Vor mir?«

»Vor Ihnen und dem Fräulein. Als Sie die Grotte verließen, haben sie sich hinter einer Mauer verborgen, da ganz hinten, noch hinter der Grotte. Ich sah alles von hier aus; Tonton hatte gesagt, ich solle hier warten.«

»Und wo sind die beiden jetzt?«

»Ich weiß nicht. Es war so heiß, und da bin ich eingeschlafen. Als ich einen Augenblick aufwachte, schlugen sie sich.«

»Sie schlugen sich? ...«

»Ja, wegen eines Gegenstandes, den sie gefunden hatten und der wie Gold glänzte. Ich sah, wie sie beide stürzten ... Tonton hat mit dem Messer zugestochen ... und dann ... dann weiß ich nicht mehr ... ich schlief schon halb ... dann war es, als stürze die Mauer zusammen und begrabe beide unter sich.«

»Was? Was sagst du da?« stammelte Raoul entsetzt. »Wo geschah das? Wann?«

»Als die Glocken läuteten ... da ganz hinten ... sehen Sie, da! ...«

Das Kind beugte sich über die Klippe und schrie:

»Oh, das Wasser ist wiedergekommen! ...«

Er dachte nach, dann begann er kläglich zu weinen.

»Wenn das Wasser zurückgekommen ist, konnten sie nicht mehr fort ... dann ist Tonton ...«

Raoul schloß ihm den Mund.

»Schweig! ...«

Aurelie stand mit verzerrtem Gesicht vor ihnen. Sie hatte verstanden. Jodot und Guillaume waren beide, verwundet und unfähig, sich zu bewegen, ein Opfer des steigenden Wassers geworden! Die Steine der zusammengestürzten Mauer lagen auf ihren Leichnamen.

»Entsetzlich!« stammelte Aurelie.

Das Kind weinte stärker. Raoul gab ihm Geld und eine Karte.

»Hier hast du hundert Francs. Nimm den Zug nach Paris und suche diese Adresse auf. Dort wird man für dich sorgen.«

* * *

Auf dem Rückwege waren Raoul und Aurelie still. Als sie vor dem Sanatorium standen, mußten sie Abschied voneinander nehmen.

»Trennen wir uns auf einige Tage«, sagte Aurelie. »Ich werde Ihnen schreiben.«

Raoul widersprach:

»Uns trennen? Menschen, die sich lieben, trennen sich nicht.«

»Menschen, die sich lieben, haben von einer Trennung nichts zu befürchten. Das Leben bringt sie immer zusammen.«

Er gab nach, wenn ihm auch recht schwer ums Herz wurde.

Erst eine volle Woche später erhielt er folgenden kurzen Brief:

»Lieber Freund!

Ich bin tief erschüttert. Durch einen Zufall erfahre ich eben vom Tode meines Stiefvaters Brégeac. Selbstmord, nicht wahr? Ich weiß auch, daß man den Marquis de Talençay tot in einer Schlucht aufgefunden hat. Man sagt, ein unglücklicher Zufall. Aber es handelt sich wohl um ein Verbrechen, nicht wahr? Und der entsetzliche Tod von Jodot und Guillaume ... Und die anderen Toten! ... Miß Bakefield ... und die beiden Brüder ...

Ich reise fort, Raoul. Suchen Sie nicht nach mir. Ich weiß selbst noch nicht, wohin ich reisen werde. Ich muß nachdenken, mein Leben prüfen, Entschlüsse fassen.

Ich liebe Sie. Warten Sie und verzeihen Sie mir.«

Raoul wartete nicht. Dieser verwirrte Brief verriet ihm Qual und Unruhe, die gleiche Qual und die gleiche Unruhe, unter der er selbst litt. Es mußte etwas geschehen. Und er begann zu suchen.

