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Die rotseidene Schärpe

Zur gewohnten Stunde verließ der Oberinspektor Ganimard seine Wohnung, um sich nach dem Justizpalast zu begeben. Da bemerkte er das seltsame Benehmen eines Individuums, das vor ihm die Rue Pergolèse entlang ging.

Es war ein ärmlich gekleideter Mann. Trotz des Monats November hatte er nur einen Strohhut auf. Der Mann blieb alle fünfzig oder sechzig Schritte stehen und bückte sich, bald, um die Schnürsenkel seiner Schuhe zu binden, bald, um seinen Spazierstock aufzuheben, oder aus irgendeinem anderen Grunde. Jedesmal zog er dabei ein kleines Stückchen Apfelsinenschale aus der Tasche und legte es heimlich auf die Bordschwelle des Bürgersteiges.

War es eine Art Verrücktheit oder Kinderei? Niemand achtete darauf. Aber Ganimard war ein scharfsinniger Beobachter, dem nichts entgeht und der sich nicht eher zufrieden gibt, bis er den letzten Grund der Dinge erfahren hat. Er folgte also dem Individuum.

Als nun der Mann rechts in die Avenue de la Grande Armée einbog, bemerkte der Oberinspektor, wie er mit einem etwa zwölfjährigen Gassenbuben Zeichen austauschte. Der Junge lungerte an den Häusern der linken Straßenseite herum.

Zwanzig Meter weiter bückte sich das Individuum von neuem und krempelte sich die Hosen auf. Wieder ließ er eine Apfelsinenschale fallen. In demselben Augenblick blieb auch der Junge stehen und zeichnete mit einem Stück Kreide an das Haus, an dem er gerade vorbeiging, ein weißes Kreuz in einen Kreis hinein.

Die beiden Menschen setzten dann ihren Weg fort. Eine Minute später blieben sie wieder stehen. Der Unbekannte hob eine Stecknadel auf und ließ abermals ein Stück Apfelsinenschale fallen. Sofort zeichnete der Junge an die Mauer wiederum ein Kreuz in einen weißen Kreis hinein.

Sapperlot, dachte der Oberinspektor mit vergnügtem Grunzen. Dahinter steckt doch was ... Was zum Teufel können die beiden Kunden da im Schilde führen?

Die beiden »Kunden« gingen die Avenue Friedland und das Faubourg St. Honoré entlang, ohne daß sie jetzt irgend etwas Auffälliges taten.

Dann aber begann in fast regelmäßigen Pausen die Doppelbeschäftigung von neuem und sozusagen rein automatisch. Es war jedoch ersichtlich, daß einerseits der Mann mit den Apfelsinenschalen sein Vorhaben immer erst ausführte, nachdem er ein bestimmtes Haus in Aussicht genommen hatte, und andererseits machte der Junge auf dieses Haus erst dann sein Zeichen, wenn ihm der andere einen Wink gegeben hatte.

Es bestand also ein vollständiges Einvernehmen. Das Manöver, bei dem er sie überrascht hatte, war für den Oberinspektor von nicht geringem Interesse.

Auf der Place Beau Vau zögerte der Mann ein wenig, dann aber krempelte er zweimal seine Hosen auf, um sie zweimal wieder herabzuschlagen. Nun setzte sich der Junge auf den Rand des Trottoirs gegenüber dem Soldaten, der vor dem Ministerium des Innern Wache hielt, und zeichnete auf die Steine der Bordschwelle zwei kleine Kreuze und zwei Kreise.

Oben am Elysée das gleiche. Nur malte er diesmal auf das Trottoir, wo der Beamte der Präsidentschaft auf und ab ging, drei Zeichen anstatt zwei.

»Was soll das nur bedeuten«, murmelte Ganimard. Unwillkürlich mußte er an seinen Todfeind Lupin denken, wie er jedesmal an ihn denken mußte, wenn irgend etwas Geheimnisvolles geschah ... »Was soll das nur bedeuten?«

Es fehlte nicht viel, daß er die beiden »Kunden« gepackt und vernommen hätte, aber er war doch zu schlau, um eine solche Dummheit zu begehen. Der Mann mit den Orangenschalen hatte sich jetzt übrigens eine Zigarette angezündet, und der Junge hatte sich ihm mit einem Stummel im Maule genähert und sich von ihm Feuer geben lassen.

Sie wechselten einige Worte miteinander. Plötzlich reichte der Junge seinem Begleiter einen Gegenstand, der nach der Ansicht des Inspektors aussah wie ein Revolver im Etui. Beide bückten sich über diesen Gegenstand. Sechsmal fuhr der Mann, indem er sich der Mauer zukehrte, mit der Hand nach seiner Tasche, wie wenn er darin die Waffe lud.

Danach drehten sie um und erreichten die Rue Suresnes. Der Inspektor, der auf die Gefahr, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, so dicht als irgend möglich hinter ihnen herging, sah sie in ein Haus eintreten, dessen Läden mit Ausnahme der im dritten und ersten Stock geschlossen waren.

Er eilte hinter ihnen her. Am äußersten Ende der Einfahrt bemerkte er hinten in einem großen Hof das Schild eines Stubenmalers und links das Geländer einer Treppe.

Er stieg hinauf. Schon im ersten Stock hörte er ganz oben einen Heidenlärm wie von Hammerschlägen.

Als er am letzten Treppenabsatz ankam, sah er eine offene Tür. Er trat ein und horchte einen Augenblick. Da vernahm er einen Lärm, wie wenn Leute sich prügelten. – Er eilte bis zu dem Zimmer, aus dem dieser Lärm zu kommen schien, blieb aber ganz erstaunt auf der Schwelle stehen, als er den Mann mit den Apfelsinenschalen und den Jungen sah, wie sie auf den Fußboden mit Stühlen losschlugen.

In diesem Augenblick trat eine dritte Person aus dem Nebenraum: ein junger Mensch von etwa 28 bis 30 Jahren mit kurz geschnittenen Favorits, mit Brille und einem mit Astrachan besetzten Hausrock. Er sah aus wie ein Fremder, etwa wie ein Russe.

»Guten Tag, Ganimard«, sagte er.

Dann wandte er sich an die beiden anderen:

»Ich danke euch, liebe Freunde! Vielen Dank für das erzielte Resultat. Hier ist die versprochene Belohnung.«

Er gab ihnen einen Hundertfrancsschein, schob sie hinaus und schloß hinter ihnen die beiden Türen.

