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XI. Blut ...

Raoul näherte sich dem Kommissar; er würdigte Brégeac keines Blickes und sagte sehr ruhig:

»Das Leben erscheint uns sehr kompliziert, weil wir es oft nur in Bruchstücken sehen. Genau so steht es mit der Sache aus dem Expreß. Sie erscheint verwirrt und zusammenhanglos. Sobald man jedoch die Tatsachen zurechtrückt, wird alles logisch, einfach und natürlich. Ich habe dir diese Dinge eindringlich dargestellt, Marescal, und du mußt einsehen, daß Aurelie d'Asteux unschuldig ist. Laß sie gehen.«

Marescal zuckte die Achseln.

»Nein.«

»Sei nicht starrköpfig, Marescal. Ich bitte dich nochmals, deinen Irrtum einzusehen.«

»Meinen Irrtum?«

»Gewiß, denn sie hat nicht getötet. Sie war keine Mitschuldige, sie ist sogar das Opfer des Verbrechens.«

Der Kommissar lachte:

»Wenn sie keinen Mord begangen hat, warum ist sie dann geflohen? Guillaumes Flucht ist mir verständlich, aber sie? Sie hätte doch mit wenigen Worten alles aufklären können.«

»Ausgezeichnet, Marescal,« sagte Raoul, »dieser Einwand ist stichhaltig. Auch mich hat dieses Schweigen stutzig gemacht, denn sie hat es selbst mir, ihrem Helfer gegenüber, niemals gebrochen, und hätte mir doch wertvolle Fingerzeige geben können. Aber ihre Lippen blieben verschlossen. Erst hier in diesem Hause habe ich das Rätsel gelöst. Ich muß um Verzeihung bitten, wenn ich während ihrer Krankheit die Schubladen durchsucht habe. Es mußte sein. Hier, Marescal, lies diesen Satz, der sich unter den Anweisungen befindet, die ihre sterbende Mutter ihr hinterlassen hat und die ihr keine Zweifel über Brégeacs wahre Natur ließen:

Aurelie, was auch immer geschehe, und wie dein Stiefvater sich auch immer benehmen mag, klage ihn niemals an! Verteidige ihn, selbst wenn du unter ihm leiden solltest, selbst wenn er schuldig ist: ich habe seinen Namen getragen.‹«

Marescal protestierte:

»Aber sie hatte ja keine Ahnung von Brégeacs Verbrechen! Und hätte sie es selbst gewußt, so stand es doch in keiner Beziehung zu der Tat im Expreß. Brégeac konnte doch damit nichts zu tun haben!«

»Doch.«

»Durch wen?«

»Durch Jodot ...«

»Wie kann man das beweisen?«

»Es ist bewiesen durch die Mitteilung, die mir Guillaumes Mutter, die Witwe Ancivels, gemacht hat. Sie lebt hier in Paris, und ich habe ihr viel Geld für eine Niederschrift all der Dinge zahlen müssen, die sie weiß. Ihr Sohn hat ihr erzählt, daß im Abteil des Expreßzuges angesichts der beiden Toten Jodot ihr die Maske vom Gesicht gerissen und ihr zugeschworen hat:

Wenn du nur ein Wort verrätst, Aurelie, wenn du von mir sprichst, und ich verhaftet werde, so erzähle ich das Verbrechen von früher: Brégeac hat deinen Großvater d'Asteux getötet.

Diese Drohung wurde in Nizza wiederholt. Sie hat Aurelie wehrlos gemacht und ihr Schweigen auferlegt. Habe ich die Wahrheit gesprochen, gnädiges Fräulein?«

Sie murmelte:

»Die volle Wahrheit.«

»Siehst du, Marescal, dein Einwand ist doch nicht stichhaltig. Das Schweigen des Opfers, das deinen Verdacht bestärkt, ist vielmehr ein Beweis zu ihren Gunsten. Und ich bitte dich abermals: laß sie gehen.«

»Nein,« sagte Marescal, und es war, als überkomme ihn ein neuer Wutanfall, »ich habe keine Lust, sie und die ganze Bande entweichen zu lassen! Und vor allem will ich dir diese Gefälligkeit nicht erweisen! Glaub' nur nicht, daß ich nicht weiß, wer du bist. All deine Verkleidungen haben dir nichts genützt! Ich kenne dich sehr gut, du bist ...«

Er unterbrach sich. Es läutete. Es war Philippe mit seinen Leuten.

