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III. Der Kuß im Dunkeln

Der Bahnhof von Beaucourt liegt mitten auf dem Lande, weitab von jeder Niederlassung. Von der Eisenbahn ausgehend, führt ein Weg senkrecht nach dem Dorf Beaucourt, dann nach Romilland, der Gendarmeriestation, und dann weiter nach Auxerre, woher der Untersuchungsrichter kommen sollte. Im rechten Winkel dazu verläuft die große Landstraße, die in einer Entfernung von etwa fünfhundert Metern parallel zur Bahnstrecke liegt.

Auf der Bahnstation hatte man alle verfügbaren Lichter zusammengetragen: Lampen, Kerzen, Fackeln, Laternen, so daß Raoul mit äußerster Vorsicht sich bewegen mußte. Der Bahnhofsvorsteher, ein Beamter und ein Arbeiter unterhielten sich mit dem wachthabenden Gendarmen, der, groß und stattlich, vor einer offenen Tür mit zwei Flügeln stand; man konnte in einen mit Gepäckstücken angefüllten Raum sehen, der für Spediteure reserviert war.

Im Halbdunkel dieses Raumes standen große Körbe und Kisten. Als Raoul näher gekommen war, glaubte er auf einem dieser Stücke eine vornübergeneigte Silhouette zu erkennen, die sich nicht bewegte.

Die Situation schien ihm nicht ungünstig; allerdings durfte er auf kein Hindernis stoßen, das ihn verraten könnte. Marescal und der Wachtmeister konnten dazwischenkommen, ehe er es ahnte. Laufend machte er einen großen Umweg und gelangte so auf die Rückseite des Bahnhofes, ohne einem Lebewesen begegnet zu sein. Es war schon nach Mitternacht, kein Zug mehr zu erwarten, und außer der Gruppe, die auf dem Bahnsteig schwatzte, war keine Menschenseele zu sehen.

Er betrat den Raum der Gepäckaufgabe. Links eine Tür, ein Vorraum mit Treppe, und im Vorraum rechts eine weitere Tür.

Für einen Mann wie Raoul bildet ein Schloß kein wesentliches Hindernis. Er hatte immer einige Instrumente bei sich, mit denen er sich getraute, auch recht komplizierte Türen zu öffnen. Diese Tür gab schon beim ersten Versuch nach. Als er sie behutsam ein wenig öffnete, erkannte er, daß auch kein Lichtschimmer ihn verraten könnte. Er bückte sich, öffnete und trat ein. Die draußen hatten ihn weder sehen noch hören können, ebensowenig die Gefangene, deren Schluchzen rhythmisch die Stille unterbrach.

Der Arbeiter erzählte von der Verfolgung. Bei einer Bemerkung brachen die anderen in lautes Gelächter aus. Raoul benutzte diese Gelegenheit, um sich zwischen zwei Stapel gleiten zu lassen. So stand er unmittelbar hinter den Postsäcken, auf denen die Gefangene lag. Sie mußte jetzt wohl etwas gehört haben, denn das Schluchzen hörte auf.

Er flüsterte:

»Sie brauchen keine Angst zu haben.«

Und da sie schwieg, wiederholte er:

»Keine Angst ... ein Freund!«

»Guillaume? ...« fragte sie sehr leise.

Raoul begriff, daß es sich um den anderen Flüchtling handelte, und antwortete:

»Nein, ich will Sie vor den Gendarmen retten.«

Sie gab keine Antwort. Sie mußte wohl eine Falle fürchten. Aber er ließ nicht locker:

»Sie wissen, was für ein Schicksal Sie erwartet ... Alles spricht gegen Sie ...«

Endlich murmelte sie:

»Meine Hände sind gefesselt.«

Im Niederhocken durchschnitt er ihre Fesseln und fragte:

»Kann man Sie jetzt sehen?«

»Nur der Gendarm, wenn er sich umdreht, und dann schlecht, weil ich im Dunkeln liege ... die anderen stehen zu weit links ...«

