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Der geheimnisvolle Reisende

Tags vorher hatte ich mein Automobil auf der Landstraße nach Rouen geschickt. Ich sollte mit der Eisenbahn nachkommen und von da zu Freunden auf Besuch fahren, die ein Landgut an den Ufern der Seine besitzen.

In Paris nun stürmten wenige Minuten vor der Abfahrt sieben Herren das Abteil, in dem ich bisher allein gewesen war; fünf von ihnen rauchten. So kurz auch im Eilzug die Fahrt bis Rouen ist, so war mir doch die Aussicht, sie in solcher Gesellschaft zurückzulegen, unangenehm, zumal der altmodische Wagen keinen Seitengang besaß. Ich nahm deshalb meinen Überzieher sowie meine Zeitungen samt dem Kursbuch und flüchtete mich in ein benachbartes Abteil.

Eine Dame saß darin. Als sie mich sah, machte sie eine unwillige Gebärde, die mir nicht entging, und beugte sich zu einem Herrn, der auf dem Trittbrett stand, vermutlich ihr Gatte, der sie zum Bahnhof begleitet hatte. Der Herr betrachtete mich eindringlich. Die Prüfung schien zu meinen Gunsten ausgefallen zu sein, denn er flüsterte seiner Frau etwas zu, mit der Miene, durch die man ein Kind, das Angst hat, beruhigt. Sie lächelte nun und warf mir einen freundschaftlichen Blick zu, als wenn sie begriffen hätte, daß ich zu jenen galanten Männern gehöre, mit denen eine Frau sich zwei Stunden lang in einen kleinen Kasten einschließen lassen kann, ohne etwas befürchten zu müssen.

Ihr Gatte sagte ihr: »Sei mir nicht böse, Kind, aber ich habe eine dringende Verabredung und muß jetzt gehen.«

Er küßte sie herzlich und entfernte sich. Seine Frau blickte ihm aus dem Fenster nach und winkte mit dem Taschentuch.

Dann ertönte ein Pfiff, und der Zug setzte sich in Bewegung.

In demselben Augenblick öffnete sich die Tür, und trotz des Widerspruchs des Bahnbeamten sprang ein Mann in unser Abteil. Meine Reisegenossin, die aufrecht stand, um ihr Gepäck im Netz zu ordnen, stieß einen Schrei aus und fiel auf ihren Sitz.

Ich bin kein Feigling; aber ich muß zugeben, daß es immer peinlich wirkt, wenn jemand in ein Abteil eines bereits abfahrenden Zuges eindringt. Es scheint unnatürlich, zweideutig. Es muß etwas dahinterstecken, sonst ...

Das Äußere des Mannes und sein Verhalten waren übrigens dazu angetan, den schlechten Eindruck abzuschwächen. Tadellose, fast elegante Kleidung, eine geschmackvolle Krawatte, reine Handschuhe, ein energisches Gesicht ... Aber, wo hatte ich dieses Gesicht schon gesehen? Ein Zweifel war nicht möglich; wenigstens empfand ich jene Art Erinnerung, die der Anblick eines wiederholt geschauten Porträts zurückläßt, dessen Original man nie vor Augen gehabt hat.

Als ich meine Aufmerksamkeit wieder der Dame zuwandte, war ich erstaunt, wie leichenfahl und verstört ihr Gesicht aussah. Sie betrachtete ihren Nachbarn – beide saßen auf derselben Seite – mit dem Ausdruck wirklichen Entsetzens, und ich bemerkte, daß sie mit zitternder Hand nach einem kleinen Reisesack tastete, der etwa zwanzig Zentimeter von ihr entfernt auf der Bank lag. Endlich erreichte sie ihn und zog ihn mit nervöser Gebärde an sich.

Ich las in ihren Augen so viel Angst und Schrecken, daß ich mich nicht enthalten konnte zu fragen: »Befinden Sie sich nicht wohl, gnädige Frau? Soll ich das Fenster öffnen?«

Ohne mir zu antworten, deutete sie mit ängstlichem Blick auf den Mann. Lächelnd, wie ihr Gatte zuvor, zuckte ich die Achseln und machte ihr durch Zeichen verständlich, daß jener recht ungefährlich aussehe und sie nichts zu befürchten habe.

In demselben Augenblick wandte er sich zu uns und sah uns beide vom Kopf bis zu den Füßen an. Dann lehnte er sich in eine Ecke zurück und rührte sich nicht mehr.

Nach einer Weile beugte sich die Dame mit einer Miene zu mir herüber, als habe sie ihre ganze Willenskraft zu einem verzweifelten Entschluß zusammengerafft.

»Wissen Sie, daß er im Zuge ist?« flüsterte sie mit kaum vernehmbarer Stimme.

»Wer?«

»Er ... er ... Ich versichere es Ihnen!«

»Ja, aber wer?«

»Arsène Lupin!«

Sie hatte kein Auge von dem Reisenden gelassen und die Silben dieses gefürchteten Namens eher zu ihm als zu mir hervorgestoßen.