»Ich bitte dich um Entschuldigung, alter Junge«, sagte er zu Ganimard. »Ich hatte mit dir zu sprechen ... dringende Angelegenheit.«

Er reichte ihm die Hand. Und da der Inspektor verblüfft und wütend dastand, rief er:

»Du scheinst nicht zu begreifen ... und dennoch ist es so klar ... Ich hatte das dringende Bedürfnis, dich zu sehen ... Du mich doch auch?«

Dann tat er so, als ob er auf eine Antwort erwiderte, die Ganimard gar nicht gegeben hatte:

»Nein doch, nein, alter Junge. Du täuschest dich. Hätte ich dir geschrieben oder telephoniert, so wärst du ja doch nicht gekommen ... oder du wärst mit einem ganzen Regiment angerückt. Nun wollte ich dich aber allein sehen, und da habe ich mir gedacht, du wirst ihm die beiden braven Leute entgegenschicken mit der Weisung, Apfelsinenschalen auszustreuen, Kreuze und Kreise zu zeichnen, kurzum bis hierher einen Weg zu markieren ... Na, was ist denn? Wie siehst du denn aus? Erkennst du mich etwa nicht? Lupin ... Arsène Lupin ... Kram' doch ein bißchen in deinem Gedächtnis. Der Name wird dir doch etwas sagen?«

»Du Hund!« knurrte Ganimard zwischen den Zähnen.

Lupin schien trostlos und fuhr sehr herzlich fort:

»Bist du böse? Doch, – ich sehe es dir an den Augen an ... Aha, wegen der Affäre Dugrival, nicht wahr? Sollte wohl warten, bis du mich verhaftet hättest. Donnerwetter, auf die Idee bin ich gar nicht gekommen! Ich schwöre dir aber, daß ich ein andermal ...«

»Canaille!« brummte Ganimard.

»– und ich glaubte dir ein Vergnügen damit zu machen. Ja, wahrhaftig, ich habe mir gesagt: ›Der gute, dicke Ganimard! – Wir haben uns lange nicht gesehen, er wird mir gewiß um den Hals fallen‹.«

Ganimard, der sich bis jetzt nicht gerührt hatte, schien aus seiner Erstarrung zu erwachen. Er schaute sich um, sah Lupin an, ob er ihm nicht tatsächlich an den Hals fahren sollte, doch dann beherrschte er sich, ergriff einen Stuhl und setzte sich, als ob er plötzlich den Entschluß gefaßt hätte, seinen Gegner ruhig anzuhören.

»Sprich,« sagte er, »und ohne Umschweife ... Ich habe es eilig.«

»Gut«, meinte Lupin. »Plaudern wir ein wenig. Unmöglich, einen ruhigeren Ort für eine gemütliche Unterhaltung zu finden. Es ist hier ein altes Palais, das dem Herzog von Rochelaur gehört, der niemals darin wohnt und daher dieses Stockwerk an mich und die übrigen Nebenräume an einen Malermeister vermietet hat. Ich bewohne noch einige andere sehr praktische Räume. Hier bin ich, trotzdem ich aussehe wie ein russischer Grandseigneur, Herr Jean Daubreuil, ein ehemaliger Minister. Du begreifst, ich habe einen etwas undurchsichtigen Beruf gewählt, um die Aufmerksamkeit nicht auf mich zu lenken.«

»Was geht denn mich das an?« unterbrach Ganimard.

»Richtig, ich schwatze, und du hast es so eilig. Entschuldige nur, es wird nicht lange dauern ... fünf Minuten ... Ich beginne ... Zigarre gefällig? Nicht. Schön, ich rauche auch nicht.«

Er setzte sich gleichfalls nieder, trommelte mit den Fingern auf dem Tisch, überlegte ein wenig und begann:

»Am 17. Oktober 1599 an einem warmen und heiteren Tage ... Du bist ja nicht bei der Sache? ... Also am 17. Oktober 1599 ... Aber braucht man denn wirklich bis auf die Regierung Heinrichs des Vierten zurückzugreifen und die Chronik des Pont-Neuf aufzuschlagen? Nein, du scheinst nicht sehr beschlagen in französischer Geschichte, und ich werde schließlich gar noch dein Hirn verwirren. Es möge dir also genügen, daß heute nacht gegen ein Uhr morgens ein Schiffer, der unter dem letzten Bogen des Pont-Neuf hindurch fuhr, irgend etwas vor sich in seine Pinasse fallen hörte, einen Gegenstand, den man oben von der Brücke heruntergeworfen hatte und der offenbar für die Tiefen der Seine bestimmt war. Sein Hund stürzte bellend darauf los, und als der Schiffer ans andere Ende seines Kahnes kam, sah er, daß das Tier im Maule ein Stück Zeitung hielt, das zum Einpacken verschiedener Gegenstände gedient hatte. Er hob die Gegenstände, die nicht ins Wasser gefallen waren, auf und sah sie sich in seiner Kabine dann näher an. Die Sache schien ihn zu interessieren, und da der Mann mit einem meiner Freunde in Verbindung steht, ließ er mich von der Sache wissen. Heute morgen weckte man mich, teilte mir die Geschichte mit und gab mir die aufgelesenen Gegenstände. Hier sind sie.«

Er legte sie alle, Stück für Stück, auf den Tisch. Da waren zunächst von einer Zeitungsnummer abgerissene Papierfetzen, dann kam ein großes gläsernes Tintenfaß, an dessen Deckel ein langes Stück Bindfaden angebunden war; ferner ein kleiner Glasscherben, dann ein Stück Pappe, das zu einem Knäuel geballt war, und schließlich ein Fetzen scharlachroter Seide, an dessen Ende eine Quaste aus demselben Stoff und von derselben Farbe hing.

»Da hast du unsere Beweisstücke, lieber Freund«, sagte Lupin. »Sicher wäre das zu lösende Problem leichter, wenn wir auch die anderen Gegenstände hätten, die der Dummkopf verschmissen hat. Immerhin scheint mir, daß man mit ein wenig Nachdenken und Intelligenz ... und das sind ja deine Haupttugenden ... Was meinst du?«

Ganimard zuckte nicht mit der Wimper. Er ließ sich das Geschwätz Lupins gefallen, aber seine Würde verbot ihm, irgendein Wort darauf zu erwidern oder auch nur eine Bewegung mit dem Kopf zu machen, die eine Billigung oder Mißbilligung verraten hätte.