»Ausgezeichnet ... Halt, einen Augenblick ... hören Sie? ...«

Schritte näherten sich vom Bahnsteig her, und er erkannte Marescals Stimme. Er sagte:

»Keine Bewegung ... strecken Sie sich wieder ganz aus ...«

»Mein Gott, diese Stimme,« stammelte das junge Mädchen, »ist es denn möglich!«

»Ja, das ist Marescals Stimme ... Erinnern Sie sich, daß sich auf dem Boulevard jemand zwischen Sie und ihn geworfen hat? Das war ich. Haben Sie keine Angst. Tun Sie, falls er hierherkommt, als ob Sie schliefen ... Legen Sie Ihren Kopf in die verschränkten Arme ... Und rühren Sie sich nicht ...«

»Wenn er mich sehen will, und wenn er mich wiedererkennt?«

»Geben Sie ihm keine Antwort ... Was auch kommen mag – kein Wort! ... Marescal wird nicht sogleich handeln ... er wird nachdenken ... und dann ...«

Raoul war keineswegs ruhig. Seiner Ansicht nach mußte Marescal sofort mit dem Verhör beginnen und zu diesem Zwecke den Raum betreten. Im gleichen Augenblick hörte er auch schon Marescals frohlockende Stimme:

»Na, Herr Bahnhofsvorsteher, ein hoher Gast! Ein Gefangener! Der Bahnhof von Beaucourt wird berühmt werden! Wachtmeister, der Raum ist gut gewählt. Sie hätten keinen besseren finden können. Immerhin werde ich mich selbst einmal überzeugen ...«

So ging er geradeswegs auf sein Ziel los, wie Raoul es vorhergesehen hatte. Noch einige Worte und einige Bewegungen, und die Dame mit den grünen Augen war endgültig verloren.

Raoul war nahe daran, den Rückzug anzutreten. Aber damit hätte er sich vielleicht noch größere Hindernisse geschaffen. Und so beschloß er, die Fortsetzung des Abenteuers dem Zufall zu überlassen.

Marescal betrat den Raum, sprach dabei aber immer weiter mit den Leuten draußen, so daß er ungestört den bewegungslos vor ihm liegenden Körper betrachten konnte. Raoul hielt sich zurück, die Stapel der Gepäckstücke entzogen ihn Marescals Blicken.

Der Kommissar blieb stehen und sagte sehr laut:

»Man scheint zu schlafen ... He, junger Mann, kann man nicht etwas miteinander plaudern?«

Er zog eine elektrische Taschenlampe aus der Tasche und ließ das Licht aufblitzen. Da er nur eine Mütze und verschränkte Arme sah, löste er die Arme und nahm die Mütze in die Höhe.

»Stimmt,« sagte er leise vor sich hin, »... eine Frau ... eine blonde Frau! Los, Kleine! Zeig' mir deine hübsche Larve!«

Er packte ihren Kopf und wollte ihn mit Gewalt herumdrehen. Was er sah, war so ungewöhnlich, daß er diese unwahrscheinliche Wahrheit nicht hinnehmen wollte.

»Nein, nein,« murmelte er, »das ist nicht möglich ...«

Er sah nach der Tür, da er augenscheinlich nicht wollte, daß ein anderer dem Auftritt beiwohne. Fieberhaft beleuchtete er das Gesicht noch schonungsloser.

»Sie ist es! Aber ich bin ja wahnsinnig! Sie! Und eine Mörderin! Unmöglich!«

Er beugte sich tiefer über sie. Die Gefangene rührte sich nicht. In ihrem bleichen Gesicht zuckte kein Muskel, und Marescal stieß die Worte heraus:

»Was ist geschehen? ... Sie haben jemanden getötet? ... Ist das denn möglich?«

Man hätte meinen können, sie schliefe wirklich. Marescal schwieg. Dann sagte er nach einer Weile:

»Gut, rühren Sie sich nicht ... ich werde die anderen entfernen und in einer Stunde wiederkommen ... dann kann man miteinander sprechen ...«

Was meinte er damit? Wollte er ihr irgendeinen erbärmlichen Handel vorschlagen? Raoul neigte eher der Ansicht zu, daß er eigentlich noch gar keinen festen Plan hatte. Die Ereignisse überraschten ihn, und er wollte Zeit gewinnen, um sich den besten Ausweg zu überlegen.