Der Fremde zog seinen Hut tiefer ins Gesicht. Hatte er gehört und wollte er seine Verwirrung verbergen, oder richtete er sich einfach zum Schlafen ein?

»Arsène Lupin«, entgegnete ich, ebenfalls flüsternd, »wurde gestern in contumaciam zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Es ist somit wenig wahrscheinlich, daß er heute die Unvorsichtigkeit begehen wird, sich öffentlich zu zeigen. Außerdem haben die Zeitungen gemeldet, daß er nach seiner berühmten Flucht aus dem Untersuchungsgefängnis in der Türkei aufgetaucht sei.«

»Er ist in unserem Zuge«, wiederholte die Dame, die augenscheinlich bemüht war, von dem Reisegefährten gehört zu werden. »Mein Mann ist Vizedirektor der Strafverwaltung, und der Bahnhofsvorsteher selbst hat uns gesagt, daß man Arsène Lupin suche.«

»Das ist noch kein Grund ...«

»Man hat ihn im Wartesaal gesehen. Er hat eine Fahrkarte erster Klasse nach Rouen gelöst.«

»Da hätte man ihn ja leicht festnehmen können.«

»Er war mit einem Male verschwunden. Der kontrollierende Beamte am Eingang des Bahnsteigs hat ihn nicht gesehen, und man glaubt, daß er über den Vorortbahnsteig gegangen ist, um dort in den Eilzug zu steigen, der zehn Minuten nach dem unseren abfährt.«

»In diesem Falle wird man ihn erwischt haben.«

»Wenn er aber im letzten Augenblick jenen Zug verlassen hat, um in den unseren zu springen, wie es wahrscheinlich ist ...«

»Dann wird er hier ergriffen werden. Schaffner und Bahnpolizisten können dieses Umsteigen aus einem Zug in den anderen nicht übersehen haben, und sobald wir in Rouen eintreffen, wird man ihn ruhig in Empfang nehmen.«

»Niemals! Er wird immer ein Mittel finden, durchzukommen!«

»So wünsche ich ihm gute Reise.«

»Ja, aber bis dahin kann Fürchterliches geschehen.«

»Weiß ich! Bei ihm muß man auf alles gefaßt sein.«

Sie war sehr aufgeregt, und die Sachlage rechtfertigte in der Tat bis zu einem gewissen Grade diese nervöse Überreizung.

»Es gibt wirklich sonderbare Zufälligkeiten«, entgegnete ich. »Aber beruhigen Sie sich, gnädige Frau. Angenommen selbst, Arsène Lupin sei in einem Wagen dieses Zuges, so wird er sich schön brav verhalten, um der drohenden Gefahr der Verhaftung auszuweichen.«

Meine Worte jedoch beruhigten sie nicht. Sie schwieg, offenbar aus Furcht, mich zu belästigen.

Ich entfaltete meine Zeitungen und begann die Berichte über Arsène Lupins Prozeß zu lesen. Da diese nichts enthielten, was nicht schon längst bekannt war, interessierten sie mich nur mäßig. Außerdem war ich müde; meine Augenlider wurden schwer, und mein Kopf neigte sich zur Seite.

»Aber, mein Herr, Sie werden doch nicht schlafen!«

Die Dame entriß mir meine Zeitungen und sah mir ganz empört ins Gesicht.

»Natürlich nicht,« gab ich zur Antwort, »ich habe gar nicht die Absicht.«

»Das wäre ein wirklicher Leichtsinn!«

»Ein wirklicher Leichtsinn«, wiederholte ich.

Und ich kämpfte energisch, klammerte mich an die vorübereilende Landschaft, an die Wolken, die graue Linien über den Himmel zogen. Bald aber verschwamm das alles im Räume, die Bilder der aufgeregten Dame und des schlummernden Herrn verwischten sich in meinem Geiste, und die große, tiefe Ruhe des Schlafes legte sich über mich.

Undeutliche, verwaschene Träume zogen an mir vorbei, in denen ein Wesen die Hauptrolle spielte: Arsène Lupin. Er tauchte am Horizont auf, den Rücken mit kostbaren Schätzen beladen, durchschritt dicke Mauern und räumte Schlösser aus.

Die Gestalt dieses Wesens, das übrigens auf einmal nicht mehr Arsène Lupin war, wurde deutlicher. Es kam auf mich zu, wurde größer und größer, sprang mit unglaublicher Gewandtheit in das Abteil und fiel mir mit Wucht mitten auf die Brust.

Ein heftiger Schmerz ... ein durchdringender Schrei ... Ich erwachte. Der Mann, der Mitreisende hatte ein Knie auf meine Brust gesetzt und preßte mir die Kehle zu.

Das alles sah ich nur verschwommen, weil meine Augen blutunterlaufen waren. Ich erblickte auch die Dame, die, von einem Nervenkrampf erfaßt, sich in einer Ecke herumwarf. An Widerstand war nicht zu denken; denn meine Schläfen hämmerten, ich erstickte, röchelte. Noch eine Minute, und ich war erdrosselt.