»Ich sehe zu meiner großen Freude, daß wir einer Meinung sind«, fuhr Lupin fort, scheinbar ohne das Schweigen des Oberinspektors zu bemerken:

»Ich fasse also die Affäre, wie sie diese Beweisstücke erzählen, kurz folgendermaßen zusammen:

Gestern abend zwischen neun Uhr und Mitternacht wurde ein Fräulein von exzentrischem Äußeren durch Messerstiche verwundet und dann erwürgt. Als Täter kommt ein gutgekleideter, Monokel tragender und offenbar der Turfwelt angehörender Herr in Betracht, mit dem besagtes Fräulein gerade drei Sahnenbaisers und eine Apfeltorte im Café gegessen hatte. –

Na, was passt dir denn nicht, Oberinspektor? ... Bildest dir wohl ein, daß auf dem Gebiete politischer Ermittlungen ähnliche Bravourstücke dem Laien verboten sind? Irrtum, mein Herr; Lupin jongliert mit solchen Ermittlungen wie ein Roman-Detektiv. Meine Beweisstücke? Blendend und kindisch zugleich ... nicht?«

Und, indem er die einzelnen Gegenstände je nach Maßgabe seiner Beweisführung berührte, fuhr er fort:

» Also: Gestern abend nach neun Uhr (dieses Stück Zeitung trägt das Datum von gestern und die Aufschrift ›Abendblatt‹. Außerdem kannst du hier, an die Zeitung geklebt, ein Stückchen von dem gelben Kreuzband sehen, unter dem man den Abonnenten ihre Nummern ins Haus sendet; die Ausgabe pflegt erst mit der Neunuhrpost einzutreffen). Also nach neun Uhr, ein gutgekleideter Herr (beachte gefälligst, daß dieser kleine Glasscherben am Rande das runde Loch eines Monokels aufweist und daß das Monokel ein wesentlich aristokratischer Gebrauchsgegenstand ist) ... Also:

Ein gutgekleideter Herr trat in eine Kuchenbäckerei (hier der kleine tellerförmige Karton, auf dem man noch einen Rest von der Schlagsahne der Baisers und der Apfeltorte sieht, die man da hinein packte). Mit diesem Paketchen in der Hand traf der Herr mit dem Monokel eine junge Person, deren rotseidene Schärpe hier wohl zur Genüge beweist, daß sie von exzentrischem Äußeren war. Nachdem er sie getroffen hatte, versetzte er ihr aus noch unbekannten Gründen zunächst Messerstiche, dann erdrosselte er sie mit Hilfe dieser seidenen Schärpe. (Nimm deine Lupe, Oberinspektor, du wirst auf der Seide dunkelrote Flecke bemerken, die an dieser Stelle von dem Abwischen eines Messers und an jener Stelle dort von einer blutigen Hand herrühren, die sich um einen Stoff krampft). Nach verübtem Verbrechen zieht er, um keine Spur zu hinterlassen, aus seiner Tasche erstens diese Zeitung, auf die er abonniert ist und die (bitte, wirf einen Blick auf das Stück Papier) ein Turf-Journal ist, dessen Namen man ja leicht wird erfahren können; sodann zieht er eine Schnur heraus, die eine Peitschenschnur ist (und diese beiden Einzelheiten beweisen dir wohl zur Genüge, daß unser Mann sich für Pferderennen interessiert und sich selbst mit Pferden abgibt). Darauf liest er die Scherben seines Monokels auf, dessen Schnur während des Kampfes zerriß. Er schneidet mit der Schere (sieh dir gefälligst die Scharten der Schere an ...) schneidet mit der Schere den blutbefleckten Teil der Schärpe ab und läßt den anderen vermutlich in den verkrampften Händen seines Opfers zurück. Er ballt dann den Pappteller des Kuchenbäckers zu einer Kugel zusammen. Er legt auch gewisse Gegenstände, die zum Verräter an ihm werden können, ab. Diese sind vermutlich wie das Messer in die Seine geworfen worden. Das alles zusammen packt er in die Zeitung, bindet, um das Paket schwer zu machen, dieses kristallene Tintenfaß hier daran. Dann sucht er das Weite. Bald darauf fällt das Paket in den Kahn des Schiffers. Da hast du die ganze Geschichte! Gott, die Erzählung hat mich förmlich heiß gemacht! Was sagst du zu der Sache?«

Er beobachtete Ganimard, um zu sehen, welchen Eindruck seine Worte auf den Inspektor gemacht hatten. Ganimard blieb stumm wie ein Fisch.

Lupin begann zu lachen:

»Das geht dir wohl auf die Nerven? Oder mißtraust du mir etwa? Sagst du dir vielleicht: Warum übergibt mir dieser Teufelskerl, der Lupin, diese Sache, anstatt sie für sich zu behalten, sich hinter dem Mörder herzumachen und ihn, falls er etwas gestohlen hat, zu berauben? So eine Frage wäre durchaus logisch ... aber ... es ist nämlich ein ›Aber‹ dabei ... Ich habe keine Zeit. Ich habe alle Hände voll zu tun. Einen Hoteldiebstahl in London, einen zweiten in Lausanne, eine Kindesunterschiebung in Marseille, die Rettung eines jungen Mädchens, auf das der Tod lauert, all das muß ich schnellstens erledigen. Da habe ich mir denn gesagt: Wenn ich die Sache dem guten Ganimard übergäbe? Jetzt, wo sie bereits halb klar ist, wäre der fähig, sie ganz zu entwirren ... Und was für einen Dienst ich ihm damit leiste! Er wird sich auszeichnen können! Gesagt, getan. Heute früh um acht schickte ich dir den Kerl mit den Apfelsinenschalen entgegen. Du hast auf den Köder angebissen und kamst um neun Uhr eiligst herbei.«

Lupin hatte sich erhoben. Er beugte sich ein wenig zu dem Inspektor hinüber, sah ihm fest in die Augen und sagte:

»Wahrscheinlich wirst du bald das Opfer kennen ... irgendeine Ballettänzerin oder eine Café-Konzertsängerin. Außerdem ist es wahrscheinlich, daß der Täter in der Umgebung des Pont-Neuf wohnt, und zwar auf dem linken Ufer. Hier endlich hast du alle Beweisstücke. Ich schenke sie dir. Mach' dich an die Arbeit. Ich behalte nur dieses Stückchen Schärpe. Falls du später die Schärpe zusammensetzen willst, so bring' mir das andere Ende, das die Justiz ja wahrscheinlich am Halse des Opfers finden wird. Bring' es mir in einem Monat; bis zum 28. Dezember bin ich täglich hier um zehn Uhr zu sprechen; da wirst du mich sicher finden; hab' keine Angst: das alles ist mein Ernst, lieber Freund; ich schwöre es dir. Kein Witz: kannst dich ruhig an die Arbeit machen. Ah, übrigens noch eine wichtige Einzelheit. Wenn du den Kerl mit dem Monokel verhaftest, so pass' auf! Er ist linkshändig. Leb' wohl, mein Lieber, und viel Glück!«

Lupin machte eine Bewegung, erreichte die Tür, öffnete sie und verschwand, bevor Ganimard einen Entschluß fassen konnte. Mit einem Satz wollte der Inspektor hinter ihm her, aber er bemerkte sofort, daß sich die Türklinke infolge eines ihm unbekannten Mechanismus nicht mehr bewegte. Er brauchte zehn Minuten, um das Schloß loszuschrauben, weitere zehn, um das im Nebenzimmer aufzubrechen. Als Ganimard die drei Treppen herunterraste, hatte er nicht mehr die geringste Hoffnung, Arsène Lupin einzuholen.