Er rückte die Mütze wieder zurecht und suchte dann in allen Taschen. Er fand nichts. Er richtete sich wieder auf und dachte nicht mehr daran, den Raum auf seine Sicherheit hin zu prüfen.

»Ein seltsamer Bengel,« sagte er, als er die Gruppe wieder erreicht hatte, »noch keine zwanzig Jahre alt ...«

Er sprach weiter, aber zerstreut, man fühlte, daß seine Gedanken anderswo waren und er nachzudenken bemüht war.

»Ich glaube, meine Voruntersuchung wird die Billigung des Herrn Richters finden. Bis die Herren eintreffen, werden wir beide, Wachtmeister, hier auf Wache ziehen – oder ich allein, das genügt auch ... ich brauche niemanden, und Sie werden sich ausruhen wollen ...«

Raoul beeilte sich. Er nahm drei verschnürte Säcke, deren Leinwand etwa die gleiche Farbe hatte wie die Bluse, unter der die Gefangene ihre Verkleidung als junger Bursche verbarg. Er hob einen dieser Säcke hoch und sagte: »Drehen Sie Ihre Beine zu mir herum ... damit ich das hier an Ihre Stelle legen kann ... Aber Sie dürfen sich kaum bewegen, nicht wahr? ... Dann beugen Sie den Rumpf zu mir herüber ... und dann den Kopf ...«

Sie bewegte sich mit gleichsam bewegungslosen Rucken und brauchte zur Veränderung ihrer Lage vielleicht drei bis vier Minuten. Nachdem das Manöver durchgeführt worden war, lag eine unförmige graue Masse an ihrem Platze, deren Umrisse für den Gendarmen und Marescal, wenn sie sich flüchtig umsahen, ihre unveränderte Gegenwart vortäuschte.

»Vorwärts ... Wenn sich die beiden umdrehen und laut sprechen, lassen Sie sich heruntergleiten ...«

Er fing sie auf und zog sie durch die angelehnte Tür. Im Vorraum richtete sie sich auf. Er ließ das Schloß einschnappen und sie durchquerten die Gepäckabfertigung. Kaum hatten sie den Platz vor dem Bahnhof erreicht, da brach sie zusammen und wäre fast zu Boden gestürzt.

Er nahm sie einfach auf die Schulter und begann auf die Baumreihe zuzulaufen, die den Weg nach Romilland und Auxerre bezeichnete. Nach etwa zweihundert Schritten blieb er stehen; er war nicht erschöpft, er lauschte.

»Was gibt's?« fragte das junge Mädchen angstvoll.

»Nichts ... Nichts Beunruhigendes jedenfalls ... ganz fern der Hufschlag eines Pferdes ... sehr gut ...«

Er hielt sie jetzt mit beiden Armen, wie man ein Kind trägt. So legte er etwa drei- bis vierhundert Meter zurück und kam an die Kreuzung der großen Landstraße. Als er sich auf den Rand der Böschung setzte, war das Gras so feucht, daß er ihr sagte:

»Bleiben Sie getrost auf meinen Knien sitzen und hören Sie mir gut zu. Der Wagen, den wir kommen hören, ist der Wagen des Arztes. Ich werde mich dieses Biedermannes entledigen, indem ich ihn fein säuberlich an einen Baum binden werde. Dann werden wir seinen Wagen besteigen und die ganze Nacht durch fahren, bis wir zu einer Bahnstation gelangen, von der wir weiterreisen können.«

Sie antwortete nicht. Er wußte nicht, ob sie verstanden hatte. Ihre Hand war brennend heiß. Sie stammelte gleichsam im Delirium:

»Ich habe nicht getötet ... ich habe nicht getötet ...«

Es war ganz still. Ab und zu wurde der Hufschlag vernehmlich. Man sah zwei- oder dreimal in unbestimmter Entfernung die Wagenlichter aufblitzen. Vom Bahnhof her war nicht das geringste Geräusch zu hören.

