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VII. Hölle

Die Lage der Terrasse war so entlegen, daß Aurelie und Raoul sich immer ungestört hatten treffen und miteinander unterhalten können. Dieser Umstand kam auch Marescal zustatten. Und man sah, daß er sich keineswegs beeilte.

»Nun, mein Fräulein, ich glaube, die Ereignisse haben sich für mich sehr günstig entwickelt. Hier werden Sie mir nicht entkommen. Hier siegt der Stärkere.«

Aurelie sah ihn an. Wahnsinnige Angst machte sie starr und unbeweglich. Kein Laut. Sie wartete.

Er bemerkte das Telegramm und spottete:

»Unser lieber Brégeac teilt Ihnen seine unmittelbare Ankunft mit? ... Ich weiß, ich weiß. Seit vierzehn Tagen überwache ich meinen verehrten Chef und kenne seine geheimsten Pläne. So bin ich ihm auch hier zuvorgekommen. Ich habe mich in aller Ruhe mit der Gegend vertraut gemacht und habe eben zu meinem Vergnügen gesehen, wie sich jemand entfernt hat. Ein Anbeter vermutlich? Vielleicht ein Liebhaber sogar! Ich wäre gar nicht überrascht ...«

Aurelie schwieg immer noch. Marescal geriet immer mehr in Hitze:

»Wir haben keine Zeit, nutzlos zu schwatzen. Wir müssen klar und deutlich miteinander reden. Ich will die Demütigungen, die ich erleiden mußte, vergessen. Die Gegenwart zählt. Und der Mord im Zuge, die Flucht, die Gefangennahme durch die Gendarmen – all das sind tödliche Beweise gegen Sie. Ich habe Sie gefaßt und kann jederzeit sagen: ›Hier ist die Frau, die getötet hat und die von der Polizei gesucht wird ...‹ Ich habe den Haftbefehl in der Tasche.«

Als Aurelie sich auch jetzt nicht rührte und seine Worte keinerlei Eindruck auf sie zu machen schienen, spielte er endlich seinen letzten Trumpf aus:

»Sie wissen, was Ihnen bevorsteht. Andererseits können wir sofort zu einer Verständigung kommen. Schwören Sie mir feierlich, daß Sie mir gehören werden und besiegeln Sie den Eid mit einem Kuß! Aber ich will keinen widerwilligen, hochmütigen Kuß ... So antworte doch, zum Teufel! Nimmst du meinen Vorschlag an? Ich habe es satt, dich die gekränkte Unschuld spielen zu sehen! Nun? Antworte, oder ...«

Dieses Mal ließ er wirklich eine Hand auf ihre Schulter fallen, während er mit der anderen Aurelie an der Kehle packte und sie zwingen wollte, ihn zu küssen. Marescal hielt plötzlich inne. Er spürte keinen Widerstand mehr. Aurelie war ohnmächtig geworden.

Darauf war Marescal nicht vorbereitet gewesen. Er hatte eigentlich keinen besonderen Plan verfolgt, er wollte nur vor Brégeacs Ankunft eine feierliche Erklärung erzwingen. Und nun entglitt ihm sein Opfer durch einen Zufall ...

Er beugte sich über sie, dann sah er um sich. Eine Mauer von Laub. Kein Zeuge. Keine Gefahr.

In Gedanken ging er bis an die Brüstung der Terrasse und betrachtete das einsame Tal, den Wald mit den dunklen Bäumen, der geheimnisvoll und unergründlich vor ihm lag und in dem er an zahlreichen Grotten vorübergekommen war. Wie wäre es, wenn er Aurelie in einer dieser Höhlen gefangensetzte, um sie seinem Willen gefügig zu machen? Vielleicht wäre das, unvorhergesehen und überraschend, Ende und Anfang des Abenteuers zugleich.

Er ließ einen leisen Pfiff ertönen. Ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Teiches, bewegten sich zwei Arme am Waldrande. Es waren Zeichen, die er mit seinen beiden Helfern verabredet hatte. Die Barke war ebenfalls auf dieser Seite des Teiches festgemacht.

Marescal zögerte nicht länger. Er mußte diese Gelegenheit beim Schopfe packen, bevor das junge Mädchen erwachte. Er warf ihr ein seidenes Tuch über den Kopf und schlang die beiden Enden zu Knoten, die als Knebel dienten. Dann hob er sie auf. Sie war sehr leicht. Trotzdem überlegte er, als er sah, wie steil der Abhang, der vom Regen glattgewaschen war, abfiel, welche Vorsichtsmaßnahmen er zu treffen habe. Er lehnte Aurelie von außen gegen die Brüstung.