Der Mann mußte das merken; er ließ etwas locker. Ohne mich freizugeben, faßte er mit der Rechten seinen Strick, an dem er einen Laufknoten vorbereitet hatte, und rasch und ruhig schnürte er mir die Hände zusammen. Im nächsten Augenblick war ich gefesselt, geknebelt, zu vollster Unbeweglichkeit verurteilt.

Er vollbrachte das alles auf die ruhigste Art der Welt, mit einer Selbstverständlichkeit, die die Hand des Meisters, die Erfahrung des berufsmäßigen Räubers und Mörders verriet. Kein Wort, keine hastige Gebärde. Kaltblütige Frechheit und Verwegenheit. Und ich lag da auf der Sitzbank, zusammengeschnürt wie eine Mumie, ich, Arsène Lupin.

Es war wirklich zum Totlachen. Und trotz des Ernstes meiner Lage konnte ich nicht umhin, die Ironie des Schicksals zu bewundern. Arsène Lupin hineingelegt wie ein Neuling! Ausgeraubt wie der erstbeste; denn der Bandit nahm mir Börse und Brieftasche. Arsène Lupin nun einmal selbst Opfer, Besiegter, Betrogener. Nein, welch Abenteuer!

Um die Dame kümmerte er sich gar nicht. Er begnügte sich damit, die kleine Reisetasche, die zu Boden gefallen war, aufzuheben und Schmuck, Portemonnaie, Goldstücke nebst Banknoten herauszunehmen. Die Bestohlene öffnete die Augen. Zitternd vor Angst, reichte sie dem Manne, als wollte sie ihm alle unnütze Mühe ersparen, auch ihre Ringe. Dieser griff danach und sah dabei der Dame in die Augen. Sie fiel in Ohnmacht.

Dann setzte sich der Räuber, uns nicht weiter beachtend, ruhig und schweigsam in seine Ecke zurück. Er steckte sich eine Zigarette an und unterzog die eroberten Schätze einer eingehenden Prüfung, die ihn vollständig zu befriedigen schien.

Ich war weit weniger befriedigt. Nicht wegen der zwölftausend Franken, deren man mich wider alles Recht beraubt hatte. Das war ein Schaden, den ich nur für den Augenblick erlitt. Dieser Betrag würde – davon war ich fest überzeugt – in kürzester Zeit wieder in meinen Besitz zurückkehren, ebenso wie meine Brieftasche, die höchst wichtige Dokumente, Pläne, Kostenberechnungen, Adressen, Listen meiner Geschäftsfreunde, kompromittierende Briefe enthielt. Aber für den Augenblick quälte mich eine ernstere und dringendere Sorge: Was wird sich ereignen?

Wie man sich wohl denken kann, war mir die Aufregung nicht entgangen, die mein Auftauchen und Verschwinden in der Bahnhofshalle hervorgerufen hatte. Den Freunden, bei denen ich geladen war und mit denen ich unter dem Namen Wilhelm Berlat verkehrte, gab meine Ähnlichkeit mit Arsène Lupin stets Anlaß zu Scherzen. Aus diesem Grunde hatte ich es unterlassen müssen, mich so zu verkleiden und zu verstellen, wie es ratsam gewesen wäre, und deshalb war ich auf dem Bahnhof erkannt worden. Außerdem hatte man einen Mann, den man für Arsène Lupin hielt, von einem Eilzug in den anderen springen sehen. Somit war es unausbleiblich, daß der Polizeikommissar in Rouen mit einem ganzen Regiment Detektive die Ankunft des Zuges erwarten, alle verdächtig erscheinenden Reisenden anhalten und sämtliche Abteile sorgfältig durchsuchen würde.

Auf das alles war ich gefaßt gewesen und hatte mir darum weiter keine Sorge gemacht, fest überzeugt, daß die Polizei in Rouen auch nicht schlauer sei als die in Paris, und daß ich unbemerkt durchkommen würde. Ich brauchte ja nur bei der Fahrkartenkontrolle nachlässig meine Legitimationskarte als Deputierter vorzuzeigen, mit der ich bereits dem Kontrolleur in Paris volles Vertrauen eingeflößt hatte. Aber die Sachlage hatte sich seitdem gar sehr verändert. Ich war nicht mehr Herr meiner Glieder, Herr meiner selbst. In einem Abteil erster Klasse würde der Kommissar Arsène Lupin, an Händen und Füßen gefesselt, vorfinden und in Empfang nehmen. Was konnte ich tun, um diesem Verhängnis zu entgehen? Der Eilzug flog Rouen zu, der einzigen Station, an der er hielt, und durchsauste bereits Vernon, dann Saint-Pierre.

Eine andere Frage drängte sich auf, die mich eigentlich nichts anging, deren Lösung aber die Neugier des Fachmannes in mir erweckte, die Frage: Was hat unser liebenswürdiger Reisegenosse vor?

Wäre ich allein gewesen, so hätte er reichlich Zeit gehabt, in Rouen ganz unbehelligt auszusteigen. Aber die Dame! Wird sie nicht, sobald die Tür des Abteils sich öffnet, um Hilfe rufen? Deshalb wunderte ich mich, daß er ihr nicht dieselbe Behandlung zuteil werden ließ wie mir. Dann hätte er wenigstens ruhig verschwinden können, noch bevor wir aufgefunden wurden.