Er dachte auch nicht daran. Lupin flößte ihm ein seltsames Gefühl ein: Furcht, Wut und zugleich unwillkürlich auch Bewunderung. Außerdem hatte Ganimard die dunkle Empfindung, daß er trotz aller Anstrengung, trotz der hartnäckigsten Nachforschungen mit diesem Gegner niemals fertig werden würde. Er verfolgte ihn wohl aus Pflichtgefühl und Eigenliebe, hatte aber dabei die beständige Angst, von diesem fürchterlichen Spaßvogel genarrt und vor einem immer zum Lachen bereiten Publikum blamiert zu werden.

Besonders diese Geschichte von der roten Schärpe schien ihm recht zweideutig. Gewiß war sie in mehr als einer Beziehung interessant, doch höchst unglaubwürdig. Trotz aller scheinbar so logischen Erklärungen Lupins hielt sie einer ernsthaften Prüfung nicht stand.

»Nein«, sagte sich Ganimard. »All das ist Unsinn ... ein Haufen Vermutungen und Annahmen, die auf keiner realen Basis beruhen. Ich falle darauf nicht herein.«

Als er am Hause 36 Quai des Orfèvres ankam, war er fest entschlossen, dem Vorfall keinerlei Bedeutung mehr beizumessen.

Er ging zur Kriminalpolizei. Da sagte einer seiner Kollegen zu ihm:

»Warst du schon beim Chef?«

»Nein.«

»Er fragte eben nach dir.«

»Ah?«

»Jaja, geh nur zu ihm.«

»Wo?«

»Rue de Berne; heute nacht ist ein Mord geschehen.«

»Ah! Und das Opfer?«

»Ich weiß nicht genau ... eine Varietésängerin, glaube ich.«

»Donnerwetter!« murmelte Ganimard.

Zwanzig Minuten später stieg er aus der Untergrundbahn und begab sich nach der Rue de Berne.

Das in der Theaterwelt unter dem Spitznamen Jenny Saphir bekannte Opfer bewohnte ein in der zweiten Etage belegenes bescheidenes Quartier. Von einem Polizeiagenten dorthin geführt, durchschritt der Oberinspektor zunächst zwei Räume und ging dann in ein Zimmer, wo sich bereits die mit der Untersuchung beschäftigten Beamten befanden, außerdem der Chef der Kriminalpolizei Dudouis und ein Gerichtsarzt.

Beim ersten Bück in den Raum erbebte Ganimard. Er hatte auf einem Divan die Leiche einer jungen Frau bemerkt, deren Hände krampfhaft ein Stück rote Seide festhielten. Die nackten Schultern zeigten zwei Wunden, um die herum das Blut geronnen war; auf dem verzerrten, fast schwarzen Gesicht lag der Ausdruck des Schreckens.

Der Gerichtsarzt hatte soeben seine Untersuchung beendet und sagte:

»Meine ersten Feststellungen sind sehr einfach. Das Opfer erhielt zuerst zwei Dolchstiche und wurde dann erwürgt. Der Erstickungstod ist offenkundig.«

»Donnerwetter!« dachte Ganimard, der sich der Worte Lupins und seiner Darstellung des Verbrechens erinnerte.

Der Untersuchungsrichter warf ein: »Ja, ich bemerke aber keine Würgemale.«

»Die Erdrosselung«, erklärte der Arzt, »hat mit Hilfe dieser Seidenschärpe stattfinden können, die das Opfer trug und von der ein Stück in seinen Händen verblieben ist.«

»Warum aber«, sagte der Untersuchungsrichter, »blieb nur dieses Stück übrig? Was ist denn aus dem anderen geworden? ...«

»Das andere, mit Blut befleckte, wird vielleicht der Mörder mitgenommen haben. Man unterscheidet genau, wie er mit der Schere eilig daran herumgeschnitten hat.«

»Donnerwetter!« murmelte Ganimard. »Lupin, dieser Kerl, hat das alles gesehen, ohne dabeizusein!«

»Und das Motiv des Verbrechens?« fragte der Richter. »Die Schlösser sind erbrochen, die Schränke durchsucht worden. Haben Sie darüber irgendeine Ansicht, Herr Dudouis?«

Der Chef der Kriminalpolizei erwiderte:

»Ich kann höchstens eine Vermutung äußern, die auf den Bekundungen der Bedienungsfrau beruht. Das Opfer, das ein mäßiges Talent zum Singen hatte, aber wegen seiner Schönheit bekannt war, hat vor zwei Jahren eine Reise nach Rußland unternommen; sie kam mit einem prächtigen Saphir zurück, den ihr, scheint es, irgendeine Person vom Hofe geschenkt hat. Jenny Saphir, wie man sie seitdem nannte, war sehr stolz auf das Geschenk, trug es aber aus Vorsicht nicht. Sollte man da nicht auf die Vermutung kommen, daß der Saphir der Anlaß des Verbrechens war?«

»Kannte die Bedienungsfrau den Ort, wo der Stein aufbewahrt wurde?«

»Nein, niemand kannte ihn, und die Unordnung in diesem Zimmer scheint zu beweisen, daß der Mörder ihn ebenfalls nicht kannte.«

»Wir werden die Bedienungsfrau befragen«, sagte der Untersuchungsrichter.

Dudouis nahm den Oberinspektor beiseite und sagte: »Sie sehen so merkwürdig aus, Ganimard; was ist Ihnen? Haben Sie irgendeinen Verdacht?«

»Absolut keinen, Herr Dudouis.«

»Um so schlimmer. Die Kriminalpolizei muß etwas Außerordentliches tun; denn es sind schon eine ganze Reihe solcher Verbrechen vorgekommen, ohne daß man den Täter entdecken konnte. Diesmal müssen wir den Schuldigen finden, und zwar eiligst.«

»Schwierig, Herr Dudouis.«

»Es muß sein! Hören Sie zu, Ganimard. Nach den Aussagen der Bedienungsfrau empfing Jenny Saphir, die ein sehr regelmäßiges Leben führte, seit einem Monat oft nach der Heimkehr vom Theater, also gegen halb elf Uhr, den Besuch eines Individuums, das ungefähr bis Mitternacht bei ihr blieb. Das ist ein Herr aus der Gesellschaft gewesen; Jenny Saphir soll behauptet haben, ›er will mich heiraten‹. Dieser Mann aus der Gesellschaft nun ging mit der größten Vorsicht zu Werke, um nicht erkannt zu werden. Er schlug seinen Rockkragen hoch und bog die Hutkrempe herunter, wenn er an der Portierloge vorbeikam, und Jenny Saphir schickte vor seinem Besuche die Bedienungsfrau fort. Dieses Individuum muß man finden.«

»Hat er keine Spur hinterlassen?«

»Keine. Offenbar haben wir es mit einem schweren Jungen zu tun, der das Verbrechen sorgfältig vorbereitet und mit der größten Aussicht auf Erfolg ausgeführt hat. Seine Verhaftung wird uns viel Ehre machen, ich zähle auf Sie, Ganimard.«

»Ah, Sie zählen auf mich, Herr Dudouis«, antwortete der Inspektor. »Na, wollen sehen, ich sage nicht nein ... aber ...«

Er schien sehr nervös, und seine Erregung fiel Dudouis auf.