Es war, als hätte er den unausbleiblichen Fehler begehen müssen. Denn mit einem Ruck hatte sich Aurelie das Tuch abgerissen und ließ sich, ohne Rücksicht auf die Gefahr, wie ein Stein den Abhang hinunterrollen. Steine und Sand umwirbelten sie wie eine Wolke.

Ohne sich zu besinnen, nahm er ihre Verfolgung auf. Er sah, wie sie auf gut Glück davonlief wie ein gehetztes Tier. Er erreichte sie mühelos und wollte sie gerade packen, als er neben sich etwas zu Boden fallen hörte. Er drehte sich um und sah einen Mann, der sich den unteren Teil des Gesichts mit einem Taschentuch verbunden hatte. Er faßte nach seinem Revolver – im gleichen Augenblick traf ihn ein Fußtritt mitten auf die Brust. Rückwärts stürzte er in das sumpfige Ufer. Wütend und um sich schlagend zielte er auf den Gegner, der in einer Entfernung von etwa fünfundzwanzig Schritt das junge Mädchen in die Barke trug.

»Halt, oder ich schieße!«

Raoul antwortete nicht. Er deckte Aurelie, die er auf die eine Ruderbank gelegt hatte, und sich durch eine Planke, die er aufrichtete. Dann stieß er das Boot ab.

Marescal schoß. Das heißt, er drückte fünfmal ab, aber keiner der Schüsse ging los. Die Waffe war vermutlich naß geworden. Er pfiff abermals, und die beiden Männer sprangen aus dem Gebüsch wie der Teufel aus dem Kasten.

Raoul befand sich in der Mitte des Teiches, etwa dreißig Meter vom anderen Ufer.

»Nicht schießen!« rief Marescal.

Und er hatte recht mit seinem Befehl. Denn wenn Raoul nicht mit dem Gießbach, der den Teich bildete, im Abfluß untergehen wollte, mußte er gerade an der Stelle landen, wo die beiden Männer ihn erwarteten. Raoul bemerkte diesen Umstand. Er machte kehrt und trieb wieder auf das andere Ufer zurück, wo er es nur mit einem einzigen Gegner ohne Waffe zu tun hatte.

»Schießen!« rief Marescal, »jetzt müßt ihr schießen!« Einer der Männer gab Feuer.

Im Boote ertönte ein Aufschrei. Raoul ließ die Ruder los und fiel um. Das junge Mädchen warf sich verzweifelt über ihn. Die Ruder trieben ab. Das Boot blieb erst unbeweglich stehen, dann drehte es sich um seine eigene Achse und wurde von der Strömung zum Abfluß des Gießbaches hingetrieben.

Sie sind verloren, dachte Marescal.

Man sah deutlich, wie das Boot zwischen zwei Strömungen hin und her gerissen wurde, dann trieb es unaufhaltsam wie ein Pfeil auf den Abgrund zu und verschwand.

Es waren kaum zwei Minuten vergangen, seitdem die beiden Flüchtlinge das Ufer verlassen hatten.

Marescal rührte sich nicht. Er sah immer noch auf die dunkle Höhlung, in der das Boot verschwunden war, als habe es ein Höllenrachen verschlungen. Endlich weckte ihn der Anruf seiner beiden Helfer aus seiner Erstarrung. Sie hatten einen ziemlichen Umweg machen müssen, um zu ihm zu gelangen. Sie halfen ihm aus dem Sumpf heraus.

Dann gingen sie alle drei am Uferrand bis zur Stelle oberhalb der Abflußhöhle. Ein paar von Schilf und Wasserpflanzen überwucherte Steine deckten das Loch. Sie beugten sich vor und lauschten. Nichts. Nur das brausende Geräusch stürzenden Wassers. Und ein einziger Hauch, der zugleich mit den zerstiebenden Tropfen des kochenden Schaumes in die Luft flog.