Er rauchte und sah gelassen auf die Landschaft hinaus, die ein langsam einsetzender Regen mit großen, schiefen Strichen schraffierte. Auf einmal jedoch wandte er sich um, griff nach meinem Kursbuch und schlug darin nach.

Die Dame bemühte sich, in Ohnmacht zu bleiben, um den Feind nicht zu reizen. Doch die vom Tabakrauch hervorgerufenen Hustenanfälle verrieten ihre List.

Ich fühlte mich recht unbehaglich und zerbrach mir den Kopf mit Kombinationen.

Pont-de-l'Arche, Oisset ... Der Eilzug beeilte sich, frohlockend, schnelligkeitstrunken.

Saint-Etienne ... In diesem Augenblick stand der Mann auf und machte einen Schritt auf uns zu. Die Dame stieß einen Schrei aus und bekam einen echten Ohnmachtsanfall.

Aber was wollte er? Er ließ das Fenster auf unserer Seite herab. Jetzt fiel draußen der Regen in Strömen. Er machte eine Gebärde, als ärgerte er sich darüber, daß er weder Überzieher noch Regenschirm bei sich habe. Er warf einen Blick auf das Gepäcknetz, sah den Schirm der Dame und nahm ihn. Ebenso bemächtigte er sich meines Überrocks, den er anzog.

Wir fuhren über die Seine. Er krempelte seine Hosenränder auf, beugte sich hinaus und hob den äußeren Riegel zurück.

Wollte er auf die Strecke springen? Bei dieser Schnelligkeit wäre das sicher der Tod gewesen. Wir fuhren in einen Tunnel ein. Der Mann öffnete zur Hälfte die Tür und tastete mit dem Fuß nach dem oberen Trittbrett. Welch eine Tollkühnheit! Die Finsternis, der Rauch, das Getöse der Wagen, das verlieh seinem Unternehmen einen Anstrich von Wahnsinn. Plötzlich aber verlangsamte der Zug seinen Lauf; die Vakuumbremsen widerstrebten den vorwärtsstürmenden Rädern. In einer Minute wurde die Schnelligkeit unternormal, bis sie endlich ganz aufhörte. Offenbar fand an dieser Stelle des Tunnels eine Ausbesserung der Strecke statt, so daß die Züge ihre Fahrgeschwindigkeit mindern mußten. Der Mann hatte diesen Umstand gekannt.

Den anderen Fuß nachziehend, stieg er jetzt auf das untere Trittbrett hinab und ging dann gemächlich davon, nachdem er zuvor noch die Tür geschlossen und den Außenriegel eingehängt hatte.

Kaum war er verschwunden, als Tageslicht den weißen Rauch erhellte. Wir gelangten ins Tal. Noch ein Tunnel, und wir waren in Rouen.

Sofort erwachte die Dame aus ihrer Ohnmacht und begann über den Verlust ihres Schmuckes zu jammern. Den flehenden Blick, den ich auf sie richtete, verständnisvoll deutend, befreite sie mich von dem Knebel. Sie wollte auch meine Fesseln lösen, doch ich ließ es nicht zu.

»Nein, nein, die Polizei muß sehen, was vorgegangen ist. Ich will, daß sie sich selbst von der Frechheit dieses gefährlichen Menschen überzeugt.«

»Soll ich die Notleine ziehen?«

»Zu spät! Daran hätten Sie denken sollen, während er mich angriff.«

»Er hätte mich ja getötet. Ich habe es Ihnen doch gesagt, daß er mit diesem Zuge reist. Ich habe ihn sofort nach seinem Porträt erkannt. Und nun ist er mit meinem Schmuck auf und davon.«

»Man wird ihn schon fassen, haben Sie keine Angst.«

»Arsène Lupin fassen? Niemals!«

»Das hängt von Ihnen ab, gnädige Frau. Hören Sie mich an. Sofort, wenn der Zug einfährt, öffnen Sie die Tür und schlagen Lärm. Wenn die Bahnbediensteten und Polizisten kommen, so erzählen Sie ihnen so kurz als möglich, was Sie gesehen haben, den Überfall auf mich und die Flucht Arsène Lupins. Geben Sie seine Beschreibung: weicher Filzhut, ein Regenschirm – der Ihre – ein grauer Überzieher ...«

»Der Ihre«, warf sie ein.

»Wieso der meine? Nein, der seine! Ich hatte keinen Überzieher mit.«

»Ich erinnere mich, daß er auch keinen hatte, als er einstieg.«

»Doch, doch ... oder es war ein Rock, den jemand im Gepäcknetz liegen ließ. Auf jeden Fall trug er ihn, als er ausstieg, und darauf kommt es an. Also, erinnern Sie sich: grauer Überzieher! Vergessen Sie auch nicht, Ihren Namen zu sagen. Die Stellung Ihres Herrn Gemahls wird den Eifer der Leute aufstacheln.«

Wir näherten uns Rouen. Sie beugte sich schon zum Fenster hinaus. Ich wiederholte ihr alles nochmals mit lauter Stimme, damit sich meine Worte ihrem Gedächtnis recht fest einprägten.