Marescal rieb sich die Hände und atmete auf.

»Jetzt bist du verloren, Arsène Lupin ... Meinst du nicht auch?«

Raoul beobachtete Aurelie. Der Name Lupin schien keinen Eindruck auf sie zu machen. Sie lauschte angstvoll auf die Geräusche, die von draußen kamen.

Marescal wartete im Treppenhause. Unten ging die Tür, dann kamen eilige Schritte die Treppe hinauf. Marescal hatte sechs Leute zur Verfügung. Er erteilte Befehle, dann kam er wieder in das Zimmer zurück.

»Keinen unnützen Kampf, nicht wahr, Baron?«

»Ganz recht, lieber Graf! Der Gedanke, Sie alle miteinander zu töten, wie Blaubart seine Frauen, ist mir unerträglich.«

»Du folgst mir also?«

»Bis ans Ende der Welt.«

»Bedingungslos!«

»Unter einer Bedingung! Lad' mich zum Essen ein.«

»Einverstanden. Trocken Brot, Hundekuchen und Wasser«, scherzte Marescal.

»Nein«, entgegnete Raoul.

»Was wünschest du dir denn?«

»Das, was du immer ißt, Rodolphe: allerlei schöne Sachen, feines Gebäck und Südweine.«

»Was sagst du da?« fragte Marescal, und schien beunruhigt.

»Nichts Besonderes. Du bittest mich zu dir zum Tee. Ich nehme mit Vergnügen an. Hast du keine Verabredung um fünf Uhr?«

»Verabredung? ...« sagte Marescal immer betroffener.

»Erinnerst du dich denn nicht mehr? Bei dir zu Hause. In deiner kleinen Wohnung in der Rue Duplan ... Da triffst du dich doch jeden Nachmittag mit der Frau deines ...«

»Still«, flüsterte Marescal, der ganz bleich geworden war. Er hatte seine ganze Haltung verloren und schien gar nicht mehr zu Scherzen aufgelegt.

»Warum soll ich still sein?« fragte Raoul, »ziehst du deine Einladung vielleicht zurück? Willst du mich nicht vorstellen? ...«

»Sei ruhig, zum Teufel«, wiederholte Marescal. Er ging zu den Leuten hinaus und nahm Philippe beiseite:

»Einen Augenblick, Philippe, ich muß noch eine Kleinigkeit in Ordnung bringen. Verteile deine Leute so, daß sie nichts hören können.«

Er schloß die Tür, ging auf Raoul zu, sah ihm fest in die Augen und sagte:

»Was soll das bedeuten? Worauf willst du hinaus?«

»Ich will gar nichts.«

»Wozu diese Anspielung? ... Woher weißt du? ...«

»Deine kleine Privatadresse? Und den Namen deiner schönen Freundin? Ich habe das gleiche getan wie bei den anderen, ich habe mir genaue Kenntnis von deinem Lebenswandel verschafft, und meine Nachforschungen führten mich bis zu einer geheimnisvollen, behaglich eingerichteten Wohnung, wo du deine zahlreichen Freundinnen empfängst. Gedämpfte Beleuchtung ... Parfüms, Blumen ... Südweine ... Diwans ... Ei, ei!«

»Kann ich das nicht halten, wie ich will«, stammelte der Kommissar, »was hat das mit deiner Verhaftung zu tun?«

»Gar nichts, wenn du nicht den törichten Einfall gehabt hättest, in diesem lauschigen Nest die verschiedensten Liebesbriefe aufzuheben.«

»Du lügst! Du lügst!«

»Wenn ich gelogen hätte, so würdest du jetzt nicht wie ein Puter aussehen! – In einem Wandschrank ist ein Fach. In diesem Fach ist eine Kassette. In dieser Kassette befinden sich, mit schönen Bändern umschnürt, Briefe schöner Frauen, deren Leidenschaft für den schönen Marescal keine Grenzen kennt. Da haben wir die Frau des Staatsanwalts B. Da haben wir Fräulein X. von der Comédie Française, und vor allem die würdige, schon etwas reife, aber immerhin noch leidliche Gattin des ...«

»Schweig, Schuft!«

»Ein Schuft,« entgegnete Raoul friedlich, »ist höchstens der, der sein vorteilhaftes Äußere ausnützt, um Karriere zu machen.«

Marescal ging zwei- oder dreimal im Zimmer herum, dann blieb er wieder bei Raoul stehen und sagte:

»Wieviel?«

»Was wieviel?«

»Was verlangst du für die Briefe?«

»Dreißig Schillinge, wie Judas.«

»Schwatz' keinen Unsinn. Wieviel?«

»Dreißig Millionen.«

Marescal war wieder einem Wutanfall nahe.