»Aber«, fuhr Ganimard fort, »ich schwöre Ihnen ...«

»Was schwören Sie mir?«

»Nichts ... Wir werden sehen ...«

Draußen erst sprach Ganimard den Satz zu Ende, und zwar ganz laut, indem er in zorniger Erregung mit dem Fuß aufstampfte.

»Ich schwöre bei Gott, daß ich die Verhaftung aus eigenen Kräften vornehmen werde, ohne von einem der Winke Gebrauch zu machen, die mir der Elende gegeben hat.«

Ganimard verwünschte Lupin, der ihm diese Affäre aufgehalst hatte. Dennoch war er entschlossen, sie zu gutem Ende zu führen. Aufs Geratewohl ging er die Straße entlang. Er suchte ein wenig Ordnung in sein wirres Hirn zu bringen. Wenn er doch nur eine ganz kleine, von allen unbemerkte und auch Lupin unbekannte Einzelheit finden könnte, die ihm zum Erfolge verhelfen würde!

In Eile frühstückte er eine Kleinigkeit bei einem Weinhändler. Dann ging er weiter. Auf einmal blieb er erstaunt stehen. Er stand am Eingang des Hauses der Rue de Suresnes, wohin Lupin ihn vor einigen Stunden gelockt hatte. Eine Gewalt, die mächtiger war als sein Wille, hatte ihn von neuem dahin geführt. Dort war auch das Rätsel zu lösen. Dort befanden sich alle Elemente der Wahrheit. Was er auch tat, Lupins Mitteilungen waren so genau, seine Berechnungen so richtig, daß er sich vor Erstaunen über solche Divinationsgabe gar nicht fassen konnte. Kein Zweifel – er mußte die Arbeit an der Stelle fortsetzen, wo sein Feind sie unvollendet abgebrochen hatte. Er sträubte sich nicht mehr, er stieg die drei Treppen hinauf. Die Wohnung war geöffnet, niemand hatte die Beweisstücke berührt. Er steckte sie in die Tasche.

Von nun an dachte und handelte er sozusagen rein automatisch unter dem Druck des Meisters, dem er gehorchen mußte, ob er wollte oder nicht.

Wenn man annahm, daß der Unbekannte in der Gegend des Pont-Neuf wohnte, so mußte man auf dem Wege von der Brücke bis zur Rue de Berne den wichtigen Laden finden, wo der Kuchen gekauft worden war. Seine Nachforschungen dauerten nicht lange. Am Bahnhof St. Lazare zeigte ihm ein Kuchenbäcker kleine Kartonschächtelchen, die nach Form und Inhalt mit dem Pappstück identisch waren, welches Ganimard besaß. Außerdem erinnerte sich eine der Verkäuferinnen, am Abend des Vortages einen Herrn mit aufgeschlagenem Pelzkragen gesehen zu haben, der ein Monokel trug.

»Aha, ein erstes Anzeichen!« dachte der Inspektor.

Dann setzte er die Stücke des Rennjournales zusammen und zeigte sie einem Zeitungshändler, der mit Leichtigkeit den » Illustrierten Turf« erkannte.

Ganimard begab sich sofort in die Expedition des » Turf« und ließ sich die Abonnentenliste vorlegen. Nach dieser Liste schrieb er die Namen und die Adressen aller Abonnenten auf, die in der Gegend des Pont-Neuf wohnten, und besonders der am linken Ufer wohnenden, auf die Lupin hingewiesen hatte.

Dann kehrte er zur Kriminalpolizei zurück, nahm sich ein halbes Dutzend Mann und erteilte ihnen die nötigen Anweisungen.

Um sieben Uhr abends kam der letzte dieser Leute zu ihm und brachte ihm eine gute Nachricht. Ein Herr Prevailles, Abonnent des »Turf«, wohnte in einem Zwischenstock am Augustiner-Quai. Am vorigen Abend ging er, mit einem Pelz bekleidet, von Hause weg, nahm aus den Händen des Portiers seine Korrespondenz und den »Illustrierten Turf« entgegen, entfernte sich dann und kehrte um Mitternacht heim. Dieser Prevailles trug ein Monokel. Er war ein Besucher der Rennplätze und besaß außerdem mehrere Pferde, die er ritt oder vermietete. Die Nachforschung war so schnell vonstatten gegangen, und ihre Resultate stimmten so genau mit den Voraussagungen Lupins überein, daß Ganimard, als er den Rapport des Agenten hörte, wie vom Donner gerührt war. Wieder einmal konnte er ermessen, über welche wunderbaren Hilfsmittel Lupin verfügte. Niemals in seinem Leben hatte er einen solchen Scharfblick gefunden. Er ging zu Dudouis.

»Alles ist vorbereitet, Herr Dudouis. Haben Sie einen Auftrag? Ich melde, daß alles zur Verhaftung vorbereitet ist.«

»Sie wissen also, wer der Mörder Jenny Saphirs ist?«

»Ja!«

»Aber wie denn, erklären Sie sich.«

Ganimard hatte einige Bedenken; er errötete ein wenig und sagte:

»Ein Zufall, Herr Dudouis. Der Mörder hat alles, was ihn belasten konnte, in die Seine geworfen. Ein Teil des Paketes wurde aufgefischt und mir übergeben.«

»Von wem?«

»Von einem Schiffer, der mir seinen Namen nicht hat sagen wollen, weil er sich fürchtet. Aber ich hatte die nötigen Fingerzeige, meine Aufgabe war leicht.« Der Inspektor erzählte nun, wie er vorgegangen war.

»Und das nennen Sie einen Zufall«, rief Dudouis. »Sie sagen, daß Ihre Aufgabe leicht war! Aber das ist ja eine Ihrer schönsten Taten. Führen Sie die Sache nur selbst zu Ende, lieber Ganimard, aber seien Sie vorsichtig.«

Ganimard hatte allen Grund, damit so rasch als möglich zu Ende zu kommen. Er begab sich nach dem Quai des Augustins mit seinen Leuten, die er rings um das Haus verteilte. Als man die Haushälterin ausfragte, erklärte diese, daß ihr Mieter seine Mahlzeiten außer dem Hause einnehme, daß er aber nach Tisch regelmäßig heimkehre. Ein wenig vor neun Uhr machte die Frau tatsächlich Ganimard durchs Fenster auf ihn aufmerksam, und dieser ließ alsbald einen leisen Pfiff ertönen. Ein Herr mit hohem Hut und mit aufgeschlagenem Pelzkragen ging den Bürgersteig an der Seine entlang. Er überquerte den Fahrdamm und wandte sich dem Hause zu.

Ganimard ging ihm entgegen.