»Geben Sie auch meinen Namen an: Wilhelm Berlat. Sie können sagen, daß ich Ihnen bekannt bin; das würde die Sache vereinfachen und uns Zeit gewinnen lassen. Wir müssen vermeiden, daß der Kommissar sich mit Erhebungen aufhält. Hauptsache ist, daß man sich sofort hinter Arsène Lupin hermacht ... Denken Sie nur an Ihren Schmuck! Sie werden sich nicht irren, nicht wahr? Wilhelm Berlat, ein Freund Ihres Gatten.«

»Abgemacht! Wilhelm Berlat.«

Sie rief schon zum Fenster hinaus und gebärdete sich ganz verzweifelt. Der Zug hatte noch nicht angehalten, als ein Herr, dem mehrere Männer folgten, in unser Abteil sprang.

»Arsène Lupin«, rief die aufgeregte Dame, »hat uns angefallen und mir meinen Schmuck geraubt ... Ich bin Frau Renaud ... Mein Mann ist der Vizedirektor der Gefängnisverwaltung ... Ah, da ist ja mein Bruder, Georg Ardelle, der Direktor der Rouener Bank!«

Sie fiel einem jungen Mann um den Hals, der eben an den Wagen herangetreten war, und den der Kommissar grüßte.

»Ja, Arsène Lupin!« fuhr sie dann halb weinend fort. »Während dieser Herr hier, Herr Berlat, ein Freund meines Mannes, schlief, ist Lupin ihm an die Gurgel gesprungen.«

»Aber wo ist Arsène Lupin?« fragte der Kommissar.

»Er ist im Tunnel gleich hinter der Seine aus dem Zug gesprungen.«

»Sind Sie aber auch sicher, daß es Arsène Lupin war?«

»Ob ich sicher bin! Ich habe ihn sehr gut erkannt. Übrigens hatte man ihn schon in Paris auf dem Bahnhof gesehen. Er trug einen weichen Filzhut ...«

»Nicht doch ... einen steifen Filzhut, wie dieser da«, unterbrach sie der Kommissar und zeigte auf meinen Hut.

»Einen weichen Hut«, wiederholte Frau Renaud, »und einen grauen Überzieher.«

»In der Tat!« sagte der Kommissar. »Die Depesche aus Paris gibt diesen grauen Überzieher mit schwarzem Samtkragen an.«

»Ganz richtig! Mit schwarzem Samtkragen!« rief Frau Renaud triumphierend.

Ich atmete auf. Was für eine liebe, gute, köstliche Freundin hatte ich da!

Die Polizeiagenten hatten mich mittlerweile von meinen Fesseln befreit. Ich biß mich tief in die Lippen, bis sie bluteten. Zusammengeknickt wie einer, der gewaltsam in eine unbequeme Haltung gebracht worden war, und im Gesicht die blutenden Spuren eines Knebels, sagte ich zum Kommissar mit schwacher Stimme: »Es war Arsène Lupin, darüber ist kein Zweifel möglich. Wenn Sie sich beeilen, werden Sie ihn noch einholen. Ich glaube, daß ich Ihnen behilflich sein könnte.«

Der Wagen, der zur Verfügung der Behörde bleiben mußte, wurde abgekoppelt. Der Zug fuhr nach Havre weiter. Uns führte man mitten durch die Menge der Neugierigen, die längs des Bahnsteiges standen, ins Amtszimmer des Stationsvorstehers.

Ich zögerte eine Sekunde lang. Unter irgendeinem Vorwand konnte ich mich entfernen, mein draußen wartendes Automobil besteigen und mich aus dem Staube machen. Warten war gefährlich. Ein unvorhergesehener Zwischenfall, eine ergänzende Depesche aus Paris, und ich war verloren.

Ja, aber mein Dieb? Auf mich allein angewiesen in einer Gegend, die mir nicht vertraut war, hatte ich keine Hoffnung, ihn abzufangen.

»Ach was,« sprach ich zu mir, »Wagen wir's. Bleiben wir da! Die Partie ist zwar schwer zu gewinnen, aber unterhaltsam zu spielen! Und der Einsatz ist der Mühe wert!«

Als man uns aufforderte, unsere Aussagen zu Protokoll zu geben, rief ich aus: »Herr Kommissar, Arsène Lupins Vorsprung wird immer größer. Mein Automobil wartet draußen. Wenn Sie es mit mir benutzen wollten, so könnten wir versuchen ...«

Der Kommissar lächelte mit überlegener Miene. »Der Plan ist nicht schlecht, so gut sogar, daß er damit halb ausgeführt ist.«

»Ah!«

»Ja! Zwei meiner Leute sind mit ihren Fahrrädern schon seit geraumer Zeit unterwegs.«