Raoul beruhigte ihn lächelnd:

»Reg dich nicht auf! Die Briefe gebe ich nicht her – an denen habe ich noch monatelang Spaß. Aber ...«

»Was?«

»Aber ich wünsche, daß du die Waffe streckst, Marescal. Ich verlange unbedingte Ruhe für Aurelie und für Brégeac, sogar für Jodot und Ancivel; die nehme ich auf mich. Die ganze Angelegenheit ruht ausschließlich in deinen Händen. Direkte Beweise liegen nicht vor, ebensowenig Indizien. Du kannst sie also ruhig aufgeben, ich werde sie schon in Ordnung bringen.«

»Und du gibst mir die Briefe wieder?«

»Nein, die behalte ich als Pfand. Sobald du nicht stillhältst, veröffentliche ich einen oder den anderen.«

Marescal sagte:

»Man hat mich verraten!«

»Kann schon sein.«

»Gewiß. Sie hat mich verraten. Ich hatte schon seit einiger Zeit das Gefühl, daß sie mich aushorcht. Durch sie also hast du ihren Mann beeinflussen und dich mir empfehlen lassen, damit du tun konntest, was du wolltest!«

»Was willst du?« sagte Raoul heiter, »Krieg ist Krieg. Nachdem du mich am Werk gesehen hattest, hättest du eben vorsichtiger sein sollen.«

Er schüttelte ihn an den Schultern.

»Marescal, laß den Kopf nicht hängen! Du hast die Partie verloren. Sei's drum! Aber du hast Brégeacs Demission in der Tasche, du rückst an seine Stelle – das ist schon ein großer Schritt vorwärts. Die schönen Tage kehren wieder. Aber hüte dich vor den Frauen! Nutze sie nicht aus, um es in deinem Berufe weiterzubringen. Und nutze deinen Beruf nicht aus, um es bei ihnen weiterzubringen. Sei verliebt, wenn es dir Spaß macht, aber sei kein verliebter Polizeibeamter und kein polizeidienstlich Verliebter. Und meide möglichst den guten Arsène Lupin – er hat noch keinem Kriminalisten Glück gebracht. So – nun gib deine Befehle. Und adieu.«

Marescal kämpfte einen schweren Kampf mit sich selbst. Aber er kämpfte nicht lange. Er war zu klug, um nicht einzusehen, daß im Augenblick jeder Widerstand nutzlos war. Er gehorchte, weil er nicht anders konnte. Er rief Philippe zurück und unterhielt sich mit ihm. Dann ging Philippe fort und nahm alle Leute mit, sogar Tony und Labonce. Die Tür zur Diele wurde geöffnet und wieder geschlossen. Marescal hatte die Schlacht verloren.

Raoul näherte sich Aurelie.

»Alles ist in Ordnung, gnädiges Fräulein, wir brauchen nur noch abzureisen. Ihre Handtasche steht unten, nicht wahr?«

Sie flüsterte, als erwache sie aus einem Traum:

»Wie ... ist es ... denn ... nur möglich? ...«

»Ach,« sagte er heiter, »von Marescal kann man in Güte haben, was man will. Ein Prachtkerl! Geben Sie ihm getrost die Hand!«

Aurelie gab ihm nicht die Hand; sie ging an ihm vorüber. Marescal drehte ihr übrigens den Rücken zu: er hatte die Ellbogen auf den Kamin gestützt und sein Gesicht in den Händen verborgen.

Sie zögerte, als sie sich Brégeac näherte. Aber er schien gleichgültig und hatte ein sonderbares Aussehen, an das Raoul später noch oft denken mußte.