Vergeblich. Er dachte daran, daß sie sich nach Sainte-Marie zurückgezogen haben könnte; aber er fand sie dort nicht. Er suchte überall und machte alle seine Freunde mobil. Alle Bemühungen waren vergeblich. Verzweifelt fürchtete er, irgendein neuer Feind könnte das junge Mädchen abermals peinigen, und er verbrachte so zwei wirklich qualvolle Monate. Da erhielt er eines Tages ein Telegramm. Sie bat ihn, am nächsten Tage nach Brüssel zu kommen und gab ihm ein Stelldichein am Cambre-Wäldchen.

Raouls Freude kannte keine Grenzen, als er sie lebhaft und entschlossen auf sich zukommen sah. Ihr Gesicht war heiter und von allen bösen Erfahrungen befreit.

Sie gab ihm die Hand.

»Verzeihen Sie mir, Raoul!«

Sie gingen nebeneinander und waren sich so nah, als hätten sie sich niemals voneinander getrennt. Dann begann sie:

»Sie haben es mir selbst einmal gesagt, Raoul, daß zwei Leben sich in mir streiten und daß ich mich nicht entscheiden könne. Nach den beiden Tagen in Juvains war ich nun so feige, daß ich trotz unserer Liebe Abscheu vor dem Leben hatte. Die ganze Geschichte, die Sie mir fast als ein Märchen geschildert hatten, kam mir wie eine Ausgeburt der Hölle vor. Ist das nicht richtig, Raoul? Bedenken Sie nur, was ich alles durchmachen mußte! Und was ich sehen mußte! Ich will von diesen Dingen nichts wissen! Zwischen der Vergangenheit und mir muß jede Verbindung aufhören! Wenn ich einige Zeit abseits gelebt habe, so geschah es, weil ich fühlte, daß ich dem Abenteuer, das ich allein überlebt hatte, nicht wieder verfallen durfte. Ich will die Dinge, die Jahrhunderte hindurch unsichtbar waren, nicht wiederauferstehen lassen. Ich will nicht. Bin ich die Erbin der Reichtümer und Schätze, so bin ich auch die Erbin der Gewalttaten und Verbrechen, deren Gewicht mich zermalmen würde.«

»So daß das Testament des Marquis? ...« sagte Raoul und zog das Testament aus der Tasche.

Sie nahm es und riß es in tausend kleine Fetzen.

»Ich sage es nochmals: alles ist zu Ende! Das Abenteuer darf nicht noch einmal beginnen! Ich habe mit solchen Dingen nichts zu schaffen. Ich bin keine Heldin!«

»Was denn?«

»Eine Liebende ... eine liebende Frau, die ihr Leben von vorn beginnen will ... und die es nur um ihrer Liebe willen neu aufbaut und aufgebaut hat.«

»Meine Dame mit den grünen Augen, Sie übernehmen eine schwere Verpflichtung!«

»Schwer für mich, aber nicht für Sie! Wenn ich Ihnen auch mein Leben ganz anbiete, so will ich von Ihrem Leben nur, was Sie mir geben. Behalten Sie Ihr Geheimnis. Sie werden es niemals gegen mich zu verteidigen haben. Ich nehme Sie, wie Sie sind. Ich will nur eins: daß Sie mich solange lieben, wie Sie nur können!«

»Immer, Aurelie.«

»Nein, Raoul, Sie sind kein Mann, der ewig lieben kann, ach, nicht einmal sehr lange. Aber ich will nicht klagen. Auf heute abend. Kommen Sie in die Oper. Eine Loge ist bereits reserviert.«

Sie trennten sich.

Am Abend ging Raoul in die Oper. Man gab die »Bohême« mit einer neuen Sängerin namens Lucie Gautier.

Lucie Gautier war – Aurelie.

Raoul verstand. Das unabhängige Leben einer Künstlerin macht frei von gewissen Konventionen. Aurelie war frei.

Nach Schluß der Vorstellung suchte er sie in ihrer Garderobe auf. Ihr blonder Kopf neigte sich ihm entgegen ...


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