»Die reine Hölle«, stammelte Marescal. »Sie ist tot ... Zu dumm ... Wenn dieser Narr sie nur in Ruhe gelassen hätte ...«

Sie gingen durch den Wald. Marescal schritt fürbaß, als folge er einem Leichenzuge. Seine Gefährten stellten ihm Fragen. Diese Männer waren verdächtige Subjekte, deren er sich nur zu dieser Unternehmung hatte bedienen wollen. Er gab keine Antwort. Er hatte auch kein gutes Gewissen. Die Polizei würde mit der Untersuchung beginnen, seine Rolle käme ans Licht, und das bedeutete den Skandal. Brégeac würde sich unerbittlich an ihm rächen. So blieb ihm nur ein Ausweg: fliehen und die Gegend so unauffällig wie möglich verlassen. Er machte seinen Helfern angst, er sagte, eine Gefahr bedrohe sie, ihre Sicherheit erfordere, daß man auseinanderginge; das beste sei, jeder sorge für sich selbst, bevor Alarm geschlagen und ihre Anwesenheit laut würde. Er gab ihnen das Doppelte der vereinbarten Summe, vermied die Häuser von Luz und schlug den Weg nach Pierrefitte-Mestalas ein, in der Hoffnung, unterwegs einen Wagen zu treffen, der ihn an die Bahn zum Siebenuhrzug brachte.

Erst drei Kilometer hinter Luz traf er einen kleinen zweirädrigen Bauernwagen, auf dem ein Bauer in der Bluse und mit einem baskischen Barett saß.

Er stieg auf und sagte gebieterisch:

»Fünf Franken, wenn wir den Abendzug erreichen.«

Der Bauer rührte sich nicht; er schlug nicht einmal auf seinen klapprigen Schinder ein, der in der zu breiten Deichsel dahintrottete.

Die Fahrt war lang. Man kam nicht vorwärts. Man hätte sagen können, daß der Bauer sein Pferd zurückhalte.

Marescal geriet außer sich. Er schimpfte und fluchte und jammerte, er müsse den Zug unter allen Umständen erreichen. Er erhöhte die versprochene Belohnung auf zehn Franken. Dann auf zwanzig. Plötzlich schien er den Kopf verloren zu haben:

»Fünfzig Franken! Hier sind fünfzig Franken. Wir werden doch die restlichen zwei Kilometer in sieben Minuten schaffen können. Himmeldonnerwetter! Fünfzig Franken!«

Über den Bauern schien ein plötzlicher Anfall von Energie hereinzubrechen, als hätte er nur auf diesen herrlichen Vorschlag gewartet, um auf den armen Klepper einzuschlagen.

»He, Vorsicht, Sie werden noch umwerfen.«

Der Bauer schien sich aus dieser Möglichkeit nichts zu machen. Fünfzig Franken! Er schlug wie besessen auf das arme Tier ein. Der Wagen sprang von einem Wegrand zum anderen. Marescal wurde immer unruhiger.

»Das ist ja Irrsinn! ... Halt! ... Langsamer! ... Da haben wir's!«

»Sie hatten es« in der Tat. Der Wagen stürzte um, die beiden Männer fielen in den Graben, während das wütende Tier wie rasend ausschlug.

Marescal fühlte sofort, daß ihm nichts geschehen war. Aber der Bauer lag mit seinem ganzen Gewicht auf ihm. Er wollte sich freimachen, er konnte es nicht. Und plötzlich hörte er eine liebenswürdige Stimme, die ihm ins Ohr flüsterte:

»Darf ich um Feuer bitten?«

Marescal wurde eiskalt. Er stammelte:

»Der Mann aus dem Zuge ...«

»Der Mann aus dem Zuge, ganz recht«, flüsterte es ihm ins Ohr.

»Der Mann von der Terrasse«, stöhnte Marescal.

»Bravo ... Der Mann aus dem Zuge, der Mann von der Terrasse ... Der Mann aus Monte Carlo, der Mann vom Boulevard Haussmann, der Mörder der beiden Brüder Loubeaux, Aurelies Helfer, der kühne Schiffer, der tapfere Rennfahrer vom Bauernwagen ... alles in einer Person!«

Das Tier hatte sich ausgetobt. Raoul zog vorsichtig seine Bluse aus und band damit den Kommissar so, daß dieser weder Arme noch Beine bewegen konnte. Er stieß den Wagen zurück, löste das Geschirr und band den Kommissar mit den verfügbaren Riemen. Zuletzt band er ihn mit den Zügeln an eine Birke.