»Noch ein Wort«, sagte Raoul und blieb auf der Schwelle stehen. »Ich verpflichte mich vor Marescal und Ihrem Stiefvater, Sie an einen friedlichen und ruhigen Ort zu bringen, wo Sie einen Monat lang niemand zu Gesicht bekommen werden. Nach dieser Frist werde ich Sie fragen kommen, wie Sie Ihr Leben weiter einzurichten gedenken. Einverstanden?«

»Jawohl«, sagte sie.

»Dann können wir gehen.«

Und sie gingen. Auf der Treppe mußte er sie stützen.

»Mein Wagen wartet hier in der Nähe. Fühlen Sie sich kräftig genug, um die Nacht durchzufahren?«

»Ja«, sagte sie. »Ich bin ja so froh, daß ich frei bin! ...«

Als sie das Haus verließen, zuckte Raoul zusammen: im oberen Stockwerk war ein Schuß gefallen. Aurelie hatte nichts gehört. Raoul sagte:

»Hier rechts steht das Auto ... man kann es von hier sehen ... Eine Dame wartet darin – ich habe Ihnen schon von ihr erzählt. Meine alte Amme. Gehen Sie zu ihr, bitte. Ich muß noch einmal zurück. Ich bin aber gleich wieder da.«

Aurelie ging auf den Wagen zu, während Raoul eiligst nach oben stürmte.

Im Zimmer lag Brégeac auf dem Sofa im Sterben; er hielt noch die Waffe in der Hand. Marescal und der Diener waren um ihn bemüht. Ein Strom von Blut floß ihm aus dem Munde. Ein letztes, schwaches Aufbäumen, dann bewegte er sich nicht mehr.

»Das hätte ich mir denken können«, brummte Raoul. »Sein Zusammenbruch, Aurelies Abreise ... armer Teufel, er hat seine Schuld bezahlt ...«

Dann sagte er zu Marescal:

»Sieh zu, wie du mit dem Diener zurechtkommst! Telephoniere nach einem Arzt, und kein Wort von Selbstmord! Ein Blutsturz ... Aurelie darf im Augenblick nichts erfahren ... Sag', sie sei in der Provinz bei einer Freundin, um sich zu erholen.«

Marescal packte ihn beim Gelenk.

»Wer bist du? Lupin, nicht wahr?«

»Bravo!« sagte Raoul, »die berufsmäßige Neugier siegt doch!«

Er stellte sich dem Kommissar gegenüber, zeigte sich auch im Profil und sagte:

»Du hast gute Augen!«

Er eilte hinunter. Aurelie hatte sich zu der alten Dame in eine bequeme Limousine gesetzt. Raoul warf einen Blick auf die Straße und fragte leise:

»Hast du niemanden um den Wagen schleichen sehen?«

»Nein.«

»Bestimmt? Einen ziemlich dicken Mann mit einem anderen, der einen Arm in der Binde trägt?«

»Doch! Ja, die habe ich gesehen; sie gingen auf dem Bürgersteig auf und ab, aber weiter unten.«

Er lief fort und erreichte in einem kleinen Durchgang an der Kirche Saint-Philippe du Roule zwei Individuen, von denen eins den Arm in der Binde trug.

»Hallo! ... Wir kennen uns doch! ... Wie geht es, Jodot? Und dir, Guillaume Ancivel?«

Sie drehten sich um. Jodot war in bürgerlicher Kleidung; sein mächtiger Körper trug einen Bullenbeißerkopf. Er war nicht im geringsten überrascht.

»Ach, der Herr aus Nizza! Ich sagte eben, sicherlich seien Sie der Begleiter der Kleinen!«

»Ich bin auch der Herr aus Toulouse«, sagte Raoul zu Guillaume. Und er fuhr fort:

»Was macht ihr denn hier, Jungens? Man überwacht Brégeacs Haus, was?«

»Seit zwei Stunden«, sagte Jodot kaltblütig. »Marescals Ankunft, die Manöver der Polizei, Aurelies Abreise – wir haben alles gesehen.«

»Und?«

»Ich nehme an, daß Sie auf dem laufenden sind: Sie werden ein wenig im Trüben gefischt haben! Aurelie reist mit Ihnen – oben setzen sich Marescal und Brégeac auseinander. Brégeac muß den Abschied nehmen ... Verhaftung ...«

»Brégeac hat sich eben erschossen.«

Jodot zuckte zusammen.

»Was? ... Brégeac ist tot?«

Raoul zog beide in den Schatten der Kirche.