»Aber wohin?«

»Zum Ausgang des Tunnels. Sie werden dort Erkundigungen einziehen und dann die Spur Lupins verfolgen.«

Ich konnte es nicht unterlassen, die Achseln zu zucken

»Ihre beiden Leute werden keine Spur finden.«

»So!«

»Arsène Lupin wird nicht so dumm gewesen sein, den Tunnel vor den Augen der Leute zu verlassen. Er wird es schon so eingerichtet haben, daß niemand ihn sah. Er wird die nächste Straße erreicht haben und von dort ...«

»Nach Rouen gekommen sein, wo wir ihn erwischen werden.«

»Er wird nicht nach Rouen kommen.«

»Nun, dann wird er in der Umgegend bleiben, wo wir ihn um so sicherer ...«

»Er wird auch nicht in der Umgegend bleiben.«

»Nanu! Wo denn sonst?«

Ich zog meine Taschenuhr heraus.

»Augenblicklich treibt sich Arsène Lupin in der Nähe des Bahnhofes von Darnétal herum. Zehn Minuten vor elf Uhr, das heißt in zweiundzwanzig Minuten, wird er in den Zug steigen, der vom Nordbahnhof Rouen nach Amiens geht.«

»Woher wissen Sie das?«

»Oh! Das ist sehr einfach. Bevor er aus dem Zuge sprang, hat er in meinem Kursbuch nachgeschlagen. Wozu? Gab es unfern des Ortes, wo er verschwand, eine andere Eisenbahnlinie, einen Bahnhof auf dieser Linie und einen Zug, der in der nächsten Zeit an diesem Bahnhof hielt? Ich habe gleichfalls das Kursbuch nachgeschlagen. Es hat mir erschöpfend Auskunft gegeben.«

»Wirklich, mein Herr,« sagte der Kommissar, »das ist glänzend ausgedacht. Sie würden einen guten Kriminalisten abgeben.«

Ich hatte mich von meiner Überzeugung hinreißen lassen und eine unglaubliche Ungeschicklichkeit dadurch begangen, daß ich so viel Sachkenntnis an den Tag legte. Ich bemerkte, wie der Kommissar mich erstaunt ansah, und glaubte in seinem Blick einen Zweifel lesen zu können. Freilich nur einen ganz leichten. Die von der Pariser Staatsanwaltschaft nach allen Seiten versandten Photographien stellten einen Arsène Lupin vor, der so verschieden war von dem, der vor dem Kommissar stand, daß es diesem schwerfallen sollte, mich danach zu erkennen. Nichtsdestoweniger aber fühlte ich deutlich, daß der Beamte verwirrt, beunruhigt war.

Einige Sekunden lang sprach niemand. Etwas Zweideutiges, Unsicheres hemmte unsere Worte. Mich erfaßte ein peinlicher Schauer. Wollte sich das Glück von mir abwenden? Doch ich beherrschte mich und lachte.

»Du guter Gott, nichts öffnet einem den Gehirnkasten so gründlich, wie der Verlust einer gefüllten Brieftasche und der Wunsch, sie wiederzuerlangen. Und ich glaube, wenn Sie mir zwei Ihrer Leute mitgeben wollten, könnten Sie und ich vielleicht ...«

»Oh! Ich bitte Sie, Herr Kommissar,« rief Frau Renaud, »hören Sie auf Herrn Berlat!«

Die Einmischung meiner braven Freundin gab die Entscheidung. In dem Munde der Gattin eines einflußreichen Staatsbeamten wurde der Name Berlat wirklich der meine und verlieh mir eine Identität, an der niemand mehr zu zweifeln wagte.

»Ich wäre sehr froh, Herr Berlat, wenn Sie Erfolg hätten. Mir liegt mindestens ebensoviel wie Ihnen an der Verhaftung Arsène Lupins.«

Mit diesen Worten begleitete er mich bis zu meinem Automobil. Zwei seiner Leute, die er mir als Massol und Delivet vorstellte, nahmen darin Platz. Ich setzte mich ans Steuer. Mein Chauffeur drehte die Kurbel. Einige Sekunden später verließen wir den Bahnhof. Ich war gerettet.

Ah! Ich gestehe es zu, während wir auf der breiten Fahrstraße, die die alte normannische Stadt wie ein Gürtel umfaßt, mit voller Schnelligkeit dahinrollten, empfand ich berechtigten Stolz. Das Rasseln des Motors schien mir Himmelsmusik. Rechts und links flogen die Pappeln an uns vorüber. Und frei, fern der Gefahr, blieb mir nur noch übrig, mit Beihilfe zweier ehrenhafter Vertreter der Staatsgewalt persönliche Abrechnung zu halten. Arsène Lupin fährt aus, um Arsène Lupin festzunehmen!

Massol und Delivet, ihr bescheidenen Stützen der sozialen Ordnung, wie kostbar war mir euer Beistand! Was hätte ich ohne euch angefangen! Wie oft hätte ich ohne euch an Kreuzwegen die falsche Richtung eingeschlagen! Ohne euch hätte sich Arsène Lupin geirrt, wäre der andere entschlüpft!