Raoul mußte daran denken, daß die Engländerin von den Komplizen dieses Wesens ermordet worden war, dessen Herz er schlagen fühlte. Und seine Gedanken brüteten Rache ...

Aber er sagte nichts. Allmählich schien seine Gefährtin sich zu beruhigen. Der Fieberschauer, der sie geschüttelt hatte, war vorüber. Beklemmungen, Entsetzen, Furcht, alle Gespenster der Nacht und des Todes schienen sich langsam zurückzuziehen.

Auch er schien dem Drama etwas ruhiger gegenüberzustehen. Das Bild der toten Engländerin erlosch in seinem Gedächtnis; er hielt nicht die Frau mit der blutbefleckten Bluse in seinen Armen, sondern das strahlende Geschöpf, das er zuerst elegant und bezaubernd in Paris gesehen hatte.

Die Laternen kamen immer näher. In acht oder zehn Minuten mußte der Arzt zur Stelle sein.

Er neigte sich über sie. Ihre Lider waren geschlossen, und er meinte zu fühlen, wie sie sich bewußt seinem Schutze überließ.

Plötzlich küßte er sie mitten auf den Mund.

Sie leistete schwachen Widerstand, seufzte, und sagte nichts. Er hatte den Eindruck, sie nehme die Liebkosung an und erwidere trotz ihres Widerstandes seinen Kuß. So vergingen einige Sekunden. Dann fand sie ihre Kraft wieder: sie machte sich mit plötzlich erwachter Energie frei und stöhnte:

»Oh, das ist entsetzlich! Lassen Sie mich, lassen Sie mich ... Sie handeln erbärmlich an mir!«

Er wollte lachen, er war sogar wütend auf sie, aber er fand keine Worte; sie hatte ihm einen Stoß versetzt und war in die Nacht geflohen.

Er stand auf, kletterte auf die Böschung und suchte sie. Es war dunkel und das Dickicht schützte sie. Es bestand keine Aussicht, sie wiederzufinden.

Jetzt war nur noch der Haß und das Rachegefühl des enttäuschten Mannes in ihm: am liebsten wäre er zum Bahnhof zurückgekehrt und hätte Alarm geschlagen. Da hörte er plötzlich einen Schrei. Er kam etwa daher, wo der Wagen jetzt sein mußte. Er rannte los. Und er sah in der Tat die beiden Laternen, aber sie schienen auf der Stelle sich zu drehen und die Richtung zu wechseln. Der Wagen entfernte sich, aber nicht gemächlich im Trabe, sondern im Galopp eines gepeitschten Pferdes. Zwei Minuten später fand Raoul in einer Hecke einen Mann, der sich aufzurichten versuchte und um Hilfe rief.

»Sie sind gewiß der Arzt aus Romilland?« fragte er. »Man hat mich Ihnen entgegengeschickt ... Hat man Sie überfallen?«

»Ja ... Ein Mann fragte mich nach dem Wege. Ich hielt an, da ist er mir an die Kehle gesprungen und hat mich hinuntergeworfen ...«

»Und hat sich mit Ihrem Wagen auf und davon gemacht?«

»Ja.«

»Allein?«

»Nein, mit jemandem, der zu ihm stieß ... Deswegen habe ich um Hilfe gerufen.«

»Ein Mann? Eine Frau?«

»Ich konnte nichts sehen. Sie haben ganz leise miteinander gesprochen ...«

»Hat man Sie geknebelt?«

»Ja, aber schlecht.«

»Womit?«

»Mit meinem Halstuch.«

»Es gibt eine ganz bestimmte Art, zu knebeln, die nur ganz wenigen Menschen bekannt ist«, sagte Raoul, nahm das Halstuch, warf den Arzt auf den Rücken und machte sich daran, zu zeigen, was für eine besondere Art das war.