»Hört mich einmal an. Ich habe euch verboten, euch in diese Angelegenheit zu mischen. Jodot, du hast den alten d'Asteux ermordet, du hast Miß Bakefield auf dem Gewissen und bist auch schuld am Tode der beiden Loubeaux, deiner Freunde, Teilhaber und Komplizen. Soll ich dich Marescal ausliefern? ... Und du, Guillaume, du solltest eigentlich wissen, daß mir deine Mutter alle ihre Geheimnisse gegen einen hohen Betrag verkauft hat, unter der Bedingung, daß ich dich ungeschoren lasse. Das habe ich für die Vergangenheit zugesagt. Soll ich dir auch den anderen Arm brechen und dich ebenfalls Marescal ausliefern?«

Guillaume ließ sich einschüchtern, aber Jodot gab nicht klein bei.

»Kurz: du willst den Schatz für dich behalten, nicht wahr?«

Raoul zuckte die Achseln.

»Glaubst du denn an den Schatz?«

»Genau wie du. Ich arbeite seit nahezu zwanzig Jahren an der Sache und habe keine Lust, ihn mir von dir wegschnappen zu lassen!«

»Wegschnappen! Da müßtest du ja erst einmal wissen, wo er ist und was er ist!«

»Ich weiß gar nichts ... und du auch nicht; auch Brégeac wußte nichts. Die Kleine weiß, und deswegen ...«

»Sollen wir teilen?« lachte Raoul.

»Gar nicht nötig. Ich kann mir meinen Teil allein nehmen, und der Teil wird nicht zu klein ausfallen. Wer mich daran hindern will, soll sich in acht nehmen. Ich habe mehr Trümpfe in den Händen, als man glaubt. Guten Abend, ich habe Sie gewarnt!«

Raoul sah ihnen nach. Der Zwischenfall verstimmte ihn ...

Am nächsten Tage erwachte Aurelie gegen Mittag in einem hellen Zimmer, aus dem sie über Gärten und Wiesen hinweg die dunkle und majestätische Kathedrale von Clermont-Ferrand sehen konnte. Ein altes Pensionat, das man in ein Sanatorium umgebaut hatte, bot ihr Schutz und sorgte für die Wiederherstellung ihrer Gesundheit.

Sie verbrachte dort friedliche Wochen; sie sprach mit niemandem, außer mit Raouls alter Amme; sie ging im Park spazieren und erholte sich.

Raoul besuchte sie nicht ein einziges Mal. Sie fand in ihrem Zimmer Blumen und Früchte, die die Amme für sie hineinstellte. Ebenso Bücher und Zeitschriften. Raoul verbarg sich an den gewundenen Wegen und war glücklich über Aurelies Wiederaufblühen. Er sah an ihren Bewegungen, an ihrem ganzen Benehmen, daß die Schatten der Vergangenheit einer glücklicheren Gegenwart Platz gemacht hatten.

Am zwanzigsten Tage schlug ihr Raoul für einen Tag der kommenden Woche einen Ausflug im Auto vor; er schrieb gleichzeitig, daß er ihr wichtige Mitteilungen zu machen habe.

Ohne zu zögern, ließ sie ihm sagen, daß sie einverstanden sei. An dem betreffenden Morgen machte sie sich auf den Weg; nachdem sie einige kleine Felsenpfade hinter sich hatte, kam sie auf die Landstraße, wo Raoul sie erwartete. Als sie ihn sah, blieb sie stehen; sie war plötzlich verwirrt und unruhig, wie eine Frau, die sich in einer feierlichen Minute fragt, wohin sie geht und was aus ihr werden soll. Er näherte sich ihr und machte ihr ein Zeichen, sie möge schweigen. Er wollte sagen, was gesagt werden mußte.

»Ich wußte, daß Sie kommen würden. Wir müssen uns wiedersehen, denn noch ist das tragische Abenteuer nicht zu Ende. Gewisse Dinge harren noch der Lösung. Aber Sie brauchen sich darum nicht zu kümmern. Sie haben die Angelegenheit in meine Hände gelegt, und ich werde sie zu Ende führen. Sie brauchen auch keine Angst zu haben. Nicht wahr, was auch kommen mag, wird mit einem Lächeln aufgenommen werden?«

Er reichte ihr die Hand. Sie überließ ihm ihre Hand. Sie hätte wohl sprechen und ihm danken wollen ... aber sie schwieg. Sie machten sich auf den Weg und ließen das Thermalbad und das alte Dorf Royet bald hinter sich.