Aber noch war nicht alles zu Ende. Im Gegenteil. Der Spaß fing erst an. Vor allem galt es, den Kerl einzuholen und dann eigenhändig mich der Brieftasche zu bemächtigen, die er mir geraubt hatte. Um keinen Preis durften meine beiden Begleiter die Nase in meine Papiere stecken, noch weniger sie in Beschlag nehmen. Mich ihrer bedienen, aber ohne zu handeln, das war mein Plan, dessen Ausführung nicht so leicht war.

In Darnétal kamen wir drei Minuten nach Abgang des Zuges an. Hier wurde uns mitgeteilt, daß ein Individuum in grauem Überzieher mit schwarzem Samtkragen mit einem Billett zweiter Klasse nach Amiens abgereist war. Meine ersten Versuche als Polizist waren vielversprechend.

»Der Zug ist ein Expreß«, sagte Delivet, »und hält erst wieder in Buchy nach neunzehn Minuten. Wenn wir nicht vor Arsène Lupin dort sind, so kann er ebensogut nach Amiens weiterfahren wie nach Clères umsteigen, um nach Dieppe oder Paris zu gelangen.«

»Wie weit ist es nach Buchy?«

»Dreiundzwanzig Kilometer.«

»Dreiundzwanzig Kilometer in neunzehn Minuten. Wir werden vor ihm dort sein!«

Welch eine aufregende Fahrt! Noch niemals harte mein treues Auto so verständnisvoll und eifrig meiner Ungeduld entsprochen. Mir schien es, als übertrüge ich ihm direkt meinen Willen, ohne Hilfe des Steuers und Hebels. Man hätte meinen können, der Wagen teile meine Wünsche, billige meinen Eifer, verstehe meine Wut gegen Arsène Lupin. Werde ich seiner Herr werden? Oder wird er noch einmal der strafenden Gerechtigkeit spotten, deren rechter Arm ich war?

»Nach rechts!« rief Delivet. Dann wieder: »Nach links! ... Geradeaus!«

Wir flogen nur so dahin. Die Kilometersteine glichen furchtsamen kleinen Tieren, die bei unserer Annäherung verschwanden.

Und urplötzlich nach einer Biegung eine Rauchwolke – der Nordexpreß!

Während eines Kilometers war's, Seite an Seite, ein Kampf, dessen Ausgang sicher war. Bei der Ankunft schlugen wir ihn um zwanzig Längen.

In drei Sekunden waren wir auf dem Bahnsteig vor dem Wagen zweiter Klasse. Die Türen öffneten sich. Einige Personen stiegen aus. Von meinem Diebe keine Spur. Wir untersuchten die Abteile. Arsène Lupin war nicht zu finden.

»Donnerwetter!« rief ich. »Er muß mich im Automobil erkannt haben, während wir neben dem Zuge fuhren. Er wird hinausgesprungen sein.«

Der Kondukteur, der eben vorbeikam, bestätigte meine Annahme. Etwa zweihundert Meter vor dem Bahnhof hatte er einen Mann den Bahndamm hinabkollern sehen.

»Dort läuft er übers Feld!«

Ich stürzte davon, meine beiden Begleiter mir nach, oder richtiger nur der eine. Der andere, Massol, war ein Läufer von so ungewöhnlicher Schnelligkeit und Ausdauer, daß der Zwischenraum, der ihn von dem Flüchtling trennte, zusehends abnahm. Als der Mann ihn kommen sah, sprang er zuerst über eine Hecke, stürzte dann auf einen Abhang zu und verschwand endlich in einem kleinen Gehölz.

Dort angelangt, stießen wir auf Massol, der uns erwartete. Er hatte es für unvorsichtig gehalten, sich allein ins Dickicht zu wagen.

»Sie haben recht daran getan, mein Freund«, belobte ich ihn. »Nach einem solchen Wettrennen muß der Mann schachmatt sein. Er gehört uns jetzt.«

Ich sah mir die Gegend an und überlegte gleichzeitig, wie ich den Flüchtling allein ergreifen konnte, um ihm das abzunehmen, was die Behörde mir erst nach langwierigen und unangenehmen Feststellungen ausgeliefert hätte. Dann trat ich zu meinen Begleitern zurück.

»Die Sache ist nicht schwer. Sie, Massol, bleiben hier links stehen. Sie, Delivet, dort rechts. Von Ihren Posten aus läßt sich die ganze hintere Linie des Gehölzes übersehen. Ohne von Ihnen bemerkt zu werden, kann er dann nur durch diesen Hohlweg entweichen. Vor dem werde ich Stellung nehmen. Kommt er nicht heraus, so gehe ich hinein und treibe ihn einem von Ihnen beiden zu. Sie haben also nichts anderes zu tun, als ruhig zu warten. Ja, richtig! Als Notsignal ein Schuß!«

Massol und Delivet gingen jeder nach dem ihm angewiesenen Platz. Dann drang ich mit der größten Vorsicht, um weder gehört noch gesehen zu werden, ins Gehölz. Es war dicht mit Unterholz besetzt und kreuz und quer von engen Pfaden durchschnitten, auf denen man nur gebückt wie in einem Laubengang vorwärts kam.