Dann wickelte er ihn höchst geschickt in die Decke, die er mit dem Halfter umschnürte, genau, wie Guillaume es getan hatte (denn es konnte kein Zweifel bestehen, daß Guillaume den Arzt überfallen und mit dem jungen Mädchen die Flucht ergriffen hatte).

»Ich tue Ihnen doch nicht weh, Doktor,« sagte Raoul, »das täte mir zu leid! So brauchen Sie auch keine Angst vor Dornen oder vor dem Gestrüpp zu haben! So, hier ist Moos, hier werden Sie keine allzu schlechte Nacht verbringen ... Nein, Ihren Dank muß ich ablehnen ... Glauben Sie mir, wenn ich es anders hätte einrichten können ...«

Raoul hatte folgende Absicht: er wollte im Dauerlauf um jeden Preis die beiden Flüchtlinge einholen. Er war außer sich, daß er sich so hatte hineinlegen lassen.

Aber in dieser Nacht schienen Raouls Absichten immer entgegengesetztere Wirkungen zu erzielen. Sobald er den Doktor verlassen hatte, machte er einen Haken und ging zur Station zurück; er hatte einen neuen Plan: er wollte sich auf eines der Gendarmenpferde setzen, um ganz sicher zu sein, die Flüchtlinge zu erreichen.

Er hatte beobachtet, daß die drei Pferde der Gendarmen in einem Schuppen standen, vor dem ein Arbeiter Wache hielt. Der Mann schlief sitzend gegen die eine Wand gelehnt. Raoul machte sich daran, vorsichtig den Haltestrick des einen Pferdes zu durchschneiden; aber abermals handelte er anders. Er durchschnitt nämlich Zügel und Sattelgurte bei allen drei Pferden und war nun sicher, die Verfolgung der beiden unmöglich gemacht zu haben.

»Eigentlich weiß ich selbst nicht, was ich tue«, sagte er sich und machte sich auf den Weg nach seinem Abteil. »Am liebsten möchte ich dieses Mädchen mit den grünen Augen der Gerechtigkeit überliefern – und ich habe alles getan, um sie zu retten! Warum nur?«

Er hätte sich diese Frage sehr wohl beantworten können. Für ihn war der glühende Kuß im Dunkeln das Wichtigste in diesem nächtlichen Drama, und so waren ihm seine Handlungen nicht von seinem Verstande, sondern von seinem Gefühl eingegeben.

Er mußte die Fühlung mit Marescal aufrechterhalten, um dessen Pläne kennenzulernen; er mußte auch erfahren, was für eine Bewandtnis es mit dem Brustbeutel der Engländerin hatte.

Zwei Stunden später fiel Marescal todmüde auf die Bank gegenüber; Raoul, der im Abteil des auf ein Nebengeleise rangierten Wagens in aller Ruhe auf ihn gewartet hatte, sprang auf, machte Licht und schien über das entstellte Gesicht des anderen ganz entsetzt.

»Aber was ist denn geschehen, Herr Kommissar? Sie sind ja kaum wiederzuerkennen?«

Marescal stammelte:

»Haben Sie denn nichts gesehen? Nichts gehört?«

»Nicht das geringste. Seitdem Sie diese Tür hinter sich zugemacht haben, habe ich überhaupt nichts gehört.«

»Entflohen!«

»Wer?«

»Der Mörder!«

»Hatte man ihn denn gefaßt?«

»Jawohl.«

»Welchen von beiden?«

»Die Frau.«

»Es war also doch eine Frau?«

»Gewiß.«

»Hat man sie nicht überwältigen können?«

»Doch. Aber ...«

»Aber?«

»Sie war plötzlich verschwunden ...«

»Das ist ja eine Katastrophe!«

»Ja, ja, eine Katastrophe«, bestätigte der Kommissar.