»Sind Sie Herr Prevailles?«

»Ja, und Sie?«

»Ich habe den Auftrag ...«

Er hatte nicht Zeit, seinen Satz zu beenden. Beim Anblick der Mannschaften, die aus dem Schatten auftauchten, war Prevailles bis an die Mauer zurückgewichen; er sah seinen Gegnern ins Gesicht und lehnte sich an die Tür eines im Erdgeschoß gelegenen Geschäftes, dessen Läden geschlossen waren.

»Zurück,« schrie er, »ich kenne Sie nicht.«

In seiner Rechten schwang er einen schweren Stock, während er mit der Linken hinter seinem Rücken den Versuch zu machen schien, die Tür zu öffnen.

Ganimard kam es vor, als ob er dort durch einen geheimen Ausgang ausweichen wollte.

»Los, los, keine Faxen«, sagte Ganimard und näherte sich ihm ... »Man hat dich! Ergib dich!« Aber in demselben Augenblick, wo er nach Prevailles Stock faßte, erinnerte sich Ganimard des Winkes, den ihm Lupin gegeben hatte. Prevailles war linkshändig, und was er mit der linken Hand suchte, war gewiß ein Revolver.

Der Inspektor bückte sich eiligst. Er hatte die plötzliche Bewegung des Individuums wohl bemerkt. Zwei Schüsse ertönten, niemand war verwundet.

Einige Sekunden später bekam Prevailles einen Faustschlag unters Kinn, der ihn auf der Stelle niederstreckte. Um neun Uhr lieferte man ihn ins Gefängnis ein.

 

Um jene Zeit genoß Ganimard bereits ein großes Ansehen. Dieser so schnell und mit so einfachen Mitteln ausgeführte Fang, den die Polizei natürlich schleunigst in der Öffentlichkeit verbreitete, trug ihm eine plötzliche Berühmtheit ein. Man vermutete alsbald in Prevailles den Täter aller jener bis jetzt unbestraft gebliebenen Verbrechen. Die Zeitungen hoben Ganimards Geschicklichkeit in den Himmel. Die Untersuchung nahm einen schnellen Fortgang. Zunächst stellte man fest, daß Prevailles unter seinem wahren Namen Thomas Déroque schon oft mit der Polizei zu tun gehabt hatte. Außerdem förderte die Haussuchung bei ihm, wenn auch nicht gerade neue Beweise, so doch immerhin die Entdeckung eines Knäuels Schnur zutage, die der Schnur ähnelte, welche zum Verschnüren des Paketes gedient hatte. Außerdem fand man Dolche bei ihm, die ähnliche Verwundungen verursachen mußten wie die des Opfers.

Doch am achten Tage bekam alles wieder ein anderes Aussehen. Prevailles, der bislang jede Auskunft verweigert hatte, wies mit Hilfe seines Rechtsbeistandes ein einwandfreies Alibi nach. Am Abend des Verbrechens war er in den »Folies Bergères« gewesen. Man fand auch tatsächlich in der Tasche seines Smokings den Koupon eines Fauteuilbilletts und ein Theaterprogramm. Beides trug das Datum jenes Abends.

»Vorbereitetes Alibi«, meinte der Untersuchungsrichter.

»Beweisen«, antwortete Prevailles. Es fanden Gegenüberstellungen statt. Das Fräulein aus der Kuchenbäckerei glaubte den Herrn mit dem Monokel wiederzuerkennen. Der Portier von der Rue de Berne glaubte den Herrn wiederzuerkennen, der bei Jenny Saphir Besuche machte. Bestimmtes aber wagte niemand zu behaupten.

So lieferte die Untersuchung keine zuverlässigen Tatsachen, keine solide Basis, auf der man eine ernste Anklage hätte aufbauen können.

Der Untersuchungsrichter ließ Ganimard kommen und gestand ihm seine Verlegenheit.

»Es ist mir unmöglich, die Anklage länger aufrecht zu halten. Es fehlt an Belastungsmomenten.«

»Sie sind doch aber selbst von seiner Schuld überzeugt, Herr Untersuchungsrichter! Prevailles würde sich ja auch ruhig haben verhaften lassen, wenn er nicht schuldig gewesen wäre.«

»Er behauptet, er habe einen Überfall vermutet. Ebenso behauptet er, Jenny Saphir nie gesehen zu haben, und wir können auch tatsächlich niemanden finden, der ihm das Gegenteil bewiese. Und wenn man selbst annehmen wollte, daß er den Saphir gestohlen habe; wir haben den Stein doch bei ihm nicht finden können.«

»Aber anderswo auch nicht«, warf Ganimard ein.

»Richtig, doch das ist keine Belastung für ihn. Wissen Sie, was wir brauchten, Herr Ganimard? Den anderen Teil der roten Schärpe. Jawohl, den anderen Teil. Denn es ist klar, daß, wenn ihn der Mörder mitgenommen hat, er dies tat, weil seine blutigen Fingerabdrücke sich auf dem Stoff befanden.«

Ganimard antwortete nicht. Seit mehreren Tagen fühlte er wohl, daß die ganze Angelegenheit nur nach dieser Richtung hin gelöst werden könnte. Ein anderer Beweis war nicht möglich. Mit der Seidenschärpe, und nur mit dieser, war Prevailles zu überführen. Nun verlangte auch die Lage Ganimards diesen Schuldbeweis. Für die Verhandlung verantwortlich, durch sie berühmt geworden, als furchtbarster Gegner dieses Übeltäters gepriesen, wurde er geradezu lächerlich, falls man Prevailles wieder freilassen müßte.

Unglücklicherweise befand sich dieser einzige, untrügliche Beweis in Lupins Tasche. Wie sollte man ihn da herholen?

Ganimard suchte, er dachte über neue Wege nach, ging das gesamte Beweismaterial durch, verbrachte ganze Nächte damit, das Geheimnis der Rue de Berne zu durchforschen, ließ Prevailles Vergangenheit Revue passieren und machte zehn Kriminalbeamte mobil, um den unsichtbaren Saphir zu entdecken. Alles vergeblich.

Am 27. Dezember ließ der Untersuchungsrichter ihn in den Justizpalast kommen.

»Na, Herr Ganimard, etwas Neues?«

»Nein, Herr Untersuchungsrichter.«

»Dann muß ich die Untersuchung einstellen.«

»Warten Sie noch einen Tag.«

»Wozu? – Wir brauchen den anderen Teil der Schärpe, haben Sie ihn?«

»Ich werde ihn morgen haben.«

»Morgen?«

»Ja, aber geben Sie mir den Teil der Schärpe, den Sie in Händen haben.«

»Was wollen Sie damit?«

»Damit, das verspreche ich Ihnen, bringe ich Ihnen die ganze Schärpe!«

»Einverstanden.«

Ganimard trat in das Büro des Richters. Er verließ es mit dem Seidenfetzen.

»Teufel noch eins,« murmelte er, »ich muß den Beweis haben, und ich werde ihn haben ... ob aber Lupin zum Stelldichein erscheinen wird!«

Im Grunde genommen zweifelte er nicht daran, daß Lupin so kühn sein würde. Das aber gerade regte ihn auf. Warum sollte Lupin sich durchaus mit ihm treffen? Welche Absicht verfolgte er damit?