Die Uhr an der Kirche zeigte auf halb neun. Man schrieb Samstag, den fünfzehnten August. Die Berge hoben sich von einem sehr hellen Himmel ab.

Sie sprachen kein Wort. Aber er fühlte, daß die Erinnerung an ihre erste Begegnung verschwunden sei, daß sie ihm freundschaftlich und dankbar gesinnt sei.

Das Auto war etwa eine Stunde unterwegs. Sie fuhren um den Puy de Dôme herum und schlugen einen ziemlich engen Weg ein, der nach Süden führte. Er ging in Windungen bergan und fiel dann wieder in grüne Täler und dunkle Wälder ab.

Dann wurde der Weg wieder enger, führte in eine verlassene und ausgetrocknete Gegend und fiel dann steil ab. Er war mit großen, ungleichen Lavastücken gepflastert.

»Eine alte römische Heerstraße«, sagte Raoul. »Es gibt kaum eine Gegend in Frankreich, wo man nicht solche Spuren, irgendeinen Weg aus Cäsars Zeiten findet.«

Sie antwortete nicht. Sie schien plötzlich nachdenklich und zerstreut zu sein.

Die alte römische Heerstraße schien nur noch ein Ziegenpfad zu sein. Der Anstieg war mühselig. Man gelangte auf ein kleines Plateau mit einem kleinen, fast ganz verlassenen Dorf, dessen Name Aurelie auf einem Pfahl lesen konnte: Juvains. Dann kam ein Wald, dann eine grüne Ebene, die einen lieblichen Anblick bot. Dann stieg die alte römische Heerstraße zwischen dichten Hecken wieder steil bergan. Am Ende dieser Leiter hielten sie an. Aurelie hatte sich immer mehr vertieft. Raoul beobachtete sie aufmerksam.

Als sie die stufenweise gelegten Blöcke hinaufgeklettert waren, gelangten sie auf einen Streifen runden Landes, das mit Pflanzen und Gras bewachsen war. Ringsherum ging eine Mauer, die sich auch nach rechts und links fortsetzte. Der Zement, der die Sandsteine zusammenhielt, hatte allen Unwettern widerstanden. Die Mauer hatte eine Tür. Raoul hatte den Schlüssel dazu. Er schloß auf. Man mußte immer noch bergan steigen. Als sie den höchsten Punkt dieser Erdaufschüttung erreicht hatten, sahen sie einen See, der unbeweglich wie Eis in einem Rahmen regelmäßiger Felsen vor ihnen lag.

Zum ersten Male stellte Aurelie eine Frage, in der sich ihre Gedankenarbeit verriet.

»Darf ich fragen, ob Sie einen bestimmten Grund hatten, mich gerade hierherzuführen? Oder ist es Zufall? ...«

»Der Anblick ist vielleicht nicht sehr erfreulich,« antwortete Raoul ausweichend, »aber in der Herbheit der Landschaft liegt eine wilde Melancholie, die Charakter hat. Touristen kommen niemals hierher, hat man mir gesagt. Aber man rudert, wie Sie sehen können ...«

Er führte sie zu einem alten Boot, das mit einer Kette an einem Pfahl befestigt war. Sie nahm darin Platz, ohne ein Wort zu sagen. Er nahm die Ruder, und sie glitten dahin.

Das schiefergraue Wasser spiegelte den blauen Himmel nicht wider; eher schienen sich unsichtbare Wolken darin zu spiegeln. An den Enden der Ruder funkelten Tropfen, die schwer wie Quecksilber schienen, und man wunderte sich, daß das Boot in diesem gleichsam metallischen Wasser überhaupt vorwärtskam.

Aurelie tauchte die Hand ins Wasser, mußte sie aber sofort zurückziehen, so kalt und unangenehm war die Berührung.

»Oh«, seufzte sie.

»Was? Was haben Sie denn?« fragte Raoul.