»Und Sie haben keinerlei Anhaltspunkte?«

»Nicht den geringsten.«

»Keine Spur des Komplizen?«

»Welches Komplizen?«

»Dessen, der die Flucht ermöglicht hat?«

»Aber der kann doch damit gar nichts zu tun haben! Wir kennen seine Fußspuren, die wir hauptsächlich im Walde aufnehmen konnten. Unmittelbar hinter dem Bahnhof haben wir nun neben der Fährte des Stiefels ohne Absatz ganz andere Spuren festgestellt ...«

Raoul zog seine schlammigen Schuhe möglichst weit unter die Bank zurück und fragte dann sehr interessiert:

»Dann gibt es also ... noch jemanden?«

»Unbedingt. Und meiner Ansicht nach ist der Betreffende mit dem Wagen des Arztes geflohen.«

»Des Arztes?«

»Sonst wäre der Arzt doch wohl schon hier, nicht wahr? Wahrscheinlich hat man ihn unterwegs abgefangen und unschädlich gemacht.«

»Aber einen Wagen wird man doch wieder fassen können!«

»Wie denn?«

»Die Gendarmen sind doch beritten ...«

»Ich bin sofort zu dem Schuppen gerannt, wo die Pferde untergestellt waren. Ich habe mich in den Sattel geschwungen und bin auf der anderen Seite wieder heruntergefallen!«

»Wie das?«

»Der Mann, der auf die Pferde aufpassen sollte, war eingeschlafen. Inzwischen hatte man Zügel und Sattelgurte durchschnitten, so daß eine Verfolgung zu Pferde unmöglich war. Und ein Auto ist in diesem gottverlassenen Nest nicht aufzutreiben!«

Raoul hätte beinahe laut herausgelacht.

»Teufel, noch eins! Da haben Sie einen Gegner, der Ihrer würdig ist!«

»Gewiß, ein Meister auf seinem Gebiete ...«

Raoul ließ nicht locker.

»Der Zwischenfall geht Ihnen wohl sehr nahe? Er hat wohl noch Zusammenhänge, die man nicht ohne weiteres begreift?«

Es gibt Stunden, in denen selbst der zurückhaltendste Mensch zu mitteilsam ist. Und Marescal ließ sich gehen.

»Gewiß, der Erfolg wäre mir auf einem anderen Gebiete zustatten gekommen ...auf diesem Gebiete ist mein Sieg wenigstens unbestritten ...zumal es sich um eine Tote handelt.«

»Vielleicht um die junge Engländerin?«

»Ganz recht.«

»Darf man vielleicht Näheres erfahren?« sagte Raoul und fuhr fort, so zu tun, als vergehe er vor Bewunderung.

»Warum nicht? In zwei Stunden sind auch die Behörden unterrichtet ... Wissen Sie, wer die Engländerin war?«

»Kannten Sie sie denn, Herr Kommissar?«

»Allerdings! Wir waren sogar gute Freunde. Seit einem halben Jahre lebte ich als ihr Schatten, ich beobachtete sie auf Schritt und Tritt und suchte nach Beweisen gegen sie, ohne daß es mir gelang ...«

»Beweise?«

»Beweise gegen sie! O ja, gegen Miß Bakefield! Einerseits war sie die Tochter des Lord Bakefield, Pairs von England, eines Multimillionärs, aber auf der anderen Seite war sie eine internationale Diebin, Hotelratte und Bandenführerin, und zwar aus reinem Vergnügen, aus Sport. Sie hatte mich aber auch durchschaut, und wenn sie mit mir sprach, schien sie sich über mich lustig zu machen. Ich hatte meine Vorgesetzten von meinen Beobachtungen unterrichtet. Aber ich konnte sie niemals fassen! Gestern endlich hatte ich die Beweise. Ein Hotelangestellter, der in unseren Diensten steht, hatte uns Mitteilung davon gemacht, daß Miß Bakefield gestern morgen aus Nizza den Plan einer Villa geschickt bekommen hatte, in der ein Einbruch verübt werden sollte. Es handelt sich um die Villa B. Ich wußte auch, daß sie die Pläne in einem Brustbeutel verwahrt hatte und abends nach dem Süden reisen wollte. Ich reiste mit. Ich wollte sie unten in flagranti erwischen. Die Banditen haben mir meine Aufgabe erleichtert ...«