»Du hast kein Glück mit mir, lieber Rodolphe; zum zweiten Male muß ich dich bandagieren wie eine Mumie. Du hast dir das etwas anders vorgestellt, was? Du kannst außer Sorge sein: Aurelie ist wohlbehalten.«

Raoul setzte sich in die Nähe des Kommissars.

»Ein seltsamer Schiffbruch, nicht wahr? Uns hat nicht einmal ein Wunder gerettet, denn jeder Eingeweihte weiß, daß der Gießbach zweihundert Meter tiefer in ein breites Bassin mündet, aus dem man bequem an Land gehen kann. An Sonntagen ist diese Fahrt der schönste Zeitvertreib für alle Schuljungen. Als ich den Schuß hörte, tat ich, als sei ich getroffen, weihte Aurelie ein, und die lustige Fahrt begann. Das Wagnis gelang. Ich begleitete Aurelie in den Garten des Klosters, wo inzwischen ihr Vater eingetroffen war. Dann holte ich meinen Koffer, besorgte mir diese Bauernkleidung und machte mich auf den Weg, um Aurelies Rückzug zu decken. Jetzt bin ich natürlich müde und will ein wenig schlafen. Hüte meinen Schlummer, Rodolphe. In dieser besten aller Welten muß jeder an seinem Platze stehen!«

Er schlief ein.

Es wurde Nacht.

Ab und zu erwachte Raoul, dann sprach er einige Worte über die funkelnden Sterne und den blauen Schimmer des Mondes. Dann schlief er wieder ein. Gegen Mitternacht hatte er Hunger. In seinem Koffer befand sich etwas zu essen. Er nahm Marescal den Knebel ab und bot ihm etwas an.

»Laß mich in Ruh! Du allein,« raste Marescal, »nur du bist der Hereingefallene, nicht ich! Weißt du, was du angerichtet hast? Ihr Stiefvater liebt sie!«

Raoul packte ihn, außer sich, an der Kehle:

»Idiot! Konntest du mir das nicht früher sagen, statt dir meine langen Reden anzuhören? Er liebt sie? Der Schurke! ... Alle lieben sie, dieses Teufelsmädchen!«

Dann trat er näher an Marescal heran und sagte:

»Hör' mich an, Marescal, ich werde sie ihrem Stiefvater schon abjagen. Aber laß sie in Ruh! Kümmere dich nicht mehr um uns!«

»Unmöglich.«

»Warum?«

»Sie hat einen Mord begangen.«

»Und du willst ...«

»... sie ihren Richtern zuführen. Und es wird mir gelingen, denn ich hasse sie.«

Er sagte es so haßerfüllt, daß Raoul erkannte, von nun an werde bei Marescal der Haß wirklich stärker als die Liebe sein.

»Tut mir leid, Rudolphe. Ich wollte dir einen Vorschlag zur Güte machen. Wie du willst. Vor allem wirst du eine schöne Nacht verbringen. Ich werde nach Lourdes reiten. In vier Stunden wird mich dieses vortreffliche Tier dorthin gebracht haben. Lebe wohl, Rudolphe.«

Er befestigte, so gut er konnte, seine Handtasche, stieg auf und verschwand ohne Sattel und ohne Bügel, indem er ein Jagdlied vor sich hinpfiff, im Dunkel der Nacht.

 

Abends wartete in Paris eine alte Dame namens Victoire, die einst seine Amme gewesen war, in einem Automobil an der Ecke der Rue de Courcelles vor dem Hause, in dem Brégeac wohnte. Raoul saß am Steuer.

Aurelie kam nicht.

Im Morgengrauen bezog Raoul seinen Posten. Er bemerkte einen Lumpensammler, der um die Ecke bog, nachdem er mit seinem Stecken in den Abfällen herumgestochert hatte. Unter den Lumpen und unter der schmutzigen Mütze erkannte Raoul mit dem sehr besonderen Sinn, mit dem er die Menschen am Gang besser als an irgendwelchen anderen Anzeichen erkannte, den Mann, den er in der Villa Tarandoni und auf dem Wege nach Nizza nur flüchtig gesehen hatte: den Mörder Jodot.

Gegen acht Uhr verließ ein Dienstmädchen das Haus und lief zur nahen Apotheke. Mit einer Banknote in der Hand sprach er sie an und erfuhr, daß Aurelie, die am Tage vorher mit Brégeac heimgekommen sei, mit hohem Fieber zu Bett lag.

Gegen Mittag umschlich Marescal das Haus.


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