»Nichts ... das heißt, ich weiß nicht ...«

»Sie sind unruhig ... erschüttert ...«

»Erschüttert, ja ... ich bin Eindrücken ausgeliefert, die mich in Erstaunen setzen ... die mich außer Fassung bringen. Es kommt mir vor, als sei ich ein anderer Mensch ... und als seien nicht Sie hier ... Verstehen Sie?«

»Ich verstehe«, sagte er lächelnd.

Sie murmelte:

»Meine Empfindungen tun mir weh ...«

Die Klippen in der Runde, auf denen oben hier und da die Mauer zu sehen war, liefen allmählich in eine Ausbuchtung aus; von dort aus ging es in einem engen Kanal weiter, der durch seine hohen Mauern den Sonnenstrahlen entzogen war. Sie fuhren hinein. Die Felsen waren noch schwärzer und noch trauriger. Aurelie betrachtete sie mit Entsetzen und sah sich die Gestalten an, die sie bildeten: liegende Hunde, Kamine, riesengroße Statuen und ungeheure Röhren ...

Und als sie sich etwa in der Mitte dieses phantastischen Korridors befanden, schlug ihnen wie ein Windstoß ein Gewirr von fernen und undeutlichen Geräuschen entgegen, die auf dem gleichen Wege wie sie aus der Gegend kamen, die sie vor einer Stunde passiert hatten.

Glocken läuteten, leichte Glocken, Lieder aus Erz, heiter und froh, ein ganzes Rauschen göttlicher Musik, in das sich das tiefe Summen einer Kathedrale mischte.

Das junge Mädchen war einer Ohnmacht nahe. Jetzt verstand auch sie die Ursache ihrer Verwirrung. Die Stimmen der Vergangenheit – jener Vergangenheit, die sie doch niemals hatte vergessen wollen – klangen in ihr und um sie. Der Klang sprang von einem Felsen zum anderen, glitt über die harte Oberfläche des Wassers, stieg empor zum blauen Himmel und fiel wie Pulver in den Abgrund zurück, um schließlich in tausend Echos zum Ausgang des Kanals zu eilen, an dem das helle Tageslicht aufflammte ...

Fassungslos ihren Erinnerungen ausgeliefert, versuchte Aurelie zu kämpfen und dem Ansturm der Gefühle zu widerstehen. Aber sie hatte keine Kraft mehr. Das Wunder machte sie sprachlos. Sie hatte das Geheimnis eifersüchtig bewahrt, sie hatte die spärlichen Erinnerungen niemandem verraten und durfte sie erst dem Manne anvertrauen, dem ihr Herz gehörte. Und nun fühlte sie sich diesem sonderbaren Manne gegenüber so schwach ...

»Ich habe mich nicht getäuscht, hier ist es, nicht wahr?« sagte Raoul.

»Ja, hier ist es«, hauchte Aurelie. »Schon während der Fahrt war mir, als hätte ich alle Dinge schon einmal gesehen ... den Weg ... die Bäume ... den Weg mit Lavabrocken ... den See ... die Felsen und auch die Farbe des Wassers hier ... vor allem hatte ich die Glocken so läuten hören ... Es sind die Glocken meiner Kindheit ... Und damals verließen wir auch den dunklen Kanal, um wieder ins Sonnenlicht zu gelangen ...«

Sie hatte den Kopf gehoben und sah um sich. Ein zweiter, kleinerer, aber desto eindrucksvollerer See öffnete sich vor ihnen. Seine Einsamkeit war noch herber und wilder.

Eine nach der anderen standen die Erinnerungen wieder auf. Sie zählte sie alle auf und sagte sie Raoul:

»Meine Mutter saß, wo Sie sitzen, und mein Großvater gegenüber ... ich erkenne jeden Baum und jeden Felsen ... Der See scheint kein Ende zu haben, dann aber kommt ein kleiner Strand ... mit einem Wasserfall zur Rechten ... links ebenfalls ... Und dann kommt eine Grotte ... und am Eingang dieser Grotte ...«

»Am Eingang dieser Grotte? ...«

»Wartete ein Mann auf uns ... ein seltsamer Mann mit einem langen grauen Bart, der eine kastanienbraune Bluse trug ... Man konnte ihn schon von hier aus sehen ... sieht man ihn?«

»Ich war auch der Meinung, daß wir ihn sehen würden,« sagte Raoul, »und ich bin sehr erstaunt. Es ist fast zwölf Uhr, und wir hatten uns um diese Stunde verabredet ...«


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