»Und der Brustbeutel?«

»Den trug sie an einem Riemen unter ihrem Kleid. Hier ist er!« und Marescal schlug gegen seine innere Manteltasche. »Ich habe mir den Plan nur flüchtig ansehen können. Es handelt sich um Zimmerpläne, und sie hat mit einem Blaustift ein Datum vermerkt: den 28. April, und der ist übermorgen.«

Raoul war ein wenig enttäuscht. Die Gefährtin eines Abends war eine Diebin gewesen! Er war um so enttäuschter, als er eine so gut belegte Anschuldigung anerkennen mußte und auch das Benehmen der Engländerin ihm gegenüber nun in einem anderen Lichte sah. Als Diebin gehörte sie zur internationalen Verbrechergesellschaft und war über manche Dinge unterrichtet, die sonst bei einer Dame wundergenommen hätten. Und waren ihre letzten Worte nicht vielleicht ein Geständnis? Vielleicht die Bitte, man möge ihre Papiere zerstören, damit ihr Vater nichts erfahre?

Marescal sah nach der Uhr. Er war todmüde. Er hatte noch Zeit, sich vor der Ankunft der Gerichtsbeamten auszuruhen. Er notierte sich noch etwas auf einem kleinen Block, dann überwältigte ihn der Schlaf.

Raoul, der ihm gegenübersaß, betrachtete ihn einige Minuten. Allmählich kehrten ihm verschiedene Einzelheiten über Marescal ins Gedächtnis zurück. Er war ehrgeizig und vom Glück begünstigt. Und dieses Glück trug bisweilen Weiberröcke ... Munkelte man nicht, daß die Gattin des Ministers seiner schnellen Laufbahn nicht ganz fern stünde? ...

Raoul nahm den Block, der dem übermüdeten Beamten aus der Hand gefallen war, und schrieb, während er den Schlafenden im Auge behielt:

»Notizen über Rodolphe Marescal.

Ein ausgezeichneter Beamter mit Initiative und Scharfsinn. Aber zu schwatzhaft. Vertraut sich dem ersten besten an, ohne ihn nach seinem Namen zu fragen oder seine Schuhe zu betrachten oder sich gar seine Physiognomie einzuprägen.

Darf sich also nicht wundern, wenn der Betreffende sich so grobe Fehler zunutze macht und die sonderbare Angelegenheit selbst in die Hand nimmt. Er wird die Ehre der Bakefields mit Hilfe der Dokumente aus dem Brustbeutel wiederherstellen und die Unbekannte mit den grünen Augen verfolgen!«

Als Unterschrift zeichnete Raoul einen Männerkopf, der eine Zigarette im Munde hatte, und schrieb darunter: »Darf ich um Feuer bitten?«

Der Kommissar schnarchte. Raoul legte ihm seinen Notizblock behutsam aufs Knie, zog ein kleines Flakon aus der Tasche, entkorkte es und hielt es Marescal unter die Nase.

Dann öffnete er ganz sacht den Mantel, eignete sich den Brustbeutel an und nahm ihn selbst um.

Auf der anderen Seite fuhr in langsamem Tempo gerade ein Güterzug vorbei. Raoul ließ das Fenster herunter, sprang, ohne gesehen zu werden, auf den anderen Zug und richtete sich häuslich unter der Plane eines mit Äpfeln beladenen Wagens ein.

»Die Tote war eine Diebin,« sagte er sich, »das Mädchen mit den grünen Augen ist eine Mörderin – und von diesen beiden Geschöpfen habe ich mein Schicksal beeinflussen lassen ...«


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