Voller Unruhe und Wut beschloß er, alle Vorsichtsmaßregeln zu treffen, nicht nur, um in keinen Hinterhalt zu geraten, sondern auch um ja keine Gelegenheit zu verpassen, seinen Feind in eine Falle zu locken. Am folgenden Morgen, am 28. Dezember, dem von Lupin festgesetzten Tage, beobachtete er die ganze Nacht das alte Hotel in der Rue Suresnes; er überzeugte sich, daß es keinen anderen Ausgang als den durch die große Tür hatte. Dann informierte er seine Leute, daß er eine gefährliche Expedition vorhabe, und bald war er mit ihnen an Ort und Stelle.

Er postierte sie in einem Café. Sie hatten genaue Weisung:

Wenn er an einem der Fenster des dritten Stockes sich zeigte oder nach einer Stunde nicht zurückkehrte, so sollten die Beamten in das Haus eindringen und jeden verhaften, der versuchen würde, es zu verlassen. Der Oberinspektor vergewisserte sich, daß sein Revolver in Ordnung war und daß er jederzeit davon Gebrauch machen konnte. Dann ging er die Treppe hinauf. Er war ziemlich überrascht, daß die Dinge noch in dem Zustand waren, in dem er sie verlassen hatte. Die Türen standen noch immer offen. Die Schlösser waren erbrochen. Nachdem er festgestellt hatte, daß die Fenster des Hauptzimmers auf die Straße gingen, durchsuchte er die anderen drei Räume der Wohnung. Es war niemand darin.

»Lupin hat Furcht gehabt«, murmelte er mit einer gewissen Genugtuung.

»Du bist ja dumm«, sagte jemand hinter ihm.

Er drehte sich um und sah auf der Schwelle einen alten Arbeiter in blauem Malerkittel.

»Suche nicht«, sagte der Mann. »Ich bin's, Lupin. Ich arbeite seit heute morgen bei dem Malermeister hier im Hause. Augenblicklich ist Mittagsstunde. Da bin ich halt heraufgekommen.«

Freudig lächelnd sah er Ganimard an und fuhr dann fort:

»Wahrhaftig, eine kostbare Minute, mein Lieber. Nicht für zehn Jahre meines Lebens gäbe ich sie her! Was hältst du von dem Tausendkünstler? Habe ich das nicht fein gemacht? Nicht alles von A bis Z vorausgesehen? Und du hast hoffentlich jetzt begriffen? Ich habe dich doch in das Geheimnis der Schärpe eingeweiht? Ich behaupte ja nicht, daß meine Beweisführung kein Loch hätte ... aber was für ein Meisterwerk der Intelligenz! Wie habe ich die Sache aufgebaut, Ganimard? Wie habe ich alles vorausgesehen, was passiert ist ... und was noch kommen würde. Seit der Aufdeckung des Verbrechens bis auf den heutigen Tag. Du suchst nun nach dem Schlußglied der Beweiskette. Hast du die Schärpe?«

»Die Hälfte ja, die andere hast du.«

»Hier ist sie. Vergleichen wir.«

Sie breiteten die beiden Seidenstücke auf dem Tisch aus. Die beiden Teile paßten genau zueinander. Außerdem stimmte auch die Farbe überein. »Ich vermute«, sagte Lupin, »daß du nicht deswegen allein gekommen bist. Du möchtest auch gern die Blutspuren sehen? Komm mit, Ganimard, hier ist es nicht hell genug.«

Sie gingen in das Nebenzimmer, das nach dem Hof zu gelegen und tatsächlich besser beleuchtet war. Lupin hielt seinen Stoff an die Fensterscheibe.

»Sieh hier«, sagte er und räumte Ganimard seinen Platz ein. Der Inspektor zitterte vor Freude. Man sah deutlich die Spuren von fünf Fingern und den Abdruck der Handfläche. Der Beweis war untrüglich. Mit der blutigen Hand, mit der Hand, die Jenny Saphir verwundet hatte, hatte der Mörder den Stoff angefaßt und die Schärpe um ihren Hals geschlungen.

»Und zwar ist es der Abdruck einer linken Hand«, stellte Lupin fest ... »Daher mein Wink, der, wie du siehst, nichts Wunderbares an sich hat. Denn, wenn ich auch annehme, daß du mich als einen überlegenen Kopf ansiehst, mein Lieber, so will ich doch nicht, daß du mich für einen Hexenmeister hältst.«

Ganimard hatte schnell das Stück Seide in die Tasche gesteckt. Lupin war damit zufrieden.

»Natürlich, lieber Dicker, das ist für dich. Es macht mir solches Vergnügen, dir ein Vergnügen zu bereiten, und du siehst nun wohl: bei all dem keine Falle ... Kleine Gefälligkeit von Kamerad zu Kamerad, von Kumpan zu Kumpan ... Ein bißchen Neugierde, das gebe ich zu, war auch dabei ... Ja, ich wollte mir mal das andere Seidenstück ansehen ... das der Polizei ... Habe keine Angst, ich gebe es dir wieder ... einen Augenblick nur.«

Und während Ganimard ihm zuhören mußte, ob er wollte oder nicht, spielte er nachlässig mit der Quaste, in die die eine Schärpenhälfte endete:

»Wie kunstvoll solche kleinen Frauen arbeiten. Jenny Saphir war sehr geschickt und fertigte ihre Hüte und Kleider selbst. Sonnenklar, daß sie auch diese Schärpe gemacht hat ... ich hatte das übrigens gleich am ersten Tage bemerkt ... Neugierig von Natur, wie ich nun einmal bin und wie ich es dir zu sagen bereits die Ehre hatte, sah ich mir das Stück Seide, das du einsteckst, genau an. Da entdeckte ich im Innern der Quaste ein kleines Heiligenbildchen, das das arme Mädel da als Talisman hineingesteckt hatte. Rührender Zug! nicht wahr, Ganimard. Ein kleines Medaillon mit der heiligen Jungfrau.«

Der Inspektor ließ ihn nicht aus den Augen. Lupin fuhr fort:

»Da habe ich mir dann gesagt, es müßte doch sehr interessant sein, einmal sich auch die andere Hälfte der Schärpe anzusehen, die die Polizei am Halse des Opfers finden würde, denn diese andere Hälfte, die ich nun endlich habe, endet ebenfalls in einer Quaste ... So werde ich denn endlich wissen, ob sie auch so ein Versteck hat und was darin ist ... Sieh doch, lieber Freund, wie gescheit das gemacht ist und so einfach. Man nimmt einfach eine Strähne roter Seide und wickelt sie um einen hohlen Olivenkern herum, indem man in der Mitte einen kleinen Raum läßt, gerade groß genug, um ein Heiligenbildchen hinein zu tun ... oder etwas ganz anderes. Zum Beispiel einen Schmuckgegenstand, einen Saphir!«

In diesem Moment schob er die Seidenfäden beiseite und nahm aus der Höhlung eines Olivenkernes mit Daumen und Zeigefinger einen wunderbaren blauen Stein heraus, der ein Wunder an Schliff und Reinheit war.