Einer dieser Stege führte zu einer Lichtung, dessen nasses Gras frische Fußspuren aufwies. Ich folgte ihnen, wobei ich vorsichtigerweise die Büsche als Deckung benutzte. So gelangte ich an eine kleine Aufschüttung, auf der eine halb verfallene Mörtelhütte stand.

Da muß er stecken, dachte ich. Der Standpunkt ist nicht schlecht gewählt.

Ich schlich dicht heran. Ein leichtes Geräusch verriet mir seine Anwesenheit, und gleich darauf sah ich ihn durch eine Bresche. Er drehte mir den Rücken zu.

In zwei Sätzen war ich über ihm. Er versuchte wohl, den Revolver, den er in der Hand hielt, auf mich zu richten. Ich ließ ihm aber keine Zeit dazu, sondern riß ihn zur Erde, derart, daß seine beiden Arme unter ihm lagen und mein Knie ihm den Brustkorb zusammendrückte.

»Hör' zu, Junge!« flüsterte ich ihm ins Ohr. »Ich bin Arsène Lupin. Du wirst mir sofort und freiwillig meine Brieftasche und die Sachen der Dame zurückgeben. Dagegen will ich dich aus den Krallen der Polizei befreien, und du sollst in die Reihen meiner Freunde aufgenommen werden. Kein überflüssiges Wort! Ja oder nein?«

»Ja!« brummte er.

»Um so besser. Dein Werk heute morgen war fein ausgedacht und sauber ausgeführt. Wir werden gut miteinander arbeiten.«

Ich stand auf. Er griff in seine Tasche, holte ein breites Schnappmesser hervor und wollte mich stechen.

»Dummkopf!« rief ich.

Mit einer Hand hatte ich den Angriff pariert. Mit der anderen führte ich einen heftigen Schlag auf die Kopfschlagader. Er stürzte bewußtlos zu Boden.

In meiner Brieftasche fand ich meine Papiere und Banknoten. Aus Neugier nahm ich die seine. Auf einem an ihn gerichteten Briefe las ich den Namen Pierre Onfrey.

Ich fuhr zusammen. Pierre Onfrey, der Mörder von Auteuil, der eine ganze Familie, Vater, Mutter und Kinder, erschlagen hatte! Ich beugte mich über ihn. Ja, das war das Gesicht, das im Abteil die Erinnerung an bereits gesehene Züge in mir erweckt hatte.

Doch die Zeit verstrich. Ich steckte in einen Briefumschlag zwei Hundertfrankenscheine mit einer Visitenkarte, auf die ich die Worte kritzelte: »Arsène Lupin seinen lieben Gelegenheitskollegen Massol und Delivet als Zeichen seiner Erkenntlichkeit.« Dann legte ich den Umschlag recht auffällig hin und stellte daneben das Reisetäschchen der Frau Renaud. War es nicht meine Pflicht, dieses der braven Freundin zurückzugeben, die mir so hilfreich zur Seite gestanden? Ich entnahm allerdings dem Täschchen alles, was irgendeinen Wert hatte, und ließ ihr nur einen Schildpattkamm, einen Rotstift für die Lippen und ein leeres Portemonnaie.

Mittlerweile begann der Mann sich zu bewegen. Was sollte ich tun? Ich hatte kein Recht, ihn zu retten, und keins, ihn zu verdammen. Ich nahm ihm seine Waffen und gab aus seinem Revolver einen Schuß in die Luft ab.

Die beiden werden kommen, dachte ich. Helfe er sich allein aus der Schlinge. Was sein Schicksal vorschreibt, wird geschehen.

Und dann machte ich mich im Laufschritt durch den Hohlweg davon.

Zehn Minuten später führte mich ein Seitenweg, den ich während unserer Jagd bemerkt hatte, zu meinem Automobil zurück.

Um vier Uhr telegraphierte ich meinen Freunden in Rouen, daß ein unvorhergesehenes Hindernis mich zwinge, meinen Besuch zu verschieben.

Zwei Stunden später war ich auf Umwegen wieder in Paris angelangt. Aus den Abendblättern erfuhr ich, daß die Polizei sich des Mörders Onfrey bemächtigt hatte.

Am nächsten Morgen – man darf nie die Vorteile einer geschickten Reklame verachten – brachte das »Echo de France« folgende Notiz: »Gestern hat in der Gegend von Buchy Arsène Lupin nach zahlreichen Schwierigkeiten Pierre Onfrey festgenommen. Der Mörder von Auteuil hatte kurz vorher auf der Strecke Paris-Rouen Frau Renaud, die Gattin des Vizedirektors der Strafverwaltung, ausgeraubt. Arsène Lupin hat Frau Renaud das Reisetäschchen zurückerstattet, das ihren Schmuck enthielt, und die beiden Polizeiagenten königlich belohnt, die ihm bei der Ausführung dieser dramatischen Verhaftung hilfreiche Hand leisteten.«

 

Ende

 


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