»Na, was habe ich gesagt, lieber Freund?«

Er hob den Kopf. Der Inspektor, totenbleich, stand sprachlos vor dem schimmernden Stein. Jetzt erst begriff er Lupins Durchtriebenheit.

Die beiden Männer standen einander gegenüber.

»Gib mir das wieder«, sagte der Inspektor.

Lupin reichte ihm das Stück Stoff.

»Den Saphir auch«, befahl Ganimard.

»Bist wohl blöd!«

»Gibst du ihn wieder ... oder ...«

»Oder was ... Dummkopf«, rief Lupin. »Ja, glaubst du denn, daß ich dir das Abenteuer für nichts und wieder nichts in die Hände gespielt habe!«

»Gibst du's mir wieder!«

»Da bist du aber schief gewickelt. Vier Wochen lang lasse ich dich nun nach meiner Pfeife tanzen ... begreife doch endlich, Ganimard, daß du seit vier Wochen nur mein Pudel bist ... Ganimard apport ... bring' her ... Hahahaha! der gute Wau-Wau! Mach' schön! ... Stückchen Zucker? ...«

Ganimard verbiß sich seinen Zorn. Er hatte nur eins im Sinn: die Beamten herbeizurufen. Da der Raum, worin er sich befand, nach dem Hofe hinausging, so versuchte er sich allmählich bis zur Verbindungstür hinzuschleichen.

Dann wollte er plötzlich ans Fenster eilen und eine der Scheiben zerbrechen.

»Was willst du denn eigentlich noch? Du und deine Leute?« sagte Lupin. »Seitdem ihr den Stoff in Händen habt, ist nicht einer von euch auf die Idee gekommen, ihn zu befühlen, keiner hat sich die Frage vorgelegt, warum sich das arme Mädel so an seine Schärpe klammerte. Ihr handelt eben ins Blaue hinein, ohne Überlegung, ohne Voraussicht!«

Der Inspektor hatte sein Ziel erreicht. Er benutzte den Augenblick, wo Lupin sich ein wenig von ihm entfernte, machte plötzlich einen Satz und ergriff die Türklinke. Doch ein Fluch kam von seinen Lippen. Die Klinke bewegte sich nicht. Lupin lachte laut auf.

»Nicht mal das, nicht mal das hattest du vorausgesehen! Du stellst mir eine Falle und denkst dabei nicht, daß ich Lunte riechen könnte. Du läßt dich von mir in dieses Zimmer führen, ohne dir zu sagen, daß ich es absichtlich tun könnte, daß die Schlösser ihre besonderen Vorrichtungen haben könnten. Nun, offen gestanden, was sagst du nun dazu?«

»Was ich dazu sage?« stieß Ganimard wütend hervor. Rasch zog er seinen Revolver und zielte dem Feinde mitten ins Gesicht. »Hände hoch!« rief er.

Lupin stellte sich breitbeinig vor ihn hin und zuckte mit den Schultern.

»Wieder eine Dummheit.«

»Hände hoch!« sage ich.

»Wieder eine Dummheit; deine Knarre wird nicht losgehen.«

»Was?«

»Deine Bedienungsfrau, die alte Katharine, steht in meinen Diensten ... während du heute früh in aller Ruhe deinen Milchkaffee trankst, hat sie die Patronen naß gemacht.«

Ganimard, rasend vor Wut, steckte den Revolver ein und stürzte sich auf Lupin.

»Aha!« sagte dieser und schlug ihm mit dem Stiefelabsatz auf das Schienbein. Herausfordernd sahen sie sich an wie zwei Gegner, die jeden Augenblick handgemein werden mußten.

Aber es gab keinen Kampf mehr. Die Erinnerung an alle früheren Kämpfe machte diesen Kampf unnötig. Ganimard mußte plötzlich an alle erlittenen Niederlagen, an alle vergeblichen Angriffe, an alle niederschmetternden Antworten Lupins denken und rührte sich nicht. Es war nichts zu machen, das fühlte er. Dieser Lupin verfügte über Mittel, gegen die kein anderer etwas ausrichten konnte.

»Nicht wahr,« sagte Lupin in freundschaftlichem Tone, »es ist besser, du läßt es. Übrigens, lieber Freund, bedenk' doch, was dir die Sache alles eingebracht hat: Ruhm, die Gewißheit auf baldige Beförderung und damit die Aussicht auf ein glückliches Alter. Du wolltest mehr, du wolltest dem noch die Entdeckung des Saphirs und den Kopf des armen Lupin hinzufügen? Das ist doch nicht hübsch von dir. Ganz abgesehen davon, daß der arme Lupin dir das Leben gerettet hat ... Ja, ja, mein Lieber, so ist es. Wer hat's dir denn gesteckt, daß Prevailles linkshändig war? Das lohnst du mir jetzt auf diese Weise? Das ist nicht hübsch von dir, Ganimard! Du machst mir wirklich Kummer.«

Indem er so vor sich hinschwatzte, hatte Lupin dasselbe Manöver wie Ganimard ausgeführt und sich der Tür genähert.

Ganimard sah ein, daß der Feind ihm entweichen wollte. Alle Vorsicht außer acht lassend, wollte er ihm den Weg versperren und erhielt dafür einen so furchtbaren Schlag gegen den Magen, daß er gegen die Wand taumelte ...

Mit ein paar Handbewegungen ließ Lupin eine Feder spielen, die Türklinke bewegte sich, und lächelnd verschwand er.

Als Ganimard zwanzig Minuten später seine Leute wieder glücklich beieinander hatte, sagte einer von ihnen:

»Ein Maler hat mir diesen Brief hier übergeben.«

Ganimard öffnete den Brief. Er war in Eile mit Bleistift hingekritzelt und lautete:

»Das hier, lieber Freund, soll Dir zur Warnung dienen, nicht immer so übertrieben leichtgläubig zu sein. Wenn ein gewisser Jemand zu Dir sagt, daß die Patronen Deines Revolvers naß sind, so laß dich, so groß auch Dein Vertrauen zu diesem Jemand sein möge, und wäre es selbst Arsène Lupin, nicht dadurch verblüffen. Schieß trotzdem. Und wenn dann dieser Jemand einen Purzelbaum in die Ewigkeit macht, dann hast Du den Beweis, daß erstens die Patronen nicht naß waren und zweitens, daß die alte Katharine die ehrbarste aller Bedienungsfrauen ist.

In der Hoffnung, daß ich noch das Vergnügen habe, Katharines Bekanntschaft zu machen, genehmige, lieber Freund, die Versicherung der herzlichsten Ergebenheit Deines getreuen

Arsène Lupin.«


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